HOTSPOT FURKA Biologische Vielfalt im Gebirge Erika Hiltbrunner und Christian Körner - ALPFOR
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HOTSPOT FURKA
Biologische Vielfalt im Gebirge
Erika Hiltbrunner und Christian Körner
Alpine
Forschungs-
und Ausbildungs-
station FurkaImpressum
Herausgeber
Erika Hiltbrunner und Christian Körner
Alpine Forschungs- und Ausbildungssta-
tion Furka (ALPFOR) und Universität Basel,
Schönbeinstrasse 6, CH-4056 Basel
www.alpfor.ch
ISBN 978-3-033-06701-1
Alpine
Forschungs-
und Ausbildungs-
station Furka
Mit Beiträgen von
Florian Altermatt, Georg F. J. Armbruster,
Georg Artmann-Graf, Gerhard Bächli, Simo-
ne Baumgartner, Thomas Brodtbeck, Walter
Brücker, Daniel Burckhardt, Sarah Burg, De-
nise Camenisch, Auriel Chatelain, Claudia Ei-
senring, Andreas Erhardt, Barbara M. Fischer,
Rolf Geisser, Christoph Germann, Ambros
Hänggi, Oliver Heiri, Erika Hiltbrunner, Moni-
ca Kaiser-Benz, Christian Körner, Daniel Küry,
Enrique Lara, Holger Martz, Edward Mitchell,
Jürg Paul Müller, Christoph Mullis, Fritz Oehl,
Heinrich Schatz, Irene Schatz, Christoph
Scheidegger, Benjamin Seitz, Beatrice Senn,
Eva M. Spehn, Eva Sprecher, Salome Steiner,
Edi Stöckli, Veronika Stöckli, Jürg Stöcklin,
Alex Szallies, Lukas Taxböck, Edi Urmi, Denis
Vallan, Maarten van Hardenbroek, Mathias
Vust, Markus Wilhelm, Denise Wyniger
Redaktion Erika Hiltbrunner, Gregor Klaus,
Christian Körner
Layout und Satz estherschreier.ch
Papier Allegro holzfrei weiss halbmatt ge-
strichen, Bilderdruck, 100% PEFC-zertifiziert.
150 g/m2 (Inhalt), 250 g/m2 (Umschlag)
Druck Print Media Works, Schopfheim, D
Auflage 4200
Umschlagfotos vorne: Das immergrüne
Felsenblümchen Draba aizoides mit Blick auf
das Finsteraarhorn. Foto E. Hiltbrunner
Sonstige Umschlagfotos aus den Beiträgen.
Zitiervorschlag
Hiltbrunner E., Körner C., (2018). Hotspot
Furka. Biologische Vielfalt im Gebirge. Alpine
Forschungs- und Ausbildungsstation Furka
und Universität Basel, 60 Seiten.
ISBN 978-3-033-06701-1
Bezugsadresse
Alpine Forschungs- und Ausbildungsstation
Furka (ALPFOR), Schönbeinstr. 6, 4056 Basel,
erika.hiltbrunner@unibas.ch
© Alpine Forschungs- und Ausbildungs-
station Furka (ALPFOR) 2018
2Inhalt
4 Vorwort
Alpiner Hotspot der Biodiversität
Erika Hiltbrunner und Christian Körner
6 Einführung 36 Tag- und Nachtfalter in alpinen Lebensräumen
Leben im Hochgebirge Florian Altermatt und Andreas Erhardt
Christian Körner, Christoph Mullis und Erika Hiltbrunner
38 Käfer: Räuber und Pflanzenfresser
12 Alpenflora der Schweiz: auf kleinstem Raum Eva Sprecher, Christoph Germann, Irene Schatz,
Jürg Stöcklin, Rolf Geisser und Walter Brücker Salome Steiner und Alex Szallies
14 Moose: klein aber fein 40 Kurzflügelkäfer: der Wurm unter den Käfern
Edi Urmi unter Mitarbeit von Ariel Bergamini, Thomas Irene Schatz
Kiebacher, Markus Meier und Norbert Schnyder
41 Wanzen und Blattflöhe: saugende Winzlinge
16 Flechten: auf Gedeih und Verderb verflochten Denise Wyniger und Daniel Burckhardt
Christoph Scheidegger und Mathias Vust
.42 Hundertfüssler: flink und lichtscheu
18 Pilze: mit und ohne Hut Edi Stöckli
Beatrice Senn, Markus Wilhelm und Thomas Brodtbeck
43 Hornmilben: gepanzerte Minimonster
20 Endomykorrhiza: mikroskopische Bodenpilze Heinrich Schatz und Barbara M. Fischer
Fritz Oehl und Benjamin Seitz
44 Spinnen: Jäger mit grosser Wirkung
22 Schalenamöben: wichtige Einzeller Ambros Hänggi
Auriel Chatelain, Enrique Lara und Edward Mitchell
46 Amphibien und Reptilien: alpin angepasst
24 Leben im Wasser: zwischen Eis und Bergbach Denis Vallan
Daniel Küry, Florian Altermatt, Simone Baumgartner, Claudia
Eisenring, Maarten van Hardenbroek, Oliver Heiri und
Lukas Taxböck 48 Vögel: die höchste Kolonie der Mehlschwalbe
Veronika Stöckli, Georg F. J. Armbruster und
Sarah Burg
27 Alpine Muscheln und Wasserschnecken
Daniel Küry
50 Säugetiere: Leben unter und über dem Schnee
Jürg Paul Müller und Denise Camenisch
28 Gehäuseschnecken: klein und gut versteckt
Georg F. J. Armbruster und Eva M. Spehn
52 Alpine Biodiversität: eine Zwischenbilanz
Erika Hiltbrunner und Christian Körner
30 Ameisen: nur kleine Staaten im Gebirge
Monica Kaiser-Benz und Holger Martz
54 Forschende in Aktion
32 Heuschrecken, Bienen und Schlupfwespen
Georg Artmann-Graf 56 Experten und Expertinnen
34 Fliegen und Mücken im Hochgebirge 60 Förderer
Gerhard Bächli
3Vorwort
Alpiner Hotspot der Biodiversität
Obwohl es oft als öd und unwirtlich bezeich Sonne (Exposition) schafft auf gleicher Meeres-
net wird, gibt es in jenem Drittel der Schweiz, höhe Unterschiede im Tagesklima, die dem
das über 2000 m Höhe liegt, einen enormen Temperaturunterschied von mehr als tausend
Reichtum an Leben. Der vermeintlichen Un Höhenmetern entsprechen können. Die Struk
gunst des Klimas zum Trotz lebt zwischen der tur der Landoberfläche (Topographie) schafft
Obergrenze des Bergwaldes und den höchs zusätzlich ein buntes Mosaik von Habitaten,
ten Alpengipfeln rund ein Viertel aller ein die sich in Mikroklima, Schneedeckendauer,
heimischen Blütenpflanzenarten der Schweiz. Wasser- und Nährstoffangebot unterscheiden.
Diese Vielfalt ist wichtig, da sie unter anderem Der geologische Untergrund beeinflusst
steile Hänge vor Erosion sichert und so die Tä den Bodentyp (Karbonat- oder Silikatböden).
ler bewohnbar macht.* Feuchtlebensräume wie Quellmoore, Berg
Der grosse Artenreichtum der Gebirgsland seen und Bergbäche bereichern die Lebens
schaft gründet in der Vielfalt der Lebensräu raumvielfalt.
me (Habitate) auf kleinem Raum. Steile Hö Wo die Lebensraumvielfalt ein Maximum er
hengradienten vereinen über kurze Distanz reicht, erreicht auch die biologische Vielfalt
Klimabedingungen, die sonst nur über Tau ein Maximum. Am Furkapass an der Grenze
sende von Kilometern in Richtung der Pole zwischen dem Kanton Uri und dem Kanton
zu finden sind. Die Ausrichtung der Hänge zur Wallis, am Übergang von fetten Alpweiden
Die beiden Initiatoren des Hotspot Furka zum ewigen Schnee, sind solche Bedingun
Erika Hiltbrunner und Christian Körner * Körner C. (2004). Mountain biodiversity, its causes and func- gen gegeben. Das Gebiet ist ein Hotspot der
Foto Beat Ernst, Basel tion. Ambio Special Report 13, 11–17. alpinen Biodiversität.
Karte Das Hotspot-Furka-Inventar in unmittel
barer Nähe der Alpinen Forschungs- und
Ausbildungsstation ALPFOR in den Schweizer
Zentralalpen
ALPFOR
Furka
4 Hotspot Furka | Biologische Vielfalt in den AlpenVom 23. bis 26. Juli 2012 versammelten sich Die vorliegende Broschüre fasst die Resulta-
47 Expertinnen und Experten aus dem In- und te allgemein verständlich zusammen. Die or-
Ausland zu vier intensiven Arbeitstagen an der ganismische Vielfalt ist überwältigend – und
Alpinen Forschungs- und Ausbildungsstati- dies an einem Ort, der auf den ersten Blick fast
on (ALPFOR; www.alpfor.ch) in 2440 m Höhe leer erscheint. Etliche für die Schweiz oder
nahe dem Furkapass. Ziel war ein möglichst überhaupt bisher unbekannte Arten wurden
umfassendes Inventar der Vielfalt der Arten im entdeckt. Dies ist ein starkes Motiv, diese letz-
alpinen Lebensraum. Neben den bereits gut te grosse Urlandschaft Europas zu schätzen,
erfassten rund 300 Blütenpflanzenarten im zu schützen und wissenschaftlich im Auge zu
Umkreis der Station (gut die Hälfte der gesam- behalten. Nicht zuletzt kommt auch ein gross-
ten Artenzahl der alpinen Flora der Schweiz) er Teil unseres Trinkwassers und der Strom
sollten auch Schmetterlinge und Käfer, Vögel erzeugung aus diesen Gebirgsökosystemen.
und Kleinsäuger, Fliegen und Bienen, Boden- Die Dauerbeob achtungsflächen werden in
tiere, Algen, Moose, Flechten, Pilze sowie die den folgenden Jahren und Jahrzehnten die
Organismen der Gewässer erhoben werden. Möglichkeit bieten, «am Ball» zu bleiben, um
Bei strahlendem Hochsommerwetter fanden Veränderungen der Lebewelt im Hochgebir-
die Spezialistinnen und Spezialisten mehr als ge zu erkennen und zu dokumentieren.
2000 Arten von Organismen. Dies sind rund
zwei Drittel der vermuteten Arten (ohne Bak-
terien und andere Mikroorganismen). Bis spät
in die Nacht wurde präpariert, mikroskopiert
und bestimmt. Viele Arten konnten erst in
mühsamer Kleinarbeit in den Wochen und
Monaten danach identifiziert werden. Am 27.
Juli 2012 wurden die ersten Resultate in An- Erika Hiltbrunner und Christian Körner
dermatt der Öffentlichkeit vorgestellt. ALPFOR und Universität Basel
Das Besondere und von den Teilnehmen-
den geschätzte Konzept dieses «alpinen Erst-
inventars» war es, dass definierte Lebensräu-
me gemeinsam untersucht wurden, anstatt
unkoordiniert zu sammeln. Nur für hochmobi-
le Organismen (Wirbeltiere, Falter) waren indi-
vidualisierte Aufsammlungen und Beobach-
tungen nötig. Elf charakteristische alpine Ha-
bitattypen (10 davon doppelt) und etliche Son-
derstandorte wurden markiert, so dass man
die insgesamt 21 Dauerbeobachtungsflächen
von rund 400 bis 600 m2 Grösse sowie die
Sonderhabitate zu einem späteren Zeitpunkt
nochmals aufsuchen kann.
Die Testflächen wurden klimatisch und bo-
denkundlich charakterisiert. Mit einer hoch-
auflösenden Infrarot-Wärmebildkamera wur-
den Temperaturspektren jeder Fläche aufge-
zeichnet. Die Boden- und Wassertemperatu-
ren wurden automatisch gemessen, und die
pflanzliche Biomasseproduktion der Flächen
wurde ermittelt. So wird es möglich, die Ar-
tenvielfalt der unterschiedlichen Organis-
mengruppen miteinander zu vergleichen
und Bezüge zu den Umweltbedingungen
herzustellen. Vergleich und Vergleichbarkeit
waren die Leitmotive dieser Biodiversitätser-
hebung.
Vorwort 5Einführung
Leben im Hochgebirge
Stark schwankende Lebensbedingun- Im Gebirge bestimmt die Vielfalt der Habitate (aquatische Habitate). Andere Organismen-
gen, mechanischer und klimatischer die Artenvielfalt.* Die auszuwählenden Dauer- gruppen sind Habitat-unspezifisch oder ope-
Stress, gegenseitiger Schutz, funktionel- beobachtungsflächen mussten daher die Le- rieren auf grösserer Skala (Falter, Vögel und
le Ergänzung und komplexe Nahrungs- bensraumtypen der Hochalpen repräsenta- andere Wirbeltiere).
netze benötigen ein reiches Spektrum tiv abbilden. Eine zufällige statistische «Ras-
an biologischen Leistungen und damit terfahndung» (mit einem Gitternetz) würde Starke Mikroklimaeffekte
eine Vielfalt an Arten. Diese sich wech- häufige Lebensraumtypen überbewerten Die tatsächlichen klimatischen Lebensbedin-
selseitig bedingende Diversität lässt sich und seltene wären überhaupt nicht vertreten. gungen alpiner Organismen weichen stark
nur aufdecken, wenn man streng lebens- Als Beginn einer langfristigen Umweltbeob- von denen ab, die an meteorologischen Sta-
raumspezifische, organismische Inven- achtung im Kern der alpinen Stufe orientierte tionen gemessen werden. Beispielsweise be-
tare erstellt und diese in regelmässigen sich das Projekt «Hotspot Furka» im Sommer trug die Durchschnittstemperatur der Luft auf
Abständen wiederholt. 2012 am Habitatkonzept (Abb. unten): Es wur- der Furka im Sommer 2012 (11. Juli bis 2. Sep-
Christian Körner, Christoph Mullis und Erika den 11 Landlebensräume sowie verschiede- tember) in 2 Metern Höhe 8.4 °C. Gleichzeitig
Hiltbrunner ne aquatische Habitattypen (Fliessgewässer lag die mittlere Temperatur im Boden in 3 cm
und stehende Gewässer) ausgewählt (Tabelle Tiefe – also dort, wo sich die Bildungsgewe-
Seite 7, Fotos Seite 8, 9). be der meisten Pflanzenarten befinden und
Expertinnen und Experten sollten möglichst die höchste Aktivität der Bodenorganismen
viele unterschiedliche Organismengruppen stattfindet – je nach Habitat zwischen 9.8 und
in markierten Beobachtungsflächen von etwa 13.1 °C (siehe Tabelle Seite 7), was umgerech-
400 bis 600 m2 Grösse erfassen. Pro Habitat net in Höhenmeter (0.55 Grad pro 100 m) ei-
wurden zwei Flächen ausgeschieden (ausser ner Höhenausdehnung von 600 m entspricht.
von Typ 10). Von jeder dieser 21 Flächen, die Die untersuchten Lebensräume liegen also
vom Gletschervorfeld bis zu üppigen alpinen thermisch 200 bis 800 m tiefer, als es die ge-
Wiesen reichen, wurden zudem Bodenmerk- messene Lufttemperatur anzeigt. Dieser Er-
male, Klimadaten sowie die Biomasseproduk- wärmungseffekt entsteht aus dem Zusam-
tion erhoben (Tabelle Seite 7). Alle folgenden menwirken von Hangneigung, Hangrichtung,
Kapitel beziehen sich auf diese Habitattypen. Niederwüchsigkeit der Vegetation und der
Für einzelne Organismengruppen wurden treibenden Kraft, nämlich der Sonnenstrah-
zusätzlich spezifische Standorte einbezogen lung.
* Körner C. (2003). Alpine Plant Life. Springer, Berlin.
Rechts Die alpinen Dauerbeobachtungs-
flächen im Furkagebiet (Kreise, 6 verschiedene
Habitattypen in unmittelbarer Nähe der
Forschungsstation ALPFOR). Auf jeder Fläche
(2 pro Habitattyp) wurde versucht, «das Hotspot
Furka» Konzept anzuwenden. Foto und Grafik
E. Hiltbrunner
6 Hotspot Furka | Biologische Vielfalt in den AlpenMerkmale der ausgewählten alpinen Habitate im Furkagebiet. Bodentemperaturen a (°C) in 3 bis 4 cm
Tiefe (11. 7.–2. 9. 2012), Bodenmerkmaleb,c (in 1 bis 6 cm Tiefe) und Produktivität d,e für 11 Lebensraum
typen der alpinen Stufe am Furkapass in 2420 bis 2480 m ü. M.
b c c d e f
Habitatcode / Habitat T Min T Max T Mittelwert pH C Ca BM TM Arten
Referenz: Luft in 2 m Höhe -3.0 20.2 8.4
1 Bürstlingsrasen (6) a 5.6 22.2 12.7 3.3 5.5 1 222 74 30
2 Bürstlingsrasen mit Besenheide (6) 4.3 23.9 13.1 3.6 5.7 13 335 194 48
3 Zwergstrauchheide mit Alpenazalee (5) 3.7 16.1 9.8 3.5 12.2 28 495 g 10 28
4 Violettschwingelrasen (5) 6.1 19.1 12.4 3.8 7.3 85 363 226 63
5 Rasen mit Solifluktion, Nordhang (6) 3.6 15.7 9.8 4.1 4.7 98 227 62 47
6 Krummseggenrasen (5) 4.2 19.5 11.3 3.2 5.6 2 276 100 36
7 Nährstoffreicher Rasen, Westhang (5) 4.7 20.3 11.6 3.6 3.9 23 271 108 62
8 Schneetälchen (6) 3.9 21.2 12.2 3.5 4.3 2 110 21 20
9 Gletschervorfeld (2) 2.3 23.0 11.8 5.8 0.4 82 21 3 52
10 Nacktriedrasen (1) 6.3 16.3 11.2 3.6 7.2 61 195 106 62
11 Flachmoor (2) 4.2 20.5 12.0 3.9 3.6 72 172 35 26
Mittelwert 1–11 4.4 19.8 11.6
a Zahlen in Klammer geben die Anzahl automatischer Temperatursonden an, aus deren stündlichen Registrierungen die
Mittelwerte berechnet wurden. Die Nummern vor dem Habitatnamen stehen für den Habitatcode.
b Jeweils 6 Proben pro Habitattyp für pH, (nur 3 bei Typ 10). Der pH wurde in einer Bodensuspension mit 0.01 M CaCl2
Lösung gemessen.
c 10 Proben für C in % und Kalzium in mg/100 g des ofentrockenen gesiebten Feinbodens.
d Biomasse (BM) bezieht sich auf lebende oberirdische Pflanzenteile.
e Totmasse (TM) ist der noch an der Pflanze haftende (oft stehende) abgestorbene Teil (dies sind grobe Richtwerte in
g Trockensubstanz pro m2, Mittelwert aus 2 Ernteflächen von 25325 cm zum Zeitpunkt des vegetativen Höhepunktes;
0.008
Ernteflächen im Gletschervorfeld: 50350 cm).
f Die Artenzahl bezieht sich auf Blütenpflanzen (Mittel von zwei ca. 400 m2 grossen Testflächen).
Relative Häufigkeit
g Verholzte, mehrjährige Triebe eingeschlossen. 0.006
0.004
0.002
0.000
10 15 20 25 30
Oberflächentemperatur in °C
Oben Die Dauerbeobachtungsfläche Bürstlings-
rasen mit Besenheide
Mitte Die gleiche Fläche mit der Wärmebild-
kamera aufgenommen
Unten Die Häufigkeitsverteilung der Oberflä-
chentemperaturen (Bild Mitte). Die Oberflächen-
temperaturen schwankten zwischen 11.4 und
33.7 °C bei einer Lufttemperatur von 13.1 °C am
18. Juli 2012, 12:54 Uhr
Links Das Infrarotbild mit der Wärmebild-
kamera aufgenommen zeigt in hoher Auflösung
ein Mosaik von thermischen Mikrohabitaten.
Blick in Richtung Stotziger First. Vorne links der
ALPFOR-Teich
Einführung 7Die Vielfalt an Lebensräumen in der alpinen Stufe ist enorm Oben Violettschwingelrasen, Habitat 4. Foto C. Körner Mitte Bürstlingsrasen, Habitat 1. Links im Bild die Forschungsstation ALPFOR. Foto C. Körner Unten Kriechende Nelkenwurz Geum reptans im Gletschervorfeld des Muttgletschers, Habitat 9. Foto E. Hiltbrunner Die Habitatnummern entsprechen denjenigen in der Tabelle auf Seite 7. 8 Hotspot Furka | Biologische Vielfalt in den Alpen
Die Topographie, die Geologie und
das Angebot an Wasser prägen die
Lebensräume
Oben links Krummseggenrasen, Habitat 6
Oben rechts Flachmoor, Habitat 11
Mitte Zwergstrauchheide mit Alpenazalee,
Habitat 3
Unten links Rasen mit Solifluktion (Nord-
hang), Habitat 5. Foto E. Hiltbrunner
Unten rechts Schneetälchen, Habitat 8
Alle anderen Fotos C. Körner
Die Habitatnummern entsprechen den-
jenigen in der Tabelle auf Seite 7.
Einführung 9Eine sehr dichte Vegetationsdecke, eine ho- Versauerte Böden
he Biomasse, Nordexposition oder schlecht Pflanzen wachsen nicht nur auf bestimmten
abbaubarer Pflanzenabfall mit starker Rohhu- Böden, sondern bestimmte Böden entste-
musbildung «isolieren» den Boden thermisch hen nur dort, wo Pflanzen lange genug Zeit
und erzeugen kühle Böden (durchschnittlich hatten, dem Ökosystem ihren Stempel aufzu-
nur 9.8 Grad unter Alpenazaleen und den drücken, indem sich ihre abgestorbenen Tei-
nordexponierten Rasen). Südexposition und le mit dem Ausgangssubstrat zu Humus ver-
offene Bestände schaffen dagegen warme Bö- binden. Eine Anreicherung mit organischer
den (Durchschnittswerte für Bürstlingsrasen Substanz als Nettoresultat der Photosynthe-
bei 13 °C, aber auch erstaunliche 12 °C in den se führt immer dazu, dass der Boden saurer
karg bewachsenen Schneetälchen). Die Spit- wird, also der pH-Wert sinkt. Deshalb entste-
zentemperaturen im Boden bei Schönwetter hen auch auf kalkhaltigem Untergrund sau-
liegen bei 23 °C im Gletschervorfeld und 24 °C re Böden. Je älter und je ungestörter Böden
im Bürstlingsrasen (überraschende 21 °C in sind, desto saurer werden sie natürlicherwei-
den Schneetälchen). Lebensräume, die man se. Karbonathaltiges, von Wind und Oberflä-
intuitiv als kalt einstufen würde, sind erstaun- chenabfluss eingetragenes Feinsubstrat kann
lich warm. Solche Informationen helfen dabei, dem entgegenwirken, ebenso wie Bodentie-
standörtliche Biodiversitätsunterschiede zu re (Regenwürmer, wühlende Wirbeltiere), die
verstehen. die Bodenschichten vermischen. In alpinen
Noch ausgeprägter werden diese Mikroklima- Ökosystemen ist diese Durchmischung aller-
effekte, wenn man die Temperatur der direkt dings meist sehr gering.
von der Sonne bestrahlten Pflanzendecke Es kommt also nicht überraschend, dass das
betrachtet. Bei sonnigem Wetter steigen die älteste und stabilste alpine Ökosystem, der
mit der Infrarot-Wärmebildkamera gemesse- Krummseggenrasen, mit einem Boden-pH
nen Temperaturen auf fast allen Flächen täg- von nur 3.2 das «sauerste» Habitat darstellt
lich über 20 Grad und erreichen mittags re- (siehe Tabelle). Ihm folgen dicht mit 3.3 bis
gelmässig Maximalwerte zwischen 25 und 35 3.5 Schneetälchen, Zwergstrauchheiden mit
Grad, wie sie auch in Tieflagen vorkommen. Alpenazalee und Bürstlingsrasen. Flächen, die
Blätter und Blüten sind bei sonnigem Wetter unter Karbonateinfluss stehen, sei es aus dem
mittags im Durchschnitt 6 bis 10 Grad wär- geologischen Untergrund, durch Moränen-
mer als die Luft. Der niedrige, dichte Bewuchs schutt oder durch Staubeintrag, weisen eine
schafft also günstige Lebensbedingungen etwas geringere Ansäuerung auf: Besenhei-
für Pflanzen und Tiere – solange die Sonne dereicher Bürstlingsrasen, Violettschwingel-
scheint. Bei bedecktem Himmel sind die Er- rasen und Nacktried liegen zwischen pH 3.6
wärmungseffekte mit 1 bis 2 Grad sehr gering. und 3.8. Fehlt die Bodenbildung weitgehend,
Alpine Organismen müssen also die Gunst wie im Gletschervorfeld (pH 5.8), nähern sich
der Stunde nutzen. Die Häufigkeitsverteilung die Werte auch auf Silikat dem Neutralpunkt.
der Temperaturen in den Beobachtungsflä- Man kann also nicht direkt aus dem geolo-
chen macht deutlich, welche Lebensbedin- gischen Umfeld auf die Bodenverhältnisse
gungen ein Habitat aufweist und wie häufig schliessen.
diese Mikrohabitate sind (Abb. Seite 7 Mitte Der Gehalt an organischem Kohlenstoff (Hu-
und unten). mus) erlaubt eher Rückschlüsse. Mit 4 bis 12%
Ungleich weniger schwanken in dieser Hö- Kohlenstoff-Gewichtsanteil sind diese alpi-
he die Temperaturen in Bächen, Teichen und nen Böden alle sehr humusreich. Die organi
Seen (Abb. Seite 11, links). Bäche bleiben ganz- sche Substanz dürfte im frischen, gequolle
jährig kalt, tiefe Karseen (Schwärzisee) errei- nen Zustand im Oberboden mehr als die
chen im Hochsommer kurzzeitig Temperatu- Hälfte des Bodenvolumens einnehmen. Es ist
ren bis +10 °C, eine Temperatur, die in flachen bemerkenswert, dass selbst Böden mit stark
Niedermoorteichen stundenweise überschrit - saurer Reaktion (z. B. im Violettschwingel
ten wurde. Keines der Gewässer fror im Win- rasen) oder rein mineralische Böden (z. B. im
ter vollkommen durch; die Nullgradgrenze, Gletschervorfeld) einen hohen Vorrat an Kal-
die ein Eis-Wasser-Gemisch anzeigt, wurde zium aufweisen können, was die hohe Arten-
in den Gewässern nie unterschritten. Das be- diversität in diesen Habitaten miterklärt.
deutet, dass Tiere und Pflanzen in den Gewäs-
sern überwintern können und die Gewässer
nicht jeden Frühling neu besiedelt werden
müssen.
10 Hotspot Furka | Biologische Vielfalt in den AlpenProduktive Flora
Geschlossene Rasen weisen in dieser Meeres
höhe im August eine Summe aus lebender
und toter oberirdischer Pflanzensubstanz
zwischen 300 und 600 g Trockengewicht pro
Quadratmeter auf (Tabelle Seite 7). Bei einer
Wachstumsperiode von nur etwa 2 Monaten
ergibt sich aus der lebenden Substanz (Bio-
masse) eine monatliche, oberirdische Pro-
duktivität von 100 bis 180 g pro Quadratme-
ter (wenn man Standorte mit mehrjährigen
Holzpflanzen, Flächen mit unvollständiger
Deckung wie Gletschervorfeld und Sonder
standorte wie Schneetälchen und Flachmoo-
re ausklammert). Den kurzen Bergsommer
nutzen die Alpenpflanzen somit pro Monat (!)
ähnlich gut wie die naturnahe Vegetation im
Tal. Dies ist nicht verwunderlich, wenn man
die Temperaturen betrachtet. Deutlich gerin-
ger ist die Produktivität wegen unvollständi-
ger Bodendeckung in Schneetälchen und im
Gletschervorfeld. Die unterirdische Biomasse
(Wurzeln, Rhizome) kann ein Mehrfaches der
oberirdischen betragen.
In den untersuchten Rasengesellschaften be-
steht kein Bezug zwischen der Zahl der Blü-
tenpflanzenarten und der Produktivität. In
den Alpenazaleenbeständen spielen Moose
und Flechten eine sehr grosse Rolle (200–500
g/m2), während deren Biomasseanteil sonst
unter 50 g pro Quadratmeter liegt (nur am of-
fenen Schneeboden bis 70 g/m2). Weil Flech-
ten mehrjährig sind und je nach Habitat uralt
werden, wird ihre Masse nicht zur jährlichen
Biomasseproduktivität gerechnet. Oben Die Lufttemperatur (siehe Grafik links)
gemessen in 2 m Höhe entspricht nicht den
Temperaturen, welche die Pflanzen erfahren.
Foto C. Körner
Mitte Die drei Schwärziseen in 2640 m Höhe.
Foto I. Inauen
20
16 Lufttemperatur
ALPFOR
12
Maximum
8
4
0
-4
Mittel Links Der Jahresgang der Luft-
-8
und Wassertemperaturen im
Monatsmittel-Temperatur in °C
-12
Furkagebiet 2013
-16
Minimum Lufttemperatur ALPFOR-Wetter
-20
station. Wassertemperaturen im
Sidelenbach (Gletscherbach),
ALPFOR-Teich und im obersten
Schwärzisee (2649 m ü. M., ein ca.
10 ha grosser Karsee, Foto Mitte).
10 Wassertemperaturen Schwärzisee 0.3 m
Der Sidelenbach bleibt das ganze
8
Jahr kalt. Der Schwärzisee erwärmt
6 Schwärzisee 3.35 m sich im Sommer in den oberen
4 Wasserschichten (0.3 m), während
ALPFOR-Teich
2 Sidelenbach im Winter die unteren Schichten
0 wärmer sind (Dichteanomalie des
Jan Feb Mär Apr Mai Jun Jul Aug Sep Okt Nov Dez Jan Wassers).
2013
Einführung 11Alpenflora der Schweiz: auf kleinstem Raum
In den elf untersuchten Lebensraum Blütenpflanzen stellen mit ca. 300 000 Arten ten alpinen Zwergsträucher des Alpenraums
typen fanden wir insgesamt 186 Blüten- die artenreichste und weitverbreitetste Pflan- vertreten sind (verschiedene Heidekrautarten
pflanzenarten. Je nach Bodentyp und zengruppe der Erde dar. Die Blüte ist ihre und Zwergweiden).
Schneebedeckung variiert die Arten wichtigste evolutionäre Neuerung und in der Die am häufigsten vorkommenden Arten
zahl zwischen 20 und 67 Arten pro Regel spezialisiert für die Bestäubung durch sind der Bunte Wiesenhafer (Helictotrichon
Habitattyp. Wegen der Vielfalt an Insekten, Vögel, andere Tiere oder auch «nur» versicolor), das Alpenrispengras (Poa alpina) –
Lebensräumen und dem Nebeneinan durch Wind. Diese Spezialisierung ist ein we- meist in seiner «lebendgebärenden» (pseudo-
der von sauren und karbonatreichen sentlicher Grund für die Vielfalt von Formen, viviparen) Form – und das Schweizer Milch-
Böden ist die Pflanzenwelt der Furka Farben und Strukturen der Blüten. kraut (Leontodon helveticus). Eine besondere
ein repräsentatives Abbild für die alpi In der alpinen Stufe gibt es weltweit rund Augenweide und die einzige Rote Liste-Art der
ne Flora der Schweiz. 8000 bis 10 000 Arten von Blütenpflanzen. Furka ist der Berg-Drachenkopf (Dracocepha-
Jürg Stöcklin, Rolf Geisser und Walter Brücker Berggebiete sind trotz der harschen Um- lum ruyschiana), der im Violettschwingelrasen
weltverhältnisse und der im Vergleich zum der Furka eines seiner höchsten Vorkommen
Tiefland geringen Fläche der alpinen Stufe in der Schweiz haben dürfte. Unerwartet für
sehr artenreich. In der Schweiz sind von den diese Höhenlage war, dass während der Furka-
etwa 2500 einheimischen Blütenpflanzen Hotspot-Tage neu der Röhrige Gelbstern (Ga-
arten rund 600 alpin. gea fragifera) gefunden wurde, eine Art eher
fetter Wiesen tieferer Lagen.
Die Flora der Furka Zu den eindrucksvollsten Arten der Flora der
Die Blütenpflanzenflora der Furka ist äusserst Furka gehört die gelblich-weiss blühende
artenreich. In der näheren Umgebung der Strauss-Glockenblume (Campanula thyrsoides).
Furkapasshöhe (maximal 2.5 km Entfernung), Diese typische Kalkpflanze bildet zuerst eine
zwischen 2200 und 2900 m ü. M. wurden in ei- eng dem Boden anliegende Rosette, die erst
nem ersten Gesamtinventar 301 Blütenpflan- nach 7 bis 10 Jahren einen auffällig grossen
zen aus 152 Gattungen und 49 Familien gefun- Blütenstand bildet. In einem Blütenstand rei-
den.* Die Artenzahl ist gemessen an der klei- fen bis zu 50 000 Samen, danach stirbt die
nen Untersuchungsfläche und der strikten Be- Pflanze. Eine Besonderheit ist auch das Zwerg-
schränkung auf die alpine Stufe überraschend knabenkraut (Chamorchis alpina) auf karbonat-
hoch; zahlenmässig ist sie ebenso gross wie beeinflussten Hangkanten, eine der vier Orchi
andere Regionalfloren der Alpen, obwohl die- deenarten auf der Furka.
se in der Regel ein viel umfangreicheres Ge-
biet über einen ausgedehnteren Höhenbe- Artenzahl nach Habitatstypen
reich umfassen. Die grosse Artenvielfalt resul- In den für die Untersuchung ausgewählten
tiert aus der Vielfalt der Lebensräume und der terrestrischen Habitatstypen wurden 186 und
kleinräumig wechselnden Geologie. damit mehr als die Hälfte der über 300 auf
Oben Der Berg-Drachenkopf Dracocephalum Fast ohne Ausnahme sind diese Pflanzenar- der Furka vertretenen Blütenpflanzen gefun-
ruyschiana an einem der höchstgelegenen ten mehrjährig. Nur ganz wenige Arten wie den. Die Zahl der Arten pro Lebensraum
Standorte dieser Rote-Liste-Art in den Alpen. der Zwerg-Augentrost sind «einjährig»; sie kei- typ auf jeweils 400–600 m2 liegt zwischen
Foto C. Körner men, blühen und die Samen reifen in nur ei- 20 und 63 (Mittelwert von 2 Flächen), unter-
nem Sommer. Je nachdem, wo sich die emp- scheidet sich also um mehr als das Dreifache
findlichen Wachstumsgewebe (Meristeme, Er- (siehe Tabelle). Der Bodentyp, die Kargheit
neuerungsknospen) bei den ausdauernden bzw. das Nährstoffangebot und die Länge
Pflanzen befinden, werden verschiedene Le- der Schneebedeckung bestimmen weit ge
bensformen unterschieden. 68% der Arten hend die Artenzahl. Am tiefsten ist diese in
auf der Furka haben ihre Erneuerungsknos- den Schneetälchen. Wenig mehr Arten finden
pen an oder knapp unter der Bodenoberflä- sich in windexponierten Zwergstrauchheiden.
che; die Knospen sind durch Streu, Humus Saure Rasen mit Krummsegge und Borstgras
und im Winter durch Schnee geschützt. 20% sind bereits erstaunlich artenreich und kön-
der Arten haben die Winterknospen deutlich nen zwischen 40 und 50 Arten erreichen. Am
über der Bodenoberfläche (z.B. Zwergstäu- höchsten ist die Artenzahl im Violettschwin-
cher, Polsterpflanzen). Diese Arten benötigen gelrasen auf kalkhaltigem Substrat, wo kalk-
im Winter einen verlässlichen Schneeschutz. liebende, boden-pH-tolerante und eher saure
Anzahl Arten von Blütenpflanzen Nur 8% der Arten tragen ihre Überdauerungs- Böden bevorzugende Arten nebeneinander
pro Lebensraumtyp
knospen im Verborgenen an Zwiebeln, Knol- vorkommen. Bemerkenswert ist, dass steile
Habitat Artenzahl len oder Rhizomen tief im Boden (Geophyten). Rasen auf Silikat ähnlich viele Arten haben
Bürstlingsrasen auf Silikat 26–30 Wie in der gesamten alpinen Flora der Schweiz können wie die Rasen auf karbonathaltigem
Bürstlingsrasen mit Besenheide auf Silikat 46–49 ist auch in der Furkaregion die Familie der Substrat. Dies kann durch Viehtritt, frische,
Zwergstrauchheide mit Alpenazalee 21–35
Korbblütler am artenreichsten (43 Arten), ge- bergseitige Mineralstoffeinwaschung oder
Violettschwingelrasen 61–65
Rasen mit Solifluktionsböden, Nordhang 46–48 folgt von Süssgräsern (36 Arten), Nelkenge- Flugstaub (und da mit nährstoffreichere Bo-
Krummseggenrasen auf Silikat 31–40 wächsen (19 Arten) und Schmetterlingsblüt- denbedingungen) erklärt werden.
Nährstoffreicher Rasen, Westhang 55–67 lern (15 Arten). Unter den Gattungen stechen
Schneetälchen 19–21 Steinbrecharten (11 Arten), Sauergräser (10 Ar-
Gletschervorfeld 50–54 ten), Enziane (8 Arten), Habichtskräuter (8 Ar-
Nacktriedrasen 62 Literatur
ten), Kleearten (7 Arten) und Nelken (6 Arten) * Hefel C., Stöcklin J. (2010). Flora der Furka.
Flachmoor 24–27 hervor. Erwähnenswert ist auch, dass die meis- Bauhinia 22, 33–59.
12 Hotspot Furka | Biologische Vielfalt in den AlpenAlpine Blütenpflanzen
Oben links Der Zweiblütige Steinbrech Saxifraga
biflora kommt auf feuchtem Feinschutt bis in
grosse Höhen in den Alpen vor. Foto J. Noroozi
Oben Mitte Der Alpenklee Trifolium alpinum
ist die höchst steigende Kleeart im Furkagebiet.
Sie wird gerne von Gämsen, Murmeltieren und
Schafen gefressen. Foto C. Körner
Oben rechts Die Krummsegge Carex curvula ist
die häufigste Segge auf sauren Böden in den
Alpen und blüht bereits 5 bis 7 Tage nach der
Schneeschmelze. Foto C. Körner
Mitte Der Gletscherhahnenfuss Ranunculus
glacialis. Typische Art im Gletschervorfeld. Foto
C. Körner
Unten links Die Strauss-Glockenblume Campa-
nula thyrsoides blüht gelblich-weiss und
wächst auf Kalk. Die Pflanze braucht mehrere
Jahre bis sie blüht. Nach der Blüte stirbt sie.
Foto J. Noroozi
Unten Mitte Die Alpenaster Aster alpina. Eine der
ältesten alpinen Arten, meist auf Kalk. Sie über-
dauerte die Eiszeiten in den Alpen. Foto
C. Körner
Unten rechts Die Silikat-Polsternelke Silene exsca-
pa. Es dauert mehrere Jahrzehnte bis eine Pols-
ternelke diese Grösse erreicht. Foto C. Körner
Blütenpflanzen im Gebirge 13Moose: klein aber fein
Stammesgeschichtlich sind Moose die Nur Salz ist der filigranen Schönheit der Moose Bedrohte Arten
ersten grünen Pflanzen, die das Land abträglich. Sie kommen daher ausser im Meer Auf 6 Dauerbeobachtungsflächen in unter
vor rund 450 Millionen Jahren erober überall auf der Erde vor. Viele bevorzugen schiedlichen Lebensraumtypen fanden sich
ten. Heute kommen sie, oft sogar feuchte Standorte. Die meisten können aber 49 Moosarten. 35 davon sind jeweils nur in
landschaftsbestimmend, in fast allen unbeschadet zeitweise austrocknen (sogar einer Fläche vertreten, und keine Art kommt
Ökosystemen vor. Während der jahrelang). Für die sexuelle Fortpflanzung be in allen sechs untersuchten Habitaten vor. Ein
Feldtage wurden aus je einer Dauer- nötigen sie allerdings Wasser. Widertonmoos (Polytrichum juniperinum) fehlt
fläche von sechs unterschiedlichen Aus der befruchteten Eizelle entwickelt sich nur auf der kalkbeeinflussten Wiese und dem
Lebensraumtypen 49 Moosarten be- eine Kapsel, die auf der grünen Mutterpflan- Gletschervorfeld. Am besten vertreten sind
stimmt. Insgesamt sind bisher für ze bleibt. Darin bilden sich winzige Sporen, die die Gattungen Pohlia (Bohnenmoose) und Po-
das Furkagebiet 166 Moosarten nach- der Ausbreitung dienen. Moose können sich lytrichum (Widertonmoose) mit je vier Arten.
gewiesen. auch mit Hilfe von Brutorganen vegetativ ver- Vier Kollegen sammelten zu einem späteren
Edi Urmi, unter Mitarbeit von Ariel Bergamini, mehren und bilden in der Regel Klone. Sie sind Zeitpunkt ausserhalb der ausgewählten Be
Thomas Kiebacher, Markus Meier und daher ausserordentlich regenerationsfähig. obachtungsflächen weitere 90 Arten. Von den
Norbert Schnyder Weltweit gibt es ca. 20 000 Moosarten (Laub-, bekannten 166 Arten des Furkagebiets (15%
Leber- und Hornmoose). der gesamten Moosflora der Schweiz) wurden
139 im Jahr 2012 identifiziert. Typische Hoch-
Wichtige Player in Ökosystemen gebirgsmoosarten machen davon einen Drit
Die ökologische Funktion der Moose ist viel- tel aus, wobei 18 Arten, die in den Dauerbe
fältig. Sie können schnell viel Wasser auf obachtungsflächen gefunden wurden, für die
nehmen und geben es langsam wieder ab. Region neu sind. Darunter sind triviale Arten,
So wirken sie ausgleichend auf den Was aber auch ein Beutel-Lebermoos (Marsupella
serhaushalt der Ökosysteme. Als Pionierpflan sparsifolia) mit nur wenigen Schweizer Fund-
zen fördern sie Bodenbildung und Besiedlung stellen, das in der Roten Liste als «verletzlich»
durch Gefässpflanzen. Sie sind zu dem Le eingestuft ist. Insgesamt 20 der gefundenen
bensraum für zahlreiche kleine Organismen Moosarten stehen auf der Roten Liste, unter
(z. B. Bärtierchen, verschiedene Insekten). anderem ein Neufund für das Gebiet, das Glo-
Torfmoose finden sich hauptsächlich in den ckenhutmoos Encalypta affinis, das als «vom
ausgedehnten Mooren der Nordhemisphäre, Aussterben bedroht» gilt.
wo sie mächtige Torflager bilden. Diese sind
als CO2-Senken für den globalen Kohlen
stoffkreislauf enorm wichtig. Da Moose Was
ser, Nährstoffe, aber auch Schadstoffe über
ihre Oberfläche aufnehmen, eignen sie sich
hervorragend als Bioindikatoren, vor allem zur
Überwachung der Schwermetallbelastung.
Anzahl Moosarten pro Lebensraumtyp im Furkagebiet
Habitattyp, je eine Fläche beprobt Laubmoose Lebermoose Total
Violettschwingelrasen auf Karbonat 14 1 15
Krummseggenrasen auf Silikat 9 1 10
Nährstoffreicher Rasen auf Silikat 10 7 17
Schneetälchen 10 3 13
Gletschervorfeld 6 0 6
Nacktriedrasen 5 2 7
Total in den untersuchten Flächen 38 11 49
Ausserhalb der Hotspotflächen 61 29 90
Vor 2012 nachgewiesen 26 1 27
Furkagebiet total 125 41 166
Davon typische Hochgebirgsarten 43 20 63
Schweiz total ca. 840 ca. 260 ca. 1 100
Die totale Artenzahl entspricht nicht der Spaltensumme, weil etliche Arten in meh
reren Habitattypen vorkamen
14 Hotspot Furka | Biologische Vielfalt in den AlpenAlpine Moose
Oben links Das Alpen-Kissenmoos Grimmia
alpestris wächst auf silikatischem Gestein
Oben rechts Schleichers Birnmoos Bryum schlei-
cheri. Die Art wächst, wie auf dem mittleren Bild
zu sehen, in Quellfluren unterschiedlicher Art
Mitte Alpine Quellflur mit Schleichers Birnmoos
und anderen Bryum-Arten. Die Gattung Bryum
ist mit rund 1000 Arten eine der artenreichsten
Gattungen der Laubmoose. Im Hintergrund die
Gärstenhörner und der schwindende Rhone-
gletscher. Foto C. Körner
Unten links Das Flügel-Lebermoos Nardia
breidleri (stark vergössert) kommt auf Schnee-
böden vor
Unten rechts Das Zungenmoos (Tortula hop-
peana = Desmatodon latifolius) ist ein typisches,
in den Alpen häufiges Gebirgsmoos
Alle Nahaufnahmen N. Schnyder
Moose im Gebirge 15Flechten: auf Gedeih und Verderb verflochten
Sind alpine Lebensräume reich an Blü- Flechten sind Symbiosen, welche sich bei mi- 300 Flechtenarten
tenpflanzen, finden sich oftmals auch kroskopischer Betrachtung als Doppelwesen Im Furkagebiet wurden während der Hotspot-
viele Flechtenarten. Insgesamt konnten aus einem Pilz und einer Alge oder einem Cy- tage sowie zwei weiteren Exkursionstagen mit
gegen 300 Flechtenarten zwischen anobakterium entpuppen. Weil sich die Syste- der Schweizerischen Vereinigung für Bryolo-
der Furkapasshöhe und dem Kleinen matik der Flechten primär am Pilzsystem ori- gie und Lichenologie über 270 Flechtenar-
Furkahorn (3026 m ü. M.) entdeckt entiert, bezieht sich der Name der Flechten ten bestimmt. Viele Lebensräume wie alpine
werden. Die Grate und Gipfelfelsen stell- auf den Pilzpartner. Die Algen werden bei der Kleingewässer konnten erst unvollständig
ten sich als die artenreichsten Lebens Bestimmung der Flechten, wenn überhaupt, untersucht werden; noch unbestimmte Bele-
räume heraus – vor allem Krustenflech nicht bis auf Artniveau identifiziert. Die Be- ge lassen vermuten, dass im Furkagebiet weit
ten weisen dort eine sehr hohe Arten ziehung zwischen den beiden Symbionten über 300 Flechtenarten vorkommen dürf-
vielfalt auf. Mehrere Arten konnten hier bleibt während der gesamten Lebensdau- ten. Dies entspricht mehr als 15% aller in der
erstmals für die Schweiz nachgewiesen er der Flechten bestehen, was bei Gesteins- Schweiz nachgewiesenen Arten (ca. 1700).
werden. flechten der alpinen Stufe vermutlich weit In den untersuchten Lebensraumtypen konn
Christoph Scheidegger und Mathias Vust über 1000 Jahre dauern kann. Sogar bei der ten zwischen 15 (Flachmoor) und maximal 64
Vermehrung bleiben die beiden Partner oft Flechten (Zwergstrauchheide mit Alpenaza-
zusammen, indem körnchenartige Ausbrei- lee) nachgewiesen werden. Für die windge-
tungseinheiten sowohl Pilz- als auch einige fegten Zwergstrauchheiden typisch, gedei-
Algenzellen umfassen. Gerade in der alpinen hen dort viele Strauchflechten, daneben aber
Stufe gibt es sogar einige Arten, bei welchen auch sehr zahlreiche, winzige Krustenflech-
Algen an den geschlechtlich gebildeten Pilz- ten, oftmals an kleinen Steinchen an offenen,
sporen kleben und dann gemeinsam verbrei- windverblasenen Stellen. Im Grasland waren
tet werden. es oftmals die gesteinsbewohnenden Arten
Flechten kommen in den Alpen bis auf die der Bergsturzblöcke, welche die Artenzahl er-
höchsten Gipfel vor und erreichen an geeigne- höhten.
ten, nicht zu lange schneebedeckten Stellen Anhand der verschiedenen Flechtenarten
hohe Artenzahlen und Deckungswerte. Dort konnte auch zwischen Lebensräumen mit
bilden sie den Hauptteil der Biomasse und oder ohne Karbonateinfluss unterschieden
bieten herbivoren Gliedertieren Nahrung und werden. Die Schneeböden waren relativ ar-
Schutz. Flechten sind aber auch Lebensraum tenarm, zeichneten sich aber durch eine rela-
für eine Vielzahl parasitischer Pilze, welche tiv häufige und im Untersuchungsgebiet erst-
sich spezifisch auf Flechtenarten entwickeln. mals fertil gefundene und damit bestimmbare
Etwas tiefer, in den alpinen Rasengesellschaf- Krustenflechte aus, welche als Ainoa geochroa
ten, sind erdbewohnende Flechten ein wesent- erstmals für die Schweiz bestimmt werden
Oben Die Flechtenspezialisten im Schneeboden. licher Teil der biologischen Bodenkrusten, konnte. Die eindeutige Bestimmung weiterer
Foto C. Körner welche eine erosionshemmende Haut über Arten mit teilweise kleinen, schwarzen Frucht-
sonst unbewachsene Bodenstellen bzw. Ve- körpern, welche meist ein endolithisches La-
getationslücken bilden. Strauchflechten in ger (d. h. die Flechte dringt ins Gestein ein)
Windheiden sind zudem Winternahrung für aufweisen, muss für die Zukunft (ev. unter Zu-
Schneehuhn, Schneehase, Steinbock und hilfenahme von molekularen Methoden) auf-
Gämse und bremsen den Wind ab. gespart werden.
Flechteneldorado Furka
An einem weiteren Exkursionstag im Herbst
konnten die Gipfelgrate des Kleinen Fur ka
horns zwischen 2800 bis 3000 m ü. M. ab
Anzahl Flechtenarten in den verschiedenen
Habitaten. Nach Anzahl Flechtenarten geordnet gesucht werden. Dort findet sich für den Liche-
nologen schlichtweg das Flech ten
eldorado!
Lebensraumtyp (Nr.) 1 Anzahl Flechtenarten
Gletschervorfeld (9) 13
Kulm-, Steil-, Vertikal- und Überhangsflächen
Flachmoor (11) 15 in unterschiedlicher Expo sition weisen eine
Violettschwingelrasen (4) 24 nicht enden wollende Vielfalt an charakteristi-
Krummseggenrasen (6 ) 35 schen Arten auf, darunter vielen Krustenflech-
Nährstoffreicher Rasen, Westhang (7) 40 ten. Insbesondere Nordost exponierte Vertikal
Schneetälchen (8) 42 flächen waren sehr reich an selten gesammel-
Rasen mit Solifluktion, Nordhang (5) 50 ten oder für die Schweiz erstmals nachgewie-
Bürstlingsrasen (1) 52 senen Arten.
Bürstlingsrasen mit Besenheide (2) 52
Nach der Entdeckung mit der Lupe am Fels
Nacktriedrasen (10) 55
Zwergstrauchheide mit Alpenazalee (3) 64 folgt die Aufsammlung von Belegexempla-
Solitärfelsen ren mit Hammer und Meissel, damit die Ar-
(ausserhalb der gewählten Lebensraumtypen) 12 ten im Labor mit Mikroskop und oft unter Zu
1
(Nr.) bezieht sich auf Habitatnummer (Tabelle auf Seite 7)
hilfenahme chemischer Analysen bestimmt
werden können. Damit die von Flechten ge-
staltete Patina einer Felswand nicht für Jahr-
hunderte verunstaltet wird, achten die For-
schenden auf eine sorgfältige Sammeltätigkeit.
16 Hotspot Furka | Biologische Vielfalt in den AlpenAlpine Flechten
Oben links Die Blattflechte Umbilicaria cylindrica.
An einem zentralen Punkt auf der Unterseite
angewachsen (Nabel = Umbilicus). Hier mit der
Landkartenflechte Rhizocarpon geographicum.
Die grüngelbe Flechte ist sehr typisch auf Sili-
katblöcken und weit verbreitet. Foto C. Schei-
degger
Oben rechts In Zwergstrauchheiden mit Alpen-
azalee sind Strauchflechten der Gattungen
Cladonia, Cetraria und Thamnolia aspektbestim
mend. Foto M. Vust
Mitte Exponierte Felsrippen sind Lebensraum
für Nabelflechten und Dutzende von Krus
tenflechten wie Ophioparma ventosum und viele
Arten der Gattung Rhizocarpon. Foto M. Vust
Unten links Auf Silikat-Schneeböden wächst
die auffällige Blattflechte Solorina crocea mit
oranger Unterseite. Auf der Oberseite sieht man
die braunen Fruchtkörper. Foto M. Vust
Unten rechts Die Krustenflechte Rhizocarpon
pusillum. Foto C. Scheidegger
Flechten im Gebirge 17Pilze: mit und ohne Hut
Das Datenzentrum für Pilze (www.swiss- Im Hochgebirge vermutet man nicht viele Die kleinen Abbauer
fungi.ch) sammelt und prüft Fundan Pilze, vermutlich, weil bekannte Arten wie Ein Heer von Pilzen sorgt zusammen mit Bak-
gaben zu Pilzen für alle Pilzgruppen aus der Steinpilz, der Fliegenpilz oder die Eier- terien und Bodentieren dafür, dass das jähr-
der ganzen Schweiz. Unter Einbezug schwämme noch nie in der alpinen Stufe lich anfallende abgestorbene Pflanzenmate-
von Literaturangaben und Herbarbele- gefunden wurden, was auch nicht erstaunt, rial abgebaut wird. In das durchfeuchtete, tote
gen dürften in der alpinen Stufe der sind diese Arten doch alle an bestimmte Wald- Pflanzengewebe dringen Pilzhyphen ein, und
Schweiz gegen 2000 Pilzarten vorkom bäume als Wirt gebunden. Wer aber gezielt bald wachsen kahle oder haarige Becherchen
men. Die meisten sind klein und un nach Pilzen Ausschau hält, wird rasch bei- (Discomyceten) oder schwarze Wärzchen (Py-
scheinbar. Auf über 2100 m ü. M. wur spielsweise Hasenboviste entdecken und mit renomyceten) heran. Diese Arten reifen lang-
den in der Schweiz mehr als 1200 Arten Erstaunen feststellen, dass sich immer wieder sam und sind auf Feuchteperioden zwischen
nachgewiesen. Allein auf der Furka auffällige Lamellenpilze finden lassen, wenn Schneeschmelze, Sommergewitter, Taunäch-
in Höhenlagen von über 2400 m ü. M. auch meist mit sehr kleinen Fruchtkörpern. ten und Herbstnebeln angewiesen, oder sie
konnten 313 Arten gezählt werden. überdauern einen Winter und bilden ihre Spo
Beatrice Senn, Markus Wilhelm und Thomas Wurzelpilze mit Hut ren erst im Folgejahr aus. Besonders artenreich
Brodtbeck Ein Sechstel aller alpinen Pilze lebt als Ekto sind diese Pilze auf dünnen Halmen von Süss-
mykorrhiza in Symbiose mit überwiegend und Sauergräsern.
verholzten Pflanzen wie Zwergweiden und Bereits den ersten Alpenbotanikern wie Carl
Silberwurz. Der Begriff Mykorrhiza setzt sich Schröter fiel auf, dass die gebräunten Blatt
aus den beiden altgriechischen Wörtern «my- spitzen der Krummsegge (Carex curvula) stets
kes» (Pilz) und «rhiza» (Wurzel) zusammen und von einem Pilzchen besiedelt sind. Clathro
beschreibt die Lebensgemeinschaft zwischen spora elynae heisst diese allgegenwärtige Art
Anzahl von Pilzarten in den beiden Flächen den Bodenpilzen und den meisten Pflanzen- mit sehr auffälligen schwarzen Sporenlagern.
der verschiedenen Lebensraumtypen, arten (siehe Endomykorrhiza Seite 20). Der Ek- Mykologen wie Otto Jaap notierten sie bereits
aufgeteilt nach Asco- und Basidiomyceten
tomykorrhiza-Pilz bildet um die Wurzelenden 1905 auf der Furka.
Asco- Basidio- einen dichten Mantel, wächst in die Zwischen- Tierische Exkremente sind ein weiteres gefun-
Code Lebensraumtyp myceten myceten
räume der Wurzelrinde, dringt aber nicht denes Fressen für hunderte hochspezialisierte
1.1 9 6
Bürstlingsrasen in die Pflanzenzellen ein (deshalb der Zusatz kleine Pilze. Auf dem Dung von Schafen,
1.2 0 6
Ekto = ausserhalb). Die Pilzfäden reichen von Schneehasen und Schneehühnern der Furka-
2.1 Bürstlingsrasen mit 15 9
2.2 Besenheide 2 4 den verdickten Wurzelenden bis weit in den region wurden über 30 Arten festgestellt, dar-
3.1 Zwergstrauchheide 7 6 (2) a Boden und versorgen die Pflanzen mit Wasser unter drei mögliche Erstfunde für die Schweiz
3.2 mit Alpenazalee 3 1 und Nährstoffen. (Coprotus leucopocillum, Delitschia intonsa, Co-
4.1 4 5 Eine Besonderheit in der alpinen Stufe ist, dass niochaeta vagans).
Violettschwingelrasen
4.2 0 3 auch zwei unverholzte Pflanzen, nämlich der
5.1 Rasen mit Solifluktion, 6 18 Lebendgebärende Knöterich (Polygonum vivi- Parasitische Pilze
5.2 Nordhang 14 11 parum) und das Nacktried (Elyna myosuroides), Parasitische Pilze wie die hochspezialisierten
6.1 9 0
6.2
Krummseggenrasen 1 5
Ektomykorrhiza aufweisen. Zu den Ektomykor- Rost- und Brandpilze befallen lebende Pflan
7.1 Nährstoffreiche Rasen, 4 9 rhiza-Pilzen gehören die Arten mit den grös zenteile auch in der alpinen Stufe. Durch den
7.2 Westhang 3 2 sten und auffälligsten Fruchtkörpern in der al lokalen Befall wird in der Regel die Pflanze et-
8.1 2 0 pinen Stufe wie der Hochgebirgs-Speitäubling was beeinträchtigt, die Pflanzen sterben aber
Schneetälchen
8.2 13 1 (1) a (Russula nana) oder der Silberwurz-Milchling nicht ab. Parasitische Pilze finden sich bis in
9.1
Gletschervorfeld
5 3 (Lactarius dryadophilus). grosse Meereshöhen (bis 2850 m).
9.2 2 0 Eine Reihe von Rostpilz-Arten ist durch das
11.1 5 4 Vorkommen ihrer Wirtspflanze ausschliess-
Flachmoor
11.2 4 0
lich auf die alpine Stufe beschränkt. Trachyspo-
a Andere Pilze: Zygomyceten (Jochpilze), Myxamoe-
ba (Schleimpilze), insgesamt 3 Arten. Nacktriedrasen
ra pentaphylleae bildet ihre rotbraunen Lager
(Habitatcode 10) wurde nicht untersucht. an Blättern des Schneetälchen-Frauenman-
tels (Alchemilla pentaphyllea) zwischen 2000
und 2600 m aus. An zwei moosbewachse-
nen quellartigen Standorten konnte der sel-
tene Rost Puccinia saxifragae an Blättern des
Sternblütigen Steinbrechs (Saxifraga stellaris)
Anzahl Pilzarten auf der Furka im Vergleich mit Nachweisen aus Höhenstufen über gefunden werden. Gut kenntlich sind Vertre-
2100 m ü. M. (zwei Gebiete, mittlere Spalte) und dem geschätzten Artenreichtum ter der Brandpilzgattung Anthracoidea in den
der Schweiz (linke Spalte)
Blüten von Seggen-Arten. Die häufigste Art,
Schweiz >2100 m Furka >2400 m Anthracoidea sempervirentis, fehlt praktisch in
Rostpilze, Urediniomycota 540 110 42 keinem Bestand der Horst-Segge (Carex sem-
Brandpilze, Ustilaginomycota 200 25 9 pervirens) bis 2700 m Höhe. Zwischen den
Flaumtaue, Oomycota 220 20 7
Spelzen einzelner Blüten ragen schwarze, koh-
Mehltaue, Erysiphales 140 11 5
Übrige phytoparasitische Ascomycota 450 100 40 lig stäubende, 3 mm dicke Kugeln hervor; die
Saprobe Ascomycota 5 000 206 83 Sporen werden durch den Wind verbreitet.
Bauchpilze 235 31 8
Lamellenpilze (inkl. Röhrlinge), Agaricomycetes 5 000 620 110
Übrige Ständerpilze 2 000 94 6
Schleimpilze 450 6 3
Total 13 235 1 223 313
18 Hotspot Furka | Biologische Vielfalt in den AlpenAlpine Pilze
Oben links Der Alpine Scheidenstreifling Ama
nita nivalis. Die Gattung Amanita umfasst
Mykorrhizapilze und teilweise sehr giftige Pilz
arten wie den Knollenblätterpilz
Oben Mitte Der Alpine Weiden-Schleimfuss
Cortinarius (Myxacium) alpinus. Mykorrhizapilz,
spinnwebenartige Hüllenreste (Velum) am Hut
Oben rechts Der Zwergweiden-Saftling Hygro
cybe salicis-herbaceae. Mykorrhizapilz auf der
Krautweide
Mitte Der Silberwurz-Milchling Lactarius dryado
philus inmitten der Silberwurz Dryas octapetala,
einem alpinen Zwergstrauch
Unten links Der bodenbewohnende Samtfuss-
Nabeling Omphalina velutipes, ein fragiles Hüt-
chen
Unten Mitte Der Rostpilz Puccinia mei-mamillata
auf Blättern des Lebendgebärenden Knöterichs
Polygonum viviparum. Der Pilz vollführt einen
Wirtswechsel vom Doldenblütler Ligusticum
mutellina auf die Knöterichgewächse Polygo
num viviparum und P. bistorta
Unten rechts Saprophytische Pilze: A Sporor
miella octomera (Ascus, daneben eine Spore mit
Schleimhülle) auf Schneehasenlosung.
B Podospora decipiens (Ascosporen mit Stiel,
Keimpori und flossenartigen Schleimanhäng
seln) auf Schaf- und Rinderdung. Zeichnungen
T. Brodtbeck
Alle Fotos M. Wilhelm
A B
Pilze im Gebirge 19Endomykorrhiza: mikroskopische Bodenpilze
Die unsichtbaren arbuskulären (bäum Arbuskuläre Mykorrhizapilze (kurz AM-Pilze) Überraschend grosse Vielfalt
chenbildenden) Mykorrhizapilze ko gehören im Reich der Pilze seit 2018 wieder Bis vor wenigen Jahren wurde nicht erwar-
lonisieren beinahe jede Pflanze, liefern zu der Abteilung Glomeromycota (= Knäuel tet, dass man AM-Pilze in der alpinen Stufe
Bodennährstoffe und stabilisieren pilze), im ganz neu beschriebenen Unter- in grosser Zahl finden würde. Der seither be
das Substrat. Ihre Vielfalt und ökolo reich Mucoromyceta. In dieser Abteilung kannt gewordene Artenreichtum in dieser Hö
gische Bedeutung wurde in alpinen sind heute 3 Pilzklassen, 5 Ordnungen und henlage ist überraschend. Allein rund um die
Lebensräumen lange unterschätzt. In etwa 300 Arten der AM-Pilze bekannt. Die Furkapasshöhe sind etwa die Hälfte der in der
der Furkaregion sind sie allgegen- arbuskuläre Mykorrhiza ist die sowohl häufigs- Schweiz gefundenen Arten (62 von 140) und
wärtig und bieten der Wissenschaft te als auch älteste Mykorrhizaform, ohne die aller bekannten Gattungen (15 von 38) sowie
trotz ihres hohen evolutiven Alters ein Landleben, wie wir es kennen, undenkbar rund ein Viertel aller weltweit bekannten 300
(ca. 400 Millionen Jahre) viele Neuent wäre. Das Fadengeflecht der Pilze durchzieht Arten vertreten (siehe Tabelle ganz unten)!
deckungen. den Boden und wächst mit einzelnen Pilz- Aus verständlichen Gründen gibt es für diese
Fritz Oehl und Benjamin Seitz fäden (Hyphen) in die Wurzelzellen der Pflan- Organismen keine umgangssprachlichen Na-
ze und bildet dort nur im Mikroskop sichtbare, men. Die artenreichsten Gattungen sind Acau-
bäumchenartige Strukturen (Arbuskeln). Die lospora und Glomus mit 17 resp. 15 gefunde-
Er
forschung dieser von Auge unsichtbaren nen Arten. Dominante Arten sind Ambispora
Pilzgruppe ist noch sehr jung. gerdemannii, Acaulospora alpina und Diversis-
AM-Pilze erhalten von ihren pflanzlichen Part- pora versiformis, welche insgesamt etwa zwei
nern Photosyntheseprodukte und erweitern Drittel aller AM-Pilzsporen der alpinen Böden
im Gegenzug mit ihren mikroskopisch dün- ausmachen.
nen Hyphen das erreichbare Bodenvolumen Rund um den Furkapass gibt es artenärme-
und damit das Nährstoffangebot enorm. Zu- re (mit 5 Arten) und artenreichere Habitate
dem schützen sie die Pflanzenwurzeln vor (mit bis zu 30 Arten). Entgegen der Erwar
Schädlingen. Mit Hilfe des Hyphengeflech- tung besteht kein Zusammenhang zwischen
tes werden Bodenaggregate verklebt (stabili- dem Artenreichtum dieser Pilze und der Zahl
siert), was der Erosion und der Auswaschung der Blütenpflanzenarten. Vielmehr spielen die
von Nährstoffen entgegenwirkt. Böden (z. B. Boden temperaturen, Verwitte-
rungsintensität und Bodenwassergehalt) eine
wichtige Rolle für die Diversität dieser Pilze.
Winterkalte Zwergstrauchheiden mit Alpen-
Anzahl Arten von arbuskulären Mykorrhiza
Alpenazalee und das Gletschervorfeld sind
pilzen pro Lebensraumtyp deutlich ärmer an AM-Pilzen als Borstgras-,
Lebensraumtypen Anzahl Pilzarten
Krummseggen- und Violettschwingelrasen
Bürstlingsrasen auf Silikat 27 auf gut entwickelten, humusreichen Böden
Bürstlingsrasen mit Besenheide auf Silikat 24 und in Schneetälchen mit hoher Boden -
Zwergstrauchheide mit Alpenazalee 11 feuchte. Einige AM-Pilze können als Indikator-
Violettschwingelrasen 27 arten bezeichnet werden, sei es für Pionier-
Rasen mit Solifluktionsböden, Nordhang 30 standorte, für Böden mit extremen pH-Werten
Krummseggenrasen auf Silikat 19 oder hohen Bodenwassergehalten.
Nährstoffreicher Rasen, Westhang 17
Schneetälchen 20 Neue Arten
Gletschervorfeld 8
Nacktriedrasen 20 Von der Furka und anderen alpinen Flächen
Flachmoor 19 der Schweiz wurden in den letzten Jahren
einige weltweit neue Arten beschrieben (z. B.
Acaulospora alpina, Acaulospora nivalis und
Pacispora robigina). Während der Hotspottage
Vielfalt von arbuskulären Mykorrhizapilzen im Furkagebiet. Auch
und nachfolgenden Besuchen auf der Furka
wenn die Namen den meisten Leserinnen und Lesern wenig sagen, wurden weitere, bisher noch unbekannte
öffnet diese Liste den Blick auf eine ganz verborgene Biodiversität Arten beobachtet (ca. 15 Arten). Für andere
von grosser Bedeutung für das Pflanzenleben Arten ist ihre Verbreitung in den Alpen oder in
Klassen Ordnungen Familien Anzahl Arten alpinen Stufen überhaupt eine Überraschung
(3) (bekannt 5) (bekannt 15) (bekannt 300) (z. B. Acaulospora punctata) oder gar eine Sen-
Glomeromycetes Glomerales Glomeraceae 18 sation (z. B. Ambispora appendicula).
Entrophosporaceae 4
Diversisporales Diversisporaceae 3
Acaulosporaceae 17
Pacisporaceae 4
Sacculosporaceae 3
Gigasporales Scutellosporaceae 2
Racocetraceae 1
Archaeosporomycetes Archaeosporales Ambisporaceae 5
Archaeosporaeae 3
Paraglomeromycetes Paraglomerales Paraglomeraceae 2
20 Hotspot Furka | Biologische Vielfalt in den AlpenSie können auch lesen