DER ANFANG VOM ENDE ? - Demokraten, Republikaner und die Krise der US-Politik Von John Nichols - Rosa Luxemburg Stiftung
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DER ANFANG VOM ENDE ? Demokraten, Republikaner und die Krise der US-Politik ROSA LUXEMBURG STIFTUNG NEW YORK OFFICE Von John Nichols
Der Anfang vom Ende? Demokraten, Republikaner und die Krise der US-Politik Von John Nichols Als der Satiriker und Fernsehmoderator Bill Das Hauptproblem ist das Zweiparteiensys- Maher im Wahlkampf 2016 auf den erbärmli- tem. Es fungierte in der Zeit nach dem Zweiten chen Zustand der amerikanischen Politik hin- Weltkrieg fast immer als Auffangbecken für wies, sagte er: „Unser System ist beschissen. Unzufriedenheit. Aber es verengte damit den Die Verfassung muss generalüberholt werden.“ Diskurs und schrieb den alten Politikstil fort. Dabei muss Maher an Mark Twain gedacht ha- Selbst wenn das politics as usual einem eini- ben. Der hatte im 19. Jahrhundert Amerikas germaßen nachvollziehbaren und fortschritt- schwere Verwerfungen im ersten „Goldenen lichen Wandel Platz machte, wie in der Deka- Zeitalter“ bloßgelegt und, ohne Erfolg, gegen de zwischen Mitte der 1960er und Mitte der das Abrutschen der jungen Nation in den Im- 1970er Jahre, reagierten die Systemwächter perialismus angeschrieben. im Obersten Gericht und im Kongress darauf mit Ablehnung. Statt die neue Dynamik und Maher sprach eine Wahrheit aus, über die damit den Fortschritt zu begrüßen, schlugen heutzutage selbst die mutigsten Politiker nicht sie sich auf die Seite der Reaktion: indem sie öffentlich nachdenken und die meisten Me- Methoden und Verfahren so veränderten, dass dien schlichtweg nicht sprechen wollen: Das die Parteien und ihre Kandidaten immer mehr amerikanische System funktioniert nicht mehr. von reichen Wahlkampfspendern abhängig Es befindet sich in einer Schieflage und richtet wurden und immer weniger vom Wählerwillen. sich gegen die wirtschaftlichen Interessen der Seit der sogenannten Reagan-Revolution in großen Mehrheit der Amerikaner. Insofern ist den 1980er Jahren buhlen beide Parteien um es „manipuliert“, wie die linksliberale Senato- die Gunst der milliardenschweren Spender- rin Elizabeth Warren aus Massachusetts meint. kaste und der Konzernchefs. Dabei entwickeln Außerdem dient es nur noch der Aufrechter- sie, was der bekannte Verbraucheranwalt und haltung eines aus den Fugen geratenen Status Ex-Präsidentschaftskandidat Ralph Nader ihr quo. Dieses System registriert Politikverdros- „gemeinsames Grundverständnis“ nennt. Das senheit durchaus, aber es ist strukturell so große Geld korrumpiere die Politik, die Wall angelegt, dass jeder Gegenansatz dazu ent- Street überstimme und übernehme Washing- schärft und letztendlich besiegt wird. ton, „und unsere Außenpolitik wird immer mi- litaristischer“. Diese Gemeinschaftlichkeit hat Daher rühren die Spannungen, die den Wahl- die Politik der Kompromisse oft so nervtötend kampf 2016 geprägt haben – die wohl unbere- und langweilig gemacht, dass die Wahlbeteili- chenbarste Wahlperiode seit Ende der 1960er gung selbst bei Präsidentschaftswahlen gera- Jahre. Sie werden auch nach den Wahlen nicht de so eben noch 50 Prozent beträgt. nachlassen. Aber der Wahlkampf legt die Schwachstellen offen, die beseitigt werden Die Schuld daran einzelnen Parteispitzen und müssten, wenn sich in den Vereinigten Staaten -kandidaten zuzuschreiben fällt leicht. Aber ein neuer politischer Prozess mit einer demo- das eigentliche Problem ist struktureller Art. kratischen Steuerung herausbilden soll. Das Zweiparteiensystem geht nicht auf ein 1
JOHN NICHOLS DER ANFANG VOM ENDE? bewusstes Konzept zurück, sondern ist das Er- den großen Parteien der Vorwahlkampf statt- gebnis amerikanischer Wahlkampfpolitik. Die findet. Auf diese Weise wird andersdenkenden beiden großen Parteien sind heute strukturell Kandidaten, die nicht nominiert werden, die so sehr verankert und abgesichert, dass die Bil- Möglichkeit zum Verlassen ihrer Parteien und dung alternativer Parteien immer schwierig ist zum Eingehen neuer Bündnisse vorenthalten – und dabei besonders schwierig ausgerechnet – was in flexibleren und besser funktionieren- dann, wenn ihre Bildung am wahrscheinlichs- den Demokratien gang und gäbe ist. ten wäre: in einem so unvorhersehbaren Wahl- kampf, wenn die Wählerinnen und Wähler mit Über den Mangel an politischer Flexibilität wird ihren Wahlmöglichkeiten unzufrieden sind. Die in der Öffentlichkeit nur selten diskutiert. Dabei meisten amerikanischen Bundesstaaten ma- wäre Flexibilität die Rahmenbedingung für mo- chen es neuen Parteien schwer, auf die Wahl- derne amerikanische Politik und Governance. zettel zu gelangen. In vielen Bundesstaaten Das Problem ist, dass der Rahmen nicht einfach müssen sich alternative Parteien bereits auf nur Brüche aufweist, sondern dass er insge- den Wahlzetteln registriert haben, bevor in samt eine Antithese zur Demokratie darstellt. Amerikas rasant steigende Nachfrage nach neuer Politik Demokraten wie Republikaner haben sich im protesten in einzelnen Bundesstaaten sogar Umgang mit der amerikanischen Politik den von älteren Gewerkschaftsgruppierungen und Tunnelblick angewöhnt. Denn seit Jahrzehnten Mitgliedern des Progressive Caucus im Kongress bewegen sie sich in den Medien- und Verwal- Unterstützung erfährt. Diese Bewegung zieht tungsstrukturen, die ihrerseits eine experi- die Demokratische Partei aus dem politischen mentierfreudigere Politik und damit ein Mehr- Zentrum nach links, während sie gleichzeitig parteiensystem unmöglich machen. Was die partei- und wahlpolitische Alternativen ent- Parteien jedoch noch nicht bemerkt haben: wickelt. Amerika ist größer als ein Tunnel. Die USA haben aber auch eine Graswurzel- Eine Reihe von Entwicklungen haben die Anfor- Rechte, die mit außergewöhnlich reichen Spen- derungen an die Parteien und die Erwartungs- dern und rechten Medien verlinkt und von haltung gegenüber der Politik insgesamt stark diesen abhängig ist. Sie drängt die Republika- ansteigen lassen: der Bedeutungsverlust der ner-Partei weiter an den den rechten Rand des herkömmlichen und die Revolution der sozia- politischen Spektrums. len Medien; die jahrzehntelange Deindustriali- sierung; Globalisierung und Automatisierung; In den Vereinigten Staaten existiert mittlerwei- sowie die Entstehung neuer Bewegungen, le eine ebenfalls wachsende Generation jünge- Lohnstagnation, wirtschaftliche Ungleichheit, rer, sogenannter Millennial-Wähler, die keiner Geschlechterdiskriminierung, Masseneinker- der beiden alten Parteien nahestehen und sich kerungen, rassistische Polizeiübergriffe und von diesen oftmals sogar abgestoßen fühlen. die den Planeten bedrohende Klimakrise. In Innerhalb der Demokratischen Partei hält sich den USA wächst eine linke Basisbewegung he- die Mitte; bei den Republikanern ist der Boden ran, die seit den Occupy- und Anti-Austeritäts- bereits eingebrochen. Und diese Eruptionen 2
JOHN NICHOLS DER ANFANG VOM ENDE? sind noch lange nicht vorbei. Beide Parteien eine 20-jährige Phase des Scheiterns und der sowie der politische Prozess, den sie seit Lan- Selbstzweifel ein, bis Dwight Eisenhower und gem geprägt haben, befinden sich in einer Pe- das moderne Republikanertum auf der Bildflä- riode des Umbruchs – und der wird die ameri- che erschienen. kanische Politik verändern, vielleicht sogar bis zur Unkenntlichkeit. Gleichzeitig widersetzen sich die alteingesesse- nen Parteieliten seit Jahren jeglichem Wandel, Das ist der Hintergrund für die vordergründi- und wenn der Wandel unausweichlich wird, gen Auseinandersetzungen, über die die Medi- nutzen sie ihn zu ihrem eigenen Vorteil. Wenn en berichten. Denn die beiden großen Parteien es Hoffnung auf Reform und Erneuerung ge- stehen eindeutig unter einem massiven Verän- ben soll, dann muss ein Grundverständnis für derungsdruck. Er ist so groß wie in den 1920er die Spannungen und für den Druck, der 2016 und 1930er Jahren. Damals durchlief die De- auf sie zurückgeht, entwickelt werden. Denn mokratische Partei eine radikale Transformati- die Parteien und der politische Prozess in den on nach links unter Franklin Delano Roosevelt. USA hinken den Anforderungen des 21. Jahr- Die Republikanische Partei hingegen tauchte in hunderts weit hinterher. Katastrophenverhinderungspolitik Dieser Prozess ist aus den Schienen geraten, das Rennen im Herbst ruft tatsächlich den wie das Rennen zwischen der Kandidatin der Wahlkampf von 1964 in Erinnerung. Damals Demokraten Hillary Clinton und dem Repub- stand der demokratische Berufspolitiker Lyn- likaner Donald Trump im Herbst zeigt. Beide don Johnson dem Republikaner Barry Gold- sind Umfragen zufolge das mit Abstand un- water gegenüber, der bekannt wurde für den beliebteste Paar, das die beiden Großparteien Satz „Extremismus im Dienste der Freiheit ist in der jüngeren Geschichte hervorgebracht keine Untugend“. Auch die Präsidentschafts- haben. Im Vorwahlkampf gab es noch Hoff- kampagne von 1980 wies Parallelen auf, wenn nungsschimmer. Wirtschaftliche und soziale auch in geringerem Ausmaß. Damals trat der Probleme Amerikas wurden zumindest ange- moderate Demokrat Jimmy Carter gegen den sprochen und halbwegs mit Lösungsvorschlä- Republikaner Ronald Reagan („Der Staat stellt gen beantwortet. Aber der Hauptwahlkampf keine Lösung für unser Problem dar, er ist das im Herbst verlief schon wieder nach dem de- Problem“) an. In beiden Fällen waren die Ar- primierenden alten Schema: Eine wenig mitrei- gumente von Demokraten und Republikanern ßende Zentristin mit engen Verbindungen zu im Prinzip dieselben. Um die Nation und die Konzerninteressen und einem Hang zu über- Welt vor dem Untergang zu bewahren, sei es großer Vorsicht und Kompromissbereitschaft unabdingbar, die andere Partei nicht an die argumentierte, demokratisch zu stimmen sei Macht kommen zu lassen. Politische Ideen und nötig, um die Wahl eines durchgeknallten, ex- Vorschläge, unmittelbare Bedürfnisse oder tremistischen Republikaners zu verhindern. längerfristige Projekte kamen in diesen Angst- kampagnen überhaupt nicht vor. Donald Trump, heißt es, habe den herkömm- lichen Wahlkampf in den USA aus dem Gleich- Natürlich kann es keinen Fortschritt geben in ei- gewicht gebracht und völlig verändert. Aber nem Land, das, statt Vorschläge für die Zukunft 3
JOHN NICHOLS DER ANFANG VOM ENDE? zu entwickeln, eine bloße Katastrophenverhin- Als der Wahlkampf 2016 begann, herrschte an derungspolitik betreibt, und wo Parteien, statt der Parteibasis der Demokraten wie auch der Verbesserungsvorschläge zu machen, als wich- Republikaner in einer Hinsicht Übereinstim- tigste Wahlkampfbotschaft verbreiten, der poli- mung: dass das Land einen Richtungswechsel tische Gegner dürfe auf keinen Fall an die Macht nötig hat. In einer Bloomberg-Umfrage vom kommen. Nach den gängigen Maßstäben ist in Herbst 2015 gaben 69 Prozent der Amerikaner allen Themenbereichen, die Mainstream-Poli- an, das Land bewege sich in die falsche Rich- tiker (wie die Demokraten Franklin Roosevelt, tung. Der Grad der Unzufriedenheit betrug Harry Truman und John F. Kennedy sowie die laut CBS 68 Prozent und laut NBC 70 Prozent. Republikaner Teddy Roosevelt, Wendell Wil- Obama-Unterstützer und Gegner des von Re- kie und Dwight Eisenhower) zum Wohle und publikanern dominierten Kongresses dachten zur Sicherheit der Republik weiterentwickeln dasselbe wie Obama-Gegner und Unterstützer wollten, heute Stillstand eingetreten: größere von Abgeordnetenhaus und Senat, nämlich Fairness und Gleichheit, weniger Machtkonzen- dass es mit dem Land bergab gehe. Ganz klar tration innerhalb des Landes und weniger Ein- stimmte etwas nicht. fluss des militärisch-industriellen Komplexes auf die Außenpolitik. Im heutigen Amerika hat Doch die politischen und wirtschaftlichen Eli- die Ungleichheit groteske Züge angenommen. ten setzten ihren alten Kurs munter fort. Sie Die Löhne stagnieren seit Jahrzehnten. Groß- setzten auf einen Wahlkampf der Polit-Dynas- unternehmen mutieren zu Monopolen, und der tien: auf der einen Seite Hillary Clinton, die Pentagonhaushalt ist aufgebläht bis zum Geht- Ehefrau eines Ex-Präsidenten und Außenmi- nichtmehr. Außer dem einen Prozent, das von nisterin des amtierenden Präsidenten, als Be- dieser Situation profitiert, ist niemand damit zu- werberin um die Nominierung der Demokrati- frieden. Aber die Sachlage bleibt unverändert. schen Partei, und auf der anderen Seite, als Be- werber um die Nominierung der Republikaner, Selbst wenn die Wählerinnen und Wähler ei- Jeb Bush, Sohn eines anderen Ex-Präsidenten nem neuen Präsidenten, der Fortschritt ver- und Bruder eines weiteren. Noch zu Beginn spricht, das Regierungsmandat erteilen wol- herrschte bei den Eliten die Grundstimmung len, wie 2008 Barack Obama, werden Verspre- vor, dass sich der Wahlkampf in der politischen chen auf „hope“ und „change“ abgewürgt von Mitte abspielen würde, oder genauer gesagt: der Oppositionspartei, die Obstruktionspoli- dass Kandidaten, die den Konzerneliten und tik betreibt. Die Regierungsarbeit wird dann milliardenschweren Wahlkampfspendern in zwangsläufig so hilflos und unwirksam, dass den Kram passen, gegeneinander antreten die Frustration überhand nimmt. würden. Die Sanders-Revolution prallt auf den Widerstand der demokrati- schen Parteiführung „Unvermeidlichkeit“ war ein beliebter Begriff, Bevölkerung echt war, und dass sie sich im bis der Wahlkampf begann. Aber dann war es Wahlverhalten stärker ausdrücken würde als vorbei mit dieser Gewissheit. Denn auf einmal von den Experten und Politstrategen erwartet. zeigte sich, dass die Unzufriedenheit in der Bernie Sanders, der Senator von Vermont, der 4
JOHN NICHOLS DER ANFANG VOM ENDE? die Vorwahlen bei den Demokraten mit dem gewagt. Darüber hinaus trug er Vorschläge vor, Versprechen auf eine „politische Revolution“ die eine Mischung aus europäischer Sozialde- aufgemischt hatte, sagte mir nach seinem Aus- mokratie und Anti-Austeritätsbewegung nach scheiden aus dem Rennen: der Wirtschaftskrise von 2008 darstellten: eine staatliche Krankenversicherung, gebührenfrei- In den 46 Einzelstaaten, in denen wir Wahlkampf es Studium, wirtschaftliche Planung und Inves- gemacht haben, trafen wir viele fantastische titionen in die Infrastruktur. Menschen, die unkonventionell denken und die den Unsinn, den uns das Establishment über unsere angeblich unrealistischen Ziele einzure- Sanders’ Ansätze waren freilich eher innenpo- den versucht, durchschaut haben. Wir können litisch und weniger internationalistisch ausge- viel, viel mehr erreichen, und dafür kämpfen wir richtet als beispielsweise die des Chefs der bri- auch. tischen Labour-Partei, Jeremy Corbyn. Sanders meinte: Dass Sanders Recht hat, bestätigen die Umfra- gen und teilweise auch das Wahlverhalten: Die Ich glaubte im Innersten meines Herzens keines- Amerikaner sind bereit zu unkonventionellem falls, dass meine Vorschläge besonders waghalsig, Denken. Ebenso stimmte seine Einschätzung radikal oder verwegen waren. Was ich vorschlug, würden die meisten Amerikaner unterstützen, eines Systems, das vom Establishment be- wenn man ihnen diese Vorschläge in aller Aus- herrscht wird, dem solches Denken zuwider- führlichkeit unterbreiten könnte – was unter den läuft. Es kann laut Sanders nur mit Hilfe einer gegebenen Umständen aber nicht stattfindet. Du politischen Revolution aus den Angeln geho- kannst Dir 14 Jahre lang CNN anschauen, und ben und verändert werden. Aber selbst er un- kein einziges Mal wirst Du eine Diskussion über terschätzte dann die Entschlossenheit, mit der die staatliche Krankenversicherung finden. Du wirst keine Kritik an der Arzneimittelindustrie dieses Establishment die Partei im Griff behal- hören, und Du wirst nicht besonders viel hören ten will. Im Wahlkampf 2016 machten die Eliten über die Ungleichverteilung von Einkommen und der Demokratischen Partei deutlich, wie ernst Reichtum. es ihnen um ihre politische Vorherrschaft und die sich daraus ergebenden wirtschaftlichen Natürlich war es aber doch radikal von ihm Pfründe ist. zu sagen, dass weit verbreitete Vorstellungen wenig Gehör finden und populäre Vorschläge Sanders musste für einiges Lehrgeld zahlen. nicht in die Tat umgesetzt werden, weil für die Er stellte sich gegen das Establishment, indem Massenmedien Vermarktung und Unterhal- er im politischen Prozess die Grenzen testete, tung Priorität besitzen. Zivilgesellschaftliche die die Eliten aus Politik und Medien gezogen und demokratische Werte müssen zurückste- hatten. Einige politische Grenzen erkannte hen. Ebenfalls radikal war das von Sanders vor- er an, etwa indem er vor den Vorwahlen vom getragene Argument, der Nominierungspro- Unabhängigen zum Mitglied der Partei wur- zess bei den Demokraten sei manipuliert. Der de. Als Grund nannte er die Kürze der Zeit, die Einfluss neuer, vor allem junger Wähler und von eine erfolgreiche Kandidatur als Unabhängiger Unabhängigen werde begrenzt, die Rolle von oder den Aufbau einer eigenen Wahlpartei in- Parteieliten, sogenannten Super-Delegierten, nerhalb von ein paar Monaten unrealistisch dagegen ausgeweitet. Letztere spielen in den machte. Als Sanders dann bei den Demokraten Vorwahlen eine entscheidende Rolle, obwohl mitmischte, verweigerte er sich den Gepflo- sie den Wählerinnen und Wählern an der Basis genheiten und trat als stolzer demokratischer gegenüber nicht rechenschaftspflichtig sind. Sozialist auf. So etwas hatte in den Vorwahlen Radikal war schließlich auch Sanders Ruf nach der Demokraten bislang noch kein Kandidat Verfassungsreformen mit pointierten Forde- 5
JOHN NICHOLS DER ANFANG VOM ENDE? rungen, etwa dass Unternehmen keine Indi- schriften, Webseiten und Radioprogramme, vidualrechte besitzen sollten und dass Reiche die den Mächtigen auf die Finger schauen. mit ihren wirtschaftlichem Gewicht bei Wahlen Aber das Mediensystem als Ganzes tendiert nicht „lauter“ als die Mehrheit sein dürften. hin zu dem, was auch den wirtschaftlichen Außerdem forderte Sanders das Recht für Bür- Eliten am Liebsten ist: eine zentristische Sozi- ger und ihre gewählten Vertreter, die Wahlen alpolitik, eine konservative Finanzpolitik und so ausrichten zu können, dass Stimmen mehr eben Politiker wie Clinton, die seit Langem mit Gewicht haben als das Geld, das Unternehmen ihnen verbündet ist. Ausnahmen von dieser und Milliardäre an ihre Lieblingskandidaten Regel treten nur dann ein, wenn Politiker ex- spenden. trem unterhaltsam und/oder furchterregend wie Donald Trump sind. Denn das garantiert Selbst seine eifrigsten Verfechter waren über so viele Internetclicks und so hohe Einschalt- den Senkrechtstart seines Wahlkampfs über- quoten, wie sie sonst nur Athleten und Pop- rascht. Die linke Kritik, die Sanders den ganzen stars einfahren. In dieses Kalkül passte San- Vorwahlkampf über mit solcher Entschlossen- ders jedenfalls nicht – was ihn die Medien auch heit vortrug, kam sehr gut an. Er erhielt insge- spüren ließen. samt 13,2 Millionen Stimmen und gewann in 23 Vorwahlen und Caucus-Versammlungen der Ende 2015 lagen Sanders und Trump in etwa Demokratischen Partei. Auf ihrem Parteitag, gleichauf. Bis dahin hatten alle Kandidaten der Democratic National Convention, stellte er in beiden Parteien bereits mehrere Monate 1865 von insgesamt 4763 Delegierten – so viele Wahlkampf hinter sich. Trump erhielt laut ei- Delegierte hatte in der modernen amerikani- nem Umfragedurchschnitt, den die Webseite schen Geschichte noch kein Außenseiter-Kan- „Real Clear Politics“ ermittelte, von republika- didat erhalten. Sanders war so populär, dass nischen Wählern landesweit 30,4 Prozent. Bei Clinton ihr altes Programm aufgeben und viele den Demokraten kam Sanders auf 31 Prozent. seiner Forderungen gleich doppelt überneh- Obwohl sie völlig verschiedene und entge- men musste. Sie fanden sich zum einen formal gengesetzte politische Vorschläge für die USA im Parteiprogramm wieder, das Sanders als machten, erhielten beide Männer Massenun- „fortschrittlichstes in der Geschichte“ der De- terstützung dafür, dass sie die politics as usual mokraten lobte. Zum anderen bewegte sie sich ablehnten. im Vorwahlkampf auf Sanders’ Positionen zu, etwa in den Bereichen Freihandel, höhere Bil- Aber wer glaubte, dafür hätten sie beide ein dung und Gesundheitspolitik. gleiches Maß an medialer Aufmerksamkeit verdient, täuschte sich gewaltig. Der Medien- Die Positionsverschiebung trug letztendlich analytiker Andrew Tyndall, der sich auf die Be- zu Clintons Sieg über Sanders in vielen Vor- richterstattung über Kandidaten spezialisiert wahlen und Caucus-Versammlungen bei und hat, stellte fest, dass die großen Nachrichten- machte sie zur Präsidentschaftskandidatin. sender im Jahr 2015 über Trump 234 Minuten Eine große Hilfe war für sie auch der struktu- lang berichteten und über Sanders bloß zehn relle Vorteil, den die medialen und politischen Minuten. „Die Berichterstattung der Fernseh- Systeme den Lieblingskandidaten der Eliten sender über Trump, der in Umfragen auf 20 verschaffen. Denn es könnte ja Demokratie bis 30 Prozent der Stimmen in den Vorwahlen ausbrechen. kommt, ist maßlos übertrieben. Gleichzeitig ist ihre Berichterstattung über Sanders, der auf Amerika verfügt über eine vielfältige Medi- 20 bis 30 Prozent der Stimmen kommt, maßlos enwelt, darunter zahlreiche Zeitungen, Zeit- untertrieben“, beobachtete Eric Boehlert von 6
JOHN NICHOLS DER ANFANG VOM ENDE? der Webseite „Media Matters“ Ende Dezem- nervös, wie Wikileaks kurz vor dem Parteitag ber 2015. Und weiter: „Nun führt Trump das der Demokraten (DNC) enthüllte. Tausende Rennen bei den Republikanern an, womit ihm von DNC-E-Mails erhärteten den Verdacht der zurecht mehr Aufmerksamkeit zuteil wird als Sanders-Unterstützer, dass die Parteiführung Sanders, der bei den Demokraten an zweiter im Vorwahlkampf zu Gunsten von Clinton Stelle steht. Aber 234 Sendeminuten für Trump ständig das Zünglein an der Waage spielte. In und nur 10 Sendeminuten für Sanders, wie es manchen E-Mails war zu lesen, dass hochrangi- im Tyndall-Bericht heißt?“ ge DNC-Beschäftigte erwogen hatten, Sanders wegen seiner Religion anzugreifen. Ein Anwalt Man stelle sich einmal vor, die Medien hätten hatte dem vorbereitenden Parteitagsaus- dem demokratischen Sozialisten Sanders, der schuss juristischen Rat angeboten, als Clinton sich gegen die Eliten für die arbeitende Bevöl- vorgeworfen wurde, die Fundraising-Struktur kerung einsetzte, ähnlich viel Beachtung ge- begünstige sie. Die DNC-Vorsitzende Debbie schenkt wie dem milliardenschweren Repub- Wasserman Schultz nannte Sanders’ Wahl- likaner, der mit seinem fadenscheinigen Popu- kampfchef Jeff Weaver „ganz besonders dre- lismus die Amerikaner nach Hautfarbe, Her- ckig“ und „einen Arsch“. Die E-Mails, die von kunft und Religion zu spalten versuchte. Hätte vermeintlich unvoreingenommenen Partei- Sanders dann die Erwartungen gesprengt und größen stammten, spielten die Kandidatur des wäre der Kandidat der Demokraten geworden, progressiven Senators herunter, selbst als er so wie es Trump bei den Republikanern wur- Schlüssel-Vorwahlen gewann. Als Sanders ein- de? mal vorschlug, Wasserman Schultz auszuwech- seln, reagierte sie mit einer scharf formulier- Sanders ist der Meinung, er habe jüngeren ten E-Mail an einen anderen Parteimitarbeiter: Wählern, „die sich nicht die Abendnachrichten „Er wird auf keinen Fall Präsident.“ Als Sanders’ ansehen“, sondern in den sozialen Medien ak- Wahlkampfchef Weaver auf die Voreingenom- tiv sind, seine Vorschläge sehr wirksam unter- menheit von Wasserman Schultz und anderer breiten können.Er gibt aber auch zu, dass sich DNC-Größen angesprochen wurde, bemerkte seine Siegeschancen deshalb verringerten, er: „Vieles von dem, was wir vermuteten, pas- weil die Medien über seinen Wahlkampf in den sierte auch.“ entscheidenden Momenten nicht themenbe- zogen berichteten, sondern stattdessen politi- Wasserman Schultz musste zurücktreten. schen Klatsch und Tratsch verbreiteten. Über Aber die Vorsitzende und ihre Verbündeten die großen Sendeanstalten, die für Wählerin- bekamen die Kandidatin, die sie unbedingt ge- nen und Wähler über 50 die Hauptnachrichten- wollt hatten. Gleichzeitig aber ernteten sie das quelle geblieben sind, sagte der Senator: „Sie Misstrauen von Sanders-Unterstützern, die schadeten uns bei den älteren Menschen sehr. ihnen mitunter mit offener Aversion begegne- Denn die erfuhren über uns von ABC oder CBS ten. Misstrauen und Aversion führten in der ja kaum etwas“. Partei zu mehr Spaltungen und Kampfansa- gen, je näher im Herbst der Hauptwahlkampf Der demokratische Sozialist erzielte überwäl- rückte. Während sich Sanders hinter Clinton tigende Siege, wenn er mit Wählern in direk- stellte, hatte die Kandidatin Schwierigkeiten, ten Kontakt kam und dabei, statt über Perso- sich gegen Trump zu behaupten – gegen einen nen zu sprechen, sich auf politische Themen Kandidaten, den selbst Republikaner wie der konzentrierte. Das war der Fall etwa in New Gouverneur von Ohio, John Kasich, der in den Hampshire, Michigan, Wisconsin, Indiana und republikanischen Vorwahlen gescheitert war, Oregon. So etwas machte die Parteiführung als rundum dienstuntauglich bezeichneten. 7
JOHN NICHOLS DER ANFANG VOM ENDE? Die republikanischen Wurzeln des Trumpismus Während die Demokraten die Sanders-Rebel- einbarungen, die Banken-Bailouts und andere lion unterdrückten, vielleicht zu ihrem eige- Wall-Street-freundliche Vorschläge, die die Re- nen Nachteil, ließen sich die Republikaner von publikanerführung im Kongress durchbrachte, Trump überrennen. Aber wo liegt der Unter- den eigenen Stammwählern nichts. Vielmehr schied zwischen den beiden Parteien? Wes- verschlechterte sich deren wirtschaftliche Situ- halb wurde die Sanders-Rebellion zur selben ation. Trump fand heraus, dass er nur an den Zeit blockiert wie die Trump-Rebellion erfolg- Republikaner-Vorwahlen teilnehmen und dort reich war? Die Antwort lautet natürlich, dass seine Konkurrenten als Spendengeldganoven Trump in viel geringerem Ausmaß ein Rebell ist und politische Trickbetrüger bezeichnen muss- als Sanders. Trump wurde oft als „Milliardärs- te, um zu gewinnen. Die 16 anderen republika- Populist“ bezeichnet. Aber er war immer eher nischen Mitbewerber zu schlagen, die aus ihren Milliardär denn Populist. Das hatten einige aus eigenen Insider-Reihen mit Hilfe hochdotierter der Republikanerelite schnell erkannt. Aber für Berater und Strategen einen Kandidaten her- andere, die sich ihm widersetzten, war es von vorbringen wollten, war für Trump überhaupt Anfang an vorbei. nicht schwer. Die konservativen Eliten und Ex- perten wollten zwar verhindern, dass ihnen Trump wurde der Präsidentschaftskandidat der milliardenschwere politische Emporkömm- der Republikaner, weil er die Partei durch- ling einen Strich durch die Rechnung machte. schaute. Er wusste, dass die Parteiführung Aber sie widersetzten sich Trump kaum. seit Richard Nixons Wahlkämpfen im Zeichen von „Southern Strategy“ und „Moral Majority“ Diese Eliten stellten sich seit Jahren mehr oder zu Beginn der 1970er Jahre nur noch zynische weniger hinter die Familie der Ex-Präsidenten politische Manöver durchführte. Denn sie er- George Herbert Walker Bush und George W. kämpften sich die Macht, indem sie zuerst den Bush. Immer wieder hatten sie in der Vergan- konservativen Wählerinnen und Wählern in genheit ihren Einfluss gegen rechtsreligiöse den Südstaaten und auf dem Land eine rech- Extremisten wie Pat Robertson im Jahr 1988 te Sozialpolitik versprachen und dann die Re- und gegen rechte Populisten wie Pat Bucha- gierungsgeschäfte betrieben, in dem sie die nan in den Jahren 1992 und 1996 verteidigen Interessen ihrer reichen Wahlkampfspender können. Dasselbe schwebte ihnen dieses Mal und der Wall Street vertraten. Die Strategen vor, als sie sich mit einem weiteren Mitglied der Republikaner rechneten sich aus, dass der Republikaner-Familiendynastie zusam- Wahlgewinne auch weiterhin mit einer Politik mentaten, mit dem Ex-Gouverneur von Florida des Teile und Herrsche sowie mit Angst zu er- Jeb Bush oder – im Falle eines Scheiterns – mit zielen seien: indem man jeweils im Wahlkampf einem anderen Insider, dem früheren Gou- die Stimmung anheizte mit der Furcht vor In- verneur von Massachusetts Mitt Romney. Der tegration und Einwanderung, vor „affirmative glücklose Präsidentschaftskandidat von 2012 action“ und Abtreibungsrecht sowie vor der musste vier Jahre später allerdings schon früh eherechtlichen Gleichstellung von Schwulen im Vorwahlkampf Jeb Bush Platz machen, der und Lesben. Problematisch blieb dabei, dass wie eine Dampfwalze nach einem bewährten Republikaner-Präsidenten und republikani- Muster daherkam: mit einem riesigen Spen- sche Kongressmehrheiten nur noch selten denaufkommen aus Unternehmerquellen, mit für die eintraten, die sie in die Ämter gewählt Wahlaufrufen seitens prominenter Republi- hatten. Tatsächlich brachten die Handelsver- kaner und mit Hilfe derselben Strategen, die 8
JOHN NICHOLS DER ANFANG VOM ENDE? einen Bush auf sechs der letzten neun repu- dass auch ihr Hass auf die Republikaner-Eliten blikanischen Präsidentschaftstickets gesetzt gerechtfertigt sei. hatten. Trump wurde es außerdem von den Medien Trump war etwas bewusst, was die Bushs und leicht gemacht. Denn statt einer umfassen- Romney abstritten: dass die Parteibasis nicht den Wahlkampfberichterstattung hatten die nur Demokraten wie Barack Obama und Hil- Einschaltquoten Priorität, und Trump war der lary Clinton hasste, sondern auch bestimmte Garant für hohe Quoten. CBS-Chef Les Moon- Republikanerchefs, nämlich solche, die sich ves räumte auf einer Konferenz der Medien- weigerten, Obama und Clinton mit offener Ver- branche sogar ein, dass die Ratings und die Zu- achtung zu begegnen. In den Augen der Partei- satzeinnahmen, für die die Trump-Bewegung basis disqualifizierte sich Trump keineswegs, sorgte, „vielleicht nicht gut für Amerika, aber als er Verschwörungstheorien wie die von verdammt gut für CBS“ seien. Die Berichterstat- Obama als einem in Kenia geborenen radika- tung über den Milliardär war oberflächlich und len Muslim verbreitete oder die von Clinton als lief ohne Pause. Mit den Worten „Trump, Trump, einer Riesenverbrecherin, die nicht ins Außen- Trump, Trump, Trump, Trump und noch einmal ministerium oder Weiße Haus, sondern in den Trump“ beschrieb der langjährige politische Be- Knast gehöre. Aber Trump konnte sagen, was obachter Larry Sabato die Herangehensweise er wollte – in den Augen der Parteibasis behielt der Mainstream-Medien in der Vorwahlsaison. er Recht. Denn zwei Jahrzehnte lang waren ihr Bis Ende Februar 2016 war über den Milliar- von rechten Medien und zynischen Politstrate- där nach einer Erhebung der Zeitschrift „The gen ohne Unterlass Lügen und Hass eingetrich- Economist“ in den Abendnachrichten der Sen- tert worden. Trump trauten und bevorzugten deanstalten zehn Mal mehr berichtet worden diejenigen Republikaner am meisten, die als als über den Senator aus Florida Marco Rubio. Stammwähler keine Vorwahl auslassen, sowie Ihn hatten viele Establishment-Republikaner die extreme Rechte. Zur letzteren gehörten als letzte Hoffnung vor Trump eingestuft. Diese Anhänger des ehemaligen KuKluxKlan-Chefs Overkill-Berichterstattung über Trumps Kan- David Duke und die antiislamischen und ein- didatur machte „The Donald“ zum Schwerge- wandererfeindlichen Fanatiker, die man später wicht im Republikaner-Wettbewerb. Amy Goo- als „alt-right“ bezeichnete. dman von Democracy Now! sagte dazu: „Trump braucht seinen Wahlkampf nicht auf die Straße Dass Trump eine republikanische Vorwahl tragen, denn er ist längst in jedes Wohnzimmer nach der anderen gewann, kam dann nicht gepumpt worden.“ Für Trump ein unschätzba- mehr überraschend. Er konnte sich auf Wähler rer Wert. stützen, die den Großteil ihrer Informationen vom rechten Fernsehsender Fox, den rechten Ebenso unschätzbar war für Trump die Ver- Radioprogrammen von Rush Limbaugh und bissenheit, mit der die bekanntesten und Sean Hannity sowie von rechtsradikalen Web- mächtigsten Republikaner des Landes an ih- seiten bezogen. Genau von dort kamen die Ver- ren Ämtern festhielten. Der Fraktionschef im schwörungstheorien und der Hass, den Trump Repräsentantenhaus Paul Ryan und der Se- über Einwanderer, Flüchtlinge und Minderhei- nats-Mehrheitsführer Mitch McConnell murr- ten ausgoss und dann im Mainstream ausbrei- ten zwar ab und zu, wenn sich Trump rassis- tete. Trump gründete keine neue Bewegung; tisch, sexistisch, xenophob und justizfeindlich er bestätigte den Wählerinnen und Wählern, äußerte. Aber ihrem verhaltenen Tadel fügten denen der Hass auf die demokratischen Eliten sie jedes Mal das Zusatzversprechen an, dass längst eingeimpft war, im Wahlkampf erneut, sie den Kandidaten unterstützen würden. 9
JOHN NICHOLS DER ANFANG VOM ENDE? Trump hatten sie offenbar einen Freibrief er- halt und Machtausbau. Mit ihrer Entscheidung teilt – er konnte sagen, was er wollte, egal wie machten Ryan, McConnell und Cruz aus der schlimm, ohne dass ihm die wichtigsten Repu- „Partei Lincolns“ oder der „Partei Reagans“, wie blikaner die Unterstützung entziehen würden. sie genannt wurde, die „Partei Trumps“. Sie bil- Diese Botschaft kam bei den republikanischen deten sich ein, nach dem Zwischenspiel Trump Wählern genau an. Trump wurde stärker. Als werde die Partei wieder zu ihrer alten Würde der Vorwahlkampf entschieden war, spran- zurückkehren und eine alte Strategie würde gen nach und nach auch verbitterte Gegner, wieder aufgehen: sich selbst und die Partei als wie der Senator aus Texas Ted Cruz, auf den ehrbar zu präsentieren, während man alle vier Trump-Zug auf und gesellten sich zu McCon- Jahre insgeheim schmunzelte und nickte, wenn nell und Ryan. die Parteibasis mit Hilfe von Verschwörungs- theorien und rassistischen Ressentiments ge- Die Botschaft, die Ryan, McConnell und Cruz gen die Demokraten aufgehetzt wurde. Aber verbreiteten, war klipp und klar: Parteidiszi- Trump hatte, politisch gesehen, die Büchse der plin geht immer vor Grundhaltung, für die Pandora geöffnet, in die die Republikaner nicht Partei gibt es nichts Wichtigeres als Machter- mehr zurückzustopfen sind. Die Entgleisung des republikanischen Zuges Aber nicht nur die Republikaner logen sich in te ein gewisses Maß an Fortschritt dar, reicht die Tasche. Als der Hauptwahlkampf begann, aber leider nicht aus. meinten demokratische Berater immer noch, ein altmodischer Wahlkampf nach dem Motto Führende Demokraten haben bis heute nicht „Wir sind besser als die“ gegen Trump und die verstanden, dass der Wahlkampf von Sanders Republikaner werde ans Ziel führen. Aber Clin- nicht nur Hillary Clinton überrunden wollte, ton war laut Umfragen gerade bei unabhän- sondern die Struktur der Demokratischen Par- gigen Fortschrittlichen, in der Arbeiterschicht tei und des gesamten politischen Prozesses in und ganz besonders bei den Millennials, die Frage stellte. Der Senator aus Vermont behielt Bernie Sanders mit seiner demokratisch-sozi- mit seiner Einschätzung Recht: alistischen Kandidatur begeistert hatte, unbe- liebt. Den Umfragen zufolge waren nicht be- Bundesstaat für Bundesstaat nahmen wir uns die sonders viele Sanders-Unterstützer für Trump. gesamte demokratische Führung vor. Wir nahmen uns den Gouverneur vor, die beiden Senatoren Im Gegenteil, sie fanden ihn abstoßend. Aber und sämtliche Bürgermeister – und wir erzielten gleichzeitig waren sie wütend auf die Führung große Siege. Was sagt das aus über die Beziehung der Demokraten, die gegen die Sanders-Rebel- der Führung der Demokraten zur Parteimitglied- lion intrigiert hatte. Da einige Clinton-Unter- schaft? Ich denke, die Demokraten müssen für jun- stützer das Ausmaß der Wut richtig einschätz- ge Menschen die Türen offenhalten. Heißt sie herz- ten, sorgten sie zusammen mit Sanders-Unter- lich willkommen und bereitet Euch gleichzeitig auf ein Chaos vor. Denn viele dieser jungen Menschen stützern für den Rücktritt der DNC-Vorsitzen- sind keine Profi-Politiker, die seit 30 Jahren Mit- den Debbie Wasserman Schultz und richteten gliedsbeiträge bezahlen. Die Demokratische Partei einen Reformausschuss ein, der die Kandida- muss sich der Lebenswelt der Jungen anpassen, tenauswahl modernisieren soll. All dies stell- sie darf nicht die Jungen und die Arbeiter zwingen, 10
JOHN NICHOLS DER ANFANG VOM ENDE? sich den Bedürfnissen der Demokraten-Führung sicht unverzichtbar sind, wenn es eine Regie- anzupassen. rung geben soll, die ihren Werten und Ansprü- chen gerecht wird. Eine Gallup-Umfrage vom Schon die Annahme, ein „chaotischer“ Prozess September d.J. ergab, dass nur 38 Prozent der könne zur Öffnung einer Partei führen, die zur Amerikaner die beiden Parteien für fähig und Geschlossenheit neigt, ist von Optimismus ge- willens hielten, die Bedürfnisse der Bevölke- prägt. Eher wahrscheinlich ist, dass die Führer rung wahrzunehmen und zu artikulieren. 60 in beiden Parteien und die Experten die Situa- Prozent der Befragten drückten den Wunsch tion falsch einschätzen und meinen, die Rebel- nach einer weiteren Partei im Land aus. Das ist lionen würden Ende 2016 absterben. Genau ein dramatischer Zuwachs im Vergleich zu vier das wird nicht passieren. Denn Globalisierung, Jahren davor. Damals sagten 45 Prozent, zwei Deindustrialisierung, Automation, verfehlte Parteien würden ausreichen, und 46 Prozent Austeritätsprogramme, aufgeblähte Militär- wollten mehr als das. Mehr als die Messdaten haushalte und verkorkste nationale Prioritäten sagen aber wahrscheinlich praktische Belege werden sich mit diesen Wahlen nicht zum Bes- über das Interesse und die Unterstützung für seren hin verändern. Viel eher werden sie sich eine Mehrparteiendemokratie aus. Nun stehen wie ein Krebgeschwür ausbreiten. Denn die zwar Drittparteien in den USA seit jeher viele USA und andere westliche Demokratien haben Hürden im Weg, von der Ausblendung aus den mit einer neuen Weltordnung zu kämpfen, die Medien über den Ausschluss von Präsident- sie zwar eingeleitet, die aber inzwischen ih- schaftsdebatten im Fernsehen bis hin zu den rer Kontrolle entglitten ist. Außerdem ist das hohen Kosten, die Petitionen für den Eintrag in amerikanische Zweiparteiensystem zu einem die Wahllisten verursachen. Trotzdem gelang es Zwangskorsett geworden. Es passt längst nicht der wirtschaftskonservativen und soziallibera- mehr auf das immer größer werdende Spek- len Libertarian Party, in allen 50 Bundesstaaten trum an Vorstellungen, Ansprüchen und For- und im District of Columbia auf den Wahlisten derungen im Land. aufgeführt zu werden. Die Green Party steht in 44 Bundesstaaten sowie im District of Colum- Die Amerikaner haben die herkömmliche Poli- bia zur Wahl. Zu Beginn des Hauptwahlkampfs tik satt, ebenso wie den daraus resultierenden lagen die Libertären in vielen Einzelstaaten und Reformstau, die Ungleichheit und die Unge- in landesweiten Umfragen im zweistelligen Pro- rechtigkeit. Ein Drittel der Amerikaner sieht in zentbereich und erhielten sogar Wahlempfeh- der Unfähigkeit der Washingtoner Regierung, lungen von einigen großen Zeitungen. größere Probleme anzugehen, eine „Krise“, 51 Prozent halten sie für „ein großes Problem“. Die Grünen kamen landesweit zweitweise auf Das ergab eine Gallup-Umfrage im Frühjahr bis zu fünf Prozent und in großen Bundesstaa- 2016. Ähnlich große Bevölkerungsanteile hal- ten wie Kalifornien sogar noch darüber – was ten den Hang der Parteiführungen zur Partei- ihnen 2016 rekordverdächtig viele Stimmen disziplin statt zum Gemeinwohl für eine „Kri- einbringen könnte. Darüber hinaus dehnt sich se“ (30 Prozent) oder ein „großes Problem“ (55 die in New York beheimatete Working Families Prozent). Diese enttäuschten Bürgerinnen und Party im Eiltempo auf andere Bundesstaaten Bürger schieben die Schuld an den Problemen aus und erscheint damit auf weiteren Wahl- des Landes jedoch nicht ganz auf die beiden listen. Die Partei unterstützt oft linke Demo- großen Parteien, sondern völlig zurecht auch kraten, nominiert bei Wahlen aber manchmal auf eine geistlose und konsolidierte Medien- auch eigene Kandidaten und gewinnt dann landschaft. Die Amerikaner merken langsam, auch. Hinzu kommen die Wahlsiege der Stadt- dass mehr Wahlmöglichkeiten in vielerlei Hin- rätin von Seattle Kshama Sawant, die offen für 11
JOHN NICHOLS DER ANFANG VOM ENDE? Socialist Alternative antrat. Ihre Erfolge haben nen die Wahl der US-Senatoren (die zuvor le- weitere Sozialisten im ganzen Land inspiriert, diglich vom Senat des jeweiligen Bundesstaats bei lokalen Wahlen zu kandidieren. ausgewählt wurden), das Frauenwahlrecht und die Erweiterung der bundesstaatlichen Be- Trotz aller Belege, dass die Amerikaner mehr steuerungs- und Regulationsbefugnisse veran- Wahlmöglichkeiten haben wollen, sind die kert werden konnten. Sie waren die Grundla- Aussichten auf eine Öffnung des politischen gen für Franklin Delano Roosevelts New Deal. Prozesses in den USA trübe. Vor den struktu- Auch heute entstehen neue Bewegungen für rellen Hürden, die sich dabei auftun, schrecken eine Verfassungsreform. Bis Mitte 2016 war selbst die optimistischsten Reformer zurück. die Zahl der einzelstaatlichen Parlamente, die Hinzu kommt: Auch ist eine Mehrparteiende- den Kongress zu Verfassungsänderungen und mokratie keinesfalls ein Garant für eine besse- zu einer Wahlfinanzierungsreform auffordern, re und schönere USA. Denn auch Länder mit auf 17 angewachsen. Ziel ist es, allen Kandida- einer offeneren und funktionierenden Politik ten und Parteien gleiche Ausgangspositionen haben ungelöste wirtschaftliche und politische zu verschaffen. Probleme. Außerdem entsteht eine neue Wahlrechtsbe- Wenn sich nach den Wahlen 2016 der Staub wegung, die die Hürden für eine gleichberech- gelegt hat, werden sich die Eliten miteinander tigte Wahlbeteiligung aus dem Weg räumen über die politischen Schwachstellen unterhal- will. Sie geht beispielsweise vor Gericht gegen ten, die der Wahlkampf bloßgelegt hat. Dabei die Manipulation der Wahlbezirkseinteilung, wird darüber diskutiert werden, ob das seit das sogenannte Gerrymandering, vor. Diesen Mitte des 19. Jahrhunderts bestehende Zwei- Trick, mit dem eigene Kandidaten begünstigt parteiensystem in das heutige Amerika des 21. werden sollen, wenden beide großen Partei- Jahrhunderts passt. Jedoch wird es in diesen en an. Eine weitere landesweite Gruppierung Diskussionen, da sie auf Elitenebene stattfin- namens FairVote hilft Community-Aktivisten in den, eher um Flickschusterei an bestehenden vielen Bundesstaaten bei der Einführung von Strukturen statt um deren Generalüberholung „Instant-Runoff-“ und „Ranked-Choice“-Stimm- gehen. Über einen echten Strukturwandel wird abgabesystemen. Durch diese wird jede Stim- dagegen tiefgründig und engagiert auf der me, die einem unterlegenen Kandidaten gege- Graswurzelebene debattiert werden, dort also, ben wurde, an einen aussichtsreicheren Kandi- wo soziale Medien und unabhängiger Journa- daten übertragen (den wiederum der Wähler lismus neue Netzwerke für Auseinanderset- selbst zuvor ausgewählt hat). Diese Reform zung und politisches Engagement aufbauen. verringert die Wahrscheinlichkeit, dass die Diese Diskussion wird vor allem von Linken, Unterstützung für einen „idealen“ Drittpar- aber auch rechts geführt, und sie wird von den teikandidaten den Erfolg eines Kandidaten ei- Erfahrungen aus den Vorwahlen und aus dem ner großen Partei mindert, sowie umgekehrt. Herbstwahlkampf befeuert werden. Denn die Dadurch ist die Furcht, eine Stimme für einen Reichweite der Libertären und der Grünen ist Kandidaten einer Drittpartei zu verschwen- in vielen Bundesstaaten größer geworden. den, gegenstandslos geworden. Das „Ran- ked-Choice“-Wahlsystem in Städten wie San Bereits jetzt gibt es ehrgeizige Reformbewe- Francisco hat bereits zur Wahl von Kandida- gungen mit einem Umschwungpotenzial, das ten aus Drittparteien geführt. Im Bundesstaat an die „Progressive Ära“ vor einem Jahrhun- Maine gibt es jetzt erstmalig eine Bürgeriniti- dert erinnert. Zwischen 1910 und 1920 sorgten ative für solch ein System, das den gesamten Reformer für Verfassungsänderungen, mit de- Bundestaat umfassen soll. 12
JOHN NICHOLS DER ANFANG VOM ENDE? Neue Politik für ein neues Amerika Trotzdem darf die Stärke und Entschlossenheit Wahlen verloren hatte. Vier Jahre später, als sie der radikalen Reformgegner auf keinen Fall un- einigermaßen stabil war, erhielt ihr Kandidat 43 terschätzt werden. Die beiden Großparteien Prozent der Stimmen. Zum Glück für die Repu- sitzen seit immerhin 160 Jahren auf ihrem Duo- blikaner waren die Demokraten in den späten pol, wobei sie immer dann in Bewegung gera- 1960er Jahren noch stärker gespalten als sie. ten, wenn es darum geht, eine unabhängige Im Frühjahr 1968 zog der demokratische Prä- und alternative Partei zu erdrosseln. Es waren sident Lyndon Johnson seine Bewerbung für die Populist Party, die Progressive Party und die Wiederwahl zurück. Die Partei zerfiel in die Socialist Party, die manchmal die Definiti- mehrere sich bekriegende Lager. Während sich onsmacht der großen Parteien in Frage stellen das Establishment hinter Vizepräsident Hubert konnten. Trotz der erheblichen Unterschiede Humphrey stellte, kehrten viele Liberale und zwischen Demokraten und Republikanern tun Progressive den Wahlen den Rücken. Gleichzei- sich beide dann oft zusammen, um die Wahl- tig unterstützten rassistische Südstaatler wie bezirksgrenzen zu ziehen, die Wahlregeln fest- auch Reaktionäre im Norden den unabhängi- zulegen und Opposition auszuschalten. Und gen Abtrünnigen George Wallace, Gouverneur wahrscheinlich werden sie es wieder tun. von Alabama. Am Ende reichten Richard Nixon 43 Prozent, um Präsident zu werden. Vom Wei- Genau deshalb wird innerhalb der beiden Par- ßen Haus aus baute der politische Meisterstra- teien der Reformdruck zunehmen. Am Lautes- tege eine neue Republikanische Partei auf. Sie ten wird es vermutlich bei den Republikanern bot dann nicht nur den Nixon-Wähler von 1968 zugehen. Denn die alte Führungsriege ist in ein Zuhause, sondern auch sehr vielen Wallace- die kleinere #NeverTrump-Fraktion und eine Wählern. größere Gruppierung um Repräsentanten- haussprecher Paul Ryan, Senatsfraktionschef So viel Glück wird den Republikanern dieses Mitch McConnell und die Mehrzahl der repu- Mal jedoch nicht beschieden sein. Denn ein blikanischen Gouverneure gespalten. Erstere Wachstum noch weiter nach rechts ist nicht verweigern Trump die Unterstützung. Letzte- mehr möglich. Seit Trumps Kandidatur hat die re glauben, sie könnten Trump im Wahlkampf GOP endgültig den Ruf einer rassistischen, unterstützen und würden dann ihre Partei fremdenfeindlichen und sexistischen Partei zurückbekommen. Aber dazu wird nicht kom- weg, was ihr einen Einbruch in Wählersegmen- men. Trumps Hauptwahlkampf war zwar chao- te wie die schnell wachsende Latino-Commu- tisch und oft kontraproduktiv, aber er zog viele nity und junge Wähler, unabhängig von Haut- Grassroots-Republikaner sowie Trump-Fans farbe und ethnischem Hintergrund, extrem unter das Dach der Partei. Das werden sie so erschwert. Außerdem ist ein Nixon nicht in schnell nicht wieder verlassen. Aller Wahr- Sicht – ein landesweit bekannter Parteiinsider scheinlichkeit nach stehen deshalb viele Jahre mit großer Politikerfahrung, der gute Bezie- bitterer Grabenkämpfe um die Kontrolle des hungen zu den verschiedenen Parteiströmun- Parteiapparats an, sowohl auf einzelstaatlicher gen hätte. Falls sich einer wie Repräsentanten- wie landesweiter Ebene und erneut während haussprecher Paul Ryan oder John Kasich, der der parteiinternen Vorwahlen. Gouverneur von Ohio, um den Wiederaufbau der Partei bemühen sollte, wird Trump sofort Ein vergleichbar großes Durcheinander herrsch- dazwischengehen. Denn er wird nicht ver- te in der Partei, als Barry Goldwater 1964 die schwinden wie Goldwater, der sich nach seiner 13
JOHN NICHOLS DER ANFANG VOM ENDE? Wahlniederlage weitgehend aus dem nationa- Hauptantriebskraft waren vielmehr die The- len Rampenlicht heraushielt. Außerdem wird men, die Sanders aufwarf. Statt altbekannte sich der Milliardär den Medien immer wieder Standardfloskeln aufzusagen, hielt er im Vor- anbieten. Und die sind immer auf der Suche wahlkampf oft sachbezogene Reden, die über nach den meisten Klicks und höchsten Ratings eine Stunde dauern konnten. Er sprach über zum niedrigstmöglichen Preis. die Notwendigkeit einer allgemeinen Kran- kenversicherung, gebührenfreies Studium, Die Demokraten werden es etwas leichter Großinvestitionen in die Infrastruktur, Ar- haben, wobei die Betonung auf „etwas“ liegt. beitsbeschaffungsprogramme für Jugendliche Einerseits war bei ihnen die Kluft zwischen und den 15-Dollar-Mindestlohn. Er zerpflückte Clinton- und Sanders-Lager nie so tief wie die Austeritätsprogramme und machte sich stark zwischen Trump und #NeverTrump bei den für eine soziale Demokratie. Zudem holte er Republikanern. Andererseits war die Verbitte- aus gegen die Unterwürfigkeit der Großpar- rung im Sanders-Lager groß, als die Voreinge- teien unter Wall Street, ihre Wahlkampfspen- nommenheit und aktive Parteinahme des DNC der und die Unternehmenslobbyisten. Mehr zugunsten von Clinton im Vorwahlkampf auf- als 13 Millionen Wähler stimmten für Sanders gedeckt wurde. Die Verbitterung ist auch heute und für die von ihm vorgeschlagene „politische noch vorhanden, obwohl sich Sanders hinter Revolution“. Weitere Millionen hätten für ihn Clinton gestellt hat. gestimmt, wenn die Partei die Hürden, die die Teilnahme an den Vorwahlen und Caucus-Ver- Die Sanders-Unterstützer haben sich an meh- sammlungen erschweren, abgebaut hätte. reren Schlüsselstellen zusammengetan mit dem Ziel, den Parteiapparat zu übernehmen. In Sanders und seine Anhänger wollen weiterhin einer Reihe von Einzelstaaten wurde ihr Vorha- für den Abbau dieser Hürden kämpfen. Ein Er- ben bereits von Erfolg gekrönt. Sie werden sich folg oder Misserfolg hätte in dieser Hinsicht viel auch an vorderster Stelle in die bevorstehende größere Auswirkungen auf die Demokratische Überprüfung des Nominierungsprozesses ein- Partei als alles, was Clinton und ihre Verbün- mischen. Möglich ist dabei durchaus der Ein- deten unternehmen. Denn das Sanders-Lager flussverlust von prominenten alten Parteimit- kann seine Kraft gerade in einer Zeit, in der sich gliedern, den sogenannten Super-Delegierten. die vom Senator aufgeworfenen wirtschaft- Trotzdem wird sich die Spannung zwischen den lichen und sozialen Probleme verschärfen, zentristischen, unternehmerfreundlichen De- wirklich entfalten und verfügt über ein gro- mokraten, aus deren Reihen seit Jahrzehnten ßes Erneuerungs- und Entwicklungspotenzial. die Parteiführung und die Präsidentschafts- Kluge Parteiobere wie die Interimsvorsitzende kandidaten hervorgehen, und den jüngeren, Donna Brazile haben schnell erkannt, dass das linken und eher aus der Arbeitnehmerschicht Sanders-Lager wieder integriert werden muss. stammenden Sanders-Unterstützern nicht so Auch die meisten Progressiven in Clintons einfach auflösen lassen. Der Senator aus Ver- Team wissen das. Ja, es wird Zusammenstöße mont hatte Recht, als er den von ihm erhofften geben, und sie werden härter werden, wenn Öffnungsprozess als „chaotisch“ bezeichnete. beispielsweise die Frage aufgeworfen wird, wie Allerdings könnte es zwangsläufig dazu kom- die Partei in Zukunft ihre Wahlkämpfe finan- men. Denn die Sanders-Rebellion wurde we- ziert, wie ihr Parteiprogramm entwickelt wer- niger von seiner Person angefacht, auch wenn den und wie eine politische Strategie für alle er nach Umfragen bei Amerikanern jeglicher 50 Einzelstaaten aussehen soll. Die wichtigste Couleur einer der vertrauenswürdigsten und Frage wird lauten: Bleibt die Demokratische momentan auch der beliebteste Politiker ist. Partei Teil des Status quo oder wird sie zu einer 14
JOHN NICHOLS DER ANFANG VOM ENDE? Bewegung, die nicht nur in der Politik, sondern wegbricht. Eine beunruhigende Vorstellung auch im wirtschaftlichen und sozialen Gefüge für manche – aber für andere, die auf der Su- für den Wandel sorgt? che nach einer besseren Politik in Amerika sind, verknüpfen sich damit Hoffnungen. Denn Sanders meint es ernst mit dem „revolutionä- wenn die beiden Parteien die Art und Weise, ren“ Wandel der Demokratischen Partei. Sie wie sie in den Spiegel schauen und wie sie sich müsse „ihre alte Schwäche loswerden, das gesellschaftlich einmischen, einem Wandel un- heißt: ihre viel zu große Abhängigkeit von Be- terziehen, dann entstehen Spielräume für wei- ratern und TV-Eigenwerbung – statt die Men- tere Veränderungen in der politischen Land- schen zu mobilisieren“, sagt er, und weiter: schaft der Vereinigten Staaten. Den Menschen geht es nicht gut. Tatsächlich Diese weiter gefassten Veränderungen sind schrumpft die Mittelschicht seit 40 Jahren. Men- schen haben Hunger, es geht ihnen nicht gut, unverzichtbar. Wenn amerikanische Politik und sie machen sich sehr große Sorgen um ihre auch nur ansatzweise funktionsfähig wer- Kinder. Ja, die Menschen machen sich auch um den soll, dann muss das archaische politische sich selbst Sorgen, aber sie sorgen sich vor allem System, das den unpopulären Status quo auf- um ihre Kinder und deren Zukunft: Werden ihre rechterhält, mit strukturellen Veränderun- Kinder jemals ihre Studienschulden zurückzahlen gen auf einen neuen Stand gebracht werden. können? Werden sie jemals einen anständig be- zahlten Job bekommen? Amerika ist von Bill Mahers Forderung – „Die Verfassung muss generalüberholt werden“ – Um diese Nöte aufgreifen zu können, müss- weit entfernt. Auch die Verwirklichung einer ten sich die beiden Parteien weiterentwickeln. parlamentarischen Demokratie nach euro- Willens ist keine dazu, und es wird ihnen nicht päischem Muster wird noch auf sich warten leicht fallen. Denn die Parteifunktionäre der lassen. Aber falls und wenn sich die Parteien Vergangenheit mit ihren Scheuklappen sind ändern, und – wenn sie sich nicht ändern – geblieben. Wahrscheinlich werden sie bis auf Drittparteien ins Spiel kommen, dann wäre die Weiteres am Ruder bleiben. Aber in beiden Grundlage geschaffen für eine neue Politik, die Parteien sind sie nach den turbulenten Vor- das alte und dysfunktionale System hinter sich wahlkämpfen von 2016 reichlich geschwächt. gelassen hat. Wenn ein so chaotischer Wahlkampf wie der Die neue Politik für ein wirklich demokrati- von 2016 wenig zur Klärung beigetragen hat sches Amerika mit ihren Wurzeln in den Rebel- und das Chaos weiter anhält, dann wird der lionen von 2016 wäre eher erträglich als das, Veränderungsdruck auf die Parteien von au- in den Worten Mahers, „beschissene System“. ßen und von innen zunehmen. Es ist durchaus Den Status quo hält wirklich niemand mehr für denkbar, dass ihnen letztendlich der Boden akzeptabel. Veröffentlicht von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Büro New York, Oktober 2016 Herausgeber: Stefanie Ehmsen und Albert Scharenberg Adresse: 275 Madison Avenue, Suite 2114, New York, NY 10016 E-Mail: info@rosalux-nyc.org; Telefon: +1 (917) 409-1040 Gefördert mit Mitteln des Auswärtigen Amts Die Rosa-Luxemburg-Stiftung ist eine international tätige, progressive Non-Profit-Organisation für politische Bildung. In Zusammenar- beit mit vielen Organisationen rund um den Globus arbeitet sie für demokratische und soziale Partizipation, die Ermächtigung von benachteiligten Gruppen, Alternativenzur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und für friedliche Konfliktlösungen. Das New Yorker Büro erfüllt zwei Hauptaufgaben: sich mit Themen der Vereinten Nationen zu befassen und mit nordamerikanischen Linken in Hochschulen, Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und der Politik zusammenzuarbeiten. www.rosalux-nyc.org
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