Institutioneller Rassismus in Behör- den - Rassistische Wissensbestände in Polizei, Gesundheitsversorgung und Arbeitsverwaltung - Uni ...

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Institutioneller Rassismus in Behör- den - Rassistische Wissensbestände in Polizei, Gesundheitsversorgung und Arbeitsverwaltung - Uni ...
2022 | 02

            Institutioneller Rassismus in Behör-
            den – Rassistische Wissensbestände
            in Polizei, Gesundheitsversorgung
            und Arbeitsverwaltung
            Alexandra Graevskaia, Katrin Menke und Andrea Rumpel

            ●   Rassistische Wissensbestände stellen in deutschen Behörden keine
                Ausnahme dar. Auch unsere Forschung zeigt: Sie sind strukturell ein-
                gebettet und werden institutionell (re-)produziert.

            ●   Handlungsunsicherheiten in Behörden begünstigen die (Re-)Produk-
                tion von ‚altem‘ und ‚neuem‘ rassistischen ‚Wissen‘.

            ●   Für Betroffene führen Othering-Prozesse durch Behörden zu differen-
                ziellen Ein- und Ausschlüssen von sozialstaatlichen Leistungen sowie
                zu Stigmatisierungen.

            ●   Um institutionellem Rassismus entgegenzuwirken, bedarf es einer
                Vielzahl an Maßnahmen, etwa einer kritischen Reflexion behördlicher
                Routinen, systematischen Monitorings behördlicher Entscheidungen
                sowie rassismuskritischer Schulungen.

                Aktuelle Forschungsergebnisse aus dem Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ),
                Universität Duisburg-Essen
2022 | 02 IAQ-Report

                                                                      Kurzstudien stellten sich zwischen den Ergebnissen
                                                                      der drei Autorinnen inhaltliche Überschneidungen
1     Einleitung
                                                                      heraus. Hieran anknüpfend ist die Idee für den vor-
                                                                      liegenden IAQ-Report entstanden, der die (Re-)Pro-
Rassismus ist ein gesellschaftliches Verhältnis, das                  duktion von rassistischem ‚Wissen‘ in den unter-
sich bewusst und unbewusst (auch) in Deutschland                      schiedlichen Behörden auf Grundlage der Erfahrun-
tagtäglich und systematisch (re-)produziert – durch                   gen und Erzählungen der lokalen Akteur*innen so-
einzelne Personen, in Institutionen und Diskursen.                    wie die damit zusammenstehenden Ein- und Aus-
Trotz der jüngeren Diskussionen um Rassismus im                       schlüsse erstmals zusammenbringt. Der IAQ-Report
öffentlichen und wissenschaftlichen Raum ist Rassis-                  beginnt mit einer Begriffsbestimmung zu Rassismus
mus in Deutschland im Gegensatz zum anglo-ameri-                      sowie institutionellem Rassismus und beleuchtet da-
kanischen Sprachraum gesamtgesellschaftlich noch                      bei kurz den Forschungsstand zu institutionellem
immer tabuisiert und/oder wird als Fehleinstellung                    Rassismus in Polizei, Gesundheitswesen und Arbeits-
Einzelner begriffen (Terkessidis 2021; Alexopoulou                    verwaltung. Im Anschluss stellen wir die Daten-
2021). Für den deutschsprachigen Raum lässt sich                      grundlage und Auswertung der drei Kurzstudien je-
zudem eine (mutmaßlich auch daraus resultierende)                     weils vor. Den Hauptteil des Reports nehmen die
Forschungslücke zu Rassismus im Allgemeinen und                       qualitativ-rekonstruktiven Forschungsanalysen ein,
zu institutionellem Rassismus im Besonderen fest-                     die sich in zwei zentrale Ergebnisse gliedern. So be-
stellen. Versteht man Rassismus als gesellschaftli-                   schreiben wir zunächst, inwiefern in allen drei Insti-
ches Strukturprinzip, rücken institutionelle Zustän-                  tutionen ein Rückgriff auf bestehende rassistische
digkeiten, Verfahrensweisen und Diskurse jedoch in                    Wissensbestände im Kontext behördlicher Hand-
den Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Staatli-                    lungsunsicherheit stattfindet. Anschließend zeigen
che wie sozialstaatliche Institutionen nehmen im                      wir auf, inwiefern die Behörden an der Generierung
Hinblick auf institutionellen Rassismus eine hervor-                  von ‚neuem‘ rassistischen ‚Wissen‘ mitwirken sowie
gehobene Rolle ein, weil diese mit ihren Mechanis-                    zum Teil auf das ‚Wissen‘ anderer Behörden zugrei-
men an der (Re-)Produktion von Ein- und Ausschlüs-                    fen. Das Fazit arbeitet schließlich die Gemeinsamkei-    2
sen beteiligt sind. Um „gegenüber allen Menschen                      ten der empirischen Befunde heraus und verweist
zuverlässige Dienstleistungen zu erbringen“ (Asmus                    auf mögliche Handlungsoptionen, wie rassistischem
und Enke 2016, S. 7) sollten etwa Polizei, Gesund-                    ‚Wissen‘ in Behörden begegnet werden könnte.
heitsversorgung und Arbeitsverwaltung keine Ein-
und Ausschlüsse auf Grundlage von Othering1 be-
treiben, sondern ihre Arbeit an die zunehmend he-                     2    Begriffsbestimmung zu Rassismus und
terogener werdende Gesellschaft anpassen. In einer                         Institutionellem Rassismus
postmigrantischen Gesellschaft (Foroutan 2021) wie
der deutschen verweist institutioneller Rassismus
nicht zuletzt auf ausstehende relevante gesell-                       Rassismus ist als „ein grundlegendes gesellschaftli-
schaftspolitische Aushandlungen, „die nach der Mig-                   ches Ordnungsprinzip“ (Heinemann und Mecheril
ration erfolgen, hinter der Migrationsfrage verdeckt                  2016, S. 48) zu verstehen, welches eine ökonomi-
sind und die über die Migration hinaus weisen“                        sche, politische und soziale Abwertung von Men-
(Foroutan 2021, S. 19, Herv. im Original).                            schen aufgrund von willkürlich gewählten Kriterien
                                                                      beinhaltet (Hall 2004). Unterstellt werden dabei
Der vorliegende IAQ-Report fasst die Ergebnisse aus                   stets unterscheidbare Merkmale und Eigenschaften,
drei am IAQ angesiedelten qualitativen Kurzstudien                    mithilfe derer eine Grenze zwischen ‚Wir‘ und den
zusammen, die zur Vorbereitung eines Nationalen                       ‚Anderen‘ gezogen wird (Hall 2004; Jäger und
Diskriminierungs- und Rassismusmonitors für das                       Kauffmann 2002; Mecheril und Melter 2009;
Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrations-                    Rommelspacher 2009). Birgit Rommelspacher be-
forschung angefertigt wurden. Die Forschungser-                       schreibt Rassismus entlang von Prozessen der Natu-
gebnisse der Kurzstudien werden einzeln veröffent-                    ralisierung, Homogenisierung, Polarisierung und
licht. In gemeinsamen Diskussions-, Literatur- sowie                  Hierarchisierung: Über biologistische und/oder kul-
Interpretationsrunden während der Erarbeitung der                     turalisierende Zuschreibungen werden vermeintlich

_
1Othering meint einen Prozess, der Menschen als ‚Andere‘ in Abgren-
zung zum ‚Wir‘ konstruiert (Castro Varela 2010, S. 256).
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homogene Gruppen als unveränderlich und natür-                          strukturellen Rassismus verstanden und verdeut-
lich konstruiert, die den Vielen im Sinne einer Pola-                   licht, dass Individuen sich an bestehende Normen
risierung gegenüberstehen – wodurch gesellschaft-                       anpassen und dass rassistische Denk- und Hand-
liche     Hierarchien      legitimiert         werden                   lungsweisen übergreifend und nicht in der persönli-
(Rommelspacher 2009, S. 29). Dieser Konstruktions-                      chen Einstellung verankert sein müssen. Konkret ge-
prozess erfolgt auf Basis verbreiteter gesellschaftli-                  meint sind „Strukturen von Organisationen, einge-
cher Wissensbestände, die damit auch reproduziert                       schliffene Gewohnheiten, etablierte Wertvorstellun-
werden. Terkessidis spricht in diesem Zusammen-                         gen       und     bewährte       Handlungsmaximen“
hang von „rassistische[m] Wissen“ (Terkessidis                          (Rommelspacher 2009, S. 30). Rassistische Praktiken
2004, S. 10). Rassismus ist somit nicht als ein indivi-                 gehen aus Institutionen hervor, begründen sich
duelles Fehlverhalten Einzelner zu verstehen, son-                      rechtlich bzw. organisationsspezifisch (Hormel und
dern als ein gesellschaftliches Verhältnis im Sinne ei-                 Scherr 2004, S. 27) und können durch Gesetze auto-
nes Systems von Diskursen und Praxen, die Macht-                        risiert und verdeckt sein (Jäger und Kauffmann 2002;
verhältnisse (re-)produzieren. Darüber hinaus ist                       Osterkamp und Holzkamp 1996). Institutionell-orga-
Rassismus mit weiteren Machtverhältnissen – etwa                        nisatorische Abläufe können derart etwa zu einer
Sexismus – verflochten (Hall 2000; Rommelspacher                        „Schlechterstellung      von      Migrationsanderen“
2009, S. 30). Genderforschende weisen dabei auf die                     (Heinemann und Mecheril 2016, S. 47) beitragen. In-
Gemeinsamkeiten aber auch Unterschiede von Ras-                         stitutioneller Rassismus ist durch Normalität geprägt
sismus und Sexismus hin (Hark und Villa 2017; Auma                      (Jäger und Kauffmann 2002; Osterkamp und
2017). Eine geschlechtsspezifische Perspektive auf                      Holzkamp 1996) und besitzt eine scheinbar „unan-
Rassismus ist im deutschsprachigen – anders als im                      greifbare Gültigkeit” (Jäger und Jäger 2002, S. 25).
angloamerikanischen Raum – bislang allerdings                           Am Beispiel von Geflüchteten lässt sich zeigen, dass
nicht etabliert.                                                        Gesetze und Sonderbestimmungen für sie den Alltag
                                                                        in Deutschland einschränken; diese Bestimmungen
Wurde zunächst oftmals keine Differenzierung zwi-
                                                                        folgen „zum Teil einer rassistischen Logik und berei-
schen strukturellem und institutionellem Rassismus                                                                                                3
                                                                        ten den Boden, auf dem rassistische Vorurteile und
vorgenommen, wie z. B. bei Ute Osterkamp und
                                                                        Gewalt gedeihen kann” (Kothen 2002, S. 56). Zu nen-
Klaus Holzkamp (1996), bemüht sich die Literatur in-
                                                                        nen wären hier etwa die Residenzpflicht, Abschiebe-
zwischen zunehmend um eine Unterscheidung ver-
                                                                        haft, Sachleistungsprinzip oder eingeschränkte Ar-
schiedener Erscheinungsformen von Rassismus –
                                                                        beitserlaubnis. Legitimiert wird die Politik etwa
etwa durch die Abgrenzung von institutionellem,
                                                                        durch den Bezug auf die Wahrung des inneren Frie-
strukturellem und individuellem bzw. interaktionel-
                                                                        dens (Wurzbacher 1997, S. 37–38). Institutioneller
lem Rassismus (Rommelspacher 2009, S. 30). Nach
                                                                        Rassismus ist nicht gleichbedeutend mit der Abwe-
wie vor mangelt es an einer einheitlichen Definition
                                                                        senheit von individuellem Rassismus. Der Fokus auf
und Konzeptualisierung des Phänomens des institu-
                                                                        institutionellen Rassismus ist jedoch relevant, weil
tionellen Rassismus. Struktureller Rassismus ist das
                                                                        etablierte Strukturen und Routinen in Behörden
Resultat etablierter gesellschaftlicher, insbesondere
                                                                        auch bei einer rassismuskritischen Haltung nicht ein-
politischer und ökonomischer Strukturen (Hormel
                                                                        fach überwunden werden können (Heinemann und
und Scherr 2004, S. 27) und bezieht sich auf das ge-
                                                                        Mecheril 2016, S. 48). Vor diesem Hintergrund ist die
sellschaftliche System, das „mit seinen Rechtsvor-
                                                                        Identifizierung und Minimierung subtil wirkender, in
stellungen und seinen politischen und ökonomi-
                                                                        Institutionen und Organisationen angelegter Diskri-
schen     Strukturen     Ausgrenzungen        bewirkt“
                                                                        minierungsrisiken (Brussig et al. 2019, S. 278) ein re-
(Rommelspacher 2009, S. 30). Zentral hierbei
                                                                        levanter Schritt zur Bekämpfung von institutionel-
scheint, dass struktureller Rassismus nicht auf die
                                                                        lem Rassismus.
benachteiligenden Absichten angewiesen ist, son-
dern aus einem „Normalvollzug“ der Strukturen ent-                      In Anlehnung an Alisha Heinemann und Paul Meche-
steht (Hormel und Scherr 2004, S. 28). Institutionel-                   ril nutzen wir aus zweierlei Gründen institutionellen
ler Rassismus wird von uns als Unterkategorie des                       Rassismus (anstelle von Diskriminierung2) als Analy-

_
2Unter Diskriminierung wird eine „ungerechtfertigte Benachteiligung,    eine rassistisch begründete ungleiche Behandlung vor, die als rassisti-
Herabsetzung oder Ausgrenzung“ (Brussig et al. 2019, S. 17). verstan-   sche Diskriminierung verstanden werden kann.
den. Ist der Grund von Diskriminierung Rassismus, dann liegt für uns
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seperspektive: Erstens ermöglicht erst „das begriffli-                         sensbestand etabliert, der sich in bestimmte routi-
che Instrumentarium der Rassismusforschung“ zu                                 nierte Abläufe, Praktiken und Verfahren übersetzt“
erfassen, welche Bedeutung die historische Kontinu-                            (Dengler und Foroutan 2017, S. 433). Während das
ität spezifischer gesellschaftlicher Machtverhält-                             Bundesinnenministerium im Jahre 2020 Forschung
nisse für die Konstruktion von Kultur, Gender oder                             zu rassistischen Handlungspraktiken der Polizei mit
Begriffen wie ‚Menschen mit Migrationshinter-                                  der unschlüssigen Begründung – Racial Profiling sei
grund‘ etc. in der Gegenwart haben und inwiefern                               verboten und bräuchte deswegen nicht untersucht
sich diese verändern, um bestehende Ungleichheits-                             werden – ablehnte (Heidemann 2021, S. 124), zeigen
verhältnisse aufrechtzuerhalten. Zweitens werden                               Studien, dass die Gesetzgebungen Racial Profling
derart scheinbar individuelle Alltagsphänomene als                             nicht verhindern, sondern sogar fördern können. So
institutionelle und strukturelle Prinzipien erfasst und                        ermöglichen die Polizeigesetze der Länder den Poli-
sichtbar. Vor diesem Hintergrund möchten wir dazu                              zeibehörden anlasslose Kontrollen an öffentlichen
beitragen, das in Deutschland verbreitete „Distan-                             Räumen, die auf Grundlage der eigens erstellten Kri-
zierungsbedürfnis“ von der Nutzung des Rassismus-                              minalitätsstatistik als „gefährlich“ (NRW), als „Ge-
begriffs „als Analyseperspektive für gegenwärtige                              fahrengebiet“ (Hamburg) oder als „kriminalitätsbe-
Phänomene“ zu überwinden (Heinemann und                                        lastet“ (Berlin) konstruiert werden (Aden 2017, S.
Mecheril 2016, S. 49). Im deutschsprachigen Raum                               56). Der Bezug auf den Ort fördert, trotz Bestrebun-
ist v. a. die Studie von Mechthild Gomolla und Frank-                          gen zur Reduktion von Racial Profiling, diskriminie-
Olaf Radtke (2009) bekannt für ihr „Erklärungsange-                            rende Etikettierungen und entsprechende polizeili-
bot       der    ‚institutionellen   Diskriminierung‘“                         che Praktiken (Belina und Wehrheim 2020, S. 97).
(Heinemann und Mecheril 2016, S. 46–47). Weitere                               Damit kann Racial Profiling als Mechanismus des in-
bedeutende Studien in diesem Bereich kommen aus                                stitutionellen Rassismus bezeichnet werden
der Erziehungswissenschaft, wie z. B. von Claus Mel-                           (Friedrich und Mohrfeldt 2015, S. 197).
ter über Rassismuserfahrungen in der Jugendhilfe
                                                                               Rassistische Ungleichheiten im Hinblick auf das Ge-
(Melter, 2006).3
                                                                               sundheitswesen äußern sich im unterschiedlichen          4
Bislang existieren in Deutschland nur vereinzelt Stu-                          Zugang, in unterschiedlicher Nutzung gesundheits-
dien zu (institutionellem) Rassismus in der Polizei,                           bezogener Maßnahmen und Einrichtungen sowie
dem Gesundheitswesen und der Arbeitsverwaltung.                                durch vorherrschende rassifizierende Stereotype
In der Polizei konzentrierten sich die Studien in den                          und Vorurteile gegenüber Minderheitengruppen
1990er Jahren v. a. auf Einstellungsforschung                                  (Ahlberg et al. 2019, S. 2). Die Covid 19-Pandemie
(Hunold und Wegner 2020, S. 28–29), nahmen also                                hat dies neuerlich verdeutlicht (Akbulut et al. 2020).
individuellen Rassismus von Polizeibeamt*innen in                              Darüber hinaus wirkt sich Rassismus als Teil der ge-
den Fokus, der damals als ‚Fremdenfeindlichkeit‘ be-                           sellschaftlichen Ordnung auf Gesundheit aus (Krie-
zeichnet wurde (Bornewasser 2009). Neuere Stu-                                 ger 2012), denn Diskriminierungserfahrungen und
dien widmen sich zunehmend auch institutionellen                               Ausschlüsse bzw. Exklusionen können zu schlechte-
Strukturen; bspw. untersuchten Abdul-Rahman und                                rer (psychischer) Gesundheit führen (Beiser und Hou
Kolleg*innen „Rassismus und Diskriminierungser-                                2016; Igel et al. 2010; Kluge et al. 2020; Schnapka
fahrungen im Kontext polizeilicher Gewaltaus-                                  und Schäfer 2019). Obwohl das deutsche Gesund-
übung“ (Abdul-Rahman et al. 2020). Markus End                                  heitswesen bereits strukturell, wie etwa durch die
konnte eine historische Kontinuität der Nutzung                                Einteilung in private und gesetzliche Krankenversi-
„antiziganistische[r] Wissensbestände in Form von                              cherungssysteme, keinen einheitlichen Versor-
polizeilichem ‚Expertenwissen’“ (End 2017, S. 39)                              gungsrahmen bietet (Ewert 2012), ist die Datenlage
aufzeigen. Einer der Befunde aus dem Forschungs-                               zu Rassismus in der Gesundheitsversorgung in
projekt „Polizei und Migration“ ist, dass „stereotype                          Deutschland (im Gegensatz zu beispielsweise den
Begriffe wie ‚Südländer‘“ (Graevskaia et al. 2021, S.                          USA) spärlich (Bartig et al. 2021; Uslucan und Yalcin
9) bedenkenlos genutzt werden. Diese und andere                                2012; Yeboah 2017). So gilt etwa die Bedeutung von
Studien deuten darauf hin, dass sich innerhalb der                             Othering-Prozessen für die Versorgung und den Zu-
Polizei „ein bestimmter (kultur-)rassistischer Wis-                            gang zu Gesundheitsdiensten in Deutschland als sys-
                                                                               tematisch untererforscht (Akbulut und Razum

_
3 Auch hier ist die begriffliche Abgrenzung nicht ganz klar, denn er spricht

von Alltagsrassismus als institutionellem Rassismus.
2022 | 02 IAQ-Report

2021). Migrant*innen und Geflüchtete sind sprachli-                      deutschen Behörden, darunter auch der Arbeitsver-
chen und kulturellen Zugangsbarrieren in die Ge-                         waltung, den Zugang zum Arbeitsmarkt für Geflüch-
sundheitsdienste (Razum et al. 2020, S. 628) sowie                       tete erschwert oder gar verhindert (Huke 2020, S.
im hohen Maße einem Diskriminierungsrisiko ausge-                        26ff.). Zugleich zeigt die – in der internationalen Wo-
setzt (Beigang et al.). Darüber hinaus institutionali-                   che gegen Rassismus publizierte – (nicht-repräsenta-
siert das Asylbewerberleistungsgesetz für Geflüch-                       tive) Studie zum Zugang zu Leistungen SGB II, SGB XII
tete auf rechtlich-formeller Ebene nur einen einge-                      und Kindergeld, dass institutionelle Praktiken auch
schränkten Zugang zu medizinischer Versorgung (§§                        gegenüber EU-Bürger*innen wirken und diese an
4 und 6): für Asylbewerber*innen in den ersten 18                        der Durchsetzung ihrer Leistungsansprüche hindern
Monaten sowie für Geduldete grundsätzlich. Der                           (Tießler-Marenda et al. 2021).
unterschiedliche Zugang hängt somit von Aufent-
                                                                         Insgesamt zeigt sich, dass es in Deutschland über ei-
haltsstatus und Staatsangehörigkeit ab und geht mit
                                                                         nen langen Zeitraum hinweg nur wenig Forschung
einer Schlechterstellung Geflüchteter im Gesund-
                                                                         explizit zu institutionellem Rassismus gab. Vielfach
heitswesen einher. Hinzu kommen soziale Ungleich-
                                                                         wird bis heute nicht systematisch zwischen Diskrimi-
heiten wie beispielsweise schlechtere Bildungschan-
                                                                         nierung und Rassismus unterschieden (Karabulut
cen und häufig geringeres Einkommen, die in ihrer
                                                                         2020, S. 43). Der Forschungsbedarf zur Verbreitung,
Folge zu weiteren Nachteilen im Gesundheitswesen
                                                                         Bedeutung und Wirkung von Rassismus ist weiterhin
führen können (Kluge et al. 2020). Die Kumulation
                                                                         hoch. Eine systematische Erfassung und Erforschung
dieser unterschiedlichen Facetten verhindert die Ge-
                                                                         von institutionellem Rassismus auch in sozialstaatli-
nesung Geflüchteter bzw. erzeugt zusätzliche Krank-
                                                                         chen Einrichtungen startet in Deutschland erst
heitsursachen (Mohammadzadeh 2016, S. 578).
                                                                         jüngst und sukzessive.
Die Erforschung von Rassismus am Arbeitsmarkt und
in der Arbeitsverwaltung ist in Deutschland, anders
als im angelsächsischen Raum, wenig verbreitet.                          3    Die drei Kurzprojekte – Datengrund-
Weit(er) verbreitet ist dagegen Forschung, die sich                           lage und Auswertung                                  5
mit individuellen und institutionellen Diskriminie-
rungsrisiken beschäftigt und deren Bedeutung für
                                                                         Grundlage der hier vorgestellten Analyse sind drei
die Arbeitsmarktteilhabe für Migrant*innen
                                                                         Projekte, die als Kurzstudien zur Vorbereitung eines
(Salikutluk et al. 2020) und insbesondere für Musli-
                                                                         nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmoni-
minnen (Weichselbaumer 2020) bestätigt. Studien
                                                                         tors am Deutschen Zentrum für Integrations- und
mit spezifischem Fokus auf die Rolle der Arbeitsver-
                                                                         Migrationsforschung durch das Bundesministerium
waltung sind rar. Die wenigen existierenden Studien
                                                                         für Familien, Senioren, Frauen und Jugend gefördert
(Brussig et al. 2019; Jaehrling und Knuth 2010) kon-
                                                                         waren. Die Kurzstudien und ihre jeweilige Daten-
statieren allerdings, dass die Diskriminierungsrisiken
                                                                         grundlage werden folgend kurz vorgestellt.
die gesamte ‚Prozesskette‘ der öffentlichen Arbeits-
vermittlung von der Beratung über die Aktivierung                        Die Kurzstudie „Institutioneller Rassismus in der Po-
bis hin zu Dienstleistungen für Arbeitgeber*innen                        lizei. Rassistisches ‚Wissen‘ und seine Nutzung“ stellt
sowie Kooperationen mit anderen Sozialdienstleis-                        eine von Alexandra Graevskaia durchgeführte Son-
tern beträfen (Brussig et al. 2019, S. 280). Vor dem                     derauswertung von Daten aus dem Forschungspro-
Hintergrund der jüngeren Flucht_Migration4 nach                          jekt „Personalpolitik und Diversity-Management in
Deutschland wurde zudem die Bedeutung und Per-                           der Polizei“ dar, welches in das Verbundprojekt
spektive von Jobcentern für die Arbeitsmarktteil-                        „Migration und Polizei: Auswirkungen der Zuwande-
habe Geflüchteter beleuchtet, in der am Rande auch                       rung auf die Organisation und Diversität der deut-
geschlechtsspezifische Adressierungen erwähnt                            schen Polizei“ (gefördert vom Bundesministerium
werden (Scheu et al. 2020). Einzelne Studien zur Si-                     für Bildung und Forschung 2018-2021) eingebunden
tuation Geflüchteter in Deutschland nehmen dage-                         war. Ziel der Kurzstudie war es, einige exemplarische
gen explizit eine rassismustheoretische Perspektive                      Rahmenbedingungen, Routinen und Praktiken der
ein und beleuchten, inwiefern Rassismus u.a. in

_
4 Der Unterstrich betont das Spektrum (im Gegensatz zur Dichotomie)
der Begrifflichkeiten sowie damit verknüpfte Vorstellungen über Migra-
tion und Flucht (Kaufmann et al. 2019, S. 6).
2022 | 02 IAQ-Report

Polizei herauszuarbeiten, die dazu beitragen, Rassis-     die Arbeitsmarktteilhabe geflüchteter Frauen. Empi-
mus – auch unbeabsichtigt – zu (re-)produzieren. Die      rische Grundlage waren qualitative Interviews mit
empirische Grundlage der Kurzstudie bildeten zehn         sechs geflüchteten Musliminnen und Schwarzen
zwischen 2019 und 2021 in zwei Länderpolizeien er-        Frauen sowie Expert*inneninterviews mit elf lokalen
hobene teilnarrative leitfadengestützte Interviews        Akteur*innen in westdeutschen Kommunen. Das
mit Führungskräften des Streifendienstes sowie aus-       Material stammt aus den Jahren 2019 und 2020. Die
gewählter polizeilicher Stellen, die Bezug zu Migrati-    Auswertung der Interviews mit Frauen im Kontext
onsthemen haben. Die Auswertung erfolgte mittels          Flucht_Migration erfolgte entlang der Grounded
der Kombination ausgewählter Elemente der kriti-          Theory (Strauss und Corbin 1996), die leitfadenge-
schen Diskursanalyse (Jäger 2012) und der Situati-        stützten Expert*inneninterviews wurden qualitativ,
onsanalyse (Clarke 2012).                                 inhaltsanalytisch ausgewertet.
Für die Kurzstudie „Rassismus in der Gesundheits-         Das Material aus allen drei Kurzstudien wurde in
versorgung von Geflüchteten – Das Zusammenspiel           mehreren Interpretationsrunden mit anderen Wis-
subjektiver Auswirkungen von Rassismus und insti-         senschaftler*innen gemeinsam diskutiert und inter-
tutionellem Rassismus im Zugang zu wohlfahrts-            pretiert. Gegenstand der Auswertung für diese Pub-
staatlichen Angeboten“ nahm Andrea Rumpel eine            likation waren insbesondere die Erfahrungen und Er-
Sonderauswertung ihres Qualifizierungsprojektes           zählungen der lokalen Akteur*innen, die diese Ein-
„Geflüchtete und lokale Gesundheitspolitik. Eine          und Ausschlüsse (re-)produzieren.
qualitative Studie am Beispiel von Substanzkonsum“
vor. Das Qualifizierungsvorhaben findet im Rahmen
der vom BMAS geförderten Forschungsgruppe „Mig-           4     Forschungsergebnisse
ration und Sozialpolitik“ (FIS-Förderlinie, 2017-2022)
statt. Ziel des Kurzprojektes war es, am Beispiel sub-    Die folgenden Abschnitte gliedern sich entlang von
stanzkonsumierender Geflüchteter eine rassismus-          zwei gemeinsamen Erkenntnissen der drei Kurzpro-
kritische Analyse auf deren Ein- und Ausschlüsse in       jekte zu institutionellem Rassismus in der Polizei, der   6
der Gesundheitsversorgung durchzuführen. Empiri-          Gesundheitsversorgung und der Arbeitsverwaltung.
sche Grundlage waren Gespräche mit zehn Geflüch-          Zunächst geht es um den Rückgriff auf bestehende
teten, die als „Gesprächstriade“ (Rumpel und              rassistische Wissensbestände im Kontext behördli-
Tempes 2019) gemeinsam mit Übersetzenden in               cher Handlungsunsicherheit. Anschließend wird dar-
drei unterschiedlichen Kommunen in Deutschland in         gestellt, wie ‚neues‘ rassistisches ‚Wissen‘ in Behör-
den Jahren 2018 und 2019 geführt wurden. Grund-           den produziert wird.
lage für den vorliegenden IAQ Report sind nun die
Expert*inneninterviews in den Sozial- und Gesund-
heitsämtern der Kommunen sowie informelle Ge-             4.1   Rückgriff auf bestehende rassistische
spräche (Spittler 2001) mit weiteren institutionellen           Wissensbestände im Kontext behördli-
Akteur*innen vor Ort. Die Auswertung der Gesprä-                cher Handlungsunsicherheit
che mit Geflüchteten erfolgte mit Grounded Theory
(Strauss und Corbin 1996), die der Expert*innenin-        Institutioneller Rassismus findet sich als Reproduk-
terviews und informellen Gespräche inhaltsanaly-          tion im Sinne eines Rückgriffs auf bestehende rassis-
tisch.                                                    tische Wissensbestände in der Mehrheitsgesell-
                                                          schaft durch Mitarbeitende wieder. Dieser Rückgriff
Die Kurzstudie „Geschlechtsspezifischer Rassismus         steht dabei empirisch stets im Kontext von Hand-
am deutschen Arbeitsmarkt: eine qualitative Pilot-        lungsunsicherheiten und Überforderungen in den
studie zu den Auswirkungen auf die Erwerbsteilhabe        Behörden.
geflüchteter Musliminnen und Women of Color“ ist
eine Sonderauswertung des Qualifizierungsprojek-          4.1.1 In der Polizei
tes von Dr. Katrin Menke im Rahmen der vom BMAS
geförderten Forschungsgruppe „Migration und Sozi-         In den Interviews wird deutlich, dass die Einsätze der
alpolitik“ (FIS-Förderlinie, 2017-2022). Ziel der Kurz-   Streifenpolizei oft durch Erwartungsunsicherheit ge-
studie war eine Fokussierung intersektionaler Ver-        kennzeichnet sind (bspw.: Mit wem habe ich es zu
schränkungen von Rassismus mit Sexismus sowie             tun? Wie wird diese Person sich verhalten?). Als Re-
der Folgen rassistisch-sexistische Praktiken in der öf-   aktion darauf wird versucht, Handlungssicherheit
fentlichen Arbeits- und Kommunalverwaltung für
2022 | 02 IAQ-Report

durch bestimmte Vorannahmen (Hintergrundwis-                   „Wir möchten gerne was, was zum
sen) herzustellen. Dazu gehört auch die Orientierung           Thema muslimische Kultur, äh, DAS
am äußeren Erscheinungsbild bzw. die Klassifikation            sind so die, die Standards, oder wir ha-
von Menschen anhand des äußeren Erscheinungsbil-               ben hier unheimlich viele, in einem
des und das Abrufen des damit verbundenen ‚Wis-                Viertel unheimlich viele Libanesen, äh
sens‘. Wenn das Äußere mit dem ‚Inneren‘ der Per-              äh äh, leben, könnt ihr uns nich'n Biss-
son scheinbar nicht übereinstimmt, kommt es zu Ir-             chen was dazu sagen. Also das wirkt
ritationen:                                                    dann eher praxisnäher als wenn ich
                                                               sage, mach mal bitte was zum Thema
      „Die meisten jesidischen Frauen sehen
                                                               interkulturelle Kompetenz.“ (Herr Keß-
      sehr westlich gekleidet aus, es gibt
                                                               ler, Z. 645–649)
      aber ganz, ganz starre ähm, Regeln in-
      nerhalb dieser jesidischen Kultur-                 Hier wird deutlich, dass Polizist*innen die Bevölke-
      gruppe.“ (Herr Gerke, Z. 1996–1997;                rung in ihrem Zuständigkeitsbereich entlang von Ka-
      Hervorh. d. Verf.)                                 tegorien wie Religion, Kultur und/oder Nationalität
                                                         klassifizieren. Dabei erhoffen sie sich, durch die An-
Im Zitat baut der Streifenpolizist einen Gegensatz
                                                         eignung von bestehendem ‚Wissen‘ über die entlang
auf: „westliche Kleidung“ scheint für ihn mit „westli-
                                                         dieser Bedeutungsträger (Foroutan 2020, S. 14) zu
chen“ Werten einherzugehen, die er in Gegensatz zu
                                                         Gruppen konstruierten Menschen, einen Vorteil für
den starren Regeln setzt, welche er der „jesidischen
                                                         die eigene Arbeit zu erlangen. Es wird also versucht
Kulturgruppe“ zuschreibt. Dass die Werte einer Per-
                                                         die eigene Handlungsunsicherheit mit dem Rückgriff
son nicht an ihrer Kleidung erkennbar sind, scheint
                                                         auf homogenisierendes und kulturalisierendes ‚Wis-
den Interviewten zu stören. Denn so ist es nicht
                                                         sen‘ über ‚Andere‘ zu reduzieren, wodurch rassisti-
mehr möglich, die Erwartungsunsicherheit mit ei-
                                                         sche Wissensbestände (re-)produziert werden.
nem Blick auf die Kleidung zumindest in dem Punkt
zu beheben, dass man kulturalistische Bilder über        Darüber hinaus zeigt sich eine Überforderung im
das Innere der Person abruft. Was als „westlich“         Umgang mit nicht-deutschsprachigen Hilfesuchen-           7
klassifiziert wird und was nicht, ist gesellschaftlich   den. Ist eine Verständigung nicht möglich und aktu-
tief verankert und in rassistische Strukturen einge-     ell kein*e Kolleg*in mit entsprechenden Sprach-
lassen (Hall 1994, S. 137–179). Anhand des o. g. Bei-    kenntnissen erreichbar, werden in von der Polizei als
spiels wird deutlich, dass ein Versuch erfolgte, auf     minder schwer bewerteten Fällen Personen, die zur
tief im gesamtgesellschaftlichen Diskurs verinner-       Wache kommen, aufgefordert, selbst Dolmet-
lichtes ‚Wissen‘ zurückzugreifen. Es zeigt sich, wie     schende mitzubringen:
selbstverständlich rassistische Wissensbestände zur
                                                               „Oft sind’s die Kinder, die dann so’n
(vermeintlichen) Reduktion von Handlungsunsicher-
                                                               bisschen in der Schule schon oder im
heit genutzt werden.
                                                               Kindergarten Deutsch gelernt haben,
Während es bei diesem Beispiel um eine ad-hoc-Lö-              die dann als äh, Übersetzer dann schon
sung‘ (für das Problem der Erwartungsunsicherheit)             fungieren.“ (Herr Kiefer, Z. 1782–1784)
von Polizist*innen ging, geht es im Folgenden um in-
                                                         Dass das Übersetzen sogar auf kleine Kinder verla-
stitutionelle in der Behörde implementierte Lösun-
                                                         gert wird, verdeutlicht den Mangel an bzw. die un-
gen.
                                                         zureichende Organisation von Dolmetschenden in
Als Reaktion auf die Tatsache, dass Deutschland ein      der Polizei und kann zur Folge haben, dass Hilfesu-
Einwanderungsland ist, werden in der Polizei Kurse       chende abgewiesen werden. Gleichwohl es auch Be-
zu ‚interkultureller Kompetenz‘ in der Aus- und Fort-    mühungen gibt, Kolleg*innen mit entsprechenden
bildung angeboten. Eine Person, die in die Organisa-     Sprachkenntnissen zur Unterstützung bei der Kom-
tion solcher Fortbildungen involviert ist, erklärte,     munikation einzubeziehen, wird diese Praxis auch
dass dieser Begriff in den Polizeibehörden nicht ge-     mit „man darf es nicht überreizen“ (Herr Rutkowski,
läufig sei, stattdessen gehe es da „eben halt um Kul-    Z. 1249) kommentiert. Der Kommentar bezieht sich
tur, da geht’s um Islam und solche Dinge“ (Herr Keß-     darauf, der Migrationsbevölkerung nicht den Ein-
ler, Z. 641–642). Er berichtet weiter, dass es in An-    druck zu vermitteln, sie bräuchte kein Deutsch ler-
fragen von Polizeibehörden oft heißt:                    nen, weil die Polizei mehrsprachig sei. Hier zeigt sich
                                                         eine Verstrickung in den durch rassistische Wissens-
                                                         bestände geprägten Integrationsdiskurs.
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4.1.2 In der Gesundheitsversorgung Geflüch-                               die Einführung einer elektronischen Gesundheits-
      teter                                                               karte die Möglichkeit zur freien Arzt*Ärztinnenwahl
                                                                          hätten. Mit der Politik der Gesundheitsversorgung
In den Interviews und Gesprächen mit Personen in                          mit Behandlungsscheinen hingegen sieht Frau Schu-
Sozial- und Gesundheitsämtern werden Personen                             macher die Ausnutzung kontrollierbar.
mit Flucht_Migrationsgeschichte bestimmte nega-
tive Eigenschaften und Verhaltensweisen zuge-                             Aus den rassifizierenden Zuschreibungen resultieren
schrieben, die zusätzlich nach Nationalität kulturali-                    spezifische Umgangsweisen mit Geflüchteten. So ge-
siert werden. Relevant wird dies, insofern die Fach-                      währt und verwehrt Frau Schumacher etwa Zugang
kräfte unter anderem für die Umsetzung des Asylbe-                        zu medizinischen Behandlungen vor dem Hinter-
werberleistungsgesetzes und somit auch für die Ge-                        grund der zugeschriebenen Bleibeperspektive der
währung von Gesundheitsleistungen Geflüchteter in                         Person mit Fluchtstatus.
den Kommunen zuständig sind und damit über                                      „Und wenn ich weiß, der hat einen An-
(Nicht-)Ansprüche einzelner medizinischer Leistun-                              trag auf freiwillige Ausreise gestellt und
gen entscheiden. So werden beispielsweise Men-                                  reist morgen aus oder nächste Woche,
schen, die „wirklich [...] verfolgt werden“ (Herr We-                           werde ich dem keine Psychotherapie
ber, Pos.5 132), von denen unterschieden, die „rein                             mehr bewilligen. Oder wenn absehbar
aus wirtschaftlichen Gründen offensichtlich kom-                                ist, dass eine Ausweisung erfolgt, eine
men“ (Herr Weber, Pos. 132). Der „eigentliche Sinn                              Abschiebung. Das können also Gründe
dieser Wanderungsbewegungen [ist], die Familie zu                               für [die Ablehnung] sein. Oder man
Hause zu unterstützen“ (Herr Keller, Pos. 39) oder                              sagt sich, es ist aufschiebbar, das muss
auch nach Deutschland nachzuholen. Hier werden                                  nicht jetzt sein.“ (Frau Schumacher,
vor allem Menschen aus afrikanischen Staaten ge-                                Pos. 87)
nannt, die sich „hier eben eine bessere Zukunft“ ver-
sprechen (Herr Keller, Pos. 31). Nach Aussage einer                       Hier stehen für Frau Schumacher die (finanziellen)
Interviewperson wäre der Kontinent leer, wenn die                         Interessen der Kommune bzw. Behörde im Vorder-
                                                                                                                                   8
Menschen mit einem Fingerschnipp hier sein könn-                          grund und nicht der gesundheitliche Zustand der
ten (Herr Weber, Postskript, Pos. 8).                                     Person bzw. die medizinische Notwendigkeit einer
                                                                          Behandlung. Da selbst bei Analogleistungen das So-
Die zugeschriebenen typischen und verallgemei-                            zialamt bzw. die Kommune für die Finanzierung zu-
nernden Verhaltensweisen Geflüchteter reichen von                         ständig wäre, liegt das Interesse darin, Menschen,
Clan- und Bandenbildung (Herr Keller, Pos. 137; Frau                      die nicht länger als 18 Monate bleiben, die Möglich-
Beck, Pos. 57), über (Rauschgift-)Kriminalität (Herr                      keit einer Versorgung zu verwehren. Problematisch
Keller, Pos. 41; Frau Beck, Pos. 57) hin zu Gewalttä-                     dabei ist, dass die Person auf dem Sozialamt – in die-
tigkeit (Herr Keller, Pos. 33-35; Frau Beck, Pos. 57).                    sem Beispiel Frau Schumacher – eigenmächtig und
Aus diesen Zuschreibungen entlang stereotypen                             als Nicht-Medizinerin über die medizinische Behand-
Wissens ergeben sich für die befragten Personen im                        lung von Personen entscheidet.
Gesundheitsamt eine erwartbare, spezifisch nega-
tive Nutzung des deutschen Gesundheitssystems,                            Darüber hinaus wird strukturellen Herausforderun-
wie am Beispiel einer möglichen Einführung der                            gen oftmals mit Ad-Hoc-‚Lösungen‘ begegnet. Eine
elektronischen Gesundheitskarte erläutert wird:                           strukturelle Herausforderung aller Mitarbeitenden
                                                                          der Behörden sind „Sprachbarrieren“ (Frau Beck,
        „Das wird dazu führen, dass die Leute                             Pos. 93):
        ja auch bundesweit eine ärztliche Be-
        handlung in Anspruch nehmen können                                      „Zum Teil bringen sich die Leute jeman-
        und möglicherweise auch ein bisschen                                    den mit, der ihre Landessprache kundig
        Ärzte-Hopping betreiben, sage ich                                       ist, sage ich mal. Wenn man sich gar
        mal.“ (Frau Schumacher, Pos. 81)                                        nicht verständigen kann, muss man sie
                                                                                auch mal wegschicken und sagen:
Frau Schumacher unterstellt Geflüchteten das Aus-
nutzen des Gesundheitssystems, sobald sie durch
_
5 Durch die unterschiedliche Aufbereitung der Transkripte in MAXQDA
in den drei Teilprojekten ergeben sich unterschiedliche Nachweise, hier
mit Position.
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      Bringt einen mit.“ (Frau Schumacher,                    „Weil einfach das Bild der Frau nach
      Pos. 135)                                               außen in der arabischen Welt oder be-
                                                              ziehungsweise extra wirklich in Syrien
Die Organisation der Übersetzungsleistungen wird in
                                                              noch nicht so weit, dass die Frau selbst-
den meisten Fällen den Geflüchteten übertragen.
                                                              ständig alles machen kann. Ob arbeiten
Eine Behörde aus meinem Sample setzt entgegen
                                                              oder - oder […] also was ich von meiner
der beschriebenen Praxis einmal wöchentlich ein Vi-
                                                              Kundschaft höre, nicht mal 10 Prozent
deodolmetschsystem ein (Herr Tanaka & Herr
                                                              haben gearbeitet.“ (Jobcenter, Herr
Schneider, Pos. 17). Wenn weder die Übersetzungs-
                                                              Deeb, Z. 649)
leistung von den Geflüchteten selbst organisiert
wird, noch die Möglichkeit eines Videodolmetsch-        Frauen erscheinen als unselbstständige Abhängige
systems existiert, wird als ‚Lösung‘ auf alle mehr-     und ausschließlich auf Sorgearbeit orientiert – ein
sprachigen Personen der Behörde – ungeachtet ih-        Zustand, der für die Arbeitsmarktakteur*innen in
rer eigentlichen Funktionen – zurückgriffen:            Deutschland als überwunden gilt.

      „Wir haben ja hier einen Wachschutz                     „Wenn ich jetzt in die 60er Jahre, 70er
      [...] und da gibt es auch mehrsprachige                 Jahre in der Bundesrepublik gucke, war
      Mitarbeiter, sage ich mal, also Mitar-                  es ja auch nicht anders. Ne? […] Also
      beiter, die fremde Sprachen können, die                 diese Strukturen gibt es noch bei den
      ziehen wir dann manchmal hinzu, wenn                    fünf Big Playern [d. h. den Haupther-
      der Vorsprechende damit einverstan-                     kunftsländern Geflüchteter, Anmerk.
      den ist, sage ich mal, es werden ja zum                 K.M.].“ (Jobcenter, Herr Körber, Z.
      Teil auch spezielle Dinge besprochen,                   1044)
      wo man dann gucken muss, wo man                   Zugleich orientieren sich die Behördenmitarbeiten-
      die Kollegen auch manchmal in Zwie-               den in ihrer Arbeitsmarktvermittlung selbst an ‚ver-
      spalt bringt oder das wollte ich jetzt gar        alteten‘, normativen Frauenbildern der weißen,
      nicht wissen, was ich hier übersetzen                                                                      9
                                                        westeuropäischen Mittelschichtsfamilie – etwa das
      muss und so.“ (Frau Schumacher, Pos.              der Hausfrau oder Zuverdienerin. Diese bis heute so-
      135)                                              zialstaatlich geförderten Geschlechtermodelle sind
Die Strukturen dieser Behörde sehen den Einsatz ei-     hauptsächliches Ziel ihrer Vermittlungsarbeit. Die in-
ner qualifizierten übersetzenden Person nicht vor.      dividuellen beruflichen Ambitionen der heteroge-
Hieraus entsteht die Handlungsweise, Personen für       nen Gruppe geflüchteter Frauen bleiben dagegen
Übersetzungen einzusetzen, die weder eine fachli-       behördlicherseits überwiegend ungehört.
che Ausbildung als Übersetzende haben, noch durch       Der Rückgriff auf das geschlechtsspezifisch-rassisti-
ihre berufliche (Macht-)Position gegenüber der Ge-      sche Wissen erscheint im Material als strukturell an-
flüchteten geeignet sind, zu übersetzen. Diese Praxis   gelegte behördliche Praxis und steht im Zusammen-
findet sich auch in Institutionen der medizinischen     hang mit Überforderung aufgrund der erhöhten
Versorgung wieder (z. B. Herr Hagedorn, Pos. 10).       Flucht_Migration nach Deutschland um 2015. Eine
                                                        im Asylrecht im Zuge der erhöhten Fluchtzuwande-
4.1.3 In der Arbeitsverwaltung                          rung stetig veränderte Gesetzeslage (etwa durch die
Die Interviews mit Akteur*innen der Arbeitsverwal-      Asylpakete I und II) bei gleichzeitigem Personalman-
tung legen eine sexistisch-rassifizierende Adressie-    gel hat bei zahlreichen sozialstaatlichen Institutio-
rung geflüchteter Frauen im Kontext ihrer Arbeits-      nen, darunter auch den Jobcentern, zu Handlungs-
marktadressierung offen, wofür die Beschäftigten in     unsicherheiten und Überforderungen geführt.
Jobcentern und Arbeitsmarktmaßnahmen auf beste-               „Schon bevor die kamen. Und dann ka-
hendes rassistisches ‚Wissen‘ über ‚die arabische             men die noch in Massen, und wir hat-
Frau‘ zurückgreifen. Frauen werden nach ihrer                 ten entsprechenden Personalbedarf.
Flucht_Migration pauschal als ungebildet und ver-             Also da ist wirklich die Bude fast ge-
haftet in traditionell-heterosexuellen Geschlechter-          kracht.“ (Jobcenter, Frau Zimmer, Z.
rollen wahrgenommen. Die Zuschreibung einer ho-               112)
mogenen ‚Kultur' wird verknüpft mit ihren mehr-
heitlich arabischen Herkunftsländern.                   Darüber hinaus erscheinen die gesellschaftliche
                                                        Stimmung in der Region sowie pauschalisierende
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Aussagen der ‚alteingesessenen‘ Kund*innen als An-              „Von daher iss eine gute Durchmi-
lass, den Kundenstamm des Jobcenters räumlich                   schung zwischen alt und jung, (.) erfah-
voneinander zu trennen.                                         ren (.) und den unterschiedlichen Kom-
                                                                petenzen (.) erst einmal ganz gut. Wo-
      „Also da war schon hier richtig viel los.
                                                                bei ich aus den= auf die Kompetenzen
      Also auch das Stadtbild hat sich kom-
                                                                natürlich keinen Einfluss habe. Ich kann
      plett verändert. Die Bevölkerung war in
                                                                nur sagen, ich brauche welche, die er-
      Aufruhr, muss man auch ganz klar sa-
                                                                fahren sind, und ich brauche ambitio-
      gen [...] Ja, und dann kamen auch eben
                                                                nierte Junge, die sich noch entwickeln
      ganz schnell so Parolen, wie: Die krie-
                                                                lassen //mhm// von den erfahrenen
      gen jetzt alles, und bei mir wird ge-
                                                                Kollegen.“ (Herr Friedrich, Z. 846–851)
      spart. Also sehr politisiert, auf Stamm-
      tisch-Niveau. Und dadurch, dass man                 In dem Zitat wird deutlich, dass Erfahrung der ent-
      das räumlich rausziehen konnte, hat                 scheidende Punkt ist und mit Kompetenz gleichge-
      man sowohl, ich sage mal, die Flücht-               setzt wird. Wer viel Erfahrung hat, dem wird viel
      linge für sich gesaved, aber auch die               Kompetenz zugetraut und zwar nicht nur für die ei-
      anderen Kunden noch mal beruhigt,                   gene Arbeit, sondern auch für das Anlernen von jün-
      weil die nicht permanent damit kon-                 geren Kolleg*innen. Die Weitergabe von Erfahrun-
      frontiert wurden.“ (Jobcenter, Frau                 gen dient dazu die anderen Kolleg*innen zu „entwi-
      Zimmer, Z. 111 & 1038)                              ckeln“ sowie auch zu schützen und deren Arbeit zu
                                                          erleichtern. Eine Erfahrung steht dabei nicht als ein-
Obwohl die Sicherheitssituation der Geflüchteten
                                                          zelnes Ereignis für sich, sondern aus ihr wird durch
auf diese Weise mutmaßlich verbessert wurde,
                                                          die Weitergabe an Kolleg*innen ‚Wissen‘ über (kon-
schafft das Jobcenter dadurch eine räumliche Segre-
                                                          struierte) Gruppen generiert:
gation für ‚die Anderen‘ und legitimiert letztlich da-
mit die rassistischen Äußerungen der Kund*innen                 „So iss der Kreis auch eigentlich immer
aus der Mehrheitsbevölkerung (statt rassismuskri-               gegeben, dass man also nie (.) hier, du            10
tisch zu intervenieren). Dieser Zustand geht für die            musst mal erstmal deine Erfahrungen
Geflüchteten mit längeren Wegen zur Behörde ein-                hier machen, sondern pass auf, da
her.                                                            wohnen sozial Schwache in dem Be-
                                                                reich, da wohnen äh, viele Russen, da
4.2   Produktion von ‚neuem‘ rassistischen                      wohnen viele ähm, aus, aus äh, Russ-
                                                                landdeutsche, die muss man auch be-
      ‚Wissen‘ in Behörden
                                                                trachten, die sind auch anders, die hei-
                                                                ßen plötzlich äh, alle Gerald oder Man-
Neben dem Rückgriff auf bestehende rassistische
                                                                fred und haben ‘n russischen Nachna-
Wissensbestände lässt sich auch die Produktion von
                                                                men, man wundert sich, wie kommen
‚neuem‘ rassistischen ‚Wissen‘ in den Behörden em-
                                                                die auf den Namen Manfred, (unv.)
pirisch nachweisen. Dieses wird nicht nur zur Legiti-
                                                                ähm, ja, und äh, wo treffen die sich,
mierung von Ausschlüssen genutzt, sondern nimmt
                                                                was machen die, was haben die denn
auch Einfluss auf das Handeln anderer Behörden.
                                                                für’ne Religion, und und warum laufen
4.2.1 In der Polizei                                            die in Schwarz rum und so.“ (Herr Ka-
                                                                minski, Z. 865–872)
Erfahrungswissen spielt eine wichtige Rolle in der
(Streifen-)Polizei. Dies zeigt sich bspw. in der Zusam-   Das Zitat enthält sowohl klassistische („sozial Schwa-
mensetzung einer Dienstgruppe:                            che“), als auch rassistische Äußerungen („Russen […]
                                                          Russlanddeutsche […] die sind auch anders“). Dar-
                                                          über hinaus zeigt sich eine Art Neugier, bei der deut-
                                                          lich wird, dass ‚die Anderen‘ als fremd eingestuft und
                                                          von außen skeptisch betrachtet werden. Man ver-
                                                          sucht auf Distanz ‚Wissen‘ über sie zu generieren.
                                                          Der Interviewte betont den Nutzen der Weitergabe
                                                          von Erfahrungswissen, weil dadurch eigene Erfah-
                                                          rungen erspart werden können (Herr Kaminski, Z.
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865–867). D. h. die über die Jahre gesammelten Er-          4.2.2 In der Gesundheitsversorgung Geflüch-
fahrungen werden an neue Kolleg*innen in Form                     teter
von simplifizierenden und pauschalisierenden Klas-
sifikationen weitergegeben. Durch die Zusammen-             Auch in der Gesundheitsversorgung Geflüchteter
setzung der Funkwagenteams aus erfahrenen und               wird ‚neues Wissen‘ über Geflüchtete generiert, so
weniger erfahrenen Personen wäre der „Kreis“ (Herr          etwa im Kontakt mit Geflüchteten selbst, die inner-
Kaminski, Z. 865) bzw. Kreislauf von ‚Wissen‘ über          halb der Regelstrukturen auftauchen. So werden Ge-
‚andere‘ in der Dienstgruppe gegeben, denn die Me-          flüchtete beispielsweise im Kontext als „arabische
tapher des Kreises suggeriert ein geschlossenes Sys-        Großfamilie“ (Frau Beck, Pos. 114) wahrgenommen,
tem.                                                        mit denen man zunächst lernen müsse, umzugehen
                                                            (Frau Beck, Pos. 114). So ‚lernt‘ Frau Beck von einem
Während es in diesem Unterabschnitt bisher um die           Mann, wie in seinem Herkunftsland vermeintlich mit
mündliche Weitergabe von Erfahrungen bzw. daraus            Substanzkonsum umgegangen wird:
generiertem ‚Wissen‘ ging, zeigt sich im Material,
dass sich dieses ‚Wissen‘ auch zu einer Objektivation             „Der hat gesagt, in Eritrea kommt man
verfestigen kann. Bei Objektivationen handelt es                  ins Gefängnis oder wird von der Familie
sich u. a. um materielle Gegenstände oder be-                     verstoßen, wenn man Alkohol trinkt […]
obachtbare Ergebnisse von Handlungen (Bührmann                    Und die werden den Teufel tun zu erzäh-
2014, S. 43), wie z. B. eine Kriminalitätsstatistik, wel-         len, dass sie Alkohol trinken. Weil sie
che auf Basis von Kontrollen erstellt wurde. Solch                Angst haben, dass die Familien das er-
eine Statistik kann als Begründung genutzt werden,                fahren und, und, und. Solche Sachen.“
um einen öffentlichen Raum als „gefährlichen“ bzw.                (Frau Beck, Pos. 51)
„kriminalitätsbelasteten“ Ort (im Folgenden: GKO)           Dieses neuerworbene ‚Wissen‘ ist in zweierlei Hin-
zu labeln, wodurch dort anlasslose Kontrollen durch-        sicht problematisch: es pauschalisiert erstens alle
geführt werden dürfen. Dass sich die Kontrollen an          Menschen aus einem Land und wird zweitens derart
solchen Orten auf bestimmte Personen fokussieren,           weiterverwendet als Grundlage für die eigene, auch        11
wird u. a. anhand der gestellten rhetorischen Frage         zukünftige Herangehensweise, wie hier beispiels-
illustriert:                                                weise für die Konzeption von Schulungsinhalten, in
      „Und wenn ich halt feststelle, dass an (.)            denen dann u.a. referiert wird „welche Länder, was
      an DIESEM Ort MENSCHEN aus dem af-                    kulturelle Hintergründe in den Ländern sind“ (Frau
      rikanischen Kontinent Straftaten bege-                Beck, Pos. 91).
      hen, […] wen soll ich’n jetzt kontrollie-             Des Weiteren wird polizeibehördlich produziertes
      ren?“ (Herr Blum, Z. 636–639)                         ‚neues‘ rassistisches ‚Wissen‘ über die Verknüpfung
                                                            von (Rauschgift-)Kriminalität und Herkunftsländern
Die Äußerung impliziert eine Verallgemeinerung von
                                                            durch das Heranziehen von Polizeistatistiken zur Le-
den bisher erfassten Tatverdächtigen auf alle Perso-
                                                            gitimation des eigenen Handelns genutzt:
nen, die – auf Basis ihres optischen Erscheinungsbil-
des – von der Polizei dem „afrikanischen Kontinent“               „Da steht darin, wie hoch der Anteil der
(Herr Blum, Z. 637) zugeordnet werden und sich an                 Ausländer ist und wie viele davon Ge-
einem GKO aufhalten. Das individuelle Verhalten der               flüchtete und aus welchen Nationen.
Personen wird damit irrelevant; was zählt, ist die An-            Und da steht übrigens Georgien an ers-
wesenheit an dem Ort sowie ein migrantisch gelese-                ter Stelle bei der Rauschmittelkriminali-
nes Erscheinungsbild. Werden bestimmte Personen                   tät.“ (Frau Beck, Pos. 103)
überdurchschnittlich oft kontrolliert, können auch
mehr „Treffer“ (Herr Dreher, Z. 813) in dieser kon-         Hier hat die Produktion von ‚neuem‘ rassistischen
struierten Gruppe verzeichnet werden. So zeigt sich,        ‚Wissen‘ aus der Polizei einen Einfluss auf einen jähr-
dass Racial Profiling im Sinne einer selbsterfüllenden      lich erscheinenden Bericht des Gesundheitsamtes
Prophezeiung erfolgt, denn es wird auf Basis einer          der Kommune, indem Geflüchtete und Auslän-
selbst erschaffenen Statistik gehandelt. Die Statistik      der*innen als eigene Kategorie aufgeführt werden.
stellt insofern neues von der Polizei generiertes
                                                            Durch Unsicherheiten entsteht ebenfalls neues ‚Wis-
‚Wissen‘ dar, das weitere polizeiliche Handlungen
                                                            sen‘, das Sicherheit herstellt bei vermeintlichen Un-
beeinflusst und auch in den gesamtgesellschaftli-
chen Diskurs einfließt.
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sicherheiten. Das Bedürfnis nach behördlicher Kon-            „Denn, wo kann man berufsbezogene
trolle Geflüchteter im Sinne der vermeintlichen               Sprache lernen? Heißt eben berufsbezo-
Mehrheitsgesellschaft zeigt sich zusätzlich bei be-           gen. Das kann ich jetzt nicht irgendwo
stimmten genehmigungspflichtigen Leistungen.                  im Frontalunterricht erkennen. Ne? […]
Diese werden von den Behörden häufig dem*der                  Die Frauen sind aus ihren Heimatlän-
Amtsarzt*ärztin für ein extra Prüfverfahren vorge-            dern gewohnt, Frontalunterricht zu ha-
legt. So hat sich in einer Kommune das gängige Ver-           ben. Wir sind schon viel, viel weiter. Wir
fahren etabliert, bei dem ein Entzug selbst bei einer         arbeiten, ne, in eigenen Arbeitsgruppen.
akuten Krankenhauseinweisung nicht automatisch                Das sind riesengroße Probleme für
genehmigt wird. Frau Schumacher erläutert:                    Frauen.“ (Jobcenter, Herr Körber, Z. 881)

      „Und insofern muss dann eine Kranken-             Das Ziel sprachlicher Qualifizierung ist nicht die Ar-
      hauseinweisung erfolgen gegebenen-                beitsmarktteilhabe der Frauen, sondern das Zu-
      falls, die wir dann ja erst wieder amts-          rechtfinden in einem ‚weiblichen Alltag‘:
      ärztlich prüfen lassen und dann ja oder
                                                              (…), um beim Arzt die Chance zu haben,
      nein, eine Kostenübernahmeerklärung
                                                              vernünftig zu kommunizieren, an der
      ausstellen. Und eher kann er sich halt
                                                              Schule, mit der Nachbarschaft, beim
      nicht in stationäre Behandlung bege-
                                                              Sportverein, im kulturellen Bereich.“
      ben.“ (Frau Schumacher, Pos. 116)
                                                              (Jobcenter, Herr Körber, Z. 925)
Die Erläuterungen zeigen, dass anstelle einer direk-    Ähnlich verhält es sich mit der Zuschreibung von Sor-
ten Genehmigung durch das Sozialamt immer eine          gearbeit: aus der scheinbar ausschließlichen Fokus-
Legitimation durch weiteres ärztliches Personal des     sierung geflüchteter Frauen auf Kinderbetreuung
Amtes erfolgen muss. Dies wird im Gegensatz dazu        wird in der Arbeitsverwaltung eine per se-Ableh-
in einer anderen Kommune als selbstverständliche        nung institutioneller Kinderbetreuung durch ge-
Leistung gesehen ohne das automatisierte Einholen       flüchtete Frauen abgeleitet bzw. unterstellt. Die Zu-    12
einer amtsärztlichen Beurteilung: „wenn jetzt je-       schreibung, alle muslimischen Frauen lebten in ei-
mand zum Beispiel in einen Entzug gehen möchte,         nem ‚rückständig-orientalischen‘ Geschlechterre-
dann ist das auf jeden Fall abgedeckt“ (Herr Weber,     gime, in dem der Mann der Frau eine Erwerbstätig-
Pos. 86).                                               keit verbiete, führt zur pauschalen Vermittlung in
                                                        das Modell eines männlichen Familienernährers, da
4.2.3 In der Arbeitsverwaltung                          dieses für Geflüchtete ‚passend‘ sei. In der Folge ad-
Auch in der Arbeitsverwaltung kommt es zur Produk-      ressieren Jobcenter Männer als (zukünftige) Familie-
tion von ‚neuem‘ rassistischen ‚Wissen‘. Von Bedeu-     nernährer und vermitteln Frauen in prekäre Zuver-
tung ist dort zunächst die Anwendung von bestehen-      dienerinnen-Jobs.
den rassistischen Wissensbeständen auf die kon-         Hinzu kommt: Erfahrungen mit rassistischen Aus-
krete Situation der Arbeitsmarktaktivierung durch       schlüssen am Arbeitsmarkt aufgrund des Kopftuch-
die Jobcenter, von der alle Geflüchteten mit aner-      tragens, die sowohl geflüchtete Musliminnen als
kanntem Asylstatus betroffen sind. Konkret bedeu-       auch Mitarbeitende in Arbeitsmarktmaßnahmen
tet das, dass geflüchteten Frauen die für den hiesi-    sammeln, generieren ‚neues‘ rassistisches ‚Wissen‘
gen Arbeitsmarkt notwendigen Einstellungen, Kom-        um die Unvereinbarkeit des Kopftuchtragens mit
petenzen und Fähigkeiten abgesprochen werden. So        spezifischen beruflichen Tätigkeitsprofilen.
attestieren Behördenmitarbeitende geflüchteten
Frauen entgegen des ‚alten‘ rassistischen Stereoty-           „Es geht um Hygiene. Wenn ich einen al-
pes ‚der ungebildeten arabischen Frau‘ zwar, im Her-          ten Menschen wasche oder bade, die Al-
kunftsland bereits Zugang zu Bildung gehabt zu ha-            tenpfleger habe so bestimmte […] Sa-
ben, gleichzeitig aber nicht in der Lage zu sein, die         chen an. Was mache ich mit dem Kopf-
vermeintlich ‚modernen‘ Unterrichtsformen der Ar-             tuch? Geht gar nicht. Also, das sind so
beitsverwaltung zu durchlaufen. Der Erwerb berufs-            Sachen, Kopftuchproblematik haben wir
bezogener Sprache erscheint für diese Gruppe min-             das im letzten Projekt genannt.“ (Maß-
destens problematisch.                                        nahmenträger I, Frau Stoschek, Z. 687)
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Der Verweis, dass die „Kopftuchproblematik“ selbst         5    Fazit
zum Inhalt der Arbeitsmarktmaßnahme wurde, ma-
nifestiert die Institutionalisierung strukturellen anti-
                                                           Die empirischen Ergebnisse der drei hier vorgestell-
muslimischen Rassismus im Kontext von Arbeitsver-
                                                           ten Kurzstudien zu institutionellem Rassismus in der
mittlung.
                                                           Polizei, der Gesundheitsversorgung und der Arbeits-
Darüber hinaus fungieren Mitarbeitende der Be-             verwaltung haben aufgezeigt, dass institutioneller
hörde, denen selbst ein Migrationshintergrund zu-          Rassismus sowohl im Rückgriff auf bestehende ras-
geschrieben wird oder die eigene Migrationserfah-          sistische Wissensbestände als auch in der Produk-
rungen besitzen, als vermeintliche Expert*innen für        tion von ‚neuem‘ rassistischen ‚Wissen‘ zu Tage tritt.
die Gruppe Geflüchteter. Diese werden von einzel-          In der Analyse wurde deutlich, dass in den unter-
nen Jobcentern eigens dafür angeworben und besit-          suchten Behörden Handlungsunsicherheiten im Um-
zen dann als Nadelöhr innerhalb der Behörde eine           gang mit ‚den Anderen‘ vorherrschen, etwa, wenn
alleinige, hohe Entscheidungsmacht:                        anhand des Aussehens nicht auf das Innere der Per-
                                                           son rückgeschlossen werden kann. Diese Handlungs-
      „Deshalb picken wir uns die Frauen, von              unsicherheiten werden mit Rückgriff auf etablierte
      denen man denkt, oder von denen der                  rassistische Wissensbestände ‚handhabbar‘ ge-
      Herr Deeb den Eindruck hat, die wollen               macht und erscheinen so als vermeintliche ‚Lösun-
      doch mehr erreichen, die picken wir uns              gen‘. Empirische Beispiele dafür wären der Rückgriff
      frühzeitig raus.“ (Jobcenter, Frau Zim-              auf das ‚Wissen‘, welche Kleidung und welche Werte
      mer, Z. 384)                                         ‚westlich‘ seien, die Verstrickung in den gesellschaft-
Dabei spielt es keine Rolle, ob diese vermeintlichen       lichen Diskurs, der Geflüchteten ‚gute‘ (legitime)
Expert*innen beispielsweise für die besondere Situ-        und ‚schlechte‘ (illegitime) Motive unterstellt oder
ation von Frauen am Arbeitsmarkt (im Kontext von           muslimische Frauen pauschal als ungebildet und in
Flucht_Migration) geschult sind oder nicht. Die indi-      traditionellen Geschlechterrollen verhaftet vorstellt.
viduellen Handlungsspielräume der Mitarbeitenden           Das den auf diese Weise konstruierten Gruppen un-         13
im Jobcenter, die behördlicherseits unkontrolliert         terstellte Verhalten wird entlang von Kategorien wie
bleiben, zeigen sich im Material insgesamt als Ein-        Nationalität, Ethnie, Kultur und/oder Religion verall-
fallstor für (nicht nur) geschlechtsspezifischen Ras-      gemeinert. Zudem erfolgt durch die Grenzziehung
sismus.                                                    zwischen einem konstruierten ‚Wir‘ und ‚den Ande-
                                                           ren‘ eine Polarisierung sowie Hierarchisierung im
Selbst von Rassifizierungen betroffen, erscheint es
                                                           Sinne einer Schlechterstellung der ‚Anderen‘. Der
diesen Behördenmitarbeitenden aber gleichsam
                                                           Rückgriff auf rassistisches ‚Wissen‘ dient insofern als
wichtig, sich von den Geflüchteten durch positive
                                                           Orientierung im Umgang mit den Handlungsunsi-
Selbst- und negative Fremdzuschreibungen abzu-
                                                           cherheiten innerhalb der Behörden. Der in Behörden
grenzen.
                                                           vorhandene Handlungsspielraum wird in der Empi-
      „Am Anfang war ich richtig schockiert,               rie der Kurzstudien durch rassistisches ‚Wissen‘ und
      weil für mich war das Bild Syriens ein               entsprechende Entscheidungen gefüllt. Dies zeigt
      ganz anderes in der arabischen Welt.                 sich in unserem Material z. B. darin, dass die Ver-
      Syrien war für uns, also jeder konnte                mittlung in Jobcentern gegenüber muslimisch gele-
      sagen, oh, die sind alle hoch motiviert,             senen Geflüchteten dem Modell eines männlichen
      die sind studierte Menschen, sie sind …              Familienernährers folgt. In der Empirie zeigte sich
      da konnte … aber es ist nicht so, leider,            zudem, dass von Workshops zu interkultureller Kom-
      muss man feststellen im Nachhinein.“                 petenz erwartet wurde, dort etwas pauschal über
      (Jobcenter, Herr Deeb, Z. 431)                       ‚Andere‘ zu erfahren.
Statt als Mittler zwischen der residenten und zuge-        Darüber hinaus zeigt die Analyse, dass Behörden
wanderten Bevölkerung zu fungieren, verwirft Herr          vorhandenes rassistisches ‚Wissen‘ nicht ‚nur‘ nut-
Deeb sein positiv konnotiert-pauschales ‚Wissen‘           zen, um Handlungsunsicherheiten zu begegnen,
über ‚die Syrier*innen‘ in ‚der arabischen Welt‘ und       sondern auch selbst ‚neues‘ rassistisches ‚Wissen‘
bestärkt das bereits bestehende rassistische ‚Wis-         produzieren. Ein empirisches Beispiel dafür wäre das
sen‘ in Deutschland neuerlich.                             ‚Lernen‘ auf Basis der Verallgemeinerung von Einzel-
                                                           fällen. Das derart gewonnene ‚Wissen' fließt nicht
                                                           nur in die eigene zukünftige Herangehensweise ein,
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