Institutioneller Rassismus in Behör- den - Rassistische Wissensbestände in Polizei, Gesundheitsversorgung und Arbeitsverwaltung - Uni ...
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2022 | 02 Institutioneller Rassismus in Behör- den – Rassistische Wissensbestände in Polizei, Gesundheitsversorgung und Arbeitsverwaltung Alexandra Graevskaia, Katrin Menke und Andrea Rumpel ● Rassistische Wissensbestände stellen in deutschen Behörden keine Ausnahme dar. Auch unsere Forschung zeigt: Sie sind strukturell ein- gebettet und werden institutionell (re-)produziert. ● Handlungsunsicherheiten in Behörden begünstigen die (Re-)Produk- tion von ‚altem‘ und ‚neuem‘ rassistischen ‚Wissen‘. ● Für Betroffene führen Othering-Prozesse durch Behörden zu differen- ziellen Ein- und Ausschlüssen von sozialstaatlichen Leistungen sowie zu Stigmatisierungen. ● Um institutionellem Rassismus entgegenzuwirken, bedarf es einer Vielzahl an Maßnahmen, etwa einer kritischen Reflexion behördlicher Routinen, systematischen Monitorings behördlicher Entscheidungen sowie rassismuskritischer Schulungen. Aktuelle Forschungsergebnisse aus dem Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ), Universität Duisburg-Essen
2022 | 02 IAQ-Report Kurzstudien stellten sich zwischen den Ergebnissen der drei Autorinnen inhaltliche Überschneidungen 1 Einleitung heraus. Hieran anknüpfend ist die Idee für den vor- liegenden IAQ-Report entstanden, der die (Re-)Pro- Rassismus ist ein gesellschaftliches Verhältnis, das duktion von rassistischem ‚Wissen‘ in den unter- sich bewusst und unbewusst (auch) in Deutschland schiedlichen Behörden auf Grundlage der Erfahrun- tagtäglich und systematisch (re-)produziert – durch gen und Erzählungen der lokalen Akteur*innen so- einzelne Personen, in Institutionen und Diskursen. wie die damit zusammenstehenden Ein- und Aus- Trotz der jüngeren Diskussionen um Rassismus im schlüsse erstmals zusammenbringt. Der IAQ-Report öffentlichen und wissenschaftlichen Raum ist Rassis- beginnt mit einer Begriffsbestimmung zu Rassismus mus in Deutschland im Gegensatz zum anglo-ameri- sowie institutionellem Rassismus und beleuchtet da- kanischen Sprachraum gesamtgesellschaftlich noch bei kurz den Forschungsstand zu institutionellem immer tabuisiert und/oder wird als Fehleinstellung Rassismus in Polizei, Gesundheitswesen und Arbeits- Einzelner begriffen (Terkessidis 2021; Alexopoulou verwaltung. Im Anschluss stellen wir die Daten- 2021). Für den deutschsprachigen Raum lässt sich grundlage und Auswertung der drei Kurzstudien je- zudem eine (mutmaßlich auch daraus resultierende) weils vor. Den Hauptteil des Reports nehmen die Forschungslücke zu Rassismus im Allgemeinen und qualitativ-rekonstruktiven Forschungsanalysen ein, zu institutionellem Rassismus im Besonderen fest- die sich in zwei zentrale Ergebnisse gliedern. So be- stellen. Versteht man Rassismus als gesellschaftli- schreiben wir zunächst, inwiefern in allen drei Insti- ches Strukturprinzip, rücken institutionelle Zustän- tutionen ein Rückgriff auf bestehende rassistische digkeiten, Verfahrensweisen und Diskurse jedoch in Wissensbestände im Kontext behördlicher Hand- den Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Staatli- lungsunsicherheit stattfindet. Anschließend zeigen che wie sozialstaatliche Institutionen nehmen im wir auf, inwiefern die Behörden an der Generierung Hinblick auf institutionellen Rassismus eine hervor- von ‚neuem‘ rassistischen ‚Wissen‘ mitwirken sowie gehobene Rolle ein, weil diese mit ihren Mechanis- zum Teil auf das ‚Wissen‘ anderer Behörden zugrei- men an der (Re-)Produktion von Ein- und Ausschlüs- fen. Das Fazit arbeitet schließlich die Gemeinsamkei- 2 sen beteiligt sind. Um „gegenüber allen Menschen ten der empirischen Befunde heraus und verweist zuverlässige Dienstleistungen zu erbringen“ (Asmus auf mögliche Handlungsoptionen, wie rassistischem und Enke 2016, S. 7) sollten etwa Polizei, Gesund- ‚Wissen‘ in Behörden begegnet werden könnte. heitsversorgung und Arbeitsverwaltung keine Ein- und Ausschlüsse auf Grundlage von Othering1 be- treiben, sondern ihre Arbeit an die zunehmend he- 2 Begriffsbestimmung zu Rassismus und terogener werdende Gesellschaft anpassen. In einer Institutionellem Rassismus postmigrantischen Gesellschaft (Foroutan 2021) wie der deutschen verweist institutioneller Rassismus nicht zuletzt auf ausstehende relevante gesell- Rassismus ist als „ein grundlegendes gesellschaftli- schaftspolitische Aushandlungen, „die nach der Mig- ches Ordnungsprinzip“ (Heinemann und Mecheril ration erfolgen, hinter der Migrationsfrage verdeckt 2016, S. 48) zu verstehen, welches eine ökonomi- sind und die über die Migration hinaus weisen“ sche, politische und soziale Abwertung von Men- (Foroutan 2021, S. 19, Herv. im Original). schen aufgrund von willkürlich gewählten Kriterien beinhaltet (Hall 2004). Unterstellt werden dabei Der vorliegende IAQ-Report fasst die Ergebnisse aus stets unterscheidbare Merkmale und Eigenschaften, drei am IAQ angesiedelten qualitativen Kurzstudien mithilfe derer eine Grenze zwischen ‚Wir‘ und den zusammen, die zur Vorbereitung eines Nationalen ‚Anderen‘ gezogen wird (Hall 2004; Jäger und Diskriminierungs- und Rassismusmonitors für das Kauffmann 2002; Mecheril und Melter 2009; Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrations- Rommelspacher 2009). Birgit Rommelspacher be- forschung angefertigt wurden. Die Forschungser- schreibt Rassismus entlang von Prozessen der Natu- gebnisse der Kurzstudien werden einzeln veröffent- ralisierung, Homogenisierung, Polarisierung und licht. In gemeinsamen Diskussions-, Literatur- sowie Hierarchisierung: Über biologistische und/oder kul- Interpretationsrunden während der Erarbeitung der turalisierende Zuschreibungen werden vermeintlich _ 1Othering meint einen Prozess, der Menschen als ‚Andere‘ in Abgren- zung zum ‚Wir‘ konstruiert (Castro Varela 2010, S. 256).
2022 | 02 IAQ-Report homogene Gruppen als unveränderlich und natür- strukturellen Rassismus verstanden und verdeut- lich konstruiert, die den Vielen im Sinne einer Pola- licht, dass Individuen sich an bestehende Normen risierung gegenüberstehen – wodurch gesellschaft- anpassen und dass rassistische Denk- und Hand- liche Hierarchien legitimiert werden lungsweisen übergreifend und nicht in der persönli- (Rommelspacher 2009, S. 29). Dieser Konstruktions- chen Einstellung verankert sein müssen. Konkret ge- prozess erfolgt auf Basis verbreiteter gesellschaftli- meint sind „Strukturen von Organisationen, einge- cher Wissensbestände, die damit auch reproduziert schliffene Gewohnheiten, etablierte Wertvorstellun- werden. Terkessidis spricht in diesem Zusammen- gen und bewährte Handlungsmaximen“ hang von „rassistische[m] Wissen“ (Terkessidis (Rommelspacher 2009, S. 30). Rassistische Praktiken 2004, S. 10). Rassismus ist somit nicht als ein indivi- gehen aus Institutionen hervor, begründen sich duelles Fehlverhalten Einzelner zu verstehen, son- rechtlich bzw. organisationsspezifisch (Hormel und dern als ein gesellschaftliches Verhältnis im Sinne ei- Scherr 2004, S. 27) und können durch Gesetze auto- nes Systems von Diskursen und Praxen, die Macht- risiert und verdeckt sein (Jäger und Kauffmann 2002; verhältnisse (re-)produzieren. Darüber hinaus ist Osterkamp und Holzkamp 1996). Institutionell-orga- Rassismus mit weiteren Machtverhältnissen – etwa nisatorische Abläufe können derart etwa zu einer Sexismus – verflochten (Hall 2000; Rommelspacher „Schlechterstellung von Migrationsanderen“ 2009, S. 30). Genderforschende weisen dabei auf die (Heinemann und Mecheril 2016, S. 47) beitragen. In- Gemeinsamkeiten aber auch Unterschiede von Ras- stitutioneller Rassismus ist durch Normalität geprägt sismus und Sexismus hin (Hark und Villa 2017; Auma (Jäger und Kauffmann 2002; Osterkamp und 2017). Eine geschlechtsspezifische Perspektive auf Holzkamp 1996) und besitzt eine scheinbar „unan- Rassismus ist im deutschsprachigen – anders als im greifbare Gültigkeit” (Jäger und Jäger 2002, S. 25). angloamerikanischen Raum – bislang allerdings Am Beispiel von Geflüchteten lässt sich zeigen, dass nicht etabliert. Gesetze und Sonderbestimmungen für sie den Alltag in Deutschland einschränken; diese Bestimmungen Wurde zunächst oftmals keine Differenzierung zwi- folgen „zum Teil einer rassistischen Logik und berei- schen strukturellem und institutionellem Rassismus 3 ten den Boden, auf dem rassistische Vorurteile und vorgenommen, wie z. B. bei Ute Osterkamp und Gewalt gedeihen kann” (Kothen 2002, S. 56). Zu nen- Klaus Holzkamp (1996), bemüht sich die Literatur in- nen wären hier etwa die Residenzpflicht, Abschiebe- zwischen zunehmend um eine Unterscheidung ver- haft, Sachleistungsprinzip oder eingeschränkte Ar- schiedener Erscheinungsformen von Rassismus – beitserlaubnis. Legitimiert wird die Politik etwa etwa durch die Abgrenzung von institutionellem, durch den Bezug auf die Wahrung des inneren Frie- strukturellem und individuellem bzw. interaktionel- dens (Wurzbacher 1997, S. 37–38). Institutioneller lem Rassismus (Rommelspacher 2009, S. 30). Nach Rassismus ist nicht gleichbedeutend mit der Abwe- wie vor mangelt es an einer einheitlichen Definition senheit von individuellem Rassismus. Der Fokus auf und Konzeptualisierung des Phänomens des institu- institutionellen Rassismus ist jedoch relevant, weil tionellen Rassismus. Struktureller Rassismus ist das etablierte Strukturen und Routinen in Behörden Resultat etablierter gesellschaftlicher, insbesondere auch bei einer rassismuskritischen Haltung nicht ein- politischer und ökonomischer Strukturen (Hormel fach überwunden werden können (Heinemann und und Scherr 2004, S. 27) und bezieht sich auf das ge- Mecheril 2016, S. 48). Vor diesem Hintergrund ist die sellschaftliche System, das „mit seinen Rechtsvor- Identifizierung und Minimierung subtil wirkender, in stellungen und seinen politischen und ökonomi- Institutionen und Organisationen angelegter Diskri- schen Strukturen Ausgrenzungen bewirkt“ minierungsrisiken (Brussig et al. 2019, S. 278) ein re- (Rommelspacher 2009, S. 30). Zentral hierbei levanter Schritt zur Bekämpfung von institutionel- scheint, dass struktureller Rassismus nicht auf die lem Rassismus. benachteiligenden Absichten angewiesen ist, son- dern aus einem „Normalvollzug“ der Strukturen ent- In Anlehnung an Alisha Heinemann und Paul Meche- steht (Hormel und Scherr 2004, S. 28). Institutionel- ril nutzen wir aus zweierlei Gründen institutionellen ler Rassismus wird von uns als Unterkategorie des Rassismus (anstelle von Diskriminierung2) als Analy- _ 2Unter Diskriminierung wird eine „ungerechtfertigte Benachteiligung, eine rassistisch begründete ungleiche Behandlung vor, die als rassisti- Herabsetzung oder Ausgrenzung“ (Brussig et al. 2019, S. 17). verstan- sche Diskriminierung verstanden werden kann. den. Ist der Grund von Diskriminierung Rassismus, dann liegt für uns
2022 | 02 IAQ-Report seperspektive: Erstens ermöglicht erst „das begriffli- sensbestand etabliert, der sich in bestimmte routi- che Instrumentarium der Rassismusforschung“ zu nierte Abläufe, Praktiken und Verfahren übersetzt“ erfassen, welche Bedeutung die historische Kontinu- (Dengler und Foroutan 2017, S. 433). Während das ität spezifischer gesellschaftlicher Machtverhält- Bundesinnenministerium im Jahre 2020 Forschung nisse für die Konstruktion von Kultur, Gender oder zu rassistischen Handlungspraktiken der Polizei mit Begriffen wie ‚Menschen mit Migrationshinter- der unschlüssigen Begründung – Racial Profiling sei grund‘ etc. in der Gegenwart haben und inwiefern verboten und bräuchte deswegen nicht untersucht sich diese verändern, um bestehende Ungleichheits- werden – ablehnte (Heidemann 2021, S. 124), zeigen verhältnisse aufrechtzuerhalten. Zweitens werden Studien, dass die Gesetzgebungen Racial Profling derart scheinbar individuelle Alltagsphänomene als nicht verhindern, sondern sogar fördern können. So institutionelle und strukturelle Prinzipien erfasst und ermöglichen die Polizeigesetze der Länder den Poli- sichtbar. Vor diesem Hintergrund möchten wir dazu zeibehörden anlasslose Kontrollen an öffentlichen beitragen, das in Deutschland verbreitete „Distan- Räumen, die auf Grundlage der eigens erstellten Kri- zierungsbedürfnis“ von der Nutzung des Rassismus- minalitätsstatistik als „gefährlich“ (NRW), als „Ge- begriffs „als Analyseperspektive für gegenwärtige fahrengebiet“ (Hamburg) oder als „kriminalitätsbe- Phänomene“ zu überwinden (Heinemann und lastet“ (Berlin) konstruiert werden (Aden 2017, S. Mecheril 2016, S. 49). Im deutschsprachigen Raum 56). Der Bezug auf den Ort fördert, trotz Bestrebun- ist v. a. die Studie von Mechthild Gomolla und Frank- gen zur Reduktion von Racial Profiling, diskriminie- Olaf Radtke (2009) bekannt für ihr „Erklärungsange- rende Etikettierungen und entsprechende polizeili- bot der ‚institutionellen Diskriminierung‘“ che Praktiken (Belina und Wehrheim 2020, S. 97). (Heinemann und Mecheril 2016, S. 46–47). Weitere Damit kann Racial Profiling als Mechanismus des in- bedeutende Studien in diesem Bereich kommen aus stitutionellen Rassismus bezeichnet werden der Erziehungswissenschaft, wie z. B. von Claus Mel- (Friedrich und Mohrfeldt 2015, S. 197). ter über Rassismuserfahrungen in der Jugendhilfe Rassistische Ungleichheiten im Hinblick auf das Ge- (Melter, 2006).3 sundheitswesen äußern sich im unterschiedlichen 4 Bislang existieren in Deutschland nur vereinzelt Stu- Zugang, in unterschiedlicher Nutzung gesundheits- dien zu (institutionellem) Rassismus in der Polizei, bezogener Maßnahmen und Einrichtungen sowie dem Gesundheitswesen und der Arbeitsverwaltung. durch vorherrschende rassifizierende Stereotype In der Polizei konzentrierten sich die Studien in den und Vorurteile gegenüber Minderheitengruppen 1990er Jahren v. a. auf Einstellungsforschung (Ahlberg et al. 2019, S. 2). Die Covid 19-Pandemie (Hunold und Wegner 2020, S. 28–29), nahmen also hat dies neuerlich verdeutlicht (Akbulut et al. 2020). individuellen Rassismus von Polizeibeamt*innen in Darüber hinaus wirkt sich Rassismus als Teil der ge- den Fokus, der damals als ‚Fremdenfeindlichkeit‘ be- sellschaftlichen Ordnung auf Gesundheit aus (Krie- zeichnet wurde (Bornewasser 2009). Neuere Stu- ger 2012), denn Diskriminierungserfahrungen und dien widmen sich zunehmend auch institutionellen Ausschlüsse bzw. Exklusionen können zu schlechte- Strukturen; bspw. untersuchten Abdul-Rahman und rer (psychischer) Gesundheit führen (Beiser und Hou Kolleg*innen „Rassismus und Diskriminierungser- 2016; Igel et al. 2010; Kluge et al. 2020; Schnapka fahrungen im Kontext polizeilicher Gewaltaus- und Schäfer 2019). Obwohl das deutsche Gesund- übung“ (Abdul-Rahman et al. 2020). Markus End heitswesen bereits strukturell, wie etwa durch die konnte eine historische Kontinuität der Nutzung Einteilung in private und gesetzliche Krankenversi- „antiziganistische[r] Wissensbestände in Form von cherungssysteme, keinen einheitlichen Versor- polizeilichem ‚Expertenwissen’“ (End 2017, S. 39) gungsrahmen bietet (Ewert 2012), ist die Datenlage aufzeigen. Einer der Befunde aus dem Forschungs- zu Rassismus in der Gesundheitsversorgung in projekt „Polizei und Migration“ ist, dass „stereotype Deutschland (im Gegensatz zu beispielsweise den Begriffe wie ‚Südländer‘“ (Graevskaia et al. 2021, S. USA) spärlich (Bartig et al. 2021; Uslucan und Yalcin 9) bedenkenlos genutzt werden. Diese und andere 2012; Yeboah 2017). So gilt etwa die Bedeutung von Studien deuten darauf hin, dass sich innerhalb der Othering-Prozessen für die Versorgung und den Zu- Polizei „ein bestimmter (kultur-)rassistischer Wis- gang zu Gesundheitsdiensten in Deutschland als sys- tematisch untererforscht (Akbulut und Razum _ 3 Auch hier ist die begriffliche Abgrenzung nicht ganz klar, denn er spricht von Alltagsrassismus als institutionellem Rassismus.
2022 | 02 IAQ-Report 2021). Migrant*innen und Geflüchtete sind sprachli- deutschen Behörden, darunter auch der Arbeitsver- chen und kulturellen Zugangsbarrieren in die Ge- waltung, den Zugang zum Arbeitsmarkt für Geflüch- sundheitsdienste (Razum et al. 2020, S. 628) sowie tete erschwert oder gar verhindert (Huke 2020, S. im hohen Maße einem Diskriminierungsrisiko ausge- 26ff.). Zugleich zeigt die – in der internationalen Wo- setzt (Beigang et al.). Darüber hinaus institutionali- che gegen Rassismus publizierte – (nicht-repräsenta- siert das Asylbewerberleistungsgesetz für Geflüch- tive) Studie zum Zugang zu Leistungen SGB II, SGB XII tete auf rechtlich-formeller Ebene nur einen einge- und Kindergeld, dass institutionelle Praktiken auch schränkten Zugang zu medizinischer Versorgung (§§ gegenüber EU-Bürger*innen wirken und diese an 4 und 6): für Asylbewerber*innen in den ersten 18 der Durchsetzung ihrer Leistungsansprüche hindern Monaten sowie für Geduldete grundsätzlich. Der (Tießler-Marenda et al. 2021). unterschiedliche Zugang hängt somit von Aufent- Insgesamt zeigt sich, dass es in Deutschland über ei- haltsstatus und Staatsangehörigkeit ab und geht mit nen langen Zeitraum hinweg nur wenig Forschung einer Schlechterstellung Geflüchteter im Gesund- explizit zu institutionellem Rassismus gab. Vielfach heitswesen einher. Hinzu kommen soziale Ungleich- wird bis heute nicht systematisch zwischen Diskrimi- heiten wie beispielsweise schlechtere Bildungschan- nierung und Rassismus unterschieden (Karabulut cen und häufig geringeres Einkommen, die in ihrer 2020, S. 43). Der Forschungsbedarf zur Verbreitung, Folge zu weiteren Nachteilen im Gesundheitswesen Bedeutung und Wirkung von Rassismus ist weiterhin führen können (Kluge et al. 2020). Die Kumulation hoch. Eine systematische Erfassung und Erforschung dieser unterschiedlichen Facetten verhindert die Ge- von institutionellem Rassismus auch in sozialstaatli- nesung Geflüchteter bzw. erzeugt zusätzliche Krank- chen Einrichtungen startet in Deutschland erst heitsursachen (Mohammadzadeh 2016, S. 578). jüngst und sukzessive. Die Erforschung von Rassismus am Arbeitsmarkt und in der Arbeitsverwaltung ist in Deutschland, anders als im angelsächsischen Raum, wenig verbreitet. 3 Die drei Kurzprojekte – Datengrund- Weit(er) verbreitet ist dagegen Forschung, die sich lage und Auswertung 5 mit individuellen und institutionellen Diskriminie- rungsrisiken beschäftigt und deren Bedeutung für Grundlage der hier vorgestellten Analyse sind drei die Arbeitsmarktteilhabe für Migrant*innen Projekte, die als Kurzstudien zur Vorbereitung eines (Salikutluk et al. 2020) und insbesondere für Musli- nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmoni- minnen (Weichselbaumer 2020) bestätigt. Studien tors am Deutschen Zentrum für Integrations- und mit spezifischem Fokus auf die Rolle der Arbeitsver- Migrationsforschung durch das Bundesministerium waltung sind rar. Die wenigen existierenden Studien für Familien, Senioren, Frauen und Jugend gefördert (Brussig et al. 2019; Jaehrling und Knuth 2010) kon- waren. Die Kurzstudien und ihre jeweilige Daten- statieren allerdings, dass die Diskriminierungsrisiken grundlage werden folgend kurz vorgestellt. die gesamte ‚Prozesskette‘ der öffentlichen Arbeits- vermittlung von der Beratung über die Aktivierung Die Kurzstudie „Institutioneller Rassismus in der Po- bis hin zu Dienstleistungen für Arbeitgeber*innen lizei. Rassistisches ‚Wissen‘ und seine Nutzung“ stellt sowie Kooperationen mit anderen Sozialdienstleis- eine von Alexandra Graevskaia durchgeführte Son- tern beträfen (Brussig et al. 2019, S. 280). Vor dem derauswertung von Daten aus dem Forschungspro- Hintergrund der jüngeren Flucht_Migration4 nach jekt „Personalpolitik und Diversity-Management in Deutschland wurde zudem die Bedeutung und Per- der Polizei“ dar, welches in das Verbundprojekt spektive von Jobcentern für die Arbeitsmarktteil- „Migration und Polizei: Auswirkungen der Zuwande- habe Geflüchteter beleuchtet, in der am Rande auch rung auf die Organisation und Diversität der deut- geschlechtsspezifische Adressierungen erwähnt schen Polizei“ (gefördert vom Bundesministerium werden (Scheu et al. 2020). Einzelne Studien zur Si- für Bildung und Forschung 2018-2021) eingebunden tuation Geflüchteter in Deutschland nehmen dage- war. Ziel der Kurzstudie war es, einige exemplarische gen explizit eine rassismustheoretische Perspektive Rahmenbedingungen, Routinen und Praktiken der ein und beleuchten, inwiefern Rassismus u.a. in _ 4 Der Unterstrich betont das Spektrum (im Gegensatz zur Dichotomie) der Begrifflichkeiten sowie damit verknüpfte Vorstellungen über Migra- tion und Flucht (Kaufmann et al. 2019, S. 6).
2022 | 02 IAQ-Report Polizei herauszuarbeiten, die dazu beitragen, Rassis- die Arbeitsmarktteilhabe geflüchteter Frauen. Empi- mus – auch unbeabsichtigt – zu (re-)produzieren. Die rische Grundlage waren qualitative Interviews mit empirische Grundlage der Kurzstudie bildeten zehn sechs geflüchteten Musliminnen und Schwarzen zwischen 2019 und 2021 in zwei Länderpolizeien er- Frauen sowie Expert*inneninterviews mit elf lokalen hobene teilnarrative leitfadengestützte Interviews Akteur*innen in westdeutschen Kommunen. Das mit Führungskräften des Streifendienstes sowie aus- Material stammt aus den Jahren 2019 und 2020. Die gewählter polizeilicher Stellen, die Bezug zu Migrati- Auswertung der Interviews mit Frauen im Kontext onsthemen haben. Die Auswertung erfolgte mittels Flucht_Migration erfolgte entlang der Grounded der Kombination ausgewählter Elemente der kriti- Theory (Strauss und Corbin 1996), die leitfadenge- schen Diskursanalyse (Jäger 2012) und der Situati- stützten Expert*inneninterviews wurden qualitativ, onsanalyse (Clarke 2012). inhaltsanalytisch ausgewertet. Für die Kurzstudie „Rassismus in der Gesundheits- Das Material aus allen drei Kurzstudien wurde in versorgung von Geflüchteten – Das Zusammenspiel mehreren Interpretationsrunden mit anderen Wis- subjektiver Auswirkungen von Rassismus und insti- senschaftler*innen gemeinsam diskutiert und inter- tutionellem Rassismus im Zugang zu wohlfahrts- pretiert. Gegenstand der Auswertung für diese Pub- staatlichen Angeboten“ nahm Andrea Rumpel eine likation waren insbesondere die Erfahrungen und Er- Sonderauswertung ihres Qualifizierungsprojektes zählungen der lokalen Akteur*innen, die diese Ein- „Geflüchtete und lokale Gesundheitspolitik. Eine und Ausschlüsse (re-)produzieren. qualitative Studie am Beispiel von Substanzkonsum“ vor. Das Qualifizierungsvorhaben findet im Rahmen der vom BMAS geförderten Forschungsgruppe „Mig- 4 Forschungsergebnisse ration und Sozialpolitik“ (FIS-Förderlinie, 2017-2022) statt. Ziel des Kurzprojektes war es, am Beispiel sub- Die folgenden Abschnitte gliedern sich entlang von stanzkonsumierender Geflüchteter eine rassismus- zwei gemeinsamen Erkenntnissen der drei Kurzpro- kritische Analyse auf deren Ein- und Ausschlüsse in jekte zu institutionellem Rassismus in der Polizei, der 6 der Gesundheitsversorgung durchzuführen. Empiri- Gesundheitsversorgung und der Arbeitsverwaltung. sche Grundlage waren Gespräche mit zehn Geflüch- Zunächst geht es um den Rückgriff auf bestehende teten, die als „Gesprächstriade“ (Rumpel und rassistische Wissensbestände im Kontext behördli- Tempes 2019) gemeinsam mit Übersetzenden in cher Handlungsunsicherheit. Anschließend wird dar- drei unterschiedlichen Kommunen in Deutschland in gestellt, wie ‚neues‘ rassistisches ‚Wissen‘ in Behör- den Jahren 2018 und 2019 geführt wurden. Grund- den produziert wird. lage für den vorliegenden IAQ Report sind nun die Expert*inneninterviews in den Sozial- und Gesund- heitsämtern der Kommunen sowie informelle Ge- 4.1 Rückgriff auf bestehende rassistische spräche (Spittler 2001) mit weiteren institutionellen Wissensbestände im Kontext behördli- Akteur*innen vor Ort. Die Auswertung der Gesprä- cher Handlungsunsicherheit che mit Geflüchteten erfolgte mit Grounded Theory (Strauss und Corbin 1996), die der Expert*innenin- Institutioneller Rassismus findet sich als Reproduk- terviews und informellen Gespräche inhaltsanaly- tion im Sinne eines Rückgriffs auf bestehende rassis- tisch. tische Wissensbestände in der Mehrheitsgesell- schaft durch Mitarbeitende wieder. Dieser Rückgriff Die Kurzstudie „Geschlechtsspezifischer Rassismus steht dabei empirisch stets im Kontext von Hand- am deutschen Arbeitsmarkt: eine qualitative Pilot- lungsunsicherheiten und Überforderungen in den studie zu den Auswirkungen auf die Erwerbsteilhabe Behörden. geflüchteter Musliminnen und Women of Color“ ist eine Sonderauswertung des Qualifizierungsprojek- 4.1.1 In der Polizei tes von Dr. Katrin Menke im Rahmen der vom BMAS geförderten Forschungsgruppe „Migration und Sozi- In den Interviews wird deutlich, dass die Einsätze der alpolitik“ (FIS-Förderlinie, 2017-2022). Ziel der Kurz- Streifenpolizei oft durch Erwartungsunsicherheit ge- studie war eine Fokussierung intersektionaler Ver- kennzeichnet sind (bspw.: Mit wem habe ich es zu schränkungen von Rassismus mit Sexismus sowie tun? Wie wird diese Person sich verhalten?). Als Re- der Folgen rassistisch-sexistische Praktiken in der öf- aktion darauf wird versucht, Handlungssicherheit fentlichen Arbeits- und Kommunalverwaltung für
2022 | 02 IAQ-Report durch bestimmte Vorannahmen (Hintergrundwis- „Wir möchten gerne was, was zum sen) herzustellen. Dazu gehört auch die Orientierung Thema muslimische Kultur, äh, DAS am äußeren Erscheinungsbild bzw. die Klassifikation sind so die, die Standards, oder wir ha- von Menschen anhand des äußeren Erscheinungsbil- ben hier unheimlich viele, in einem des und das Abrufen des damit verbundenen ‚Wis- Viertel unheimlich viele Libanesen, äh sens‘. Wenn das Äußere mit dem ‚Inneren‘ der Per- äh äh, leben, könnt ihr uns nich'n Biss- son scheinbar nicht übereinstimmt, kommt es zu Ir- chen was dazu sagen. Also das wirkt ritationen: dann eher praxisnäher als wenn ich sage, mach mal bitte was zum Thema „Die meisten jesidischen Frauen sehen interkulturelle Kompetenz.“ (Herr Keß- sehr westlich gekleidet aus, es gibt ler, Z. 645–649) aber ganz, ganz starre ähm, Regeln in- nerhalb dieser jesidischen Kultur- Hier wird deutlich, dass Polizist*innen die Bevölke- gruppe.“ (Herr Gerke, Z. 1996–1997; rung in ihrem Zuständigkeitsbereich entlang von Ka- Hervorh. d. Verf.) tegorien wie Religion, Kultur und/oder Nationalität klassifizieren. Dabei erhoffen sie sich, durch die An- Im Zitat baut der Streifenpolizist einen Gegensatz eignung von bestehendem ‚Wissen‘ über die entlang auf: „westliche Kleidung“ scheint für ihn mit „westli- dieser Bedeutungsträger (Foroutan 2020, S. 14) zu chen“ Werten einherzugehen, die er in Gegensatz zu Gruppen konstruierten Menschen, einen Vorteil für den starren Regeln setzt, welche er der „jesidischen die eigene Arbeit zu erlangen. Es wird also versucht Kulturgruppe“ zuschreibt. Dass die Werte einer Per- die eigene Handlungsunsicherheit mit dem Rückgriff son nicht an ihrer Kleidung erkennbar sind, scheint auf homogenisierendes und kulturalisierendes ‚Wis- den Interviewten zu stören. Denn so ist es nicht sen‘ über ‚Andere‘ zu reduzieren, wodurch rassisti- mehr möglich, die Erwartungsunsicherheit mit ei- sche Wissensbestände (re-)produziert werden. nem Blick auf die Kleidung zumindest in dem Punkt zu beheben, dass man kulturalistische Bilder über Darüber hinaus zeigt sich eine Überforderung im das Innere der Person abruft. Was als „westlich“ Umgang mit nicht-deutschsprachigen Hilfesuchen- 7 klassifiziert wird und was nicht, ist gesellschaftlich den. Ist eine Verständigung nicht möglich und aktu- tief verankert und in rassistische Strukturen einge- ell kein*e Kolleg*in mit entsprechenden Sprach- lassen (Hall 1994, S. 137–179). Anhand des o. g. Bei- kenntnissen erreichbar, werden in von der Polizei als spiels wird deutlich, dass ein Versuch erfolgte, auf minder schwer bewerteten Fällen Personen, die zur tief im gesamtgesellschaftlichen Diskurs verinner- Wache kommen, aufgefordert, selbst Dolmet- lichtes ‚Wissen‘ zurückzugreifen. Es zeigt sich, wie schende mitzubringen: selbstverständlich rassistische Wissensbestände zur „Oft sind’s die Kinder, die dann so’n (vermeintlichen) Reduktion von Handlungsunsicher- bisschen in der Schule schon oder im heit genutzt werden. Kindergarten Deutsch gelernt haben, Während es bei diesem Beispiel um eine ad-hoc-Lö- die dann als äh, Übersetzer dann schon sung‘ (für das Problem der Erwartungsunsicherheit) fungieren.“ (Herr Kiefer, Z. 1782–1784) von Polizist*innen ging, geht es im Folgenden um in- Dass das Übersetzen sogar auf kleine Kinder verla- stitutionelle in der Behörde implementierte Lösun- gert wird, verdeutlicht den Mangel an bzw. die un- gen. zureichende Organisation von Dolmetschenden in Als Reaktion auf die Tatsache, dass Deutschland ein der Polizei und kann zur Folge haben, dass Hilfesu- Einwanderungsland ist, werden in der Polizei Kurse chende abgewiesen werden. Gleichwohl es auch Be- zu ‚interkultureller Kompetenz‘ in der Aus- und Fort- mühungen gibt, Kolleg*innen mit entsprechenden bildung angeboten. Eine Person, die in die Organisa- Sprachkenntnissen zur Unterstützung bei der Kom- tion solcher Fortbildungen involviert ist, erklärte, munikation einzubeziehen, wird diese Praxis auch dass dieser Begriff in den Polizeibehörden nicht ge- mit „man darf es nicht überreizen“ (Herr Rutkowski, läufig sei, stattdessen gehe es da „eben halt um Kul- Z. 1249) kommentiert. Der Kommentar bezieht sich tur, da geht’s um Islam und solche Dinge“ (Herr Keß- darauf, der Migrationsbevölkerung nicht den Ein- ler, Z. 641–642). Er berichtet weiter, dass es in An- druck zu vermitteln, sie bräuchte kein Deutsch ler- fragen von Polizeibehörden oft heißt: nen, weil die Polizei mehrsprachig sei. Hier zeigt sich eine Verstrickung in den durch rassistische Wissens- bestände geprägten Integrationsdiskurs.
2022 | 02 IAQ-Report 4.1.2 In der Gesundheitsversorgung Geflüch- die Einführung einer elektronischen Gesundheits- teter karte die Möglichkeit zur freien Arzt*Ärztinnenwahl hätten. Mit der Politik der Gesundheitsversorgung In den Interviews und Gesprächen mit Personen in mit Behandlungsscheinen hingegen sieht Frau Schu- Sozial- und Gesundheitsämtern werden Personen macher die Ausnutzung kontrollierbar. mit Flucht_Migrationsgeschichte bestimmte nega- tive Eigenschaften und Verhaltensweisen zuge- Aus den rassifizierenden Zuschreibungen resultieren schrieben, die zusätzlich nach Nationalität kulturali- spezifische Umgangsweisen mit Geflüchteten. So ge- siert werden. Relevant wird dies, insofern die Fach- währt und verwehrt Frau Schumacher etwa Zugang kräfte unter anderem für die Umsetzung des Asylbe- zu medizinischen Behandlungen vor dem Hinter- werberleistungsgesetzes und somit auch für die Ge- grund der zugeschriebenen Bleibeperspektive der währung von Gesundheitsleistungen Geflüchteter in Person mit Fluchtstatus. den Kommunen zuständig sind und damit über „Und wenn ich weiß, der hat einen An- (Nicht-)Ansprüche einzelner medizinischer Leistun- trag auf freiwillige Ausreise gestellt und gen entscheiden. So werden beispielsweise Men- reist morgen aus oder nächste Woche, schen, die „wirklich [...] verfolgt werden“ (Herr We- werde ich dem keine Psychotherapie ber, Pos.5 132), von denen unterschieden, die „rein mehr bewilligen. Oder wenn absehbar aus wirtschaftlichen Gründen offensichtlich kom- ist, dass eine Ausweisung erfolgt, eine men“ (Herr Weber, Pos. 132). Der „eigentliche Sinn Abschiebung. Das können also Gründe dieser Wanderungsbewegungen [ist], die Familie zu für [die Ablehnung] sein. Oder man Hause zu unterstützen“ (Herr Keller, Pos. 39) oder sagt sich, es ist aufschiebbar, das muss auch nach Deutschland nachzuholen. Hier werden nicht jetzt sein.“ (Frau Schumacher, vor allem Menschen aus afrikanischen Staaten ge- Pos. 87) nannt, die sich „hier eben eine bessere Zukunft“ ver- sprechen (Herr Keller, Pos. 31). Nach Aussage einer Hier stehen für Frau Schumacher die (finanziellen) Interviewperson wäre der Kontinent leer, wenn die Interessen der Kommune bzw. Behörde im Vorder- 8 Menschen mit einem Fingerschnipp hier sein könn- grund und nicht der gesundheitliche Zustand der ten (Herr Weber, Postskript, Pos. 8). Person bzw. die medizinische Notwendigkeit einer Behandlung. Da selbst bei Analogleistungen das So- Die zugeschriebenen typischen und verallgemei- zialamt bzw. die Kommune für die Finanzierung zu- nernden Verhaltensweisen Geflüchteter reichen von ständig wäre, liegt das Interesse darin, Menschen, Clan- und Bandenbildung (Herr Keller, Pos. 137; Frau die nicht länger als 18 Monate bleiben, die Möglich- Beck, Pos. 57), über (Rauschgift-)Kriminalität (Herr keit einer Versorgung zu verwehren. Problematisch Keller, Pos. 41; Frau Beck, Pos. 57) hin zu Gewalttä- dabei ist, dass die Person auf dem Sozialamt – in die- tigkeit (Herr Keller, Pos. 33-35; Frau Beck, Pos. 57). sem Beispiel Frau Schumacher – eigenmächtig und Aus diesen Zuschreibungen entlang stereotypen als Nicht-Medizinerin über die medizinische Behand- Wissens ergeben sich für die befragten Personen im lung von Personen entscheidet. Gesundheitsamt eine erwartbare, spezifisch nega- tive Nutzung des deutschen Gesundheitssystems, Darüber hinaus wird strukturellen Herausforderun- wie am Beispiel einer möglichen Einführung der gen oftmals mit Ad-Hoc-‚Lösungen‘ begegnet. Eine elektronischen Gesundheitskarte erläutert wird: strukturelle Herausforderung aller Mitarbeitenden der Behörden sind „Sprachbarrieren“ (Frau Beck, „Das wird dazu führen, dass die Leute Pos. 93): ja auch bundesweit eine ärztliche Be- handlung in Anspruch nehmen können „Zum Teil bringen sich die Leute jeman- und möglicherweise auch ein bisschen den mit, der ihre Landessprache kundig Ärzte-Hopping betreiben, sage ich ist, sage ich mal. Wenn man sich gar mal.“ (Frau Schumacher, Pos. 81) nicht verständigen kann, muss man sie auch mal wegschicken und sagen: Frau Schumacher unterstellt Geflüchteten das Aus- nutzen des Gesundheitssystems, sobald sie durch _ 5 Durch die unterschiedliche Aufbereitung der Transkripte in MAXQDA in den drei Teilprojekten ergeben sich unterschiedliche Nachweise, hier mit Position.
2022 | 02 IAQ-Report Bringt einen mit.“ (Frau Schumacher, „Weil einfach das Bild der Frau nach Pos. 135) außen in der arabischen Welt oder be- ziehungsweise extra wirklich in Syrien Die Organisation der Übersetzungsleistungen wird in noch nicht so weit, dass die Frau selbst- den meisten Fällen den Geflüchteten übertragen. ständig alles machen kann. Ob arbeiten Eine Behörde aus meinem Sample setzt entgegen oder - oder […] also was ich von meiner der beschriebenen Praxis einmal wöchentlich ein Vi- Kundschaft höre, nicht mal 10 Prozent deodolmetschsystem ein (Herr Tanaka & Herr haben gearbeitet.“ (Jobcenter, Herr Schneider, Pos. 17). Wenn weder die Übersetzungs- Deeb, Z. 649) leistung von den Geflüchteten selbst organisiert wird, noch die Möglichkeit eines Videodolmetsch- Frauen erscheinen als unselbstständige Abhängige systems existiert, wird als ‚Lösung‘ auf alle mehr- und ausschließlich auf Sorgearbeit orientiert – ein sprachigen Personen der Behörde – ungeachtet ih- Zustand, der für die Arbeitsmarktakteur*innen in rer eigentlichen Funktionen – zurückgriffen: Deutschland als überwunden gilt. „Wir haben ja hier einen Wachschutz „Wenn ich jetzt in die 60er Jahre, 70er [...] und da gibt es auch mehrsprachige Jahre in der Bundesrepublik gucke, war Mitarbeiter, sage ich mal, also Mitar- es ja auch nicht anders. Ne? […] Also beiter, die fremde Sprachen können, die diese Strukturen gibt es noch bei den ziehen wir dann manchmal hinzu, wenn fünf Big Playern [d. h. den Haupther- der Vorsprechende damit einverstan- kunftsländern Geflüchteter, Anmerk. den ist, sage ich mal, es werden ja zum K.M.].“ (Jobcenter, Herr Körber, Z. Teil auch spezielle Dinge besprochen, 1044) wo man dann gucken muss, wo man Zugleich orientieren sich die Behördenmitarbeiten- die Kollegen auch manchmal in Zwie- den in ihrer Arbeitsmarktvermittlung selbst an ‚ver- spalt bringt oder das wollte ich jetzt gar alteten‘, normativen Frauenbildern der weißen, nicht wissen, was ich hier übersetzen 9 westeuropäischen Mittelschichtsfamilie – etwa das muss und so.“ (Frau Schumacher, Pos. der Hausfrau oder Zuverdienerin. Diese bis heute so- 135) zialstaatlich geförderten Geschlechtermodelle sind Die Strukturen dieser Behörde sehen den Einsatz ei- hauptsächliches Ziel ihrer Vermittlungsarbeit. Die in- ner qualifizierten übersetzenden Person nicht vor. dividuellen beruflichen Ambitionen der heteroge- Hieraus entsteht die Handlungsweise, Personen für nen Gruppe geflüchteter Frauen bleiben dagegen Übersetzungen einzusetzen, die weder eine fachli- behördlicherseits überwiegend ungehört. che Ausbildung als Übersetzende haben, noch durch Der Rückgriff auf das geschlechtsspezifisch-rassisti- ihre berufliche (Macht-)Position gegenüber der Ge- sche Wissen erscheint im Material als strukturell an- flüchteten geeignet sind, zu übersetzen. Diese Praxis gelegte behördliche Praxis und steht im Zusammen- findet sich auch in Institutionen der medizinischen hang mit Überforderung aufgrund der erhöhten Versorgung wieder (z. B. Herr Hagedorn, Pos. 10). Flucht_Migration nach Deutschland um 2015. Eine im Asylrecht im Zuge der erhöhten Fluchtzuwande- 4.1.3 In der Arbeitsverwaltung rung stetig veränderte Gesetzeslage (etwa durch die Die Interviews mit Akteur*innen der Arbeitsverwal- Asylpakete I und II) bei gleichzeitigem Personalman- tung legen eine sexistisch-rassifizierende Adressie- gel hat bei zahlreichen sozialstaatlichen Institutio- rung geflüchteter Frauen im Kontext ihrer Arbeits- nen, darunter auch den Jobcentern, zu Handlungs- marktadressierung offen, wofür die Beschäftigten in unsicherheiten und Überforderungen geführt. Jobcentern und Arbeitsmarktmaßnahmen auf beste- „Schon bevor die kamen. Und dann ka- hendes rassistisches ‚Wissen‘ über ‚die arabische men die noch in Massen, und wir hat- Frau‘ zurückgreifen. Frauen werden nach ihrer ten entsprechenden Personalbedarf. Flucht_Migration pauschal als ungebildet und ver- Also da ist wirklich die Bude fast ge- haftet in traditionell-heterosexuellen Geschlechter- kracht.“ (Jobcenter, Frau Zimmer, Z. rollen wahrgenommen. Die Zuschreibung einer ho- 112) mogenen ‚Kultur' wird verknüpft mit ihren mehr- heitlich arabischen Herkunftsländern. Darüber hinaus erscheinen die gesellschaftliche Stimmung in der Region sowie pauschalisierende
2022 | 02 IAQ-Report Aussagen der ‚alteingesessenen‘ Kund*innen als An- „Von daher iss eine gute Durchmi- lass, den Kundenstamm des Jobcenters räumlich schung zwischen alt und jung, (.) erfah- voneinander zu trennen. ren (.) und den unterschiedlichen Kom- petenzen (.) erst einmal ganz gut. Wo- „Also da war schon hier richtig viel los. bei ich aus den= auf die Kompetenzen Also auch das Stadtbild hat sich kom- natürlich keinen Einfluss habe. Ich kann plett verändert. Die Bevölkerung war in nur sagen, ich brauche welche, die er- Aufruhr, muss man auch ganz klar sa- fahren sind, und ich brauche ambitio- gen [...] Ja, und dann kamen auch eben nierte Junge, die sich noch entwickeln ganz schnell so Parolen, wie: Die krie- lassen //mhm// von den erfahrenen gen jetzt alles, und bei mir wird ge- Kollegen.“ (Herr Friedrich, Z. 846–851) spart. Also sehr politisiert, auf Stamm- tisch-Niveau. Und dadurch, dass man In dem Zitat wird deutlich, dass Erfahrung der ent- das räumlich rausziehen konnte, hat scheidende Punkt ist und mit Kompetenz gleichge- man sowohl, ich sage mal, die Flücht- setzt wird. Wer viel Erfahrung hat, dem wird viel linge für sich gesaved, aber auch die Kompetenz zugetraut und zwar nicht nur für die ei- anderen Kunden noch mal beruhigt, gene Arbeit, sondern auch für das Anlernen von jün- weil die nicht permanent damit kon- geren Kolleg*innen. Die Weitergabe von Erfahrun- frontiert wurden.“ (Jobcenter, Frau gen dient dazu die anderen Kolleg*innen zu „entwi- Zimmer, Z. 111 & 1038) ckeln“ sowie auch zu schützen und deren Arbeit zu erleichtern. Eine Erfahrung steht dabei nicht als ein- Obwohl die Sicherheitssituation der Geflüchteten zelnes Ereignis für sich, sondern aus ihr wird durch auf diese Weise mutmaßlich verbessert wurde, die Weitergabe an Kolleg*innen ‚Wissen‘ über (kon- schafft das Jobcenter dadurch eine räumliche Segre- struierte) Gruppen generiert: gation für ‚die Anderen‘ und legitimiert letztlich da- mit die rassistischen Äußerungen der Kund*innen „So iss der Kreis auch eigentlich immer aus der Mehrheitsbevölkerung (statt rassismuskri- gegeben, dass man also nie (.) hier, du 10 tisch zu intervenieren). Dieser Zustand geht für die musst mal erstmal deine Erfahrungen Geflüchteten mit längeren Wegen zur Behörde ein- hier machen, sondern pass auf, da her. wohnen sozial Schwache in dem Be- reich, da wohnen äh, viele Russen, da 4.2 Produktion von ‚neuem‘ rassistischen wohnen viele ähm, aus, aus äh, Russ- landdeutsche, die muss man auch be- ‚Wissen‘ in Behörden trachten, die sind auch anders, die hei- ßen plötzlich äh, alle Gerald oder Man- Neben dem Rückgriff auf bestehende rassistische fred und haben ‘n russischen Nachna- Wissensbestände lässt sich auch die Produktion von men, man wundert sich, wie kommen ‚neuem‘ rassistischen ‚Wissen‘ in den Behörden em- die auf den Namen Manfred, (unv.) pirisch nachweisen. Dieses wird nicht nur zur Legiti- ähm, ja, und äh, wo treffen die sich, mierung von Ausschlüssen genutzt, sondern nimmt was machen die, was haben die denn auch Einfluss auf das Handeln anderer Behörden. für’ne Religion, und und warum laufen 4.2.1 In der Polizei die in Schwarz rum und so.“ (Herr Ka- minski, Z. 865–872) Erfahrungswissen spielt eine wichtige Rolle in der (Streifen-)Polizei. Dies zeigt sich bspw. in der Zusam- Das Zitat enthält sowohl klassistische („sozial Schwa- mensetzung einer Dienstgruppe: che“), als auch rassistische Äußerungen („Russen […] Russlanddeutsche […] die sind auch anders“). Dar- über hinaus zeigt sich eine Art Neugier, bei der deut- lich wird, dass ‚die Anderen‘ als fremd eingestuft und von außen skeptisch betrachtet werden. Man ver- sucht auf Distanz ‚Wissen‘ über sie zu generieren. Der Interviewte betont den Nutzen der Weitergabe von Erfahrungswissen, weil dadurch eigene Erfah- rungen erspart werden können (Herr Kaminski, Z.
2022 | 02 IAQ-Report 865–867). D. h. die über die Jahre gesammelten Er- 4.2.2 In der Gesundheitsversorgung Geflüch- fahrungen werden an neue Kolleg*innen in Form teter von simplifizierenden und pauschalisierenden Klas- sifikationen weitergegeben. Durch die Zusammen- Auch in der Gesundheitsversorgung Geflüchteter setzung der Funkwagenteams aus erfahrenen und wird ‚neues Wissen‘ über Geflüchtete generiert, so weniger erfahrenen Personen wäre der „Kreis“ (Herr etwa im Kontakt mit Geflüchteten selbst, die inner- Kaminski, Z. 865) bzw. Kreislauf von ‚Wissen‘ über halb der Regelstrukturen auftauchen. So werden Ge- ‚andere‘ in der Dienstgruppe gegeben, denn die Me- flüchtete beispielsweise im Kontext als „arabische tapher des Kreises suggeriert ein geschlossenes Sys- Großfamilie“ (Frau Beck, Pos. 114) wahrgenommen, tem. mit denen man zunächst lernen müsse, umzugehen (Frau Beck, Pos. 114). So ‚lernt‘ Frau Beck von einem Während es in diesem Unterabschnitt bisher um die Mann, wie in seinem Herkunftsland vermeintlich mit mündliche Weitergabe von Erfahrungen bzw. daraus Substanzkonsum umgegangen wird: generiertem ‚Wissen‘ ging, zeigt sich im Material, dass sich dieses ‚Wissen‘ auch zu einer Objektivation „Der hat gesagt, in Eritrea kommt man verfestigen kann. Bei Objektivationen handelt es ins Gefängnis oder wird von der Familie sich u. a. um materielle Gegenstände oder be- verstoßen, wenn man Alkohol trinkt […] obachtbare Ergebnisse von Handlungen (Bührmann Und die werden den Teufel tun zu erzäh- 2014, S. 43), wie z. B. eine Kriminalitätsstatistik, wel- len, dass sie Alkohol trinken. Weil sie che auf Basis von Kontrollen erstellt wurde. Solch Angst haben, dass die Familien das er- eine Statistik kann als Begründung genutzt werden, fahren und, und, und. Solche Sachen.“ um einen öffentlichen Raum als „gefährlichen“ bzw. (Frau Beck, Pos. 51) „kriminalitätsbelasteten“ Ort (im Folgenden: GKO) Dieses neuerworbene ‚Wissen‘ ist in zweierlei Hin- zu labeln, wodurch dort anlasslose Kontrollen durch- sicht problematisch: es pauschalisiert erstens alle geführt werden dürfen. Dass sich die Kontrollen an Menschen aus einem Land und wird zweitens derart solchen Orten auf bestimmte Personen fokussieren, weiterverwendet als Grundlage für die eigene, auch 11 wird u. a. anhand der gestellten rhetorischen Frage zukünftige Herangehensweise, wie hier beispiels- illustriert: weise für die Konzeption von Schulungsinhalten, in „Und wenn ich halt feststelle, dass an (.) denen dann u.a. referiert wird „welche Länder, was an DIESEM Ort MENSCHEN aus dem af- kulturelle Hintergründe in den Ländern sind“ (Frau rikanischen Kontinent Straftaten bege- Beck, Pos. 91). hen, […] wen soll ich’n jetzt kontrollie- Des Weiteren wird polizeibehördlich produziertes ren?“ (Herr Blum, Z. 636–639) ‚neues‘ rassistisches ‚Wissen‘ über die Verknüpfung von (Rauschgift-)Kriminalität und Herkunftsländern Die Äußerung impliziert eine Verallgemeinerung von durch das Heranziehen von Polizeistatistiken zur Le- den bisher erfassten Tatverdächtigen auf alle Perso- gitimation des eigenen Handelns genutzt: nen, die – auf Basis ihres optischen Erscheinungsbil- des – von der Polizei dem „afrikanischen Kontinent“ „Da steht darin, wie hoch der Anteil der (Herr Blum, Z. 637) zugeordnet werden und sich an Ausländer ist und wie viele davon Ge- einem GKO aufhalten. Das individuelle Verhalten der flüchtete und aus welchen Nationen. Personen wird damit irrelevant; was zählt, ist die An- Und da steht übrigens Georgien an ers- wesenheit an dem Ort sowie ein migrantisch gelese- ter Stelle bei der Rauschmittelkriminali- nes Erscheinungsbild. Werden bestimmte Personen tät.“ (Frau Beck, Pos. 103) überdurchschnittlich oft kontrolliert, können auch mehr „Treffer“ (Herr Dreher, Z. 813) in dieser kon- Hier hat die Produktion von ‚neuem‘ rassistischen struierten Gruppe verzeichnet werden. So zeigt sich, ‚Wissen‘ aus der Polizei einen Einfluss auf einen jähr- dass Racial Profiling im Sinne einer selbsterfüllenden lich erscheinenden Bericht des Gesundheitsamtes Prophezeiung erfolgt, denn es wird auf Basis einer der Kommune, indem Geflüchtete und Auslän- selbst erschaffenen Statistik gehandelt. Die Statistik der*innen als eigene Kategorie aufgeführt werden. stellt insofern neues von der Polizei generiertes Durch Unsicherheiten entsteht ebenfalls neues ‚Wis- ‚Wissen‘ dar, das weitere polizeiliche Handlungen sen‘, das Sicherheit herstellt bei vermeintlichen Un- beeinflusst und auch in den gesamtgesellschaftli- chen Diskurs einfließt.
2022 | 02 IAQ-Report sicherheiten. Das Bedürfnis nach behördlicher Kon- „Denn, wo kann man berufsbezogene trolle Geflüchteter im Sinne der vermeintlichen Sprache lernen? Heißt eben berufsbezo- Mehrheitsgesellschaft zeigt sich zusätzlich bei be- gen. Das kann ich jetzt nicht irgendwo stimmten genehmigungspflichtigen Leistungen. im Frontalunterricht erkennen. Ne? […] Diese werden von den Behörden häufig dem*der Die Frauen sind aus ihren Heimatlän- Amtsarzt*ärztin für ein extra Prüfverfahren vorge- dern gewohnt, Frontalunterricht zu ha- legt. So hat sich in einer Kommune das gängige Ver- ben. Wir sind schon viel, viel weiter. Wir fahren etabliert, bei dem ein Entzug selbst bei einer arbeiten, ne, in eigenen Arbeitsgruppen. akuten Krankenhauseinweisung nicht automatisch Das sind riesengroße Probleme für genehmigt wird. Frau Schumacher erläutert: Frauen.“ (Jobcenter, Herr Körber, Z. 881) „Und insofern muss dann eine Kranken- Das Ziel sprachlicher Qualifizierung ist nicht die Ar- hauseinweisung erfolgen gegebenen- beitsmarktteilhabe der Frauen, sondern das Zu- falls, die wir dann ja erst wieder amts- rechtfinden in einem ‚weiblichen Alltag‘: ärztlich prüfen lassen und dann ja oder (…), um beim Arzt die Chance zu haben, nein, eine Kostenübernahmeerklärung vernünftig zu kommunizieren, an der ausstellen. Und eher kann er sich halt Schule, mit der Nachbarschaft, beim nicht in stationäre Behandlung bege- Sportverein, im kulturellen Bereich.“ ben.“ (Frau Schumacher, Pos. 116) (Jobcenter, Herr Körber, Z. 925) Die Erläuterungen zeigen, dass anstelle einer direk- Ähnlich verhält es sich mit der Zuschreibung von Sor- ten Genehmigung durch das Sozialamt immer eine gearbeit: aus der scheinbar ausschließlichen Fokus- Legitimation durch weiteres ärztliches Personal des sierung geflüchteter Frauen auf Kinderbetreuung Amtes erfolgen muss. Dies wird im Gegensatz dazu wird in der Arbeitsverwaltung eine per se-Ableh- in einer anderen Kommune als selbstverständliche nung institutioneller Kinderbetreuung durch ge- Leistung gesehen ohne das automatisierte Einholen flüchtete Frauen abgeleitet bzw. unterstellt. Die Zu- 12 einer amtsärztlichen Beurteilung: „wenn jetzt je- schreibung, alle muslimischen Frauen lebten in ei- mand zum Beispiel in einen Entzug gehen möchte, nem ‚rückständig-orientalischen‘ Geschlechterre- dann ist das auf jeden Fall abgedeckt“ (Herr Weber, gime, in dem der Mann der Frau eine Erwerbstätig- Pos. 86). keit verbiete, führt zur pauschalen Vermittlung in das Modell eines männlichen Familienernährers, da 4.2.3 In der Arbeitsverwaltung dieses für Geflüchtete ‚passend‘ sei. In der Folge ad- Auch in der Arbeitsverwaltung kommt es zur Produk- ressieren Jobcenter Männer als (zukünftige) Familie- tion von ‚neuem‘ rassistischen ‚Wissen‘. Von Bedeu- nernährer und vermitteln Frauen in prekäre Zuver- tung ist dort zunächst die Anwendung von bestehen- dienerinnen-Jobs. den rassistischen Wissensbeständen auf die kon- Hinzu kommt: Erfahrungen mit rassistischen Aus- krete Situation der Arbeitsmarktaktivierung durch schlüssen am Arbeitsmarkt aufgrund des Kopftuch- die Jobcenter, von der alle Geflüchteten mit aner- tragens, die sowohl geflüchtete Musliminnen als kanntem Asylstatus betroffen sind. Konkret bedeu- auch Mitarbeitende in Arbeitsmarktmaßnahmen tet das, dass geflüchteten Frauen die für den hiesi- sammeln, generieren ‚neues‘ rassistisches ‚Wissen‘ gen Arbeitsmarkt notwendigen Einstellungen, Kom- um die Unvereinbarkeit des Kopftuchtragens mit petenzen und Fähigkeiten abgesprochen werden. So spezifischen beruflichen Tätigkeitsprofilen. attestieren Behördenmitarbeitende geflüchteten Frauen entgegen des ‚alten‘ rassistischen Stereoty- „Es geht um Hygiene. Wenn ich einen al- pes ‚der ungebildeten arabischen Frau‘ zwar, im Her- ten Menschen wasche oder bade, die Al- kunftsland bereits Zugang zu Bildung gehabt zu ha- tenpfleger habe so bestimmte […] Sa- ben, gleichzeitig aber nicht in der Lage zu sein, die chen an. Was mache ich mit dem Kopf- vermeintlich ‚modernen‘ Unterrichtsformen der Ar- tuch? Geht gar nicht. Also, das sind so beitsverwaltung zu durchlaufen. Der Erwerb berufs- Sachen, Kopftuchproblematik haben wir bezogener Sprache erscheint für diese Gruppe min- das im letzten Projekt genannt.“ (Maß- destens problematisch. nahmenträger I, Frau Stoschek, Z. 687)
2022 | 02 IAQ-Report Der Verweis, dass die „Kopftuchproblematik“ selbst 5 Fazit zum Inhalt der Arbeitsmarktmaßnahme wurde, ma- nifestiert die Institutionalisierung strukturellen anti- Die empirischen Ergebnisse der drei hier vorgestell- muslimischen Rassismus im Kontext von Arbeitsver- ten Kurzstudien zu institutionellem Rassismus in der mittlung. Polizei, der Gesundheitsversorgung und der Arbeits- Darüber hinaus fungieren Mitarbeitende der Be- verwaltung haben aufgezeigt, dass institutioneller hörde, denen selbst ein Migrationshintergrund zu- Rassismus sowohl im Rückgriff auf bestehende ras- geschrieben wird oder die eigene Migrationserfah- sistische Wissensbestände als auch in der Produk- rungen besitzen, als vermeintliche Expert*innen für tion von ‚neuem‘ rassistischen ‚Wissen‘ zu Tage tritt. die Gruppe Geflüchteter. Diese werden von einzel- In der Analyse wurde deutlich, dass in den unter- nen Jobcentern eigens dafür angeworben und besit- suchten Behörden Handlungsunsicherheiten im Um- zen dann als Nadelöhr innerhalb der Behörde eine gang mit ‚den Anderen‘ vorherrschen, etwa, wenn alleinige, hohe Entscheidungsmacht: anhand des Aussehens nicht auf das Innere der Per- son rückgeschlossen werden kann. Diese Handlungs- „Deshalb picken wir uns die Frauen, von unsicherheiten werden mit Rückgriff auf etablierte denen man denkt, oder von denen der rassistische Wissensbestände ‚handhabbar‘ ge- Herr Deeb den Eindruck hat, die wollen macht und erscheinen so als vermeintliche ‚Lösun- doch mehr erreichen, die picken wir uns gen‘. Empirische Beispiele dafür wären der Rückgriff frühzeitig raus.“ (Jobcenter, Frau Zim- auf das ‚Wissen‘, welche Kleidung und welche Werte mer, Z. 384) ‚westlich‘ seien, die Verstrickung in den gesellschaft- Dabei spielt es keine Rolle, ob diese vermeintlichen lichen Diskurs, der Geflüchteten ‚gute‘ (legitime) Expert*innen beispielsweise für die besondere Situ- und ‚schlechte‘ (illegitime) Motive unterstellt oder ation von Frauen am Arbeitsmarkt (im Kontext von muslimische Frauen pauschal als ungebildet und in Flucht_Migration) geschult sind oder nicht. Die indi- traditionellen Geschlechterrollen verhaftet vorstellt. viduellen Handlungsspielräume der Mitarbeitenden Das den auf diese Weise konstruierten Gruppen un- 13 im Jobcenter, die behördlicherseits unkontrolliert terstellte Verhalten wird entlang von Kategorien wie bleiben, zeigen sich im Material insgesamt als Ein- Nationalität, Ethnie, Kultur und/oder Religion verall- fallstor für (nicht nur) geschlechtsspezifischen Ras- gemeinert. Zudem erfolgt durch die Grenzziehung sismus. zwischen einem konstruierten ‚Wir‘ und ‚den Ande- ren‘ eine Polarisierung sowie Hierarchisierung im Selbst von Rassifizierungen betroffen, erscheint es Sinne einer Schlechterstellung der ‚Anderen‘. Der diesen Behördenmitarbeitenden aber gleichsam Rückgriff auf rassistisches ‚Wissen‘ dient insofern als wichtig, sich von den Geflüchteten durch positive Orientierung im Umgang mit den Handlungsunsi- Selbst- und negative Fremdzuschreibungen abzu- cherheiten innerhalb der Behörden. Der in Behörden grenzen. vorhandene Handlungsspielraum wird in der Empi- „Am Anfang war ich richtig schockiert, rie der Kurzstudien durch rassistisches ‚Wissen‘ und weil für mich war das Bild Syriens ein entsprechende Entscheidungen gefüllt. Dies zeigt ganz anderes in der arabischen Welt. sich in unserem Material z. B. darin, dass die Ver- Syrien war für uns, also jeder konnte mittlung in Jobcentern gegenüber muslimisch gele- sagen, oh, die sind alle hoch motiviert, senen Geflüchteten dem Modell eines männlichen die sind studierte Menschen, sie sind … Familienernährers folgt. In der Empirie zeigte sich da konnte … aber es ist nicht so, leider, zudem, dass von Workshops zu interkultureller Kom- muss man feststellen im Nachhinein.“ petenz erwartet wurde, dort etwas pauschal über (Jobcenter, Herr Deeb, Z. 431) ‚Andere‘ zu erfahren. Statt als Mittler zwischen der residenten und zuge- Darüber hinaus zeigt die Analyse, dass Behörden wanderten Bevölkerung zu fungieren, verwirft Herr vorhandenes rassistisches ‚Wissen‘ nicht ‚nur‘ nut- Deeb sein positiv konnotiert-pauschales ‚Wissen‘ zen, um Handlungsunsicherheiten zu begegnen, über ‚die Syrier*innen‘ in ‚der arabischen Welt‘ und sondern auch selbst ‚neues‘ rassistisches ‚Wissen‘ bestärkt das bereits bestehende rassistische ‚Wis- produzieren. Ein empirisches Beispiel dafür wäre das sen‘ in Deutschland neuerlich. ‚Lernen‘ auf Basis der Verallgemeinerung von Einzel- fällen. Das derart gewonnene ‚Wissen' fließt nicht nur in die eigene zukünftige Herangehensweise ein,
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