INTERKULTURELLES LITERATUR-FOTOGRAFIE-PROJEKT - RECHERCHE APRIL-JULI REISE 2021

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INTERKULTURELLES
LITERATUR-FOTOGRAFIE-
        PROJEKT
           RECH
                ERCH
             REIS    E
           APRI E
                L–
              2021JULI

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Grußwort4
                  Editorial                  6
                  Das Experiment HEIMAT	     8
                  Veranstaltungsprogramm12
                  Auftakt14
                  Unna16
                  Bochum20
                  Kreis Coesfeld            24
                  Dortmund28
                  Waltrop32
                  Hattingen34
                  Schmallenberg38
                  Enger                     42
                  Detmold46
                  Ausblick51
                  Veranstaltergemeinschaft  52
                  Impressum                 54

2   Platzhalter
Grußwort                                                     braucht dieses Engagement und diese Mitwirkung,
                                                             und deshalb unterstützt das Land Nordrhein-Westfalen
                                                             unter dem Motto „Wir fördern, was Menschen
                                                             ­ver­bindet“ Tausende kleine und auch zahlreiche groß
                                                              angelegte Heimat-Projekte.
                                                                        „Experiment HEIMAT“ des Westfälischen
                                                            ­Literatur­büros in Unna e. V. ist eines dieser großen
                                                              Projekte. Wenn namhafte Künstlerinnen und Künstler
                                                              die Region bereisen und vor Ort engagierte Bürge­-

                                      © MHKBG / F. Berger
                                                             r­innen und Bürger und auch Besucherinnen und
                                                              ­Besucher treffen, dann wird das ein lebendiges und
                                                               ­vielschichtiges Bild der Heimat in Westfalen ergeben.
                                                                Wir dürfen gespannt auf das Ergebnis sein: auf die
 Mit Heimat verbindet jeder Mensch etwas Eigenes.               Texte und Fotografien, die als Buch und als Wander-
 Die Orte und Landschaften der Kindheit und Jugend              ausstellung an die breite Öffentlichkeit gebracht
 prägen uns für lange Zeit. Für diejenigen, die irgend-         ­werden. Dabei dürften die Gespräche der Macherin-
 wann weggezogen sind, bleiben der Klang der                     nen und Macher in der Recherchephase ebenso
 ­Sprache, typische Speisen und regionale Bräuche                spannend ausfallen wie die öffentlichen Diskussionen,
  immer ein unsichtbares Band, das sie mit ihrer                 die später bei Lesungen und Vernissagen mit dem
­Herkunft verbindet.                                             Publikum geführt werden.
         Doch Heimat ist nicht auf die Vergangenheit                     Doch bevor es soweit ist, brechen die Autorin-
 beschränkt, sie ist stets auch Gegenwart und Zukunft.           nen und Autoren, die Fotografinnen und Fotografen
 Ganz gleich, ob wir in unserer Geburtsstadt leben oder          erst einmal zu ihren Erkundungen in Westfalen auf.
 ob wir anderswo angekommen sind: Wir empfinden                  Ihnen allen wünsche ich interessante Begegnungen,
 einen Ort dann als Heimat, wenn wir ein funktionieren-          über­raschende Entdeckungen und bleibende Erlebnis-
 des soziales Netzwerk haben, wenn wir eingebettet               se in der vielgestaltigen Heimat zwischen Ruhrgebiet
 sind in einen verlässlichen Kreis aus Angehörigen,              und Münsterland, von Lippe bis zum Sauerland.
 Freundinnen und Freunden, Arbeits- und Vereinskolle-
 ginnen und -kollegen.
         Heimat steht in jedem Fall für den gesellschaft-         INA SCHARRENBACH
  lichen Zusammenhalt: Sie findet sich dort, wo Men-              Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und
  schen sich für die Gemeinschaft stark machen und ihr            Gleichstellung des Landes Nordrhein-Westfalen
  Lebensumfeld aktiv gestalten. Unsere Gesellschaft
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Editorial                                               Aneignung von Orten einlädt, die gerade nicht ihre eige-
                                                        nen HEIMAT-Orte sind, unternimmt das Westfälische
                                                        Literaturbüro mit seinem westfalenweiten Kulturprojekt
                                                        den Versuch, dem gleichsam schillernden wie diffusen
                                                        HEIMAT-Begriff selbst auf die Schliche zu kommen.
                                                          Zugleich laden wir auch Sie herzlich dazu ein, sich als
                                                        HEIMAT-Forscher*innen zu betätigen. Wie der künstle­
                                                        rische Versuchsaufbau genau beschaffen ist und
                                                        welche Künstler*innen wann an welchen HEIMAT-Orten
                                                        recherchieren, darüber informieren wir Sie ausführlich

                                   © WLB/Dolata
                                                        in der vorliegenden Broschüre für die erste Phase des
                                                        Experiments HEIMAT. Darüber hinaus werden Sie
                                                          auch darin mehr Fragen als Antworten finden, soviel ist
Haben Sie das Wort HEIMAT mal gegoogelt? Oder           gewiss. Völlig ungewiss ist dagegen zum jetzigen
das Hashtag #heimat bei Instagram eingegeben?           ­Zeitpunkt noch das Ergebnis unseres Experiments, das
Wenn Sie das getan haben, werden Ihnen eine Fülle        wir Ihnen im kommenden Jahr in seiner zweiten
unterschiedlichster Assoziationen und offenkundig        Phase und in Form eines exklusiven Text-Foto-Bands
widersprüchliche Bilder begegnet sein. Werbeanzei-       sowie einer Wanderausstellung präsentieren werden.
gen für verschiedenste Produkte von der Bio-Möhre               Unser großer Dank gilt dem Ministerium für Hei-
bis zum SUV ebenso wie Wahlplakate von Parteien          mat, Kommunales, Bau und Gleichstellung des Landes
des gesamten politischen Spektrums. Buchcover von        ­Nordrhein-Westfalen, das das umfangreiche Projekt im
Bestsellern wie „Das Kind in dir muss Heimat finden“      Rahmen seines Förderprogramms „Heimat-Werkstatt“
aber auch „Eure Heimat ist unser Albtraum“. Vor allem     großzügig unterstützt und dadurch ermöglicht hat. Eben-
jedoch werden Sie unter dem Stichwort immer ­wieder       so danken wir allen unseren engagierten Projektpartnern
auf Orte und Landschaften gestoßen sein – und das         an den HEIMAT-Orten und darüber hinaus, die mit
meint keineswegs lediglich die auch weiterhin unver-      ihren eigenen Fragen, Ideen und Programmen für weitere
meidlichen Alpenpanoramen. Bei aller Unschärfe            spannende Perspektiven sorgen, und ohne die das
und Gegensätzlichkeit, die dem HEIMAT-Begriff inne-       Experiment HEIMAT gleichfalls nicht durchführbar wäre.
wohnt, scheint der Bezug auf das Räumliche tat­         Danke, dass Sie unsere Neugier und Begeisterung teilen!
sächlich eines seiner wenigen verlässlichen Merkmale
zu sein. Darüber hinaus bleiben vor allem Fragen.
      Indem das Experiment HEIMAT Autor*innen und             HEINER REMMERT
Fotograf*innen zur künstlerischen Erforschung und             Leiter Westfälisches Literaturbüro in Unna e. V.
66    Platzhalter                                                                                        Platzhalter   77
Das Experiment
                                                                      Bialobrzeski, Jörg Brüggemann, Alem Kolbus, Ute Mahler,
                                                                      Werner Mahler, Loredana Nemes, Christina Stohn, Nikita
                                                                      ­Teryoshin und Aleksandra Weber renommierte Künstler*innen,
               HEIMAT                                                  die aufgrund ihrer bisherigen Arbeiten, Biografien und/oder
                                                                       Nationalitäten für das Vorhaben als besonders geeignet
                                                                       erscheinen. Ihre mehrtägigen Rechercheaufenthalte führen sie
                                                                       an Orte, die exemplarisch für HEIMAT stehen, die identitäts­
                                                                       stiftend wirken und für einige Menschen vielleicht schon ein
HEIMAT – eine Emotion oder ein Ort? Eine Realität oder ein             Synonym von HEIMAT darstellen. Sie erkunden die Ruhr-Uni-
 Ideal? Ist sie dort, wo wir geboren oder aufgewachsen sind?          versität Bochum, das Hermannsdenkmal und den Teutoburger
 Oder hier, wo wir jetzt leben? Verändert sich HEIMAT im Laufe        Wald bei Detmold, die Widukind-Stadt Enger, die ehemaligen
 des Lebens? Oder existiert sie vielleicht überhaupt nicht             Arbeits- und heutigen Freizeitorte Henrichshütte Hattingen und
 (mehr)? Ist sie ein unausweichliches Schicksal oder etwas, das        Schiffshebewerk Henrichenburg, die historischen Stätten
 man sich selbst schafft? Eine erstrebenswerte Utopie oder             ­Wilzenberg im Sauerland und Kolvenburg im Kreis Coesfeld, den
 ein Reizwort und Kampfbegriff? Gibt es nur eine HEIMAT oder            Fußball in Dortmund zwischen Fußballmuseum und Bolzplatz­
gibt es sie auch im Plural? Und wie halten es andere Sprachen           kultur sowie den Genuss- und Kulturort Lindenbrauerei in Unna.
und Kulturen mit diesem urdeutschen Wort? Mögliche Ant­                           In Teams, die aus je einem*einer Autor*in und einem*einer
worten auf diese und viele weitere Fragen stellt das interdiszipli-      Fotografen*Fotografin bestehen, erforschen sie – unterstützt
näre Kulturprojekt Experiment HEIMAT ins Zentrum einer künst-           von lokalen Expert*innen – „ihre“ Orte unter dem Aspekt der
lerischen Auseinandersetzung mit dem Begriff der HEIMAT.                HEIMAT. In Begegnungen und im Austausch mit den dort leben-
          Das Literatur- und Fotografie-Projekt greift damit ein         den Menschen, gesellschaftlichen Gruppierungen (etwa Heimat-
 Thema auf, das in jüngster Zeit wieder verstärkt an Bedeu-             vereinen oder Migrationsverbänden) und Besucher*innen
tung gewinnt und zugleich auffällig kontrovers diskutiert wird.         (z. B. Tourist*innen) untersuchen sie die Bedeutung, die diese dem
 Ergänzend zu diesem aktuellen Diskurs, will das Experiment           jeweiligen Ort zuschreiben. Zentral wird dabei stets die Frage
HEIMAT die künstlerische Reflexion von HEIMAT-Orten in                  sein, inwieweit sich der Blick von außen mit der Eigenwahrneh-
Westfalen fortführen. Im Fokus des Vorhabens stehen neun                mung der in Westfalen lebenden Menschen von „ihrer“ HEIMAT
bereits als HEIMAT etablierte Räume oder aus bestimmter               deckt. Das Experiment HEIMAT fragt somit nicht zuletzt auch
­Perspektive „heimatlich“ konnotierte Orte, mit denen sich               danach, was HEIMAT für Migrant*innen und insbesondere
 ergebnisoffen literarisch-fotografisch befasst werden soll.          Künstler*innen mit Migrationshintergrund bedeutet. Denn auf
 Außerdem sollen bereits bestehende Auseinandersetzungen              Migrationsbiografien stößt man hier allenthalben. Nach
 mit ihnen erforscht und aus gegenwärtiger Perspektive ­­               ­Westfalen kamen allein im vergangenen Jahrhundert zahlreiche
fort- oder umgeschrieben werden.                                         Menschen aus den unterschiedlichsten Motiven. Viele blieben,
                                                                         mach(t)en Westfalen zu ihrem neuen Zuhause, präg(t)en ihre
                  Recherchereise 2021                                    neue HEIMAT mit, gestal(te)ten (neue) HEIMAT-Orte. Die Frage,
                                                                      was HEIMAT ausmacht und wie man an fremden Orten heimisch
Auf HEIMAT-Suche begeben sich ab dem Frühjahr 2021 mit                   werden kann, ist aber auch gegenwärtig für viele Menschen
den Autor*innen Helene Bukowski, Safiye Can, Nora Gomringer,             eine existentielle Frage. Im kulturellen Kontext erfolgt die Aus­
Lütfiye Güzel, Sabrina Janesch, Wladimir Kaminer, Sharon                 einandersetzung mit dem HEIMAT-Begriff deshalb auch mit dem
Dodua Otoo und Najem Wali sowie den Fotograf*innen Peter              Ziel, gegenseitiges Verstehen und Toleranz zu fördern. Durch

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literarische sowie visuelle Rezeption aus unterschiedlichen          ­Per­formances oder auch Foto- oder Schreibworkshops und
Blickwinkeln auf scheinbar Altbekanntes und Unveränderbares          vieles mehr. Zentraler Ort für das öffentliche Veranstaltungs-
will das Experiment HEIMAT die Rahmenbedingungen für ein             programm ist das „HEIMAT-Labor“, ein temporärer, mobiler
künstlerisches Mosaik zum Thema bereitstellen, das zur Refle-         Informations-, Begegnungs- und Bühnenraum, in dem die
xion und zur weiteren kritischen Diskussion von HEIMAT einlädt.       begleitenden öffentlichen Kultur- und Infoveranstaltungen
                                                                      sowie die Begegnungen der beteiligten Künstler*innen mit
       Text-Foto-Band und Ausstellung 2022                            Fachleuten und Vertreter*innen von Migrationsgruppen,
                                                                      Bürger*innen etc. überwiegend stattfinden. Um die Öffent-
Im Anschluss an ihre Recherchereisen setzen die am Experiment         lichkeit auch möglichst früh virtuell zu erreichen, startet
HEIMAT beteiligten Autor*innen und Fotograf*innen ihre Ein­           parallel dazu unter dem Titel HEIMAT-Journal auch ein digi­
drücke künstlerisch um. Es entstehen literarische Texte und Foto­­    tales Aufenthalts- und Begegnungstagebuch, das von den
serien zu den HEIMAT-Orten, die in einem hochwertigen                 Künstler*innen und Projektpartnern mit Berichten, Fotos und
T
­e
 ­ xt-Foto-Band veröffentlicht und in einer Wanderausstellung         Videos bespielt wird.
aufbereitet werden, die 2022 an die HEIMAT-Orte zurückkehrt.
Damit werden die künstlerischen Ergebnisse nicht nur nachhaltig                           HEIMAT-Studie
veröffentlicht, sondern auf einer weiteren Ebene dem Diskurs
zugeführt: In Bezug und Kontrast gesetzt mit den jeweils anderen       Das Experiment HEIMAT gelangt aufgrund der intensiven
Beiträgen, Abbildungen, Wahrnehmungen bzw. Reflexionen                  Aus­einandersetzung mit westfälischen HEIMAT-Orten zu
entsteht ein weiteres künstlerisches Spannungsfeld, das Erkennt-       künstlerisch-literarischen Positionen. Das Projekt richtet sein
nis und neue Lesarten von HEIMAT und Sichtweisen auch im               Augenmerk dabei nicht nur auf die Ergebnisse dieser Ausein­
Verhältnis zu ihrer historischen und/oder literarisch-künstlerisch     andersetzung, sondern auch auf die Entstehungsprozesse. Die
tradierten Prägung ermöglicht. So können die künstlerischen            zunehmende Auflösung des Gegensatzes „heimisch“ und
Ergebnisse ebenfalls dazu dienen, in eine Auseinandersetzung           „fremd“ in einer sich immer weiter entgrenzenden, durch Mobi-
mit den Ansichten derjenigen zu treten, die die behandelten            lität und Migration geprägten Welt ist nicht allein aus künstle­
Lebensräume wie selbstverständlich aus ihrer Geschichte wie            rischer Sicht interessant, sondern auch mit weitergehenden
Gegenwart heraus verstehen, und die eigene Wahrnehmung und             Fragen von persönlicher Identität und gesellschaftlicher
Reflexion durch den künstlerischen Blick erweitern. Zu welchen         ­Inte­gration verknüpft. Die Kommunikation der Künstler*innen
Ergebnissen das Experiment führt, wird das Publikum spätes-             im Aneignungsprozess der unterschiedlichen HEIMAT-Orte
tens sowohl durch die Rezeption des Text-Foto-Bands als auch         ist damit auch ein spannendes Experiment von sozialwissen-
durch den Besuch der Ausstellung nachprüfen können.                  schaftlichem Belang und eine Möglichkeit für Feldforschung.
                                                                        Das Experiment HEIMAT bietet die Chance auf ein tieferes
                    Begleitprogramm                                     Verständnis innovativer Identitätsmodelle.
                                                                                  Das Zentrum für Türkeistudien und Integrations­
Bereits während der Recherchephase des Experiments H  ­ EIMAT        forschung (ZfTI) begleitet die Künstler*innen bei ihren
ist ein vielseitiges Veranstaltungsangebot an den HEIMAT-­           ­Begegnungen an den HEIMAT-Orten und führt Teilnehmende
Orten geplant, das von den lokalen Kooperationspartnern               Beobachtungen durch, die im Anschluss systematisch
organisiert wird: Pressegespräche, Lesungen, Vorträge örtlicher       ­aus­gewertet werden, um unterschiedliche Muster von Behei­
Heimatvereine, Diskussionen mit Flüchtlingshilfevereinen,              matung und die jeweiligen sozialen Bedingungen dieser
künstlerische Programme wie Musikveranstaltungen,                      Muster kenntlich zu machen.

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Termine HEIMAT-Labor
     Veranstaltungsprogramm                                      13.04.–17.04.2021 Unna:
                                                          ▶ Sharon Dodua Otoo / Peter Bialobrzeski
               2021                                            30.04.–05.05.2021 Bochum:
                                                              ▶ Safiye Can / Aleksandra Weber
                                                             13.05.–16.05.2021 Kreis Coesfeld:
                                                                ▶ Najem Wali / Alem Kolbus
                                                              27.05.–29.05.2021 Dortmund:
                                                           ▶ Helene Bukowski /Jörg Brüggemann
 Von Lesungen und Präsentationen über Mitmach-­
                                                          04.06.–06.06.2021 Waltrop / Hattingen:
 Aktionen bis hin zu Vorträgen und Konzerten – beglei-      ▶ Nora Gomringer / Nikita Teryoshin
 tend zu den Recherchereisen der Autor*innen und
 Fotograf*innen ist ein vielseitiges öffentliches Ver­      11.06.–13.06.2021 Schmallenberg:
 anstaltungsprogramm rund um das mobile HEIMAT-             ▶ Sabrina Janesch / Christina Stohn
 Labor geplant. Alle Bürger*innen und interessierten            19.06.–23.06.2021 Enger:
 Gäste sind herzlich willkommen! Den Beginn des              ▶ Lütfiye Güzel / Loredana Nemes
 Experiments HEIMAT markiert am 10. April eine digitale
                                                               26.06.–28.06.2021 Detmold:
 Auftaktveranstaltung im Kühlschiff der Lindenbrauerei
                                                              ▶ Wladimir Kaminer / Ute Mahler
 Unna (s. Seite 16).                                               und Werner Mahler
         Ausführliche und stets aktuelle Programm­
 informationen gibt es unter www.experimentheimat.de.
 Hier finden Sie auch das digitale HEIMAT-Journal,
 das Sie mit Berichten, Fotos und Videos über alle
 Aktivi­täten des Experiments HEIMAT auf dem Laufen-
 den hält. Zudem gibt es aktuelle Hinweise, wenn                                           ationen:
                                                                                  In form
 aufgrund der COVID-19-Pandemie – auch kurzfristig –                     Aktuelle      e nth eimat.de
                                                                                 e rim
­Programmanpassungen notwendig werden sollten.                          www.exp

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Auftakt
                   10. April 2021

Das Experiment HEIMAT startet mit einer digitalen Auf-
 takt-Gala live aus dem Kühlschiff der Lindenbrauerei in
Unna. NRW-Heimatministerin Ina Scharrenbach wird hier
gemeinsam mit dem 1. Vorsitzenden des Westfälischen
Literaturbüros, Staatsminister a. D. Wolfram Kuschke, das
interkulturelle Literatur-Fotografie-Projekt offiziell
­eröffnen. In kurzweiligen Wort-, Bild- und Musikbeiträgen
 von weiteren beteiligten Akteur*innen und künstleri-
 schen Gästen werden das Experiment HEIMAT und seine
 Partner, Orte und Künstler*innen vorgestellt.
        Mit dabei sind u. a. die Schriftstellerin und
 Bachmann-­Preisträgerin Sharon Dodua Otoo und der
 international ausgezeichnete Fotograf und Kurator
 Peter ­Bialobrzeski. Der Autor, Rapper und ehemalige
 NRW-Landesmeister im Poetry-Slam Sulaiman Masomi
 gibt einige seiner stärksten Texte zum Besten. Zudem
 sorgt die in Unna beheimatete Blues Band „Six of Eight“
 rund um Stimmwunder Joyce Nuhill für jede Menge
 Auftakt-Schwung und positive Vibes. Durch die Veran-
 staltung führt der Kulturjournalist Volker Stephan.
Das knapp einstündige Bühnenprogramm wird ab
19.30 Uhr live über den YouTube-Kanal des Westfälischen
­Literaturbüros gestreamt. Eine Teilnahme vor Ort
 wird aufgrund der geltenden Corona-Beschränkungen
 ­voraussichtlich leider nicht möglich sein.

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Unna: Lindenbrauerei                            in Unna die Brauerei zunächst retten. Jedoch bedeutete 1971
                                                                  der Zusammenschluss der Hansa- und Dortmunder-Actien-
        Vom Brauhaus zum                                          Brauerei das endgültige Ende der Traditionsmarke. Die Produk-
                                                                  tion des Linden-Pils zog nach Dortmund und 1979 wurde

          Kulturtempel                                            die Linden-Adler-Brauerei in Unna aufgegeben.
                                                                               Einzig der 52 Meter in den Himmel ragende Schorn-
                                                                     stein mit der Fibonacci-Reihe des italienischen Künstlers
                                                                     Mario Merz erinnert allabendlich weit sichtbar leuchtend an
                                                                     die einstige Glanzzeit der Lindenbrauerei und ist gleich­
                                                                     zeitig Symbol für den Wandel von Industrie zur Kulturstätte.
Wo einst Hopfen und Malz für den Lebensunterhalt sorgten,            Nach der Schließung übernahm die Kreisstadt Unna den
faszinieren heute Kunst und Kultur: Die 1859 von Wilhelm          historischen Bau. Wenig später schlossen sich Künstler*innen,
Rasche und seinem Schwager Wilhelm Ulmcke als Familien-           Initiativen und engagierte Bürger*innen zusammen und
betrieb gegründete Lindenbrauerei zählte bald zu den              gründeten den Trägerverein Lindenbrauerei, der mit einem
anerkannten Brauereien im Ruhrgebiet. Bier war früher             soziokulturellen Zentrum den alten Mauern wieder Leben
alkoholarm und kalorienreich und wurde als „flüssiges             ­einhauchen wollte. Zwischenzeitlich vom Abriss bedroht,
Brot“ zu jeder Tageszeit von Männern, Frauen und auch              machte die einstige Braustätte im Mai 1992 Platz für das
Kindern getrunken. In Zeiten von Missernten und Hunger             Kultur- und Kommunikationszentrum Lindenbrauerei. Die Ein-
ergänzte der Gerstensaft die oft knappe Nahrung und                richtung ist heute Veranstaltungsort, Ideenschmiede und
galt als ein Grundnahrungsmittel. Das änderte sich im Laufe        Treffpunkt vieler Vereine, Initiativen und Einzelkünstler*innen.
der Jahrhunderte und Bier schmeckt heute als ein belieb-           2001 eröffnete das Zentrum für Internationale Lichtkunst
tes Genussmittel. Bisweilen bedeutet der Gerstensaft mehr          seine Pforten. Tief unter der Erde in den Kühlgewölben der
als ein wohlschmeckendes Getränk. Viele Konsument*innen            Lindenbrauerei präsentieren sich Werke hochkarätiger
bevorzugen „ihre“ Marke, mit der sie sich verbunden                ­internationaler Lichtkünstler*innen u. a. von James Turrell,
­fühlen, ja sogar ein Stück HEIMAT für sie bedeutet. Für            Mischa Kuball und Jan van Munster. Auf dem Gelände der
 Menschen aus anderen Kulturen steht die Tasse Tee, das              ehe­­ma­ligen Lindenbrauerei eröffnete 2004 das Zentrum
 Kännchen Mokka oder ein heimisches Gericht mit regio­            für ­Information und Bildung (ZIB), das Volkshochschule,
 nalen Zutaten und Gewürzen für HEIMAT. So kann HEIMAT              ­Stadt­bibliothek, Stadtarchiv sowie den Kulturbereich,
  (auch) ein Genuss- oder Nahrungsmittel sein.                       MedienKunstRaum, Lerntreff und i-Punkt unter einem Dach
            Während die Lindenbrauerei in Unna im ersten Jahr        vereint. In den Flaschenkellern der ehemaligen Lindenbrauerei
  1859 gerade mal 609 Hektoliter Bier produzierte, waren             und der Villa befindet sich die Werkstatt im Kreis Unna und
  es 1895 mehr als 65.000 Hektoliter. Täglich lag ein außer-         ihr Berufs­kolleg. Im einstigen Sudhaus laden heute Geschäfte
  gewöhnlicher Duft in der Unnaer Luft. Noch bis in die 1950er       zum Shoppen und Gastronomie zum Verweilen ein.
  Jahre wurden die Bottiche von den Arbeitern von Hand                         Nach mehr als 20 Jahren Pause kehrte die Brau-
  gefüllt, der Brauprozess manuell begleitet und die Bierfässer      kunst in die Lindenbrauerei zurück: Seit 2002 wird das
 auf Pferdekutschen und Handkarren an die Läden und                  traditionelle Linden-Bier wieder gebraut und nur in der dorti-
 ­Wirtshäuser ausgeliefert. Nach der Blütezeit der Braustätte        gen Gastronomie „Schalander“ ausgeschenkt – das ist
  konnten mehrere Fusionen wie beispielsweise 1918 mit der           nicht nur eine kühle Erfrischung, sondern auch ein Stück
  Dortmunder Hansa-Brauerei und 1922 mit der Adlerbrauerei           HEIMAT.

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◆ SHARON DODUA OTOO                                   Schwarze Blumen Malen?“ (2020).   ◆ PETER BIALOBRZESKI                                World Press Photo Award
geboren 1972 in London, lebt heute                    Ihr erster Roman auf Deutsch      1961 in Wolfsburg geboren, lebt                     (2003/2010) und wurde mit dem
in Berlin. Die britische Autorin und                  „Adas Raum“ ist im Februar 2021   heute in Hamburg. Er studierte                      Erich Salomon Preis der deutschen
politische Aktivistin hat ghanaische                  erschienen. Zudem verfasste       Politik und Soziologie und arbeitete                Gesellschaft für Photographie
Wurzeln – ihre Eltern stammen                         Sharon Dodua Otoo den Beitrag     in seiner Geburtsstadt als Lokal­                   (2012) geehrt. Seine Fotografien
aus Accra, der Hauptstadt Ghanas.                     zum Stichwort „Liebe“, für        reporter. Nach seinem Studium                       sind in Einzel- und Gruppenaus­
Sie studierte German and Manage-                      den 2019 erschienenen Band von    Kommunikationsdesign mit                            stellungen auf allen fünf Kontinen-
ment Studies am Royal Holloway                        Fatma Aydemir und Hengameh        Schwer­punkt Fotografie an der                      ten gezeigt worden und befinden
College der Universität London und                   ­Yaghoobifarah „Eure Heimat ist    Folkwangschule in Essen und am                      sich in zahlreichen privaten und
erlangte 1997 den Abschluss                           unser Albtraum“.                  London College of Printing war                      öffentlichen Sammlungen. Peter
B. A. (Hons). Sharon Dodua Otoo                                                         Peter Bialobrzeski für internatio-                  ­Bialobrzeski wird von renommier-
schreibt Prosa und Essays und                        Dem Begriff der HEIMAT geht        nale Zeitschriften tätig. Seit                      ten internationalen Galerien in
ist Herausgeberin der englisch-                      Sharon Dodua Otoo in Unna auf      1989 wurden seine fotografischen                    New York, Shanghai, Berlin und
sprachigen Buchreihe „Witnessed“                     die Spur.                          Arbeiten in namhaften internatio-                   Frankfurt vertreten. Im Frühjahr
(edition assemblage). Ihre ersten                                                       nalen Magazinen und Zeitschriften                   2020 erschien sein 21. monografi-
Novellen „die dinge, die ich denke,                  → www.sharonotoo.com               veröffentlicht, von GEO Deutsch-                    sches Buch „No Buddha in Suburbia“.
während ich höflich lächle“ und                                                         land über das koreanische GEO bis                   Mit HEIMAT setzte sich Peter
„Synchronicity“ erschienen zuletzt                                                      zur New York Times, bevor er Ende                   Bialobrzeski in seinen beiden Bild-
2017 beim S. Fischer Verlag. Mit                                                        der 1990er-Jahre begann, seine                      bänden „Heimat“ und „Die zweite
dem Text „Herr Gröttrup setzt sich                                                      Projekte in Buchform zu publizieren.                Heimat“ ausein­ander.
hin“ gewann Sharon Dodua Otoo                                                           2002 wurde Peter Bialobrzeski
den Ingeborg-Bachmann-Preis                                                             als Professor für Fotografie an die                 Nun geht Peter Bialobrzeski in
(2016). Sie hielt die Klagenfurter                                                      Hochschule für Künste Bremen                        Unna auf fotografische Spuren­
Rede zur Literatur „Dürfen                                                              berufen. Er gewann zweimal den                      suche rund um die Lindenbrauerei:
                                                                                                                                            HEIMAT als Genussmittel?

                                                                                                                                            → www.bialobrzeski.net
                                © Ralf Steinberger

                                                                                                                         © Kochi Biennale
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Bochum: Ruhr-Universität                          überwinden die Grenzen zwischen den Fächern und stärken
                                                                den Austausch – auch über die RUB hinaus im In- und Ausland.
            Leben auf dem                                                Die RUB könnte auf ihrer Fläche von 4,5 Quadrat­
                                                                  kilometern 630 Fußballfelder errichten. Der Campus – übri-

               Campus                                           gens einer der größten in Deutschland – ist dennoch ein
                                                                Mikrokosmos, in dem sich Forschung, Wissenschaft, Freizeit,
                                                                  Natur und Kultur vereinen: Das Kulturbüro des Studieren-
                                                                denwerkes „Boskop“ lädt zu künstlerischen Events ein und
                                                                400 Kurse in 90 Sportarten sorgen für Bewegung und
                                                                Entspannung. Ob Kultur, Sport, kulinarische Angebote oder
                                                                Anderes: An der RUB ist immer was los. Sie ist Treffpunkt
Wo will ich studieren? In der Nachbarstadt und weiter bei       für Menschen aus aller Welt. Und wer mal eine Pause vom
den Eltern wohnen? Oder lieber weiter weg in eine Metro-        Uni-Trubel und dem Lernstress braucht, hat es nicht weit ins
pole und in eine Wohngemeinschaft ziehen? Oder gar in           Grüne des Botanischen Gartens auf dem Campus, in den
einem fernen Land und eine Bleibe auf dem Uni-Campus            Westpark in der City oder an den Kemnader See. Studieren
finden? Fragen, die sich viele Schulabgänger*innen stellen,     bedeutet nicht nur zu lernen, sondern auch die (neue)
wenn sie sich für einen Studiengang entschieden haben.         ­HEIMAT und Leute kennenzulernen. In Bochum erinnern
Die Ruhr-Universität Bochum (RUB) in der Mitte der Metro-       Zeugnisse der Vergangenheit wie stillgelegte Fabriken,
pole Ruhr haben mehr als 43.000 Studierende aus über            Zechengebäude und Museen an die einstige Arbeiterstadt.
130 Ländern gewählt. Viele von ihnen haben hier eine neue       Im Bermuda3eck in der Innenstadt mit seinen Kinos,
HEIMAT gefunden – manche nur für die Studienzeit, einige        ­Kneipen, Bars und Clubs kann man sich mit Freund*innen
schlagen die Hochschulkarriere ein und bleiben, einige           amüsieren, um am nächsten Tag wieder im Uni-Alltag
treffen in der Vorlesung die Liebe ihres Lebens, werden in       ­durchzustarten. Mit mehr als 5.800 Beschäftigten ist die
Bochum sesshaft und gründen eine Familie. Die Lebens-             RUB der größte Arbeitgeber der Stadt. Der Campus ist
wege sind hier so vielfältig wie die Menschen selbst.             das Zuhause von Wissenschaft, Forschung und studenti-
         Mit ihren 20 Fakultäten bietet die RUB eine große        schem Leben und für viele eine (neue) HEIMAT (geworden).
Auswahl an Fachrichtungen: Studiengänge in Gesell-
schafts- und Geisteswissenschaften, Medizin, Natur- und
Ingenieurswissenschaften sowie 14 internationale und
englischsprachige Bachelor- und Master-Studiengänge
locken – neben den weltweiten Partneruniversitäten – viele
für ein Studium nach Bochum. Die RUB war eine der ersten
neuen Universitäten in der Bundesrepublik Deutschland
– der Lehrbetrieb startete im November 1965. Seitdem sind
das Angebot und die Vielfalt stetig gestiegen: Heute
prägen fachübergreifende Zusammenarbeit und Vernetzung
die Forschung, etwa 6.320 ausländische Studierende ­lernen
an der RUB; hinzukommen 1.076 internationale Promovie-
rende und wissenschaftliche Gäste. Die Wissenschaftler*innen

20                                                                                                                       21
◆ SAFIYE CAN                                       Universität Kassel und an der           ◆ ALEKSANDRA WEBER                                      2018 die Fotoserie „Madonna“, für
geboren 1977 als Kind tscherkessi-                 Northern Arizona University in den      1984 in Zabrze/Polen geboren, lebt                      die sie Frauen porträtierte. Sie
scher Eltern in Offenbach am Main,                 USA, sie ist Kuratorin der „Zwischen-   heute in Bremen. Mit fünf Jahren                        fotografierte die Mütter mit ihren
lebt heute in ihrer HEIMAT-Stadt.                  raum-Bibliothek“ der Heinrich-­Böll-    zog sie mit ihren Eltern nach                           Kindern auf dem Arm, meist in der
Sie studierte Philosophie, Psycho-                 Stiftung, Stipendiatin der „Autoren-    Norddeutschland. Bevor sie ihr                          Nähe ihrer Wohnorte. Seit 2018
analyse und Rechtswissenschaft                     residenz Laubach“ und seit 2019         Bachelorstudium „Integriertes                           realisiert sie freie Projekte und
an der Goethe-Universität in                       Vorstandsmitglied der renommier-        Design“ an der Universität der                          stellt am liebsten Menschen in den
Frankfurt am Main. Die Lyrikerin,                  ten Zeitschrift für Literatur, Kunst    Künste in Bremen 2015 abschloss,                        Mittelpunkt. Ihre Arbeiten wurden
Autorin und Dichterin der kon­                     und Kritik: die horen. Ebenso ist sie   arbeitete sie für mehrere Jahre als                     in mehreren Gruppen- und Solo-
kreten und visuellen Poesie ist                    Mitglied bei der internationalen        Fotografin in den Bereichen „food                       ausstellungen präsentiert und sind
zudem Herausgeberin sowie                          Schriftstellervereinigung PEN und       & still life photography“. Von 2015                     in zahlreichen Magazinen und
literarische Übersetzerin. Ihre                    ehrenamtliche Mitarbeiterin bei         bis 2018 studierte Aleksandra                           Katalogen erschienen.
Lyrikbände wurden zu Bestsellern                   Amnesty International. Sie ist Preis-   Weber im Masterstudiengang
und in mehrere Sprachen über-                      trägerin des Else-Lasker-Schüler-       „Kultur und Identität“, der die                         Für Experiment HEIMAT erkundet
setzt. Wenn Safiye Can nicht                       Lyrikpreises und des Alfred-Müller-     beiden Fachbereiche Fotografie                          Aleksandra Weber mit ihrer Kamera
schreibt, gibt sie ihr Wissen in                   Felsenburg-Preises für aufrechte        und Grafikdesign/Editorial Design                       das Leben der Menschen an der
Schreibwerkstätten an Schulen                      Literatur. Ihr Gedichtband „Kinder      miteinander verbindet. Ihren                            Ruhr-Universität Bochum.
und anderen Einrichtungen für                      der verlorenen Gesellschaft“ (2017),    persönlichen künstlerischen
Kinder und Jugendliche im In- und                  fragt nach dem Platz des Einzelnen      Schwerpunkt setzt sie auf das                           → www.aleksandra-weber.de
Ausland weiter – sie hat die                       in der Welt, nach HEIMAT und            Themenfeld kulturelle Identität mit
Schreibwerkstatt „Dichter-Club“                    Zugehörigkeit.                          einem besonderen Interesse für
gegründet. Safiye Can ist auch                                                             Portraits und Reportage/Dokumen-
als Gastdozentin tätig, u. a. an der               Bleibt Fremde immer Fremde oder         tation. So entstand von 2016 bis
                                                   wird Fremde zum neuen Zuhause?
                                                   Dieser und anderen Fragen rund
                                                   um HEIMAT will Safiye Can auch
                                                   während ihrer Recherchetour
                                                   an der Ruhr-Universität in Bochum
                                                   nachgehen.

                                                   → www.safiyecan.de
                                                   → facebook.com/safiye.can.poesie
                                                   → instagram.com/dichterinsafiyecan

                                                                                                                           © Ariane Pfannschmidt
                                 © Peter Jülich

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Kreis Coesfeld: Kolvenburg                        Eine Urkunde von 1246 belegt: Sweder von Billerbeck war
                                                                der erste Bewohner. Sweders Nachfahren verließen wohl im
        Vom Adelssitz                                           13. Jahrhundert ihre HEIMAT. Ab 1309 lebte die aus dem ­
                                                                 südlichen Westfalen stammende Familie Colve auf der Burg

      zum Raum für Kultur                                        („Colvenborch“) – der sie ihren Namen Kolvenburg verdankt.
                                                                Es folgten die Holthausen und die Voet. Diese Familien
                                                                gehörten zum niederen Adel. Obwohl er weder politisch noch
                                                                finanziell an die Machtfülle des Hochadels oder des Klerus
                                                                heranreichte, war er für viele erstrebenswert, weil mit ihm
                                                                Privilegien verbunden waren, die dem einfachen Bürger ver-
                                                                wehrt blieben. Etwa 1494 erbte der Burgmann Godeke von
 Gegenüber dem modernen Schulgebäude thront als Kon­            Münster den Billerbecker Adelssitz. Die Besitzer wohnten
 trast auf einem kleinen Hügel die Kolvenburg. Eine beson-      inzwischen nicht mehr auf der Kolvenburg, zu der neben dem
 dere Atmosphäre umgibt das geschichtsträchtige und             heutigen Gebäude auch ein Torhäuschen, eine Scheune und
 sagen­umwobene Schmuckstück. Mit Gewissheit kann man           Wirtschaftsgebäude gehörten. Dort lebten die Verwalter
 heute nur sagen, dass die einstige Wasserburg ein typi-        oder Rentmeister, die Gebäudeteile und Ländereien pachte-
 scher Wohnsitz des niederen Adels im Münsterland war.          ten. Ebenso zog Familie von Romberg, die die Burg im
 Die ­Kolvenburg ist eine der zahlreichen historischen          17. Jahrhundert übernahm, nicht nach Billerbeck. Nach dem
 Bauten wie Burgen, Wasserschlösser und Herrensitze im          siebenjährigen Krieg begannen die von Romberg ihre Besitz-
 Münsterland, für die diese Gegend bekannt ist. Die bedeu-      tümer zu verkaufen und so erwarben 1892/93 die Freiherren
 tendste Schlossanlage des Barock in Westfalen ist das          von Twickel auf Haus Hameren das heute denkmalgeschützte
 Schloss Nordkirchen, das auch als „westfälisches Versailles“   Gebäude. Das verpachteten sie 1966 an den Kreis Coesfeld.
 bezeichnet wird. Die 1734 fertiggestellte Anlage mit dem                Weil die Kolvenburg äußerst baufällig war, wurde sie
 prächtigen Park beheimatet heute die Landesfinanzschule         von 1958 bis 1976 in mehreren Abschnitten in den Bauzustand
 und ist zugleich ein Ort für kulturelle Veranstaltungen.        Ende des 16. Jahrhunderts versetzt. Bei den Arbeiten wurde
 Unmittelbar mit Kultur verknüpft – früher wie heute – ist       ein besonderes Augenmerk darauf gelegt, dass alle Bauspuren
 Burg Hülshoff bei Havixbeck. Die Wasserburg ist seit            sichtbar bleiben: ausgemauerte Kamine, gefüllte Nischen,
 1417 Stammsitz der Freiherren Droste zu Hülshoff und das       freigelegte Türrahmen, Stürze, Versatzstücke, Brüche und Kan-
 Geburtshaus der bekannten Dichterin Annette von                 ten im Mauerwerk, Schießscharten für Armbrüste und
­Droste-Hülshoff (1797–1848).                                   ­Handbüxen. Die Kolvenburg selbst ist ein Museum. Dort eröff-
         Im Innern der Kolvenburg erzählen Kamine, Nischen,     nete am 18. September 1976 das Kulturzentrum des Kreises
 Türrahmen, Stürze, Brüche und Kanten im Mauerwerk von          Coesfeld. Seitdem gibt das Gebäude hochkarätigen Konzerten
 der eindrücklichen Historie der Kolvenburg und ihren ehema-    und wechselnden Ausstellungen von internationalen Größen
 ligen Bewohner*innen. Billerbecker Ritter sollen den ersten    wie Albrecht Dürer, Pablo Picasso oder Joseph Beuys bis zu
 Bau im 13. Jahrhundert aus Baumberger Sandstein errichtet      westfälischen Maler*innen wie Ernst Hase, Ida Gerhardi oder
 haben. Wann die Kolvenburg ein steinernes Herrenhaus           Otto Pankok eine temporäre HEIMAT. Eine andere Art von
 bekam, ist unbekannt. Der jetzige Bau mit dem Krüppelwalm-     HEIMAT-Gefühl kommt bei Anwohner*innen rund um die
 dach und dem Renaissance-Erker aus Backstein stammt            Kolvenburg auf, die sich gerne daran zurückerinnern, wie sie
 aus dem 15. und 16. Jahrhundert.                               als Kinder vor der Restaurierung in der Ruine gespielt haben.

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◆ NAJEM WALI                                               Spiegel. In der arabischen Welt       ◆ ALEM KOLBUS                          durch 30 verschiedene Land-
1956 im irakischen Basra geboren,                          zählt Najem Wali zu den führenden     1992 in Leipzig geboren, lebt in       schaftsschutzgebiete in ganz
lebt heute zwischen Bagdad und                             Schriftstellern. Seine Bücher und     Bremen. Sie studierte von 2013 bis     Deutschland. Aus ihren Beobach-
Berlin. Der freie Schriftsteller und                       Erzählungen, in denen er sich mit     2017 an der Bauhaus-Universität        tungen entstand eine Bildserie,
Journalist lehrt zurzeit deutsche                          seiner eigenen Vergangenheit          Weimar „Visuelle Kommunikation“.       ein Essay und Interviews mit
Literatur an der Salahaddin Univer-                        und der Geschichte seines HEIMAT-     Im Anschluss an ihren Bachelor­        Pressevertreter*innen des Natur-
sität im Irak. Bevor Najem Wali                            Landes auseinandersetzt, sind in      abschluss arbeitete sie zunächst als   schutzbundes, die sie in dem
1980 nach Ausbruch des Iran-Irak-                          mehrere Sprachen übersetzt. Im        Fotografin und Bildredakteurin         Buch „Mirror Territories“ publizierte.
Kriegs nach Deutschland und ins                            Carl Hanser Verlag erschien zuletzt   in Leipzig, bevor sie von 2018 bis     Alem Kolbus arbeitet derzeit als
westfälische Paderborn flüchtete,                          sein Roman „Bagdad Marlboro“,         2020 im Masterstudio „Kultur           Werkstattleiterin für Fotografie an
wurde er in seiner HEIMAT als                              für den er den Bruno-Kreisky-Preis    und Identität“ bei Prof. Peter         der Hochschule für Künste Bremen.
Andersdenkender inhaftiert und                             für das politische Buch 2014          Bialobrzeski und Prof. Andrea
gefoltert. Das nach seinem Abitur                          erhielt, sowie „Bagdad. Erinnerun-    Rauschenbusch an der Hochschule        Im Frühjahr 2021 begibt sie sich für
in Bagdad begonnene Germanistik-                           gen an eine Weltstadt“ (2015)         für Künste in Bremen studierte.        das Experiment HEIMAT erneut auf
Studium schloss Najem Wali                                 als auch „Saras Sünde“ (2018).        Die Schauplätze ihrer fotografischen   Exkursion und wird in der Schlös-
1988 in Hamburg ab. Im Anschluss                           Er schrieb 2018 zusammen              Arbeit sind Orte, die als kulturell    ser- und Burgenlandschaft im
studierte er spanische Literatur                           mit der Schriftstellerin Sybille      wertvoll gelten wie Kleingärten,       Münsterland dem Begriff HEIMAT
an der Universität Complutense in                         ­Lewitscharoff „Abraham trifft         Spielplätze oder Naturschutz­          auf visueller Ebene nachspüren.
Madrid. Wali war lange Zeit Kultur-                        Ibrahim“ (Suhrkamp, Berlin, 2018),    gebiete – visuelle Symbole kollekti-
korrespondent der bedeutendsten                            ein Buch, das die gemeinsamen         ver Identität. Im Oktober 2020         → www.alemkolbus.de
arabischen Tageszeitung Al-Hayat                           Wurzeln der jüdischen, christ­        schloss Alem Kolbus ihr Master­
und schreibt regelmäßig u. a. für                          lichen und islamischen Religion       studium mit dem Projekt „Mirror
die Süddeutsche Zeitung, die Neue                          behandelt. Sein neuer Roman           Territories“ erfolgreich ab. Für
Zürcher Zeitung, die TAZ und den                           „Soad und das Militär“ erscheint      die Serie reiste sie mit der Kern­
                                                           im April 2021 beim Secession          frage „Was heißt Naturschutz
                                                           Verlag, Zürich.                       in Deutschland?“ sechs Monate

                                                          Nicht ums Militär, sondern um die
                                                          HEIMAT von Rittern und Adels­
                                                          leuten geht es bei Najem Walis
                                                          Recherchetour durch die Schlös-
                                                          ser- und Burgenlandschaft im
                                                          Kreis Coesfeld.

                                                          → www.najemwali.de
                                 © Emanuela Danielewicz

                                                                                                                                         © Alem Kolbus
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Dortmund – dem Fußball seine HEIMAT                      Arbeiterkreisen, zum Beispiel der TuS Bövinghausen, der 1904
                                                                von Arbeitern der Zeche Zollern gegründet wurde. Für die
            Kicken braucht                                      vielen Einwanderer waren solche Zechenmannschaften die
                                                                Möglichkeit, soziale Kontakte zu knüpfen und anzukommen,

            keine Sprache                                       HEIMAT zu finden.
                                                                         Erst in den 1920er Jahren wurde Fußball zu einem
                                                                Massenphänomen: Soldaten brachten den Sport aus dem
                                                                1. Weltkrieg mit. Durch den hart erkämpften Acht-Stunden-Tag
                                                                hatten Arbeiter nun auch die nötige freie Zeit zum Spielen
                                                                und Zuschauen. Arbeiterklubs schlossen zu den bürgerlichen
                                                                Vereinen auf. Jetzt wurde überall auf Straßen und Plätzen
„Im Herzen bin ich immer noch Fußballerin,” sagte die Ende-     gebolzt. Der Mythos des Arbeiterfußballs entstand.
30-Jährige im Tremoniapark, als sie die Kinder auf der Wiese             Insbesondere auf den Bolzplätzen zeigte sich, was der
bolzen sah. „Naja, nicht mehr aktiv, aber der Fußball hat       Fußball alles vermag: Auf dem Platz sind alle gleich, alle kön-
mein Denken und Handeln geprägt. Vermutlich fühle ich mich      nen mitspielen und nur gemeinsam kann man das Spiel gewin-
deshalb in Dortmund so zu Hause. Irgendwie sind die Men-        nen. Zudem können Außenseiter plötzlich zu Helden werden,
schen hier wie ich.”                                            es gibt Lob und Anerkennung für das Tor, den Pass oder die
         Ein Rückblick: Ende des 19. Jahrhunderts wurde         gelungene Aktion und das alles funktioniert ohne Sprache.
Dortmund durch die enorme Zuwanderung von Arbeitskräf-                   Es verwundert daher nicht, dass auf Antrag des
ten und deren Familien im Zuge der Industrialisierung eine      Deutschen Fußballmuseums die Bolzplätze in die Liste des
Großstadt. Fand die Industrie bis 1870 noch Arbeitskräfte aus   immateriellen Kulturerbes des Landes NRW aufgenommen
der näheren Umgebung, so mussten dann Menschen aus              wurden. Der Bolzplatz ist schon seit den 1920er Jahren
weiterer Entfernung – zum Beispiel Polen, England und Frank-    ein bedeutsamer Sozialraum, der neben dem Können ebenso
reich – für die Zechen und Eisenwerke angeworben werden.        Kreativität, Fairness, Toleranz und Vielfalt fördert.
Ihr Anteil an Einwohner*innen lag um die Jahrhundertwende                Und weil der Fußball integriert, Identität, Kultur und
bei 34 Prozent. Dortmund wuchs somit kräftig. Richtung          HEIMAT schafft und er ebenso auf den wichtigen Tugenden
Norden und Osten entstanden planmäßig ganze Stadtteile          der Bergleute und Stahlarbeiter wie Verlässlichkeit, Offenheit
mit passenden Prachtplätzen wie dem Nordmarkt, Steinplatz       und Zusammenhalt basiert, hat der Fußball in Dortmund
und Borsigplatz.                                                seine HEIMAT. Die Mentalität des Fußballs ist das, was die
         1890 kam etwa zeitgleich der englische Fußball         Menschen in dieser Stadt leben und im Herzen tragen, ist
nach Dortmund. Die aus bürgerlichen Familien stammenden         das, was sie vereint – unabhängig woher sie kommen und
Schüler des Realgymnasiums und des Tremonia-Gymnasi-            welche Sprache sie sprechen.
ums waren die ersten Spieler in dieser Stadt. 1895 grün­
deten sie zusammen mit Absolventen der Königlichen Maschi-
nenbauschule in der Sonnenstraße den ersten Dortmunder
Fußball-Club.
         Nach der Jahrhundertwende folgten eine Reihe
weiterer Fußballklubs, die aber nach wie vor eher bürgerlich
und elitär waren. Erst langsam entstanden auch Clubs in den

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◆ HELENE BUKOWSKI                              szenario, in dem es um Fremde und   ◆ JÖRG BRÜGGEMANN                             The Global Brotherhood“ über die
geboren 1993 in Berlin, lebt heute             Zugehörigkeit geht – also (auch)    geboren 1979 in Herne, lebt heute             Globalisierung der Heavy-Metal-
wieder in ihrer Geburtsstadt. Sie              um HEIMAT. In ihrer HEIMAT-Stadt    in Berlin. Er schloss 2008 sein               Kultur reiste er durch die Kontinen-
studierte Literarisches Schreiben              Berlin gründete Helene Bukowski     Fotografie-Studium an der Hoch-               te. 2020 veröffentlichte Jörg
und Lektorieren in Hildesheim.                 eine Fußball-Nationalmannschaft     schule für Künste in Bremen mit               Brüggemann gemeinsam mit Tobias
Helene Bukowski ist Co-Autorin                 der Autor*innen.                    der Diplomarbeit „Same Same But               Kruse „Freundschaft“ und die
des Dokumentarfilms „Zehn                                                          Different“ über Rucksacktourismus             Monografie „Autobahn“. Im Septem-
Wochen Sommer“, der 2015 den                   Der Rasensport wird sie auch bei    in Südasien ab. Seit 2009 ist er              ber 2020 eröffnete er seine erste
Grimme Sonderpreis Kultur                      ihrer Recherche in Dortmund         Mitglied der Agentur OSTKREUZ                 Einzelausstellung „wie lange noch“
erhalten hat, und war 2016 zur                 beschäftigen. Hier geht sie der     in Berlin und dort seit 2019 auch als         im Zephyr Mannheim.
Autorenwerkstatt Prosa des                     Frage nach, inwieweit (Vereins-)    Geschäftsführer tätig. Im selben
Literarischen Colloquiums Berlin               Fußball für die Menschen HEIMAT     Jahr wurde er auch Dozent an der              In Dortmund widmet sich Jörg
eingeladen. Sie war Mitheraus­                 bedeuten kann.                      OSTKREUZSCHULE für Fotografie.                Brüggemann dem Thema Fußball
geberin der „BELLA triste“ und Teil                                                Der Fotograf arbeitet u. a. für               als HEIMAT.
der künstlerischen Leitung des                 → www.perlentaucher.de/buch/        internationale Magazine wie ZEIT
„PROSANOVA 17“. 2019 erschien                  helene-bukowski                     Magazin, GEO, Monocle und                     → www.joergbrueggemann.com
ihr Debütroman „Milchzähne“, für                                                   wurde mit zahlreichen Preisen und
den sie u. a. für den Mara-Cassens-                                                Stipendien ausgezeichnet u. a.
Preis, den Rauriser Literatur­preis                                                gemeinsam mit seinen OSTKREUZ-
und den Kranichsteiner Literatur­                                                  Kolleg*innen mit dem Konrad-­
förderpreis nominiert war. Darin                                                   Wolf-Preis der Akademie der Künste
beschreibt Helene Bukowski                                                         (2013). Für seine erste 2012 erschie-
eindrücklich ein düsteres Zukunfts-                                                nene Monografie „Metalheads –

                                                                                                                    © OSTKREUZ
                                © Rabea Edel

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Waltrop: Schiffshebewerk Henrichenburg                     sich um die Kindererziehung und packte auf dem Schiff mit
                                                                an. War der Nachwuchs schulpflichtig, wurde er häufig
           In die Welt der                                      bei Verwandten oder in Schifferkinderheimen untergebracht,
                                                                während die Frau weiter an Bord blieb. Das Zuhause war

          Binnenschifffahrt                                     das Schiff. Ihre HEIMAT verlassen haben auch viele Menschen,
                                                                die bei der Errichtung des Schiffshebewerks einen neuen

             eintauchen                                         Job fanden: Zu den 4.500 Arbeitskräften gehörten auch
                                                                Niederländer und Italiener, die in für sie errichteten Baracken
                                                                mit Schlaf- und Speisesälen eine vorübergehende HEIMAT
                                                                finden mussten. Ebenso lockte zwischen 1892 und 1899 der
                                                                Bau des Dortmund-Ems-Kanals Tausende – ebenfalls aus
                                                                den Nachbarländern. Sie schachteten die 230 Kilometer
                                                                lange Wasserrinne, Schleusenkammern und die tiefen Schwim-
                                                                merschächte größtenteils von Hand aus. Was während der
                                                                Bauzeit ein schweißtreibender Arbeitsort war, entwickelte
Es hat seine Imposanz nicht verloren: das Schiffshebewerk
                                                                sich schon bald zum beliebten Freizeitort. Die Wasserstraße
Henrichenburg. Auch heute stehen die Besucher*innen
                                                                ist heute ein populäres Naherholungsgebiet.
genauso staunend davor, wie jene am 11. August 1899, als
                                                                         Die einst technische Meisterleistung konnte jedoch
Kaiser Wilhelm II. die von zwei Türmen flankierte kraft­-
                                                                den steigenden Transportmengen nicht lange genügen.
strotzende Stahlwerkkonstruktion einweihte. Schiffe mit bis
                                                                Bereits 1962 wurde in der Nachbarschaft ein modernes Schiffs-
zu 750 Tonnen Ladekapazität konnte der „Aufzug“ in dem
                                                                hebewerk errichtet. Dem alten, 1970 stillgelegten, drohte
70 Meter langen und 8,80 Meter breiten Trog über die 14 Meter
                                                                der Abriss. Den konnten engagierte Anwohner*innen – ins-
hohe Kanalstufe heben. Es war kein Zufall, dass das maje­s­
                                                                besondere vom Bürger- und Schützenverein Waltrop-Oberwiese
tätische Bauwerk am selben Tag wie der Dortmund-Ems-
                                                                – verhindern. Sie protestierten gegen die Demontage ihres
Kanal eröffnet wurde. Damit war neben der Eisenbahn ein
                                                                Wahrzeichens – ihrer HEIMAT. Mit Erfolg. Der Landschafts-
weiteres Netz geschaffen, um Kohle, Erze und Baustoffe vom
                                                                verband übernahm das Denkmal und begann mit der auf-
Ruhrgebiet an die Nordseehäfen zu transportieren.
                                                                wändigen Restaurierung. 1992 wurde das LWL-Industriemu-
        Heute lässt sich im LWL-Industriemuseum die
                                                                seum Schiffshebewerk eröffnet, das die Besucher*innen
technische Meisterleistung bestens nachempfinden: im
                                                                auf eine Reise in die Binnenschifffahrt und das Kanalwesen
Maschinenhaus, im begehbaren, ehemals wassergefüllten
                                                                der vergangenen 100 Jahre mitnimmt.
Trog und bei den Schächten für die gewaltigen Schwimmer,
auf denen der Trog ruhte. Die Brücke zwischen den beiden
Türmen bietet einen weiten Blick auf die Kanallandschaft
und das Binnenschiff „Franz Christian“, auf dem Besucher*in-
nen in den Alltag der Schifferfamilien eintauchen können.
Zur Besatzung an Bord zählten der Schiffsführer, ein Matrose
und ein Schiffsjunge – bei einem Dampfschiff zusätzlich
ein Heizer und Maschinist. Die Ehefrau des Schiffsführers
begleitete ihren Mann, erledigte die Hausarbeit, kümmerte

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Hattingen: Henrichshütte                        Demonstrationen mit etwa 30.000 Teilnehmer*innen,
                                                               Errichtung eines „Dorfes des Widerstands“, eine das
     Von der Arbeitsstätte                                     gesamte Hüttengelände umschließende Menschenkette
                                                               und ein Hungerstreik der Frauen. All diese Bemühungen

       zum Freizeitort                                         verhinderten nicht die Schließung, sorgten aber für
                                                               ­Aufmerksamkeit und führten zu sozialverträglichen Lösun-
                                                                gen beim Abbau der Arbeitsplätze.
                                                                         Die Henrichshütte blickt auf eine bewegte Geschichte
                                                               zurück und ist beispielhaft für die Entstehung, die Blütezeit
                                                                und den Niedergang der Schwerindustrie im Revier: In Hattingen
                                                                entstanden Schienen und Radsätze für die Eisenbahn,
Sie war Broterwerb, zweites Zuhause und Lebensinhalt: die       Schmiede- und Gussstücke, während der Weltkriege Panzer-
Henrichshütte in Hattingen. Seit 1854 wurden 150 Jahre lang     bleche und Granaten, später Turbinenwellen und Kernreak-
auf dem nach seinem Begründer Grafen Henrich zu Stoll-          toren sowie Teile für die Weltraumindustrie. Heute ragt der
berg-Wernigerode benannten Hüttenwerk Eisen erschmolzen         älteste im Revier erhaltene Hochofen als Zeitzeuge über die
und Stahl erzeugt, gegossen, geschmiedet und gewalzt.           Landschaft und fasziniert die Besucher*innen genauso wie
Die Hütte war der größte Arbeitgeber in Hattingen und für       die Relikte der Industrialisierung. Seit dem Jahr 2000 können
viele war klar, dass auch sie wie die Generationen zuvor        sie im LWL-Industriemuseum Henrichshütte die Welt des
auf der Hütte malochten. In den Hochzeiten gingen 10.000        Eisens und Stahls sowie die Arbeitswelt kennenlernen: von
Menschen hier ihrer Arbeit nach. Es entstand die Arbeiter-      gewaltigen Gasmaschinen und einem faszinierenden Blick
siedlung Welper, die eng mit der Henrichshütte verknüpft ist    vom Hochofen in die Landschaft bis hin zur Schaugießerei
und sich nach der Hütten-Stilllegung zwischen 1987 und          im Bessemer-Stahlwerk, wo heute wieder Metall fließt.
2004 verändert hat. Bis zur Entstehung der Henrichshütte        Formen, Schmelzen, Gießen, Putzen – die zentralen Schritte
lebten in Welper etwa 350 Menschen. Mit dem rasch zuneh-        des Gießens können Besucher*innen auf der Henrichshütte
menden Bedarf an Arbeitskräften und damit an Wohnungen          hautnah erfahren. Ein besonderes Highlight sind die abend-
entwickelte sich die Bauernschaft zu einer Industriege-         lichen Führungen im Fackelschein. Was heute für die
meinde. Hier fanden viele Menschen aus nah und fern eine        Gäste ein Erlebnis ist, war für die Arbeiter auf der Hütte
neue HEIMAT.                                                   einst HEIMAT.
         Aber die Stahlkrise machte auch vor der Henrichs­
hütte keinen Halt: Arbeiteten 1974 noch 8.800 Menschen
dort, so waren es 1986 nur noch 4.800. Anfang 1987 gab die
Thyssen Stahl AG u. a. die Stilllegung der Hochöfen, des
Elektrostahlwerks, des Walzwerks, der Stranggießanlage und
weiterer Teile der Henrichshütte bekannt. Damit drohte das
Aus für den Gesamtbetrieb des traditionsreichen Werks.
Ein harter Kampf um die Henrichshütte begann. Die Hattinger
Bevölkerung machte mit einer Protestbewegung auf die
drohende Schließung und den Ver­lust der rund 3.000 Arbeits-
und zusätzlich von über 400 Ausbildungsplätzen aufmerksam:

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◆ NORA-EUGENIE GOMRINGER                 Auftritte runden ihr Wirken ab. Für    ◆ NIKITA TERYOSHIN                      Nikita Teryoshin beschreibt seine
1980 in Neunkirchen/Saar gebo-           ihr Werk wurden Nora Gomringer         1986 in Leningrad/UdSSR geboren,        fotografischen Arbeiten als „street,
ren, lebt heute in Bamberg. Die          u. a. der Jacob-Grimm-Preis            lebt heute in Dortmund und Berlin.      documentary and everyday“, jedoch
Lyrikerin besitzt die deutsche wie       Deutsche Sprache (2011) in Reihe       Er wuchs in St. Petersburg und          setzt er sich häufig mit gesellschafts-
die schweizerische Staatsbürger-         mit ihren Vorgängern Loriot, Günther   Dortmund auf. Während seines            kritischen Themen auseinander.
schaft, wuchs in Oberfranken             de Bruyn und Udo Lindenberg, der       Bachelorstudiums of Arts in Foto-       So auch in seinem Langzeitprojekt
auf, studierte Germanistik, Kunst-       Joachim-Ringelnatz-­Preis (2012)       grafie an der Fachhochschule            „Nothing Personal – the backoffice
geschichte und Amerikanistik             und der Ingeborg-Bachmann-Preis        Dortmund, das er 2017 abschloss,        of war“, für das er zwischen 2016
in Bamberg. Seit 2010 ist Nora           (2015) zugesprochen. 2021 erhielt      beschäftigte sich Nikita Teryoshin      und 2019 zwölf Länder auf fünf
Gomringer Direktorin des Inter­          sie die Carl-Zuckmayer-Medaille        in einem vierjährigen Projekt mit der   Kontinenten bereiste, um einen
nationalen Künstlerhauses „Villa         des Landes Rheinland-Pfalz. Sie        Deutschen Milchkuh. Seine Serie         Einblick in den globalen Waffen­
Concordia“ in Bamberg, eine              ist Mitglied im deutschen PEN und      „Hornloses Erbe“ übt Kritik an der      handel und das Geschehen auf den
Einrichtung des bayrischen Staats-       war 2019 Gastprofessorin am            Milchindustrie und dem Umgang           so genannten „Verteidigungs- und
ministeriums für Wissenschaft,           Oberlin College in Ohio.               der Menschen mit einem unterlege-       Rüstungsmessen“ zu bekommen.
Forschung und Kunst. Zahlreiche                                                 nen Lebewesen und wurde auf             2020 wurde ein Bild dieser Serie für
Aufträge, Aufenthaltsstipendien          Von Bamberg über die Welt nach         dem Cover namhafter Magazine            das Foto des Jahres beim World
und Lehraufträge haben sie als           Westfalen: Was bedeutet HEIMAT         und Zeitungen veröffentlicht sowie      Press Photo Award nominiert und
Autorin, Dozentin und Performerin        für die Menschen in Waltrop und        auf verschiedenen Fotofestivals         gewann den ersten Platz in der Kate-
rund um den Globus geführt. Als          Hattingen?                             gezeigt. Nikita Teryoshin arbeitet      gorie „Zeitgenössische Themen“.
freie Schriftstellerin veröffentlichte                                          als Fotojournalist sowohl an freien
sie seit 2000: neun Lyrikbände,          → www.nora-gomringer.de                Projekten als auch für Magazine         Für das Experiment HEIMAT nimmt
zwei Essaybände sowie zahlreiche                                                wie u. a. SZ Magazin, Zeit Magazin,     Nikita Teryoshin im Frühsommer
Einzelpublikationen. Viele Formen                                               GQ, Spiegel, Business Punk und          2021 die Henrichshütte in Hattingen
der Zusammenarbeit mit Musiker*in-                                              11Freunde. Seine Werke zeigte           und das Schiffshebewerk Henri-
nen, Geistlichen, Übersetzer*innen                                              er bereits in nationalen und inter-     chenburg in Waltrop vor die Linse.
und Bildenden Künstler*innen                                                    nationalen Ausstellungen.
sowie nationale und internationale                                                                                      → www.nikitateryoshin.com

                                                                                                                         © Nikita Teryoshin
                                                              © Judith Kinitz

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Schmallenberg: Wilzenberg                                Auf dem Kreuzweg passieren die Pilger*innen das 28 Meter
                                                                        hohe, weithin sichtbare Hochkreuz, das 1972 von der heute
     Gemeinsam allein sein                                              zuständigen Kirchengemeinde St. Georg Grafschaft in Holz-
                                                                        bauweise errichtet und 2015 durch eine Stahlkonstruktion

       und Stille erleben                                               ersetzt wurde. Einige hundert Schritte weiter nach Osten
                                                                        erreichen die Besucher*innen den Gipfel des Wilzenberges.
                                                                        Hier entstand durch Privatinitiative ein Aussichtsturm in Stahl-
                                                                        fachwerkbauweise, der genau wie sein berühmter großer
                                                                        Bruder in Paris aus dem Jahr 1889 stammt. Der Turm bietet
                                                                        den Besucher*innen einen atemberaubenden Ausblick über
                                                                        das Schmallenberger Sauerland mit seinen vielen Dörfern.
Mystische Augenblicke, Alltagsferne und Momente der Stille                       Doch auch unabhängig von Konfession und Glauben
erwarten die vielen Wander*innen und Wallfahrer*innen                   fasziniert und verbindet die spirituelle Ausstrahlung des Berges
auf dem 658 Meter hohen Wilzenberg bei Schmallenberg-                   die Menschen. Die Seele baumeln lassen, Zuflucht suchen,
Grafschaft. Ein Wallfahrtsort in der Natur, errichtet auf               lebendige Stille genießen mit Abstand zum Alltag, gemeinsam
dem Gelände zweier denkmalgeschützter Wallburganlagen,                  allein sein. Seine Anziehungskraft als weithin bekannte Wall-
deren älteste aus vorchristlicher Zeit stammt. Um diese                 fahrtsstätte und nicht weniger als touristisches Ziel, seine
Burgen ranken sich mehrere Sagen. Manche behaupten, die                 durch aufsehenerregende archäologische Funde aus jüngster
Wallburg sei von Raubrittern besiedelt worden, andere                   Zeit aufgewerteten historischen Stätten verleihen ihm über­
­erzählen, ein Riese habe dort sein Unwesen getrieben.                  regionale Bedeutung. Nicht von ungefähr wurde der Wilzenberg
           Seit Jahrhunderten zieht der „Heilige Berg“ des Sauer-       als einer von insgesamt 43 Seelenorten der Region ausgewählt.
 landes, wie der kegelförmige alleinstehende Berg auch genannt                   Der Ort ist Bezugspunkt für die Menschen, die zu
 wird, die Menschen in seinen Bann. Im Sommer, von Mai bis              seinen Füßen leben. Sie sehen sich in der Tradition der
 August, ist er Ziel zahlreicher Pilger*innen. Dann finden dort         langen und ereignisreichen Geschichte des Bergs. Sowohl
 Gottesdienste mit vielen Besucher*innen von nah und fern               Einheimische und Ehemalige als auch Zugezogene und
 statt, allein 2018 konnten über 3.000 Pilger*innen, darunter           Tourist*innen, sie alle suchen aufgrund der Vielfältigkeit am
 600 Schützen, die ihre traditionelle Kreisschützenwallfahrt            Wilzenberg ein ganz individuelles Stück HEIMAT – insbe­
 durchführen, gezählt werden. Mittelpunkt ist die zu Ehren der          sondere bei sich selbst.
 Mutter Gottes errichtete Wallfahrtskapelle, die 1543 erstmals                   Und Schmallenberg ist bunter als man auf den ersten
 erwähnt wird. Sie erhielt im Jahr 1633 durch den einheimischen         Blick denken mag. Nezaket Ekici, eine international tätige
 Baumeister Antonius Sporing aus dem nahegelegenen Dorf                 Performance-Künstlerin, hat 2017 im Rahmen des Kunstpro-
 Grafschaft ihre endgültige Gestalt. Aufbau und Pflege der              jektes „Stadtbesetzung“ intensiv recherchiert und heraus­
 Wallfahrtsstätten lagen bis 1804 in den Händen der Mönche              gefunden, dass sich unter den gut 25.000 Einwohner*innen
 des ehemaligen Benediktinerklosters Kloster Grafschaft von             zahlreiche Zugewanderte befinden. Der Titel ihrer Performance-­
 1072. Sie gaben 1773 den Auftrag für die Errichtung eines              Installation „83 Nationen – Schmallenberg“ verrät die Anzahl
 Kreuzweges, der sich um die Bergkuppe herumzieht. Der Frei-            der Herkunftsländer. Überdurchschnittlich, gemessen an
 altar neben der Marienkapelle bildet mit den drei Kreuzen die          der Größe der Stadt und durchaus vergleichbar mit Groß-
 zwölfte Station; den Abschluss findet der Kreuzweg in der              städten in Deutschland. Man könnte sagen: In Schmallenberg
 Grab­kapelle, in der die Grablegung Christi im Bild dargestellt ist.   ist die ganze Welt zuhause.

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