"In der Sowjetunion lernen - und was dabei lernen?" - Lebenswege von DDR-Absolvent*innen sowjetischer ziviler Hochschulen - Rosa ...
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ONLINE-PUBLIKATION Viola Schubert-Lehnhardt und Alexandra Wagner «In der Sowjetunion lernen – und was dabei lernen?» Lebenswege von DDR-Absolvent*innen sowjetischer ziviler Hochschulen
DR. VIOLA SCHUBERT-LEHNHARDT studierte in Leningrad Philosophie und war anschließend Mitarbeiterin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Sie ist seit 1993 freiberufliche Dozentin und Autorin zu den Themen Geschlechter- und Gesundheitspolitik. DR. ALEXANDRA WAGNER studierte in Leningrad und ist Geschäftsführerin des Forschungsteams Internationaler Arbeitsmarkt in Berlin. IMPRESSUM ONLINE-Publikation 8/2021 wird herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung V. i. S. d. P.: Albert Scharenberg Straße der Pariser Kommune 8A · 10243 Berlin · www.rosalux.de ISSN 2567-1235 · Redaktionsschluss: Juni 2021 Lektorat: TEXT-ARBEIT, Berlin Layout/Satz: MediaService GmbH Druck und Kommunikation Diese Publikation ist Teil der Öffentlichkeitsarbeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie wird kostenlos abgegeben und darf nicht zu Wahlkampfzwecken verwendet werden.
INHALT Vorbemerkung 4 Zum Stand der Forschung 5 Anmerkungen zum methodischen Vorgehen 6 Ergebnisse der Befragung 7 Zu Entscheidung und Verlauf des Studiums 7 Als positiv wahrgenommene Auswirkungen des Studiums 8 Als nachteilig erlebte Aspekte des Auslandsstudiums 8 Einige biografische Reminiszenzen 10 Erwartungshaltung in Bezug auf das Auslandsstudium und das «Gastland» 10 Praktikum bzw. Bewertung der deutschen Student*innen durch ihre Kommiliton*innen 11 Anerkennung von Studienleistungen 11 Fachliche Wertungen des Studiums 11 Erlebnisse während des Studiums 12 Politische Weltoffenheit 13 Besondere Möglichkeiten durch das Studium 13 Schwierigkeiten und Probleme durch das Studium bei Arbeitsaufnahme in der DDR 14 Affinität zu Land und Leuten 15 Einfluss des Studiums auf den Lebensweg nach der «Wende» 15 Schlussbemerkungen 16 Literatur 18 Anhang 19 Abkürzungen der Studienorte 19 Fragebogen 19 Angaben zu den ausgewerteten Fragebögen 21 Angaben zu den durchgeführten Interviews 21
VORBEMERKUNG «In der Sowjetunion lernen – und was dabei ler- Betrachtung der längerfristigen Auswirkungen dieser nen?» – diese abgewandelte Parole1 aus der DDR Form des Bildungsaufenthalts für das kulturelle und erschien uns als passende Überschrift für die hier vor- politische Verständnis der ehemaligen Sowjetunion liegende Kurzstudie. In den Zeiten, in denen die hier- sowie des heutigen Russlands bietet. Es erfolgte für interviewten Personen in der UdSSR studierten, zunächst eine Eingrenzung auf zivile Hochschulen. galt die Sowjetunion in der DDR und den Ländern des Das heißt, sowohl Komsomol- und Parteihochschu- sozialistischen Lagers als Pionier des Menschheits- len3 als auch militärische Ausbildungen wurden nicht fortschritts. Inzwischen gibt es die UdSSR nicht mehr, berücksichtigt. und die Russische Föderation von heute hat politisch Die Interviews fanden von Februar bis November nicht viel gemein mit der RSFSR, der damals größten 2020 statt, etliche davon aufgrund der Corona-Pan- Unionsrepublik in der Sowjetunion. Dennoch gibt es demie per Telefon oder Videoschaltung. Einige, immer noch einiges im heutigen Russland, was die meist ältere Personen sagten Termine ab bzw. baten damaligen Student*innen aus der DDR kennen und uns, die Interviews auf eine Zeit nach Ende der Coro- schätzen: die Sprache, die Kultur, die Menschen. na-Pandemie zu verschieben. Nur teilweise ist es Viele der Befragten kritisieren offen die aktuelle Politik gelungen, für die ausgefallenen Interviews Ersatz zu Deutschlands gegenüber Russland, die ein Russland- finden. Auch wenn wir mit den insgesamt 15 reali- bild propagiert, das immer stärker von Mythen, Ängs- sierten Interviews ein relativ breites Spektrum der ten und Abwehrhaltungen dominiert wird. Nach einer unterschiedlichen Erfahrungen und Lebenswege von kurzen Entspannungsphase zu Zeiten Michail Gor- DDR-Absolvent*innen sowjetischer Hochschulen batschows (kurz vor und nach dem «Fall der Mauer») erfassen, empfehlen wir der Rosa-Luxemburg-Stif- ist seit einiger Zeit eine «neue Eiszeit» im Verhältnis tung, die für die Zeit nach der Pandemie bereits zuge- zwischen Deutschland und Russland festzustellen.2 sagten Interviews nachzuholen und gegebenenfalls Dies ist angesichts der politischen Bedeutung die- weitere Erhebungen vorzunehmen. Der Schwerpunkt ses Landes mit seinem großen wirtschaftlichen, wis- der hier zusammenfassend dargestellten Erhebun- senschaftlichen und kulturellen Potenzial und einer gen lag auf Erfahrungen beim Auslandsstudium und Bevölkerung von fast 150 Millionen Menschen pro auf deren Bedeutung für die berufliche Karriere. Wir blematisch und vor allem im Hinblick auf die gemein- schlagen vor, bei weiteren Erhebungen den Fokus auf samen europäischen Wirtschafts- und Sicherheitsin- die Wahrnehmung der aktuellen Situation in Russ- teressen kontraproduktiv. In einer solchen Situation land sowie auf die Entwicklung der beruflichen und ist es wichtig und nützlich, den Austausch zu ver- privaten Verbindungen der Befragten in das ehema- schiedenen Themen zu fördern und Wissen über das lige Studienland zu legen. für viele fremde Russland, seine Geschichte und Kul- Die Untersuchung der Prägungen durch ein Studium tur zu verbreiten. in der Sowjetunion ist aus mindestens zwei Gründen Unsere 2020 durchgeführte Studie zu Lebenswegen von besonderem Interesse: Zum einen handelte es von DDR-Absolvent*innen sowjetischer Hochschu- sich bei einem Studienaufenthalt in der Sowjetunion len kann dazu beitragen, ein wichtiges Forschungs- nicht um ein Auslandsstudium, wie es heute üblich desiderat ostdeutscher Bildungsgeschichte zu schlie- und verbreitet ist.4 Es war damals für junge Menschen ßen. Der Schwerpunkt liegt auf der Frage, welche in der DDR nahezu die einzige Möglichkeit, eine kom- Erfahrungen und Eindrücke diese mit der Sowjet- plette Hochschulausbildung – in der Regel mit fünf bis union bzw. Russland verbinden und welchen Einfluss sechs Studienjahren – außerhalb des eigenen Landes diese auf ihr späteres Erwerbsleben in der DDR und zu erlangen.5 Eine so lange Studienzeit und ein so lan- später in der BRD hatten. Die Studie ist als explora- ger Auslandsaufenthalt waren nicht zuletzt aufgrund tive Untersuchung angelegt. Ziel war es, mittels einer der allgemeinen Reisebeschränkungen ein Privileg. begrenzten Zahl qualitativer Interviews zu ermitteln, Sie beeinflussten in der Regel nicht nur den weiteren inwieweit die Befragung von Absolvent*innen sow- Lebensweg, sondern darüber hinaus auch allgemein jetischer Hochschulen neue Erkenntnisse für die die Wahrnehmung der sozialen Realität. Zum anderen 1 Ursprünglich: «Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen!» 2 Allensbach-Umfrage zum Russlandbild der Deutschen vom 15.4.2014. In dieser Umfrage wird erstmals explizit der Begriff «Eiszeit» für die Kennzeichnung des Verhältnisses zwischen Deutschland und Russland verwendet. 3 Interessant für eine künftige vertiefende Forschung wären die Komsomol- und Parteieinrichtungen in der Sowjetunion, an denen eine Reihe hochrangiger FDJ- und Parteifunktionäre eine Aus- bzw. Weiterbildung erhielt. Auch das Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der KPdSU gehörte dazu, wo zum Beispiel der heutige Fraktionsvorsitzende der LINKEN im Deutschen Bundestag, Dietmar Bartsch, seine Aspirantur absolvierte. 4 Heute ist es weitgehend üblich bzw. zumindest nicht so selten, dass Student*innen mehrere Auslandssemester – unter Umständen in verschiedenen Ländern – absolvieren. 5 Die Anzahl derjenigen, die in anderen sozialistischen Ländern studieren konnten, war gering. 4
war ein Studium in der Sowjetunion lange Zeit eine Dies sind Besonderheiten, die ein historisches und Art staatliche Auszeichnung, denn man wurde dazu aktuelles Interesse an der Erforschung dieses Phäno- delegiert und erhielt eine entsprechende Urkunde. mens begründen. Umso mehr verwundert die über- Die Absolvent*innen sowjetischer Hochschulen schaubare Datenlage bzw. das bisher eher marginale galten als besondere Kader, das heißt, mit dem Forschungsinteresse an diesem Thema. Abschluss eines Studiums in der Sowjetunion waren Wir bedanken uns bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung häufig auch spezielle Karriereoptionen verbunden. für die Förderung dieses interessanten Projekts und Teilweise wurden diese explizit in Aussicht gestellt.6 freuen uns auf Feedback. ZUM STAND DER FORSCHUNG Eine Literaturrecherche hat ergeben, dass zu unserer publiziert wurde,7 gibt es keine vergleichbare schrift- Fragestellung bislang kaum Untersuchungen vorlie- liche Dokumentation zur ABF in Halle.8 Der teilweise gen. Dies betrifft die Lebenswege ehemaliger Absol- autobiografische Roman Herrmann Kants «Die Aula» vent*innen sowjetischer Hochschuleinrichtungen, widmet sich der ABF im erstgenannten Sinne, nicht vor allem aber auch das Potenzial ihrer Erfahrungen aber der Vorbereitung auf ein Auslandsstudium. Der und Perspektiven für die deutsch-russischen Bezie- Roman «Straße der Jugend» von André Kubiczek hungen bzw. für die politische, wirtschaftliche und spielt zwar an der ABF in Halle, gewährt jedoch kaum kulturelle Zusammenarbeit zwischen der Europäi- Einblick in Studium, Lehrkörper, Diskussionen und schen Union und Russland. Erwartungen der künftigen Auslandsstudent*innen. An dieser Stelle sei zunächst kurz auf den histori- Nur schwer zu recherchieren sind Erfahrungsbe- schen Hintergrund eines Studiums in der Sowjet- richte, Dokumentationen oder Auswertungen zum union eingegangen. Auf Grundlage des Befehls Nr. 50 Werdegang ehemaliger DDR-Absolvent*innen aus- des obersten Chefs der Sowjetischen Militäradminis ländischer Hochschulen.9 Diese finden sich meist nur tration in Deutschland (SMAD), Georgi Schukow, vom verstreut in Publikationen der späteren Universitäts- 4. September 1945 («Vorbereitung der Hochschulen arbeitsstellen und dort oft nicht unter dem Stichwort auf den Beginn des Unterrichts») wurde 1946 in der «Auslandsstudium». Auch auf einer Zeitzeugenkonfe- sowjetischen Besatzungszone begonnen, Vorstu- renz, die 1999 in Halle stattfand (siehe hierzu Knaa- dienabteilungen zu gründen, die dem Aufbau einer ke-Werner 2000), ging es nur am Rande um Erfahrun- «neuen Intelligenz» (aus der Arbeiter- und Bauern- gen dieser Absolvent*innen. Verschiedene Vereine klasse) dienen sollten. Diese wurden am 1. Oktober (u. a. die Berliner Geschichtswerkstatt e. V., die Deut- 1949 in Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten (ABF) umge- sche Assoziation der Absolventen und Freunde der wandelt. Bis 1961 stieg deren Zahl auf 15 an. Stand- Moskauer Lomonossow-Universität e. V.10 und der Go orte waren Berlin, Leipzig, Jena, Rostock, Greifswald, east Generation e. V.) haben ebenfalls Veranstaltun- Potsdam, Karl-Marx-Stadt, Freiberg und Weimar. Da gen zum Thema durchgeführt. Zu ihnen gibt es leider die Aufgabe der Vorbereitung auf ein Hochschulstu- jedoch nur summarische Berichte (so z. B. eine Doku- dium recht bald von den ebenfalls neu gegründeten mentation zur Veranstaltungsreihe). Erweiterten Oberschulen und Polytechnischen Ober- Die aus einem DFG-Projekt von Ingrid Miethe hervor- schulen übernommen wurde, blieben 1961 nur zwei gegangenen Publikationen widmen sich ebenfalls solcher Fakultäten übrig: die ABF in Halle und in Frei- nur den ABF im erstgenannten Sinne, das heißt der berg. Nur die ABF in Halle diente der Vorbereitung auf Vorbereitung auf ein Studium im Inland. Eine Reihe ein Auslandsstudium. Beide Aufgaben der ABF – Vor- von Veröffentlichungen befasst sich mit Erfahrungen bereitung auf ein Studium in der DDR und Vorberei- von Lektor*innen und Absolvent*innen russischer tung auf ein Auslandsstudium – sind im Folgenden (und osteuropäischer) Hochschuleinrichtungen nach voneinander zu unterscheiden. 1990. Hierzu zählen Publikationen der Bosch-Stif- Während zur Geschichte der ABF – vor allem in tung, Erfahrungsberichte von DAAD-geförderten Pro- Rostock, Jena, Weimar und Greifswald – mehrfach jekten sowie die von der Deutschen Assoziation der 6 So warb die SED-Führung in den 1980er Jahren unter denjenigen, die in der Sowjetunion studiert hatten, verstärkt um eine Parteimitgliedschaft. 7 Siehe dazu die Auswahlbibliografie von Hans-Joachim Lammel (1989). 8 Es gab allerdings eine Sendung des Mitteldeutschen Rundfunks in der Reihe «Der Osten – entdecke, wo Du lebst» mit dem Titel «Kaderschmiede für den Osten – Die ABF in Halle» vom 26.2.2019. 9 Dies betrifft Absolvent*innen aller ausländischer Hochschulen. 10 In loser Folge gibt diese die sogenannten DAMU-Hefte heraus. 5
Absolventen des Moskauer Staatlichen Instituts für Abgleichs von Studienlisten bedurft. Dies war uns Internationale Beziehungen 2010 herausgegebene nicht möglich. Im Zuge unserer Recherchen sind wir Broschüre über das Moskauer Institut für Internatio- jedoch auf die Erinnerungen des Kombinatsdirek- nale Beziehungen (MIIT) und seine deutschen Absol- tors und Stahlmanagers Karl Döring gestoßen, der vent*innen. im Jahr 1955 sein Studium in Moskau aufnahm. Das Eine systematische Aufarbeitung der Lebenswege Buch schildert sehr anschaulich den Studienalltag, und des Einflusses auf das heutige Russlandbild, den Beginn von Dörings Tätigkeit in der DDR und vor Kooperationsbeziehungen etc. durch DDR-soziali- allem die von ihm gepflegten Kontakte zu ehemaligen sierte Absolvent*innen sowjetischer ziviler Hoch- sowjetischen Kommiliton*innen – vor und nach der schuleinrichtungen bieten bisher lediglich zwei «Wende». Wir hoffen, dass unsere Studie Leser*innen Publikationen: «Ich studierte in Freundesland», eine dazu anregt, uns Hinweise auf weitere veröffentlichte Dokumentation aus dem Jahr 1977 im Auftrag des Biografien zu geben, oder andere Absolvent*innen DDR-Ministeriums für Hoch- und Fachschulwesen, dazu ermutigt, ihre Erfahrungen aufzuschreiben.11 und «Arbeit hat bittre Wurzel … aber süße Frucht» Bis heute fehlen genaue Angaben zur Anzahl der (2010) von Gerd Kaiser. Beide Publikationen stützen DDR-Absolvent*innen sowjetischer ziviler Hoch- sich im Wesentlichen auf die Studentengeneratio- schulen, zu ihren Studienorten und Fachrichtungen,12 nen der 1950er und 1960er Jahre. Während erstge- noch seltener sind Informationen zu ihren späteren nannte Dokumentation vor allem Erfahrungsberichte Lebenswegen und dazu, ob sie nach ihrer Rückkehr der Absolvent*innen enthält, geht Gerd Kaiser auch weiter Kontakte und Kooperationsbeziehungen zu auf die Entstehung des Auslandsstudiums, die Vorbe- Partnern in der UdSSR bzw. Russland unterhielten. reitung dieser Absolventenjahrgänge in der DDR, die Dieses spezifische DDR-Erbe der engen Verbun- Situation an den Hochschulen in diesen Jahren und denheit mit universitären Einrichtungen in der ehe- die weitere berufliche Entwicklung dieser Kohorte maligen Sowjetunion ist zwar heute noch in den ein. Jüngere Jahrgänge fehlen jedoch auch in dieser deutsch-russischen Hochschulbeziehungen zu spü- Analyse. Um Biografien einzelner Absolvent*innen ren, jedoch bisher nicht systematisch erfasst und aus- ausfindig zu machen, hätte es des systematischen gewertet worden. ANMERKUNGEN ZUM METHODISCHEN VORGEHEN Die Autorinnen haben die Interviewpartner*innen auf Mit einigen der so rekrutierten Personen führten unterschiedlichem Wege rekrutiert. Sowohl über die wir vertiefende qualitative Interviews. Dabei haben Website der Rosa-Luxemburg-Stiftung als auch über wir versucht, sowohl verschiedene Studienorte und diverse Zeitungen wurde über das Projekt informiert -richtungen zu berücksichtigen und auf ein ausge- und zur Teilnahme an der Studie aufgerufen. Gleich- wogenes Geschlechterverhältnis zu achten. Da keine falls genutzt wurde die persönliche Ansprache auf Übersicht zu allen DDR-Student*innen vorliegt, die Veranstaltungen, bei denen mit einer erhöhten Teil- in der Sowjetunion an einer Hochschule waren, kön- nahme von Personen zu rechnen war, die als ehema- nen wir keine Aussage darüber treffen, inwieweit lige DDR-Bürger*innen in der Sowjetunion studiert die von uns vorgenommene Auswahl repräsentativ hatten. Diesen Personen wurde ein Kurzfragebogen für die Gesamtheit der damaligen Absolvent*innen zugesandt bzw. ausgehändigt, in dem Grundinfor- ist. Da wir den Befragten Anonymität zugesichert mationen zum Studium und zu den anschließenden haben, werden sie nur mit dem Anfangsbuchstaben Berufswegen erhoben wurden und nach der Bereit- ihres Studienortes13 und der Jahreszahl des Beginns schaft für ein persönliches Interview gefragt wurde. ihres Studiums (1974 = 74) zitiert. Personen mit iden- Insgesamt wurden uns 40 ausgefüllte Fragebögen tischem Studienort und identischen Studienzeiten zurückgeschickt. Teilweise erhielten diese Fragebö- haben wir mithilfe einer in Klammern gesetzten Num- gen schon ausführlichere schriftliche Erläuterungen, mer voneinander unterschieden. Einschätzungen und Erfahrungsberichte, die in die Die vorliegende Studie ist, wie bereits erwähnt, explo- Auswertung mit eingeflossen sind. rativ angelegt. Sie erlaubt allein schon aufgrund der 11 Literarisch verarbeitet haben ihr Studium in der Sowjetunion u. a. Jens Sparschuh in dem Roman «Schwarze Dame», Edgar Günther-Schellheimer in «Aller Anfang ist schwer», Iris Gusner in «Start in Moskau» und Petra Welitschkin in «An Russland kann man nichts als glauben …». 12 Gelegentlich ist von etwa 18.000 die Rede, u. a. bei Hagena (1988: 33, Anm. 8), jedoch ohne weitere Belege. 13 Siehe hierzu das Abkürzungsverzeichnis zu den Studienorten im Anhang. 6
begrenzten Datenbasis keine Verallgemeinerungen, größeren Zahl an Interviews könnten auch Kohorten- sondern zeigt eher Tendenzen auf bzw. liefert interes- unterschiede analysiert werden. Die geführten Inter- sante Einblicke und Fragestellungen, die in weiteren views enthalten erste Hinweise darauf, dass solche vertiefenden Untersuchungen komplettiert und gege- existieren, sie bedürfen allerdings weiterer empiri- benenfalls auch kontrastiert werden sollten. Mit einer scher Untermauerung. ERGEBNISSE DER BEFRAGUNG ZU ENTSCHEIDUNG UND VERLAUF Befragungen nur einmal. Anscheinend empfanden DES STUDIUMS jüngere Generationen von Auslandsstudent*innen ihre Auswahl seltener als Würdigung ihrer Leistung Eine erste Frage an die Teilnehmenden war, wie sie bzw. einer herausragenden staatsbürgerlichen Hal- in der DDR von der Möglichkeit des Auslandsstudi- tung. Manche gaben als zusätzliche Motivation an, ums erfahren hatten. Schon hier zeigten sich große im Falle eines Auslandsstudiums «nicht drei Jahre zur Unterschiede bzw. ein breites Spektrum an Optionen. NVA zu müssen». Andere sahen in dem Studium in Während die Schulen einiger Orte aktiv für ein Stu- der Sowjetunion die Möglichkeit, zu «einer Art Wie- dium im sozialistischen Ausland und insbesondere in dergutmachung bzw. Freundschaft zwischen den der Sowjetunion warben, berichteten andere Teilneh- beiden Völkern beitragen zu können» (so u. a. die Teil- mer*innen, dass sie sich Informationen darüber müh- nehmerinnen M 77 [2] und L 74 [5]). sam selbst suchen und um ihre Aufnahme an der ABF Bei der Bewertung des Studiums selbst fällt eine in Halle und Zulassung zum Auslandsstudium kämp- gravierende Differenz zwischen Fremd- und Eigen- fen mussten. Bei anderen wiederum hatten schon wahrnehmung auf. Während die Absolvent*innen die Eltern in der Sowjetunion studiert, entsprechend ihr Studium ausnahmslos als sehr hochwertig ein- wurden sie von diesen «gelenkt». Dies war dann in schätzten und es als «breiter [angelegt] als in der gewisser Weise schon eine zweite Generation von DDR» und weltanschaulich offen beschrieben (damit Auslandsstudent*innen in einer Familie. ist gemeint, dass unterschiedliche wissenschaftliche Auch die Motive für ein Studium in der Sowjetunion Schulen und Ansätze vorkamen), bewerteten die Mit- variierten. Sie reichten von dem Wunsch nach einem arbeiter*innen und Leiter*innen der späteren Arbeits- «Auslandsstudium – egal wo» über das Interesse kollektive dies wohl häufig anders. Diese Gering- am Land bzw. die Wahl eines Studienfaches, das es schätzung sei vor allem – aber nicht nur – in den damals nur in der Sowjetunion gab bzw. wo diese ersten Arbeitsverhältnissen zu spüren gewesen (die «weltweit führend war» bzw. die inhaltlichen Stu- nicht frei gewählt waren, sondern durch die Studien- dienangebote breiter als in der DDR, bis hin zu dem abteilung des Ministeriums für Hoch- und Fachschul- Bestreben «Hauptsache weg» aus der DDR, dem wesen in einem sogenannten Lenkungsgespräch in Dorf oder dem Elternhaus. Einige der Befragten, spe- der Regel bereits nach dem zweiten Studienjahr fest- ziell aus medizinischen Fachrichtungen, gaben an, gelegt wurden). Der Eindruck, aufgrund des Studi- dass sie in der DDR keinen Studienplatz in dem von ums in der Sowjetunion nicht gut angesehen zu sein, ihnen gewünschten Fach erhalten und sich daher für schwächte sich häufig im Laufe der Berufstätigkeit ein Auslandsstudium entschieden hatten, um ihre ab, war jedoch stets latent vorhanden und verstärkte «Wunschstudienrichtung» realisieren zu können. sich teilweise im späteren Erwerbsverlauf noch, weil Entsprechend war man auch bereit, die «Vorschläge» etwa bei Beförderungen die Hochschulkarrieren zu akzeptieren, die das Ergebnis von sogenannten durchaus eine Rolle spielten. Lenkungsgesprächen in der 11. Klasse an der ABF Nach 1989 erwies sich das Studium in der Sowjet in Halle waren. Oftmals erfuhren die Student*innen union für einen Teil der Absolvent*innen als Vorteil erst kurz vor der Entsendung ihren neuen Studien- bei der Arbeitssuche. Interessanterweise wird mehr- ort. Die in den Selbstdarstellungen im Buch «Ich stu- fach in den Interviews erwähnt, dass dieses eher dierte in Freundesland» häufig auftauchende Formu- von Westdeutschen als von Ostdeutschen als posi- lierung «Es war für mich eine Ehre, ausgewählt und tiv wahrgenommen wurde.14 Die in der Sowjetunion delegiert worden zu sein» begegnete uns in unseren erworbenen Sprachkenntnisse kamen vor allem den- 14 Westdeutsche nahmen ein Studium in der Sowjetunion und die russische Sprache vielfach als etwas sehr Exotisches wahr, weshalb den Absolvent*innen einer sowjetischen Hochschule oftmals besondere Kompetenzen zugeschrieben wurden. 7
jenigen Personen zugute, die sich nach der «Wende» onen in der DDR, die durch das Auslandsstudium erwerbsmäßig hatten vollständig umorientieren müs- überwunden werden konnte. sen und nun in Beratungs- bzw. Betreuungsberufen – Die Qualität der Ausbildung. Für einige Fachrich- arbeiteten, wo sie häufig mit russischsprachiger Kli- tungen wurde explizit betont, dass man «so eine entel zu tun hatten. gute Ausbildung in der DDR nicht bekommen Keine/r der Befragten hat sich dahingehend geäu- hätte» (z. B. Teilnehmerin M 77[2]). Gerade die ßert, dass sie ihre Entscheidung für ein bestimmtes gesellschaftswissenschaftlichen Studienfächer Studienfach und -land jemals bereut hätten. Lediglich hätten sich durch einen deutlich breiteren Kanon einer der Befragten sprach von Versuchen, während ausgezeichnet. Teilnehmerin L 76 (2) etwa berich- des Studiums die Fachrichtung zu wechseln. Wenige tete, dass sie für den (vergleichbaren) Diplomab- waren unzufrieden mit ihrem Studienort, etwa weil schluss in der DDR nur etwa die Hälfte der in der dieser nicht zentral in der Sowjetunion lag. Teilweise Sowjetunion abgelegten Prüfungen benötigt habe. kam es aus persönlichen Gründen zu einem Orts- – Die intensive Kooperation und Diskussion mit Kom- wechsel während des Auslandsstudiums. Eine posi- militon*innen aus verschiedenen Ländern. Perso- tive Einstellung gegenüber der Studienentscheidung nen, die aus unterschiedlichen Gründen ihr Stu- zeigten auch diejenigen, die «das in Literatur und Film dium in der DDR fortsetzen mussten, haben diesen übermittelte Bild» von der Sowjetunion selbst prü- Austausch dort vermisst. fen wollten bzw. deren «Weltbild» vor Ort zunächst – Die Erlangung einer breiteren Lebenserfahrung zusammengebrochen war, weil Vorstellung und Rea- und der Erwerb von Fähigkeiten zur Überwindung lität zu weit auseinanderlagen. von Schwierigkeiten, das heißt die Aneignung von Vielfach wurde als Motiv für das Auslandsstudium Problemlösungs- und sozialer Kompetenz. «Pro auch der Wunsch angegeben, «Land und Leute» bzw. bleme sind dazu da, dass du sie löst, sonst löst sie eine andere Kultur kennenzulernen. Durch Reisen im keiner», so Teilnehmerin R 74 (1), während Teilneh- Land, die Teilnahme an internationalen Baubrigaden, merin O 71 (1) betonte: «Schwierigkeiten haben Gespräche mit Kommiliton*innen aus anderen Sow- mich nie aus der Bahn geworfen.» jetrepubliken usw. konnte dies zu einem sehr großen – Das Kennenlernen von und die Befähigung zum Teil auch realisiert werden. Eine Frau, die in Leningrad Umgang mit anderen Kulturen (interkulturelle Kom- studiert hatte, wandte jedoch realistischerweise ein, petenz), Fähigkeiten, die in der heutigen Welt mehr «dass wir im Studium kein Bild von der SU bekom- denn je gebraucht werden. men haben, sondern wir haben eine weltoffene, kul- – D ie Offenheit Anderem (Fremdem) gegenüber, turell geprägte, wunderschöne Stadt kennengelernt. basierend auf der Erfahrung, dass dies zur Erweite- Wir haben nicht die SU mit allen ihren Facetten und rung des eigenen Horizonts beiträgt. ihren vorhandenen Problemen kennengelernt, son- – Weiterbestehende Kontakte zu ehemaligen Kom- dern nur einen Ausschnitt.» (L 74 [6]). militon*innen bzw. zu anderen Personen oder Insti- tutionen im Studienland. – Ein mehr oder minder ausgeprägtes Interesse an ALS POSITIV WAHRGENOMMENE der Sowjetunion bzw. an Russland (oder anderen AUSWIRKUNGEN DES STUDIUMS Unionsrepubliken). Die Befragten berichteten jedoch nicht nur über die Als lebenslange positive Wirkungen des Studiums in Vorteile bzw. den Nutzen ihres Studiums in der Sowje- der Sowjetunion wurden in den Interviews folgende tunion, sondern auch über erlebte Nachteile – sowohl Punkte hervorgehoben: in der DDR als auch nach der «Wende». – Die intensive Beschäftigung mit mindestens einer, teilweise zwei Fremdsprachen. – Der Zugang zu unterschiedlichen Wissenschafts ALS NACHTEILIG ERLEBTE ASPEKTE traditionen; dadurch Schulung der Fähigkeit, sich DES AUSLANDSSTUDIUMS eine eigene Meinung zu bilden und auch gegen Widerstände zu vertreten; insbesondere auch die Als nachteilig wurde empfunden, Befähigung, gesellschaftliche Entwicklungen und – dass bestimmte Entwicklungen in der DDR aus Hintergründe in Urteile und Entscheidungen ein- der Ferne nicht mitverfolgt werden konnten. Dies zubeziehen. Einige Male wurde darauf hingewie- betraf sowohl kulturelle Entwicklungen als auch die sen, dass es in der DDR im Gegensatz dazu häufig in bestimmten Zeitabschnitten stattgefundenen darum gegangen sei, «was die Partei dazu sagt», hochschulinternen Diskussionen und Auseinander- und nicht um Fachexpertise. Einmal fiel auch der setzungen. Begriff «geistige Enge» in Bezug auf die Diskussi- 8
– Dass die während des Studiums geborenen Kin- (Studium am Institut für Internationale Beziehungen der15 in der DDR bleiben mussten (hier gab es wohl in Moskau von 1955 bis 1961, danach Tätigkeit im auch Ausnahmen, wie uns zwei der Befragten Außenministerium der DDR und Diplomat, nach der bestätigten). «Wende» nach eigenen Aussagen «Rausschmiss», – Dass man teilweise seitens der Vorgesetzten bzw. diverse Weiterbildungskurse des Arbeitsamtes, dann Kolleg*innen als politisch vorbelastet bzw. unzu- Rentner) verlässig wahrgenommen wurde – im Sinne von «Das muss ich mal kritisch sagen, als wir aus Moskau «nicht auf DDR-Linie» bzw. von den Ideen Gorbat- kamen, wie es in anderen Einrichtungen war, weiß ich schows, Perestroika und Glasnost, geprägt.16 Dies nicht, waren wir nicht die gesuchtesten Leute.» betraf keineswegs nur gesellschaftswissenschaft- I: Warum nicht? liche Fächer Studierende, sondern auch Absol- A: «Weil wir in Moskau studiert hatten.» vent*innen naturwissenschaftlicher Fächer, so zum I: War das gefährlich? Beispiel Teilnehmer L 74 (2) und L 80 (2). A: «Das war nicht gefährlich. Aber an diesem Institut – Dass nach 1989 im vereinten Deutschland (mehr- herrschte ein total anderer Geist als in der DDR über- heitlich) die Studienabschlüsse nicht anerkannt haupt. Was man an Vielfalt der Meinungen, Diskus- wurden (interessanterweise teilweise sogar im sionen und – sagen wir – Streitdebatten an diesem Fach Slawistik). Institut erlebte, das hat man in der DDR nie erlebt. Da – Dass nach der «Wende» die in einem ehemals so waren Professoren, Dozenten, Studenten, die disku- zialistischen Land gesammelten Auslandserfahrun- tierten über alles.» gen ebenso wie dort veröffentlichte Publikationen Teilnehmerin M 82 (1) erinnert sich: für die wissenschaftliche Karriere nicht zählten. (Studium am Institut für Internationale Beziehungen – Dass manchmal die fachliche Kompetenz generell in Moskau von 1882 bis 1988, danach wissenschaftli- angezweifelt wurde. So berichtete Teilnehmerin M che Assistentin an der Humboldt-Universität zu Berlin, 77 (2), sie sei zu DDR-Zeiten an der Humboldt-Uni- nach der «Wende» Zeitverträge, arbeitslos, selbststän- versität zu Berlin mit den Worten empfangen wor- dige Tätigkeit als Übersetzerin, jetzt für eine politische den: «Versucht haben es hier schon viele, geschafft Stiftung tätig) hat es keiner.» Im Sinne der oben erwähnten wäh- «Wir sind aus dem Studium entlassen worden, also rend des Auslandsstudiums angeeigneten Befä- für unseren Absolventenjahrgang gab’s einen Emp- higung, mit Konflikten umzugehen, habe sie dies fang durch den Botschafter. Da hat ein Vertreter jedoch zusätzlich angespornt. Ähnliches berichtete unserer Studierendengruppe sich bedankt für die Teilnehmer Kr 76 (1): «Nach der Rückkehr in die Unterstützung durch die Botschaft; dass wir doch DDR begegneten mir bei fast allen Dozenten Vor- in den Jahren unseres Studiums sehr viel gesehen urteile, eine vorgefasste Meinung, dass das Stu- haben, wie eine Gesellschaft versucht, sich neu zu dium in der UdSSR nicht viel wert wäre. Man war gestalten, sprich Perestroika-Erfahrung, und dass wir nicht oder kaum an meinen Forschungsergebnis- bereit wären, diese Erfahrung mit einzubringen in das sen interessiert.» Teilnehmerin L 77 (4) erinnert sich Umfeld unserer künftigen Arbeit wieder zu Hause, an folgende Aussage ihres Doktorvaters von der also in der DDR. Und da ist gesagt worden, das soll- Leipziger Karl-Marx-Universität «Wir mögen keine ten wir doch genau überlegen. Da kam dann das SU-Absolventen. Die können nichts. Wir müssen berühmte Wort von Kurt Hager: ‹Wenn der Nachbar sie aber nehmen.» tapeziert, müssen wir nicht auch tapezieren.› Also das Dieses Misstrauen erstreckte sich auch auf die am war nicht unbedingt willkommen.» Moskauer Institut für Internationale Beziehungen aus- Selbst die sehr guten Sprachkenntnisse führten teil- gebildeten Diplomat*innen. Dies ist insofern bemer- weise zum Mobbing durch Kolleg*innen und Vorge- kenswert, als in der DDR offiziell stets betont wurde, setzte. dass nur die besten Kader in der Sowjetunion studie- Nach der «Wende», so berichteten einige Teilneh- ren durften und die Absolvent*innen einer sowjeti- mer*innen, galt ihr Studium in der Sowjetunion bei schen Hochschule für eine politische Karriere in der ostdeutschen Arbeitgebern eher als nachteilig, «Wes- DDR prädestiniert seien. Dieser Widerspruch konnte sis waren da lockerer» (so Teilnehmer L 77 [3]). im Rahmen der Studie nicht aufgelöst werden. Teilweise wurde vermutet, dass in den neuen Bundes- So berichtete ein Teilnehmer (M55 [1]): ländern Bewerbungen aufgrund des Studiums in der Sowjetunion gar nicht erst berücksichtigt wurden. 15 Nur wenige, die in der Sowjetunion studierten, sind während des Studiums Eltern geworden. Grundsätzlich wurde von staatlicher Seite angestrebt, dass die im Ausland Studierenden erst nach Ende des Studiums Kinder bekommen sollten. Dies wurde von einigen als Nachteil gegenüber denjenigen empfunden, die in der DDR studierten, weil dort studierende Eltern von staatlicher Seite stark unterstützt wurden, u. a. über die Bereitstellung von Wohnheim- und Kinderbetreuungsplätzen. 16 Auch in den Zeiten vor Gorbatschow und Perestroika war die offenere Diskussion an sowjetischen Hochschulen auffällig und für Arbeitskolleg*innen in der DDR oftmals irritierend. 9
EINIGE BIOGRAFISCHE REMINISZENZEN17 Im Folgenden werden ausgewählte Erzählungen aus Anfang vom Studienschock gesprochen und waren den Interviews wiedergegeben. Es handelt sich dabei dann geschockt, dass der große Bruder so arm war.» um besonders aussagekräftige Passagen, die den Arm in welcher Hinsicht? Grundtenor der Interviews und in gewisser Weise «Also die Geschäfte waren leer im Vergleich zur DDR. etwas Typisches widerspiegeln. Trotz unterschiedli- Textilien kaum. Der Fleischer hatte einmal in der cher Wortwahl stehen sie für ähnliche Wahrnehmun- Woche etwas. Und da waren wir gut dran.» gen, Haltungen, Erfahrungen, die den Studienaufent- Und gab es Dinge, die dich total überrascht haben, halt als auch den späteren beruflichen Werdegang einfach deshalb, weil es total anders war, als du es dir betreffen. vorgestellt hattest? «Nee, wir hatten am Anfang einfach nur diesen Schock, die Armut und der Schmutz. Und dass die ERWARTUNGSHALTUNG IN BEZUG Sprache, die wir an der ABF gelernt hatten, bei Wei- AUF DAS AUSLANDSSTUDIUM UND tem nicht ausreichte.» DAS «GASTLAND» Auf die Frage «Wenn du so an das Studium zurück- denkst – was würdest du sagen, war deine schönste «Dass es materiell jetzt kein Zuckerschlecken wird, Erinnerung?» antwortete dieselbe Teilnehmerin das wusste ich. Über die schlechte Versorgung in M 74 (1) zunächst mit Bezug auf ihre Zeit an der ABF: der Sowjetunion hatte man ja schon gehört. Dass ich «Schönste Erinnerung? Das war nicht die Schule, das dann aber in Leningrad am ersten Tag meines Stu- war ein sehr schönes Jahr für mich, weil ich erstmalig diums in ein Wohnheimzimmer kommen würde, in in einer Gemeinschaft gewesen bin, wo alle ähnliche dem überhaupt keine Möbel stehen, wo gar nichts Vorstellungen von der Zukunft hatten und auch in der ist, nicht mal ein Bett, das allerdings hatte ich so nicht Freizeit viel zusammen gemacht haben, obwohl jeder befürchtet. […] Das mir zugewiesene Zimmer war auch individuell war. Aber es gab weder Feindschaf- leer, vollkommen leer. Geheult habe ich nicht, aber ten noch irgendwelche Böswilligkeiten, sondern wir irgendwie nahe dran war ich schon. Und dann ging hatten alle ein Ziel, und wir haben gemeinsam für die- ich wieder raus. […] Da kam mir […] ein russischer ses Ziel gelebt und gearbeitet.» Student entgegen und sagte zu mir: ‹Bist du neu hier, Dann folgt zum Studium: «Oh, das ist schwer. Es war bist du gerade angekommen?› Ich sagte: ‹Ja. Hier a) die Freiheit, b) dieses Selbstbestimmte. Wir waren sind keine Möbel.› Und er antwortete: ‹Trink erst mal ja nur wenige bei uns am Institut, und entsprechend ’nen Schluck›, und gab mir ein Glas Samogon.18 Also hatten wir kaum größere Kontrollen.» schon Samogon, nicht Wodka. Ich trank den, wusste Frage: Freiheit ist ja ein großes Wort. Freiheit wovon natürlich gar nicht, wie man da atmet, und schnappte oder wofür? gehörig nach Luft. Und dann hat mich dieser Student «Einfach frei zu entscheiden, zu welcher Veranstal- ‹eingewiesen›: Dass man Möbel einfach auf den Kor- tung [wir gehen wollten], also neben dem Studium. ridoren ‹findet›. Das Wort ‹Klauen› kannte ich da auf Studium war klar, das war Pflicht. Aber dann gab es Russisch noch nicht.» ja so wahnsinnig viele Veranstaltungen in Moskau, (L 77 [4]: Studium der Philosophie von 1977 bis 1982 Vorträge, zu denen man gehen konnte. Oder auch in Leningrad, dann Arbeit als Lehrkraft an einer Uni- unterschiedliche Nationalitäten, die man ja so bei uns versität, nach der «Wende» befristete Verträge, teil- bisher gar nicht gekannt hatte. Also schon alleine die weise arbeitslos, dann Professur) Sowjetunion, durch diese vielen Nationalitäten hatten Dieselbe Interviewperson räumte ein: «Die rosarote wir doch unheimlich viel Einblick in ganz andere Kul- Brille ist mir ziemlich schnell von der Nase gefallen; turen, was es bei uns überhaupt nicht gab. Und die- Dinge, die wir aus der DDR kannten, waren dort ses miteinander leben, das war für mich schon was anders.» Tolles.» Auf die Frage «Hattest du vorher eine Vorstellung, (M 74 [1]: Studium an der pädagogischen Hochschule was dich dort erwartet?» antwortete eine andere W.I. Lenin in Moskau, nach dem Studium durchgän- ehemalige Studentin: «Nein. Wir kannten die Sowjet gig Arbeit an Universitäten der DDR und BRD) union aus dem ‹Neuen Deutschland›. Wir haben am 17 Die Autorinnen haben sich für diese lesefreundliche Form der Darstellung entschieden, da sie unserer Einschätzung nach deutlicher als biografische Erzählungen die Besonderheiten dieses Studiums und seiner Auswirkungen auf den Lebenslauf zum Ausdruck bringt. 18 Selbstgebrannter Schnaps. 10
PRAKTIKUM BZW. BEWERTUNG ANERKENNUNG VON STUDIEN DER DEUTSCHEN STUDENT*INNEN LEISTUNGEN DURCH IHRE KOMMILITON*INNEN (L 76 [2]: Studium der Philosophie von 1976 bis 1981 «Was ich sehr genossen habe und mir großen Spaß in Leningrad, danach Lehrkraft an einer Bezirks- machte, war das soziologische Praktikum. Es fand am parteischule der SED, nach der «Wende» in der PDS Institut für Soziologische Forschungen statt, einem, bzw. in der Partei DIE LINKE tätig) so würde man heute wohl sagen, An-Institut der Wie, würdest du heute einschätzen, waren die Unter- Leningrader Universität.» schiede zwischen dem Studium in Leningrad und Was habt ihr da gemacht? dann in Leipzig? «Jeder bekam dort ein eigenes kleines soziologisches «Da habe ich ein ganz einfaches Bild. Ich war da so Projekt. Besser gesagt, man hat es selbst ausgesucht, geschockt, dass sich das für alle Zeiten eingeprägt dann konzipiert, und dabei wurde man beraten. Mich hat. Ich habe für meinen Abschluss in Leipzig tat- hatte schon immer das Zusammenleben unterschied- sächlich nur etwa die Hälfte der Fächer, die ich in licher Kulturen interessiert. Wir nannten das damals Leningrad abgeschlossen habe, gebraucht. Die sind ‹Nationalitäten›. Und ich fand, das eigene Wohnheim dann auf dem Zeugnis erschienen. Und was wir sei ein guter Ort, das zu erforschen. Und so entwarf alles gemacht haben: wissenschaftliche Bibelkritik, ich einen Fragebogen, den ich dann im Wohnheim Statistik, Psychologie, Sozialpsychologie u. a. Das nach einem bestimmten Prinzip verteilte, an die Ver- Einzige, was ich praktisch noch dazulernen musste treter der in ihm am meisten vertretenen Nationalitä- in diesem Rahmen, war ‹Geschichte der deutschen ten. An die einzelnen Fragen kann ich mich nicht mehr Arbeiterbewegung›. Und ich habe die Diplomarbeit so recht erinnern, nur an eine. Heute würde man sie geschrieben. Ich musste dann tatsächlich eine Rus- mit Recht als politisch völlig inkorrekt bezeichnen. sischprüfung machen – weil das vierjährige Studium Doch damals kannten wir noch nicht einmal die- in Leningrad offenbar nicht ausreichte. Die Russisch- sen Begriff. Kurz gesagt, die Frage lautete: ‹Mit wel- prüfung war echt lustig.» chen Nationalitäten würdest du am wenigsten gern Inwiefern? in einem Wohnheimzimmer wohnen?› Ich weiß: So «Man hat mir vorgeworfen, ich hätte zu schnell eine Frage dürfte man heute gar nicht mehr stellen. gesprochen. Man hätte nicht erkannt, ob die Endun- Dennoch war die Antwort für mich damals interes- gen richtig waren.» sant. Denn: An zweiter Stelle wurden die Deutschen genannt.» Wer kam an erster Stelle? FACHLICHE WERTUNGEN DES STUDIUMS «Afrikaner.» Und gab es Begründungen, warum die Deutschen? (L 76 [3]: Studium der Philosophie von 1976 bis 1981 «Ja, natürlich. Sie wurden als unhöflich (zu direkt) in Leningrad, danach Tätigkeit in einem Forschungs- und geizig beschrieben, als anderen Nationalitäten institut, nach der «Wende» Umschulung und Arbeit in wenig zugewandt, als ‹Streber› und als, den Begriff verschiedenen Unternehmen und Stiftungen) haben sie nicht verwandt, aber ich sage einmal: ‹in «Ich meine, das ist ja auch was, wenn man da Rus- sich verklumpt›. Man hatte anscheinend den Ein- sisch kann und damit was anfangen kann. So. Damit druck, dass die Deutschen am liebsten für sich blie- bin ich nach der Wende eingestiegen. Einfach nur, ben. Mangelndes Russisch könnte ein Grund dafür weil ich Russisch konnte […] Ich bin ja fast noch im gewesen sein. Natürlich, ich könnte euch auch sofort Fach. Und die Wessis, die waren immer überrascht, Gegenbeispiele nennen. Aber so war das Fremdbild. was wir alles gelernt haben. Und ich würde sagen, für Meine russischen Freunde haben sich zum Beispiel unser Studium, das war tausendmal besser, in Russ- immer fast totgelacht über den Versammlungseifer land zu studieren als in der DDR. In der DDR hättest der Deutschen. Fragte jemand von den Russen einen du nur Honecker aufsagen dürfen […] Und dort konn- anderen auf dem Korridor: ‹Hey, wo ist denn […]? Es ten wir lesen, was wir wollten, da in der Bibliothek der folgte ein deutscher Name. Und als Antwort kam: Akademii Nauk,19 da haben wir sonst was lesen kön- ‹Das kannst du dir doch denken: Die haben mal wie- nen. Die haben alle neidisch auf uns geguckt […] Ich der Versammlung!› Und dann lachten beide, ziemlich habe das sogar ganz direkt erfahren können. Ich bin ironisch.» (L 77 [4]) ja ans Forschungsinstitut gekommen. Und das For- schungsinstitut war das Basis-Institut für Ost-West. Und da war eine EU-Bibliothek. Und das war die ein- zige EU-Bibliothek, mit Dokumenten und allem. Und 19 Akademie der Wissenschaften. 11
dahin musste man, wenn man irgendwelche Sachen Samarkand liegt auf ca. 600m Höhe, sodass es tags- schreiben wollte, weil man Rezensionen schreiben über im Sommer heiß ist, die Nächte aber kalt sind. musste, das gehörte zur Arbeit. In der Bibliothek Geregnet hat es in den elf Wochen nicht. Die Bewäs- konnte man also Westliteratur lesen. Und ich weiß serung erfolgt über den Fluss Serafschan, der aus noch, da gab mir mein damaliger Chef irgendein dem Gebirge kommt und dann in der Halbwüste hin- Buch, und ich sagte, das kenne ich schon. Und er ter Samarkand versickert. Wichtig waren für mich sagte, das können Sie nicht kennen. Ich weiß nicht sowohl die Kontakte mit den Moskauer Kommilito- mehr, was das war, ich glaube es war Max Weber, nen, die meist nicht aus Moskau waren und wie ich und er sagte: ‹Sie müssen sich da mal einen Über- wegen der zu verdienenden Rubel gekommen waren, blick verschaffen.› ‹Kenn ich schon.› ‹Das können Sie als auch vielfältige Kontakte zur einheimischen nicht kennen. Das darf hier […] das wird in der DDR Bevölkerung. Dazu gehörten auch Kontakte mit dem nicht verlegt.› Ich habe das in Leningrad gelesen, im Flughafenpersonal und Piloten, eine Busfahrt nach Studium. Und das wurde bei uns [d.h. in der DDR; Buchara vorbei an der supermodernen geschlosse- V. S.-L.] im Giftschrank eingeschlossen.» nen Stadt Navoi (Uranaufbereitung). ‹Wilde› nicht Analog berichtet Teilnehmer M 65 (1): «In Moskau offiziell organisierte Ausflüge mit örtlichen Bussen wurden bereits zur Studienzeit, aber auch bis heute aus den 1940er Jahren ins naheliegende Gebirge, neben den sehr guten technischen Büchern auch in die umliegenden Dörfer an den freien Sonntagen. Übersetzungen oder speziell englischsprachige Gearbeitet wurde zehn Stunden mit einer zweistün- Werke führender westlicher Autoren zum Kauf ange- digen Mittagspause. Wegen der feinsandigen Wege boten. Ich hatte drei Semester fakultativ Englischun- waren die gut dran, die Stiefel hatten, wegen der Hitze terricht in einer Gruppe von fünf Studenten besucht auf dem Weg und der Möglichkeit, Schlangen totzu- und profitierte insbesondere von den sehr guten treten, die sich im Straßensand oder in kleinen mit Möglichkeiten in der Staatlichen Wissenschaft- Grundwasser gefüllten Badeteichen zur Abkühlung lich-Technischen Bücherei am Kusnezki Most unweit tummelten. Es soll dort auch Kobras geben. Gesehen vom ZUM-Kaufhaus im Zentrum. Mit einer direkten haben wir jedoch keine. Umso mehr Kolchosniki bei Busverbindung zu unserem Wohnheim in der Nähe der Heuernte, wenn sie auf Eseln bepackt mit einer des Weißrussischen Bahnhofs.» riesigen Heulast an unserem Lager vorbeiritten. In der gesamten Zeit des Einsatzes regnete es nicht einmal. Wegen des Grundwassers vom benachbarten Seraf- ERLEBNISSE WÄHREND DES STUDIUMS schan-Fluss gediehen sowohl Baumwolle, Mais und Wassermelonen prächtig. (M 65 [1]: 1965 bis 1979 Studium in Moskau an der Hin- und Rückflug erfolgten mit einer IL-18, die täglich Hochschule für Eisenbahnverkehrswesen, danach einmal auf der Route Moskau–Samarkand und zurück Tätigkeit als Laborassistent bei Carl-Zeiss-Jena, nach unterwegs war. Das Entgelt für die knapp drei Monate der «Wende» Arbeit in internationalen Konzernen, teil- betrug bei mir netto 250 Rubel. Hin- und Rückflug, weise selbstständig, auch als Consultant bzw. Vertre- Speisen und Getränke sowie die Unterbringung im ter eines internationalen Konzerns im Projektgeschäft Zelt und Arbeitsgeräte waren kostenlos. mit russischen Regierungsunternehmen) Als wir am 20. August wieder in Moskau ankamen, «Nachhaltige Erfahrungen machte ich in Sibirien auf begann gerade der Einmarsch der Truppen des der Bahnfahrt von Irkutsk über Taischet nach Bratsk, Warschauer Vertrages in der ČSSR. Wir hatten in als es an ehemaligen an der Strecke liegenden Lagern Usbekistan von den Spannungen gehört. Insbeson- vorbeiging sowie am Bratsker Stausee und am Kraft- dere die gemeinsame Tagung der sowjetischen und werk, das wenige Jahre vorher in Betrieb genommen tschechoslowakischen Politbüros in Čierna nad Tisou, worden war. Ein Ausflug an den Baikal-See war auch also auf slowakischem Boden, wurde in der Sowjet- dabei, ebenso wie im Sommer unzählige Mücken union als ein außerordentliches Ereignis dargestellt. an der frischen Luft. In Usbekistan half ich während Stolz bin ich noch heute auf die wunderschöne bunte eines elfwöchigen Studenteneinsatzes im Zeitraum Ehrenurkunde des Samarkander Komsomol, der Juni bis August 1968 beim Bau der Infrastruktur des mich als Aktivist beim Bau des Samarkander Flug- Flugplatzes von Samarkand. Wir wohnten in großen platzes auszeichnete. Begeisternd auch speziell Ende Zelten außerhalb der Stadt zwischen dem Flugplatz August die Bauernmärkte, auf denen die örtlichen und einem Kischlak. Aus der DDR waren wir zwei Kolchosniki alles, was das Herz begehrte und die ört- DDR-Studenten aus dem MIIT sowie für vier Wochen lichen Anbaumöglichkeiten hergaben, im Überfluss ein paar DDR-Studenten der Dresdner Hochschule feilboten. für Verkehrswesen. Für die Dresdner war es ein Aus- Beeindruckend auch die mittelalterlichen Bauten vom flug, während ich wegen der Rubel, die nach der Registan-Platz und der Sternwarte des Ulug Beg, um Objektlohnarbeit zum Schluss des Einsatzes gezahlt nur zwei zu nennen.» wurden, dort war. […] 12
In einem weiteren Bericht erzählt eine Teilnehmerin: «Beispielsweise als Stalin entmachtet wurde, das «Ich hatte von früh an eine Brieffreundin in Kiew. Die war der Parteitag mit Nikita Chruschtschow. Und hatte mich ganz herzlich eingeladen und immer ver- natürlich wurde gemunkelt, und da die Russen nur sucht, alles ganz ordentlich über eine offizielle Ein- untereinander diskutiert haben, sie hätten dies und ladung zu machen, damit ich in Leningrad ein offizi- jenes erfahren, was besprochen wurde, was zu Sta- elles Visum beantragen konnte.20 Dafür musste sie lin gesagt wurde, da haben wir Sozialisten uns dann zu ihrer Dienststelle, dann auf das Wohnungsamt. zusammengetan: Eigentlich müssten wir die Füh- Und da musste sie nachweisen, wirklich, ich habe rung des Instituts bitten, uns Sozialisten sozusagen das Formular noch vor mir, dass sie zu Hause große zu informieren. Weil, das gab’s nicht. Und da ist eine Fenster hat und eine funktionierende Heizung und so Abordnung zum Rektor gegangen, das war ein harter weiter. Nur dann hätte sie mich als Ausländerin ein- Hund. Und eigentlich ohne große Hoffnung. Und da laden dürfen. Diese Annehmlichkeiten hatte sie aber hat der gesagt: ‹So. Das wollt ihr? Gut dann machen nicht. Also musste man so hinfahren. Ohne Visum. wir eine Versammlung für euch Sozialisten – wenn ihr Und dann bin ich da in Kiew krank geworden und hab alle darum bittet.› Die Tschechen waren da führend 40 Grad Fieber gekriegt. Und Ira, so hieß sie, hat einen im Drängen, was zu erfahren. ‹Gut, dann ruft die alle Schreck fürs Leben gekriegt, weil ich eigentlich ins zusammen. Dann machen wir ’ne Versammlung mit Krankenhaus gemusst hätte. Aber da musste man euch.› Mit den Genossen natürlich nur. Das waren ja den Pass zeigen und das Visum! Und sie wäre ja mit- alles Mitglieder der Partei im Prinzip. Und dann kam schuldig gewesen. Jedenfalls wäre es offensichtlich er und verlas uns die Rede von Chruschtschow. Die geworden. Und dann hat sie mir lieber eine Fahrkarte hatte nicht mal der Honecker, äh der Ulbricht, zu gekauft für den Zug zurück. Sie sagte: ‹Wir kaufen dir hören gekriegt. Das hat der gemacht. ‹Ja, die jun- eine Karte für einen Luxuszug, damit du richtig liegen gen Leute sollen mal wissen, wie’s bei uns zugeht.›» kannst. Aber bitte bleibe nicht hier.› Und da bin ich (M 55 [1]) in diesen Zug eingestiegen, und mir ging es wirklich Teilnehmerin M 82 (1) antwortet auf eine Frage, ob sie schlecht. In dem Abteil waren ein sowjetischer Flie- das Studium in der Sowjetunion irgendwie verändert geroffizier, eine Leningrader Jüdin und ein Aserbaid- habe, mit folgenden Worten: «Also ich denke schon. schaner. Sie fingen an, miteinander Durak zu spielen Es wäre wahrscheinlich kurzsichtig zu sagen, ein Stu- […] Also dieses Mau-Mau bei den Russen. Und das dium verändert prinzipiell nicht. Das ist die Zeit, in der konnte ich nicht. Und da guckten sie mich schon junge Leute heranreifen. Das ist die Basis, um mit der seltsam an. Aber ich habe mich mit denen unterhal- Welt umzugehen. Das ist eine Altersfrage. Und dann ten und sie haben nicht mitgekriegt, dass ich keine hat’s mich auch wirklich verändert, weil ich ein ganz Russin bin. Und dann fingen sie an, mir den Durak zu anderes Koordinatensystem mitbekommen habe. erklären. Und zwar mit den Worten ‹Der Daus sticht›, Und zwar in mehrfacher Hinsicht. Ich hatte durch ‹Hosen runter› oder ‹Der kommt über die Dörfer›, also die Spezialisierung ein Koordinatensystem, das noch alle diese Sprüche, die wir auch vom Skat her ken- mal über den Rahmen Sowjetunion und das Erleben nen. Das habe ich auf Russisch nicht verstanden und des gesellschaftlichen Umbruchs in der Perestroi- dann lieber die Wahrheit gesagt. Sie haben alle dicht- ka-Situation hinaus ’ne Bedeutung hatte. Ich hatte gehalten. Und der Aserbaidschaner ist dann an jeder ein extrem politisches Studium. […] Insofern war für Station ausgestiegen und hat mir bei den Mütterchen mich das Studium wirklich weltöffnend.» Himbeeren, Brombeeren und alles Mögliche gekauft. Und aus der Aktentasche holte er eine Flasche Cog- nac und goss mir ein Wasserglas voll. Danach habe BESONDERE MÖGLICHKEITEN ich mich hingelegt. Und so ging das dann an jeder DURCH DAS STUDIUM (M 65 [1]) Station. Ich habe die ganze Zeit nur geschlafen und als ich in Leningrad ankam, […] war ich gesund.» «Entscheidend für meinen weiteren Lebenslauf (L 77 (4)) waren auch zwei Ausstellungen, die 1969 und 1970 in Moskau stattfanden. 1969 war ich als Dolmetscher für Robotron bei einer internationalen Ausstellung für POLITISCHE WELTOFFENHEIT Automatisierung, auf der die neueste Errungenschaft, der Robotron R300, vorgestellt wurde, bestückt mit Dieser Punkt wurde von nahezu allen Absolvent*in- Magnetbandspeichern aus der Produktion des VEB nen betont sowohl in Bezug auf die Ausbildung als Carl Zeiss Jena. Das nutzte ich, um mich anschlie- auch in Gesprächen mit Kommiliton*innen aus ande- ßend bei Zeiss zu bewerben. Ich war dann von Ende ren Ländern sowie der Sowjetunion. August 1970 bis September 1990 in der ‹Weltfirma›. 20 Als Ausländerin brauchte man damals auch für Inlandsreisen ein Visum, das heißt eine offizielle Reiseerlaubnis. 13
Aber das ist bereits eine andere Geschichte. Offen- SCHWIERIGKEITEN UND PROBLEME sichtlich hatte ich mich gut verkauft, denn zum DURCH DAS STUDIUM BEI ARBEITS Schluss der Messe sprach mich der Dolmetscher des AUFNAHME IN DER DDR Ausstellungsdirektors des DDR-Standes an und emp- fahl mir, mich bei einem Mitarbeiter der Botschaft zu Diese ergaben sich häufig durch die Gewöhnung an melden zwecks Einsatzes im kommenden Jahr für die die offene Diskussionskultur in der Sowjetunion bzw. internationale Textilmaschinen-Messe Inlegmasch in den Seminaren an den sowjetischen Universitäten. 1970. Ich sei, wie er bemerkte, stubenrein. Dies war Eine Philosophiestudentin berichtete (L 74 [6]): dann wirklich eine andere Ebene, begonnen mit dem (Studium 1974 bis 1979 in Leningrad, danach Lehr- neuen Chef der DDR-Kollektivausstellung Dr. Elstner, kraft im marxistisch-leninistischen Grundlagenstu- der sich in den oberen Ebenen gut auskannte. dium an einer Medizinischen Akademie, nach der Mit oberen Ebenen meine ich von DDR-Generaldi- «Wende» kurz arbeitslos, dann Lehrkraft bei freien Bil- rektoren aufwärts Botschafter Dr. Horst Bittner über dungsträgern) Staatssekretäre, Minister Rudi Georgi, ZK-Mitglie- «In einem Doppelseminar zum ‹Kommunistischen der bis hin zu Politbüromitgliedern der sowjetischen Manifest› hatte ich eine Hospitation durch das Minis- Seite. Höhepunkt waren zwei Besuche von Politbü- terium für Hoch- und Fachschulwesen. Im Seminar romitgliedern, die jedes Mal auch im Pavillon von habe ich gesagt, dass im Manifest stehe, ‹die Bour- Dr. Elstner bewirtet wurden. Ministerpräsident Kos- geoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutio- sygin zum Beispiel kam mit dem Chef der Plankom- näre Rolle gespielt. Wann hat sie die verloren?› Dafür mission Baibakow und dem Ministerpräsidenten der habe ich in der Versammlung eine Rüge erhalten, weil RSFSR Solomenzow. Baibakow fragte Dr. Elstner, ob ich die revolutionäre Rolle der Bourgeoisie in den Mit- er wüsste, was DDR auf Russisch bedeutet. Elstner telpunkt des Seminars gestellt hätte.» wusste es natürlich – dawai, dawai, rabotay (los, los, Dies war nicht nur für die Geisteswissenschaften arbeiten). Pluspunkte sammelte ich, weil ich recht- typisch, sondern wurde auch von Ingenieuren berich- zeitig Radeberger Pilsner im Kühlschrank deponierte. tet. Kossygin trank in den zehn Minuten der Unterhaltung Fast anekdotisch mutet dagegen folgende Erzählung drei Flaschen mit sichtlichem Vergnügen, die ich ihm an: «Im September 1979 wurde an der Hochschule kredenzen durfte, und auf die Frage Kossygins, wie das Studienjahr mit einer großen Veranstaltung eröff- denn die DDR-Regierung die Industrieausstellungen net. Es kamen der Rektor und der Parteisekretär und in Moskau einschätze, schlug ich für Dr. Elstner die wir waren als Gäste eingeladen. Dann kam der Veran- Sonntagsausgabe des ‹Neuen Deutschland› auf, die staltungsleiter und sagte: ‹Wir begrüßen Sie, Magni- am Vortag (es war eine Sonntagsausgabe) auf einer fizenz.›. Ich kannte dieses Wort nicht und habe es zu Doppelseite über die Inlegmasch in Großaufmachung Hause im Wörterbuch nachgeschlagen. Es bedeutet berichtet hatte. ‹Seine Herrlichkeit›. Es war für mich ein Kulturschock, Höhepunkt und Abschluss der Ausstellung war ein dass Menschen mit ‹Seine Herrlichkeit› angespro- Abendessen im grusinischen Restaurant Aragvi chen wurden.» (L 74 [6]). an der Gorkistraße unweit des Rathauses, von dem Es gab jedoch auch gegenteilige Erfahrungen, das damals auch der französische Präsident de Gaulle heißt, den ehemaligen Absolvent*innen sowjetischer eine Rede vor den Moskauern hielt. Dr. Elstner war Hochschulen wurde mit einer großen Erwartungs- mit Sekretärin, Hans Mark, einem Veteranen der haltung begegnet. Eine Teilnehmerin erinnert sich: Oktoberrevolution, seinem guten Freund, dem Chef- «Na die Erwartungen waren sehr hoch. Ich kam ja redakteur der Gewerkschaftszeitung, nebst Ehe- dann gleich an die Uni und da waren eben die großen frau, und ich durfte auch meine Frau mitbringen, die Erwartungen: So jetzt kommt jemand, der erklärt uns gerade ihre Diplomarbeit erfolgreich verteidigt hatte. Wygotski21 und der erklärt uns die Sonderpädagogik. Thema war eine automatische Steuerung (Avtoma- Und die kann ja sofort die Seminare auch dazu halten. schinist) für die Moskauer Metro.» Und ich hatte aber noch nicht mal Ahnung, wie so ein Seminar überhaupt geführt wird.» (M 74[1]) 21 L.M. Wygotsky: weißrussischer Entwicklungspsychologe. 14
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