Israelisches Selbstverständnis im Wandel? - Zum Identitäten-Diskurs in Israel von Gad Arnsberg - Österreichisch ...

Die Seite wird erstellt Jolina Weber
 
WEITER LESEN
Israelisches Selbstverständnis im Wandel? - Zum Identitäten-Diskurs in Israel von Gad Arnsberg - Österreichisch ...
Zeitschrift der Österreichisch-Israelischen Gesellschaft   51. Jahrgang   Sondernummer 2019   3,–€

                                                                                                            Israelisches
                                                                                                            Selbstverständnis
                                                                                                            im Wandel?
                                                                                                            Zum Identitäten-Diskurs
                                                                                                            in Israel
                                                                                                            von
                                                                                                            Gad Arnsberg
Erscheinungsort Wien, Verlagspostamt 1080 Wien
            P.b.b. GZ02Z031415M
Israelisches Selbstverständnis im Wandel? - Zum Identitäten-Diskurs in Israel von Gad Arnsberg - Österreichisch ...
„

    Titelbild: Fotos: Protest gegen Polizeigewalt, Tel Aviv, 2015 © Activestills
                      Aus Frankreich wandern Juden nach Israel ein, 2019 © Jewish Agency

    Gedruckt nach der Richtlinie des österreichischen Umweltzeichens „Druckerzeugnisse“,   Gedruckt auf ökologischem Papier aus der Mustermappe von „ÖkoKauf Wien“.
    Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 21, Reprographie, UW-Nr 835              CO2 kompensiert produziert

2
Israelisches Selbstverständnis im Wandel? - Zum Identitäten-Diskurs in Israel von Gad Arnsberg - Österreichisch ...
Einleitung zur Sondernummer
                                                    Gad Arnsbergs Text        auf der Flucht vermehrt Juden aus Äthiopien und Jemen
                                                    „Israelisches Selbst-     ins Land. Diese Menschen, die Mizrachim, haben ur-
                                                    verständnis im Wan-       sprünglich einen anderen Hintergrund wie aschkenasi-
                                                    del? Zum Identitäten-     sche Juden, die mehrfach aus Europa, den USA oder
                                                    Diskurs in Israel“ be-    Russland stammen.
                                                    leuchtet eine Facette
                                                    der Geschichte Israels,   Bestimmt werden diese Gruppen durch ihre Kultur, den
                                                    die vielen von uns        Grad Ihrer Bildung und durch die eigene Geschichte sehr
 Susi Shaked             Hans-Jürgen                vielleicht nicht so ge-   unterschiedlicher Verfolgungen und Leiden.
 Generalsekretärin       Tempelmayr
                         Generalsekretär            läufig ist.
                                                                              Die Gesetze Israels bürgen für gleiche Rechte für alle. Gad
 Bekannt und vielfach diskutiert ist der Konflikt zwischen                     Arnsbergs Aufsatz zeigt uns aber, dass es vielfach Diskri-
 Israelis und Palästinensern. Oft und intensiv besprochen                     minierung der orientalischen Juden gab. Noch heute
 werden Probleme zwischen streng religiösen und eher                          glauben viele Nachkommen solcher Familien sich un-
 säkularen Bürgern des Landes. Doch wenig wird über                           gleich behandelt.
 jene Juden geschrieben, die in den letzten hundert Jah-
 ren von vielen anderen Teilen der Welt, vor allem aus dem                    Aus ihrer Mitte aber entwickeln manche nach Absolvie-
 vorderen Orient und Nordafrika, aber auch aus Indien                         rung höherer akademischer Ausbildung eine neue Denk-
 nach Israel eingewandert sind. Ihre vielseitige Herkunft                     weise in sozialer und künstlerischer Hinsicht gegenüber
 stellt noch in diesen Jahren in manchen Bereichen die                        jenen Schichten, die weiterhin mehr ihren kulturellen Tra-
 schwierige Frage nach der heutigen israelischen Identität.                   ditionen verhaftet bleiben.

 Gad Arnsberg macht in seinem Bericht deutlich, welche                        Israels Spitzen der Politik führen weiterhin einen Identi-
 Konflikte entstanden und entstehen, wie die politischen                       tätsdiskurs über seine Bürger; so Gad Arnsberg in diesem
 Parteien in den letzten Jahrzehnten mit diesen umge-                         Beitrag.
 gangen sind und wie sie, die Parteien, versucht haben
 diese Gruppen und deren Anliegen für sich politisch zu                                             SHANA TOVA 5780
 nutzen.

 Wir lesen in diesem hoch interessanten Artikel, dass die
 Hälfte aller heute in Israel lebenden Nachkommen von
 entweder sephardischen Juden oder aus dem Orient ein-
 gewanderten Mizrachim sind. In jüngster Zeit kommen

Bitte verwenden Sie den beiliegenden Zahlschein für Ihren Mitgliedsbeitrag! Herzlichen Dank!

                                   Werden auch Sie Mitglied der Österreichisch-Israelischen Gesellschaft!
                                                   Die Zeitschrift „schalom“ ist inkludiert!
                                        Die Freundschaft mit den Menschen in Israel ist uns wichtig!
                                          Das Formular finden Sie auf unserer Website: www.oeig.at
                                      Unterstützen Sie bitte unsere Arbeit und erwägen Sie ein Spende!

Impressum:
Medieninhaber, Herausgeber: Österreichisch-Israelische Gesellschaft (ÖIG)         Redaktion/Anzeigenannahme: 0664 1769332
Lange Gasse 64, 1080 Wien, Österreich                                             E-Mail: oeig08@gmail.com
Website: www.oeig.at, e-mail: oeig08@gmail.com,                                   Bankverbindung:
Präsidenten: Peter Florianschütz und Markus Figl                                  Bank Austria
Generalsekretäre: Susi Shaked und Hans-Jürgen Tempelmayr                          IBAN: AT561100000262620801
Layout: Miriam Weigel                                                             BIC: BKAUATWW

                                                                                                                                        3
Israelisches Selbstverständnis im Wandel? - Zum Identitäten-Diskurs in Israel von Gad Arnsberg - Österreichisch ...
Israelisches Selbstver
                                                        Zum Identitäten-
                                                        Von Gad Arnsberg

       Nicht nur in Europa stellt sich die Frage nach den Gestaltungsoptionen
    und den Gefährdungen der jeweiligen Gesellschaften, sondern auch in
    Israel wird zunehmend heftig um die Fragen nach Zukunft und Selbstver-
    ständnis des Landes und der Gesellschaft gerungen. Israel – ein jüdischer
    und demokratischer Staat – im Spannungsfeld zwischen Partikular-
    interessen und Mainstream, verschiedenen konkurrierenden Auffassungen
    von Zionismus, Religion und Säkularität, von verschiedenen kulturellen
    Herkunftsprägungen, dem Verhältnis von Mehrheit und Minderheit.
    Und wie verhält sich das alles zu der von den Gründern des Staates Israel
    angedachten israelischen Identität?

     Zionismus als Bewegung der Moderne
                                                      Dem aus dem zentraleuropäischen, bürger-
                                                      lichen Milieu kommende Gründer des
                                                      politischen Zionismus, Theodor Herzl,
                                                      schwebte ein liberaler, weltlicher Staat vor.
                                                      Die aus dem osteuropäischen, proletaroi-
                                                      den Erfahrungsraum stammenden Grün-
                                                      dungsväter Israels verknüpften mit dem
                                                      Zionismus stärker eine komplette soziale
    Zionistenkongress in Basel, 1897, Theodor Herzl   und mentale Umstrukturierung des Diaspo-
    Quelle: GPO | Public Domain
                                                      rajudentums im Rahmen einer anvisierten
     Der Staat Israel ist aus einer Idee hervorge-    produktiven und gemeinnützigen Muster-
     gangen. Das Bedingungsgefüge für diese           gesellschaft. Die sozialistischen Vordenker
     Idee war europäisch und von Phänomenen           Israels erhofften, dem „entwurzelten“ und
     der Moderne gekennzeichnet. Es war der in        „gebückten“ bzw. „kopflastigen“ Diaspora-
     Europa aufkommende neuzeitliche Natio-           juden den „kraftstrotzenden“ von der Pio-
     nalismus und der postemanzipatorische,           nierideologie der Aufbauphase besessenen
     politische Antisemitismus, die als Geburts-      hebräischen Arbeiter entgegenzusetzten.
     helfer einer eigenen jüdischen Nationalbe-       In der vorstaatlichen Periode, in der die
     wegung, also des Zionismus, dienten. Die         Landgewinnung handlungsleitende Be-
     Idee dieser Bewegung war nicht rein künst-       deutung im sogenannten „Konstruktiven
     lich „konstruiert“, sondern beruhte auf der      Zionismus“ besaß, schien die Leitfigur (der
     alten messianischen Heilserwartung der           Idealtyp) des bodenstämmigen Pioniers
     Juden eines Tages in ihre Urheimat zurück-       auf, der eingebettet in seiner landwirt-
     zukehren. Neu war das Konzept, das alte          schaftlichen Kommune, den Boden bereitet
     ethnoreligiöse Motiv national und säkular        und notfalls wehrhaft verteidigt. Im Sinne
     umzudeuten.                                      der Moderne sollten von nun an Klasse und

4
Israelisches Selbstverständnis im Wandel? - Zum Identitäten-Diskurs in Israel von Gad Arnsberg - Österreichisch ...
ständnis im Wandel?
-Diskurs in Israel

   Nation als breite Identitätsklammer an        und nach außen verteidigt werden. Die re-
   Stelle der herkömmlichen voremanzipato-       volutionäre und utopische, zum Teil anar-
   rischen Religion treten. Die neu erzeugte     chisch sich artikulierende Pionierideologie
   landwirtschaftliche und industrielle Arbei-   wurde staatlich eingehegt. Sie sollte den
   terschaft sollte das Rückgrat der neuen Ge-   Zwecken des Staates (raison d'etat) unter-
   sellschaft sein. Allen gemeinsam war die      geordnet und der Realpolitik angepasst

                                                 Illegale Einwanderung nach Palästina
                                                 Quelle: Israel Forever Foundation

   Abkehr von den durch Diskriminierung          werden. Diese „Verstaatlichung“ des Pionier-
   geschaffenen Gebrechen diasporischer,         elans wurde von Ben Gurion mit dem Be-
   jüdischer Lebenswelten und Verhaltenswei-     griff mamlachtiut belegt.
   sen, was als Normalisierung jüdischer Exis-
   tenz verstanden wurde.                        Nach der Staatsgründung strömten Über-
                                                 lebende der Shoah sowie jüdische Immi-
   Mamlachtiut und „Schmelztiegel-               granten aus arabischen Ländern nach
   ideologie“ der Gründungsjahre                 Israel. Innerhalb weniger Jahre verdrei-
                                                 fachte sich fast die jüdische Bevölkerung.
   Mit der Gründung des Staates Israel, 1948,    Ben Gurion bezeichnete unglücklicherweise
   endete die von den Idealen eines „Sturm       die neuen Einwanderer als „Menschen-
   und Drangs“ geprägte Aufbauphase. Der         staub“, sozusagen als eine passive und knet-
   Staat musste nun nach innen konsolidiert      bare, amorphe Masse, die eine neue Identität

                                                                                                5
Israelisches Selbstverständnis im Wandel? - Zum Identitäten-Diskurs in Israel von Gad Arnsberg - Österreichisch ...
steht. Er, wie andere Grünungsväter Israels,
                                                   schlug den historischen Bogen zur alten
                                                   biblischen Staatsherrlichkeit als Messlatte
                                                   für die regenerierte Nation, dabei die „ver-
                                                   kümmernde“ zweitausendjährige Diaspo-
                                                   raexistenz überspringend.

                                                   Diese von oben dekretierte „Leitkultur“
                                                   fand nur bedingt Eingang in die städti-
                                                   schen, liberalen, bürgerlichen Kreise. Sie
                                                   sträubten sich gegen den Etatismus, den
                                                   wirtschaftlichen Dirigismus und gegen die
                                                   gemeinnützige Politik der regierenden Ar-
                                                   beiterparteien. Diese meist aus Mitteleu-
                                                   ropa stammenden, mittelständischen Ein-
                                                   wanderer sowie die orthodoxen Kreise und
                                                   die mehrheitlich aus arabischen Ländern
                                                   stammenden jüdisch-traditionellen Seg-
                                                   mente der Bevölkerung weigerten sich die
                                                   Lebenswelten ihrer Herkunftsländer ganz
                                                   abzustreifen.

                                                     Im Zeitalter der Moderne dienten das Indi-
                                                     viduum, die Klasse und die Nation als Be-
                                                     zugsgrößen der Identität. So verhielt es sich
                                                     auch in Israel. Sie waren Fixpunkte liberaler,
                                                     sozialistischer und nationaler Denkfiguren,
                                                     die das Raster des öffentlichen Diskurses in
    David Ben-Gurion, im Hintergrund die Negev Wüste
                                                     Israel auszeichneten. Sie gaben vor univer-
                                                     sal zu sein, waren aber dem europäischen
    als stolze Israelis annehmen sollte. Die Ein- Bedingungsgefüge entlehnt.
    ebnung der von den vermeintlichen Ver-
    werfungen der Diaspora gezeichneten, par-
    tikularen Identitäten der verschiedenen Ein-
    wanderungsgruppen zugunsten eines neuen
    kollektiven Bewusstseins, das sozusagen
    dem ideologischen Reißbrett entnommen
    wurde, führte den Namen – Schmelztiegel-
    ideologie. Die Bausteine des neuen kollek-
    tiven Bewusstseins bestanden aus dem
    Pionierethos und der erwähnten Devise der
    mamlachtiut. Letztere sollte den Neuan-
    kömmlingen ein staatsbürgerliches Be-
    wusstsein einzuflößen. Die Diaspora habe,
    so Ben Gurion, einen korrumpierenden Ef-
    fekt auf viele Juden gehabt. Er war von der
    Idee beseelt nicht nur eine normale, son- Mit der zweiten (1904/05-1914) und dritten Alijah
    dern gar eine mustergültige Nation zu schaf- (1918–1923) kam die Generation der Pioniere und Gründer-
    fen. Er verwendete die Metapher or la'goim väter          nach Palästina.
                                                       Foto: National Photo Collection Israel
    (Licht der Nationen), wie es im Buche Jesaja

6
Israelisches Selbstverständnis im Wandel? - Zum Identitäten-Diskurs in Israel von Gad Arnsberg - Österreichisch ...
Widersprüche                               schen Rhetorik und den als zurückgeblie-
                                           ben empfundenen jüdischen Einwande-
Viele Juden aus arabischen Ländern fühlten rern aus arabischen Ländern tat sich schon
sich von diesem Diskurs ausgegrenzt.       früh kund.

Zu dieser Entfremdung kam oft ihre ge-
schlossene Ansiedlung in abgelegenen Ge-
genden oder in von arabischen Flücht-
lingen während des Unabhängigkeitskrie-
ges verlassenen Stadtteilen. Diese geogra-
fische Absonderung erschwerte noch mehr
ihre gesellschaftliche Eingliederung. Diese
Besiedlungspolitik entsprang dem Zwang
der Regierung die im Unabhängigkeits-
krieg eroberten Gebiete schnell zu erschlie-
ßen, stand aber im Widerspruch zur Inte-
grationsdevise der „Schmelztiegelideolo-
gie. Diese forderte die Neueinwanderer
auf, ihre herkömmlichen Identitätsmerk-
male abzustreifen, vermochte sie aber nicht
durch die neue israelische Identitätsklam-
mer zu erfassen und sozioökonomisch ein-        Yemenitische Juden en route von Aden nach Israel, wäh-
                                                rend der Operation „Magischer Teppich,“ 1949–1950
zubinden. Die Erwartungshaltung der herr-       Quelle: Wikimedia Comons
schenden Eliten in Israel war, dass diese aus
rückständigen Verhältnissen kommenden           Ein erstes Indiz für den schlummernden
Juden, sich an die höheren westlichen Nor-      Konflikt waren die im Jahr 1959 ausgebro-
men des Staates anpassen. Ephraim Kishon        chenen Unruhen von aus Nordafrika stam-
vermochte in seiner sozialkritischen Film-      menden Einwohnern in „Wadi Salib“, einem
komödie „Salah Shabbati“ (1964) diese Dis-      maroden, ehemals arabischen Stadtteil von
sonanzen aufs Korn zu nehmen. Die Kluft         Haifa. Sie bezichtigten die sozialistische
zwischen der sozialistischen und zionisti-      Mapai-Regierung, sie bei der Wohnraumzu-
                                                weisung zu diskriminieren. Im Jahr 1971
                                                trat eine militante Gruppe von jüdischen
                                                Jugendlichen nordafrikanischer Herkunft in
                                                Jerusalem ins Rampenlicht.

                                                Sie nannte sich in Anlehnung an die gleich-
                                                namige kämpferische Gruppe von Afro-
                                                amerikanern die „Schwarzen Panther“. Sie
                                                gab sich eine sozialistische Plattform, was
                                                dem politischen Grundtenor der meisten
                                                Juden aus arabischen Ländern in Israel wi-
                                                dersprach. Die Gruppe protestierte gegen
                                                die Diskriminierung durch das europäisch
                                                geprägte Establishment. Hier zeichneten
                                                sich kulturell bedingte sozioökono0mische
                                                Trennlinien ab. Der französische Soziologe
                                                Pierre Bourdieu verwendete hierfür den
                                                Begriff „Kulturkapital“, also die Akkumula-
                                                tion von Bildung als Kriterium für die gesell-

                                                                                                         7
Israelisches Selbstverständnis im Wandel? - Zum Identitäten-Diskurs in Israel von Gad Arnsberg - Österreichisch ...
gegen die Unterordnung der bürgerlichen
                                                                               Freiheiten unter kollektiven gesellschaftli-
                                                                               chen und staatlichen Zwängen. Im Fahr-
                                                                               wasser dieses liberalisierenden Gegenzugs
                                                                               erhoben auch die sich sozial und kulturell
                                                                               benachteiligt fühlenden jüdischen Bevölke-
                                                                               rungsgruppen der Misrachim zunehmend
                                                                               ihre Stimme. Sie wandten sich gegen die
                                                                               Einebnung ihrer kulturellen Eigenheiten
                                                                               durch die Schmelztiegelideologie bei gleich-
                                                                               zeitiger Abschiebung in die geografische
                                                                               und gesellschaftliche Peripherie.
    Demonstration der „Black Panthers“ in Tel Aviv am 1. Mai 1973
    Foto: Imago/UPI Photo
                                                                               Es stellte sich auch heraus, dass die histori-
                            schaftliche und wirtschaftliche Stellung.          schen Beharrungskräfte, die Beständigkeit
                            Die bisher verdeckte Spannung zwischen             der überlieferten Wertvorstellungen in der
                            Juden europäischer Herkunft (Aschkena-             jüdischen Bevölkerung stärker waren als
                            sim)1 und Juden orientalischer Herkunft            gedacht. Seit dem Eichmann-Prozess von
                            (Misrachim)2, die sich zunehmend als selbst-       1961 nahm die Shoah einen zunehmend
                            bewusste ethnische Eigengruppe bekann-             größeren Stellenwert im Selbstverständnis
                            ten und als minderprivilegiert ihre Rechte         des Staates ein. Bis dahin standen nur die
                            im sozioökonomischen und kulturellen Be-           Ghettokämpfer und Partisanen hoch im
                            reich einforderten, trat hervor. Sie stellte die   Ansehen. Sie reihten sich in das jüdische
                            bisherige israelische Selbstdeutung einer          Heldenepos ein, das Teil der staatstragen-
                            aufstrebenden, geschlossenen, solidarischen        den Ideologie der Gründungsphase war.
                            und sozialgerechten jüdischen Staatsna-            Nun kamen auch die individuellen Opfer zu
                            tion, die zukunftsgerichtet die vermeintli-        Wort, die bislang verschämt ihre stigmati-
                            chen Verwerfungen der Diaspora hinter              sierte Opferrolle verdrängten. Die zionisti-
                            sich lässt vor einer Zerreißprobe.                 sche Devise, die Lage der Juden zu nor-
                                                                               malisieren, der sozialistische Pionierethos
                            Je mehr der Staat sich etablierte, wich der        und die Schmelztiegelideologie, verloren
                            revolutionäre Elan der Gründungsväter den          an Zugkraft. Je mehr die Shoah zur zentralen
                            bürgerlichen Bedürfnissen der Mittelschich-        Identitätsklammer wurde, umso mehr wich
                            ten. Diese wandten sich wie erwähnt gegen          das modernistische, hebräisch-israelische
                            den überbordenden Staat, den wirtschaft-           Bewusstsein einem national-religiösen jü-
                            lichen Dirigismus und Egalitarismus sowie          dischen Selbstverständnis. Dies bedeutete

    1 Als Aschkenasim werden mittel-, nord- und osteuropäische Juden und ihre Nachfahren bezeichnet. Der Ausdruck leitet sich
      vom biblischen Personen- und Gebietsnamen "Aschkenas" ab. Bereits im 9. Jahrhundert übertrugen ihn eingewanderte Juden
      auf das deutschsprachige Gebiet und die dort lebenden Juden. Mit deren zunehmender Verbreitung ging der Name auf alle
      europäischen Juden über (mit Ausnahme der in Portugal und Spanien ansässigenSephardim) und schließt heute auch deren
      Nachfahren in englischsprachigen Ländern mit ein. Von etwa 1200 bis 1945 war Jiddisch die Sprache vieler Aschkenasim, vor
      allem der Juden in Osteuropa. Darüber hinaus sind sie aber so verschieden wie ihre Herkunftsländer.
    2 Die Sephardim sind in erster Linie die Nachkommen der Juden von der Iberischen Halbinsel. Sie wurden von dort 1492 ver-
      trieben. 50 000 Juden flüchteten damals in Richtung Nordafrika und Südosteuropa. Manche ihrer Erben sprechen heute
      noch Ladino, das Mittelalterliche Judenspanisch. Die Anzahl ihrer Nachkommen wird auf 3,5 Millionen geschätzt. Die meisten
      leben heute in Israel, Frankreich, der Türkei, den USA oder in Lateinamerika. Als Sephardim werden heute aber fälschlicherweise
      oft auch die Juden aus islamischen Ländern bezeichnet, von denen viele in Israel leben. Bei diesen handelt es sich vielmehr
      um "Misrachim", orientalische Juden, die aus Irak, Iran, Syrien, Jemen und Ägypten eingewandert sind. Heute zählen auch die
      Juden aus Nordafrika zu den Misrachim. Auch bei ihnen gibt es kulturelle Unterschiede je nach Herkunftsland. Da die Misra-
      chim in der Regel mit europäischen Prozessen wie Emanzipation und Säkularisierung nicht Konfrontiert waren und auch den
      Holocaust nicht durchleiden mussten, haben sie ihr traditionelles Judentum weiter gepflegt, was sich in eigenen Synagogen
      und Ritualen bemerkbar macht. Sephardisches Judentum stellt keine gesonderte Strömung innerhalb des Judentums dar,
      sondern eine eigene kulturelle Tradition.
8
Israelisches Selbstverständnis im Wandel? - Zum Identitäten-Diskurs in Israel von Gad Arnsberg - Österreichisch ...
eine partielle Umorientierung von der zu-                Waren bis 1977 Denkfiguren wie Nation,
kunftsorientierten, konstruktiven und opti-              Klasse und Individuum vorherrschende
mis- tischen Ausrichtung des zionistischen               Identitätskategorien der politischen De-
Projekts, im Sinne der Gründerideologie,                 batte zwischen den eingefahrenen Fronten
auf eine rückwärtsgewandte, von Traumata                 von links und rechts in Israel, so trat nun
jüdischer Schicksalsgemeinschaft gezeich-                eine ethnisch-kulturelle Dimension hinzu.
nete Grundhaltung. Auch die durch die                    Der Likud, trotz seiner zionistischen-euro-
Kriege von 1967 und 1973 heraufbeschwo-                  päischen Grundzüge, vermochte dank sei-
renen Existenzängste gemahnten an die                    ner jüdisch-volkstümlichen, traditionalisti-
Shoah.                                                   schen und teils nationalistischen Merkmale
                                                         einerseits und liberalen und pluralistischen
                                                         Ansätze andererseits die bisher von dem
                                                         Fokus des Gründungsethos sich ausge-
                                                         schlossen fühlenden Gruppen wie die
                                                         rechtsnationalen Revisionisten, die bürger-
                                                         lichen, freiberuflichen und unternehmeri-
                                                         schen Mittelschichten und die margina-
                                                         lisierten orientalischen Juden anzuspre-
Shoah Gedenkveranstaltung, Mai 2019 in Yad Vashem        chen. Die zwei ersten Gruppen schieden
Foto: Abir Sultan
                                                         sich von der hegemonialen Arbeiterbewe-
                                                         gung in ihrer nationalen bzw. klassenspezi-
Politische Wende 1977 –                                  fischen Orientierung, also entlang den her-
die Anfänge des „Likud“                                  gebrachten politischen Scheidelinien, wo-
                                                         hingegen die betonte Thematisierung der
Diese verschiedenen Tiefenströmungen zu- bisher ausgeklammerten innerjüdischen,
sammen mit den zutage tretenden Verschleiß- ethnisch-kulturellen Divergenzen neu war.
erscheinungen und Korruptionsaffären der
regierenden Arbeitspartei sowie die Pro- Die orientalischen Juden kamen aus Regio-
testbewegung infolge des unsäglichen nen, die die modernen zivilisatorischen Pro-
Oktoberkriegs ermöglichten die politische zesse in Europa wie Aufklärung, Emanzi-
Wende von 1977, als ein rechter Block von pation, Säkularisierung nicht, oder nur be-
national-konservativen und liberalen Par- grenzt, vollzogen haben. Die Ideengüter von
teien – der Likud – an die Macht kam.                    Liberalismus, Demokratie, Nationalismus
                                                         und Sozialismus waren oft nicht Teil ihrer
Es war eine Allianz von bürgerlichen Mittel- politischen Sozialisation. Im Gegenzug blieb
schichten und soziökonomisch und kul- ihnen auch die Konfrontation mit dem post-
turell an den Rand gedrängten Gruppen emanzipatorischen politischen und rassi-
der Misrachim.                                           schen Antisemitismus, zuletzt mit dem
                                                         Faschismus, Nationalsozialismus und dem
                                                         Holocaust meistens erspart. Der Kontext, in
                                                         dem der Zionismus entstand und die Bau-
                                                         elemente des Zionismus entsprachen nicht
                                                         ihrer Befindlichkeit und ihrem historischen
                                                         Erfahrungsraum. Nur eine Elite dieser Juden
                                                         adoptierte die europäischen Ideengüter
                                                         über die koloniale Schiene oder dank kari-
                                                         tativer, jüdisch-europäischer Einrichtungen.
                                                         In der arabischen Welt waren sie oft Bürger
Menachem Begin und Aliza Begin bei der Wahl in Tel Aviv, zweiter Klasse. Durch die Entstehung des
17. Mai 1977
Foto: Ya’acov Sa’ar, GPO                                 Staates Israel wurden sie Opfer von massiven

                                                                                                        9
Israelisches Selbstverständnis im Wandel? - Zum Identitäten-Diskurs in Israel von Gad Arnsberg - Österreichisch ...
Verfolgungen und Vertreibung. Ihr Bezug            tisch waren. Der Likud suchte den An-
     zu Israel war vorwiegend jüdisch-traditio-         schluss an die jüdische Diaspora, die so-
     nell und nicht politisch oder zionistisch mo-      zialistischen Parteien erstrebten den Bruch
     tiviert.                                           mit ihr. Der Likud ehrte die jüdische Tra-
                                                        dition und blickte wehmütig in die Vergan-
     Somit war die politische Kehrtwende von            genheit, die sozialistischen Parteien waren
     1977 auch ein Paradigmenwechsel im israe-          modernistisch und zukunftsgerichtet. Der
     lischen Selbstverständnis. Die Auflocke-            Likud vermochte auch den religiös-ethni-
     rung der Gesellschaft schuf wie erwähnt            schen Traditionalismus unter den Juden aus
     Freiraum für marginalisierte Gruppen, die          arabischen Ländern in nationale Bahnen zu
     sich vom bisherigen Konsens ausgeschlos-           lenken und so dieser bisher marginali-
     sen fühlten, ihre partikulare ethnisch-kultu-      sierten Gruppe ein Gefühl der Teilhabe an
     relle (Misrachim), ethnisch-religiöse (Schass      dem großen nationalen Kollektiv zu vermit-
     Partei), nationale (israelische Araber), Gen-      teln. Der vom deutschen Historiker Dieter
     der (Feministinnen) oder sexuelle LGTBs            Langewiesche verwendete Ausdruck „Ge-
                                                        fühlsraum Nation“ kommt einem in den
                                                        Sinn.

                                                        Ein anderes Auffangbecken für die sich dis-
                                                        kriminiert fühlenden Juden aus arabischen
                                                        Ländern war die religiöse Schass Partei, die
                                                        1982 entstand. Sie gab vor die sogenannte
                                                        „Alte Herrlichkeit“ des orientalischen Ju-
                                                        dentums wiederherzustellen. Im Unterschied
                                                        zum Likud, der unter einem allgemeinen,
                                                        national-konservativen Banner auch die
                                                        orientalischen Wählerstimmen einbinden
                                                        wollte, war die Schass Partei ethnisch-seg-
                                                        regierend.
     © Geoffrey Grinder
                                                        Die zunehmende Pluralisierung der israeli-
     (Lesben, Schwule, Transgender und Bisexu-          schen Gesellschaft spiegelte die Vielfalt der
     elle) Identität zu entfalten, ihre gesellschaft-   Gesellschaft wider, in der Juden aus aller
     liche Anerkennung, in bestimmten Fällen            Herren Länder zusammenkamen und in der
     wie etwa bei der Zulassung von gleichge-           eine arabische Minderheit lebt. Sie war ein
     schlechtlichen Ehen, auch ihre rechtliche          Gegenzug zum Anspruch der Gründungs-
     Gleichstellung durchzusetzen und, wo nö-           väter eine neue hebräische Nation sozusa-
     tig, auch eine Umverteilung staatlicher Gel-       gen aus einem Guss zu schaffen. In einer
     der einzufordern, was in der einschlägigen         so jungen zusammengewürfelten Gesell-
     Literatur als „Verteilungsgerechtigkeit“ be-       schaft wie Israel, die im Prozess der Nations-
     zeichnet wird.                                     bildung (nation building) war und ist, in der
                                                        es an überlieferten gemeinsamen Grund-
     Der Likud vermittelte den Misrachim, die           normen noch mangelte, in der ein großer
     mehr als die Hälfte der jüdischen Bevölke-         Teil der Einwanderer aus nicht-demokrati-
     rung in Israel ausmachten, die Empfin-              schen, traditionalen Gesellschaften kamen,
     dung, Teil einer größeren jüdischen Schick-        vermag ein Pluralismus entweder zu einem
     salsgemeinschaft zu sein. Er sprach deren          kunstvollen Mosaik zu werden oder zur
     Gefühlswelt an, im Unterschied zu den so-          Fragmentierung der Gesellschaft zu führen,
     zialistischen Parteien, deren Gedankenge-          wenn die zentrifugalen Kräfte die Ober-
     bäude, bar jeder Emotionalität, rationalis-        hand gewinnen.

10
Kampagnen gegen die vermeintliche               ein Paradebeispiel für eine gelungene Inte-
Hegemonie einer linken,                         gration. Sie brachte es bis zu einem hohen
aschkenasischen Elite                           Offiziersrang und zur Position des Armee-
                                                sprechers. Sie spricht von Pluralisierung der
Leider haben die Politiker der rechten Par-     israelischen Kulturszene, offenbart aber
teien die bislang unterprivilegierten Grup-     ihre Militanz, wenn sie von den „letzten Zuk-
pen, wie die orientalischen Juden, gegen        kungen“ der alten Eliten spricht. Sie verfolgt
die vermeintlich linken aschkenasischen Eli-    eine paritätische Pflege von westlichen und
ten ausgespielt. 1981 in der großen Wahl-       „orientalischen“ Gütern in der jüdischen
kundgebung des Likud in Tel Aviv schlug         Kulturszene in Israel. Im Militärrundfunk
dessen damaliger Parteichef und Minister-       sollte Popmusik westlichen und orientali-
präsident, Menachem Begin, politisches          schen Genres gleichmäßig gesendet wer-
Kapital aus der unglücklichen Redewen-          den. Sie lässt prüfen, ob die Schaubühne
dung eines berühmten Schauspielers, der         „Habimah“ ihrem Ruf als Nationaltheater
auf einer vorangegangenen Wahlveranstal-        gerecht wird. Maßgebend hierfür sei, ob
tung des linken Ma'arach (Arbeitspartei)
sich abfällig über die orientalischen Wähler
des Likud – vornehmlich marokkanische
Juden – geäußert hatte. Den Ma'arach be-
schuldigte Begin, einen ganzen – sprich-
wörtlich – „Stamm!!!“ – den der orienta-
lischen Juden – verunglimpft zu haben. Auf
der Likud-Versammlung zog Begin mit
Hasstiraden über die Kibbuzim her, die rote
Fahnen hissten statt blau-weiße. Auf einer
Kundgebung des Ma'arach wurde der Spit-
zenkandidat Shimon Peres von orientali-
schen Juden mit Tomaten beworfen, wo-
rauf er sie als kulturlosen Pöbel bezeichnete     Habima National Theater „The time of love “ von Ron Roy Rashkes
                                                  © Gerard Allon
und hinzufügte, er lasse sich von deren
rüden „orientalischen“ Gesten nicht ein-
schüchtern. Netanjahu wurde 1997 vom            das Repertoire alle Segmente der Gesell-
Fernsehen dabei ertappt, als er einem alten     schaft repräsentiere, im Klartext also, ob
jüdischen Rabbiner und Kabbalisten nord-        auch Stücke orientalischer Autoren, die die
afrikanischer Herkunft ins Ohr flüsterte, die    Lebenswelt der Misrachim wiedergeben,
Linken in Israel hätten vergessen, was es       aufgeführt werden. Unlängst brüstete sie
bedeute Jude zu sein. Immer wieder sprach       sich damit, nie Tschechow gelesen zu
Netanjahu davon, dass er die alten Eliten,      haben. Sie sei in einem jüdisch-orientali-
Stichwort für Linke und Aschkenasim,            schen und sephardischen Ambiente aufge-
durch neue Eliten ablösen möchte.               wachsen und sei nicht weniger gebildet als
                                                die Konsumenten westlicher Kultur. Vor
                                                kurzem, bei der Preisverleihungsfeier der is-
Kunst- und Kulturverständnis                    raelischen Filmakademie ist sie über die
                                                ihrer Ansicht nach unausgewogene Politik
Vor allem in der letzten Zeit betreibt die      der Filmförderstiftungen hergefallen. Sie
Kulturministerin Miri Regev, ein Likud-Mit-     meinte, sie dienen der alten geschlossenen
glied nordafrikanischer Herkunft, eine un-      Elite – womit sie die (linken) Aschkenasim
verblümte Kampagne gegen die angeb-             meinte, zuungunsten der Kunstschaffen-
liche linke, aschkenasische Elite im Kultur-    den der gesellschaftlichen und geografi-
und Kommunikationsbereich. Dabei ist sie        schen Peripherie. Dabei ist die Filmszene in

                                                                                                                    11
ihrer personellen Besetzung und ihren Su-       der Regierung verdient. Zum Wesen der
     jets so vielfältig wie kaum ein anderer Kul-    Kunst wie der Wissenschaft gehören be-
     turbereich. Sie betreibt eine Kampagne          kanntlich auch die Kritik und die Schaffens-
     gegen die höhere bzw. klassische Kultur per     freiheit. Regev wird vorgeworfen durch ihr
     se und setzt ihr die volkstümliche Kultur als   Verhalten die Stereotypen gegen die Mis-
     gleichwertig entgegen. Hier knüpft sie an       rachim, denen ungehobeltes, aggressives
     die postmoderne linke und relativierende        und lautes Verhalten, mangelnde Bildung
     Identitätspolitik an, von der ich noch zu       und Chauvinismus nachgesagt werden, zu
     sprechen komme.                                 bestätigen. Sachkenner mutmaßen, sie in-
                                                     strumentalisiere zynisch ethnische Ressen-
     Höhere Kultur ist per definitionem elitär       timents zu ihren politischen Zwecken. Aus-
     und nicht demokratisch. Künstler und Kunst-     fälle gegen rückständig anmutende, volks-
     erzeugnisse werden nicht durch das Mehr-        tümliche und abergläubische Gebräuche,
     heitsprinzip gekürt. Es gibt Institutionen,     meist unter orientalischen Juden, werden
     die vom Prinzip der Meritokratie, dem Prin-     von Politikern, hauptsächlich der Rechten
     zip der Leistung und des Verdiensts, be-        und der orthodoxen, von orientalischen Ju-
     stimmt werden. So z. B. das Oberste Gericht     den gewählten, Schass Partei, ausgeschlach-
     oder die Hochschullandschaft. Auch sie          tet. Jede abfällige Bemerkung gegen die
     werden nun von rechten Politikern als           Misrachim verstößt gegen die „politische
     Hochburgen der alten, „linken“ aschkenasi-      Korrektheit“ und wird als rassistisch ge-
     schen Elite unter Beschuss genommen. Die        brandmarkt.
     der mamlachtiut innewohnende Grund-
     idee, der Errichtung staatstragender, neu-
     traler und leistungsorientierter Institutio-    Linksliberale Identitätsstreiter
     nen, die wiederum dem modernen euro-
     päischen Staatsverständnis entnommen
     wurde, weicht einem aus Amerika herrüh-
     renden Argwohn gegenüber staatlichen
     Einrichtungen, bzw. der Hinterfragung ihrer
     Neutralität und folglich dem Streben, diese
     mit Gleichgesinnten zu durchdringen. Es
     ist wahr, dass durch den historischen Kul-
     turvorsprung der Juden europäischer Her-
     kunft, die zudem Israel aus der Taufe
                                                     ̈
     gehoben haben, viele dieser Institutionen       Athiopische Israelis protestieren in Tel Aviv gegen Gewalt
     mehrheitlich von ihnen besetzt worden           und Rassismus, 2015
                                                     Foto: Tomer Neuberg
     sind. Es mag durchaus sein, dass in diesen
     Institutionen oft Seilschaften herrschen. Sie   In dem Identitätsdiskurs wirken neben den
     aber nun nach dem demokratischen Wahl-          besagten, oft zynischen, Politikern auch
     prinzip oder ethnischen Proporz neu zu be-      eine kleine, aber durchaus medienwirk-
     setzten, wie dies in Amerika mit der            same Gruppe von linksliberalen Intellektu-
     „positiven Diskriminierung“ geschah, ist be-    ellen und Kulturschaffenden, meist orien-
     denklich.                                       talischer Abstammung, mit. Sie importier-
                                                     ten aus den USA die Denkfiguren dieses
     Ihr – der Ministerin – Verständnis und nicht    Diskurses. Der Begriff Identitätspolitik
     nur ihres von Demokratie ist sehr elemen-       (identity politics) entstammt den Cultural
     tar. Es beschränkt sich auf die Herrschaft      Studies. Er wurde den emanzipatorischen
     der Mehrheit. Daraus lautet sie den Grund-      Bewegungen diskriminierter sozialer Grup-
     satz ab, dass nur Kunst, die sich loyal dem     pen zugeschrieben, wie etwa der Bürger-
     Staat gegenüber verhält, die Unterstützung      rechtsbewegung in Amerika. Dort began-

12
nen bereits in den 1980er Jahren margina-
lisierte Gruppen ein kollektives Bewusstsein
zu entwickeln, das auf die individuellen
Identitäten ihrer Mitglieder aufbaute. Den
Beginn machten die politischen Bewegun-
gen der Afroamerikaner, es folgten ein Teil
der Feministinnen, schwule und lesbische
Gruppen, dann amerikanische Ureinwoh-
ner, Amerikaner asiatischer und hispani-
scher Herkunft usw. Identitätspolitik wird
durch die Betroffenen auch dadurch betrie-
ben, dass sie stigmatisierende Zuschreibun-     Protest äthiopischer Aktivisten und Aktivistinnen gegen
gen (wie etwa Nigger) übernehmen, um            Polizeigewalt, 2015
                                                Foto: Activestills
deren Bedeutung umzukehren. Identitäts-
politik kann zur Angleichung an die Identi-     dungsvätern angedacht. Sie sehen im Zio-
tät der Mehrheit führen, wie zum Beispiel       nismus den kolonialen Herd des Konflikts
die eingeschlechtliche Ehe, sie kann aber       mit den Arabern und glauben durch die
auch durch die Überhöhung kultureller Be-       Abkehr von ihm sozusagen das Rad der Ge-
sonderheiten separatistische und funda-         schichte zurückdrehen und eine idyllisch
mentalistische Züge annehmen.                   verklärte Vergangenheit der Koexistenz von
                                                Arabern und Juden in der pränationalen
Diese Gruppe von linksliberalen Intellektu-     Ära wiederherstellen zu können. Sie leug-
ellen und Kulturschaffenden in Israel for-       nen die Existenz des neutralen staatlichen
dert das Einbringen ihrer Herkunftskultur in    Prinzips der mamlachtitut, die Ben Gurion
das israelische Kulturgut, also die Umvertei-   für entscheidend fand, um das mangelnde
lung des „kulturellen Kapitals“, eine gleich-   Staatsbewusstsein bei den aus der Zerstreu-
mäßige Besetzung von Misrachim und              ung eingeströmten Juden zu erwek-ken. Für
Aschkenasim in allen wichtigen öffentli-         sie verbirgt sich dahinter die verschleierte
chen Einrichtungen, die Redistribution von      jüdisch-europäische Hegemonie. Sie be-
staatlichen Geldern und des Bodenbesitzes       streiten die Existenz einer israelischen Iden-
zugunsten der misrachischen Peripherie          tität, die die Vorherrschaft des „weiße
(Verteilungsgerechtigkeit), falls noch vor-     Stamms“ der Aschkenasim bemäntelt. An-
handen, die Aufhebung der als diskriminie-      stelle der nationalen Identität soll eine plu-
rend empfundenen Kanalisierung der              ralistische Gesellschaft von partikularen
Jugend in den sogenannten, mehrheitlich         Gruppenidentitäten entstehen. Diese Form
von orientalischen Einwanderern besiedel-       des kulturellen Partikularismus stellt eine
ten, Entwicklungsstädten in die berufliche       Herausforderung an die Prämissen des zu-
Schulbildung und die historische Aufarbei-      kunftsorientierten Zionismus dar. Sie ist z. T.
tung begangenen Unrechts an ihren Eltern        rückwärtsgewandt und rekurriert auf die
und Großeltern. Neueres Beispiel hierfür ist    althergebrachte Bande der präzionistischen
der vierteilige Fernseh-Dokumentarfilm:         Diasporagemeinde im Maghreb oder in
„Salah, hier ist das Land Israel“.              den Nahoststaaten.

Ein Teil dieser Gruppe bedient sich der post-   Die postzionistische Haltung von einigen
modernen und antikolonialistischen Rheto-       unter ihnen allerdings unterscheidet sie
rik und versteht sich als postzionistisch.      von Positionen der Rechten in Israel, die
Er fordert von daher die „Dekonstruktion“       sich ebenfalls zu Fürsprechern der Misra-
des zionistischen „Meganarrativs“ der Neu-      chim gemacht haben. Letztere wollen die
schöpfung eines nationalstaatlichen, heb-       partikularen Identitäten durch die überge-
räischen Kollektivs, wie von den Grün-          ordnete nationale Bande einfrieden, die

                                                                                                          13
ersteren wollen sie auflösen. Die Ironie ist,            schwingen z. T. in dem Jargon des Biton-Re-
     dass die meisten Juden aus arabischen                   ports mit. Postmoderne Termini wie Narra-
     Staaten, politisch rechts stehen, im Gegen-             tiv, Hegemonie, Orientalismus, Eurozentris-
     satz zu den linksliberalen, teils postzionisti-         mus, Anti-Kolonialismus, Kulturelles und
     schen Intellektuellen und Kulturschaffen-                Symbolisches Kapital durchwirken den Re-
     den, die den Kampf gegen die Diskriminie-               port. Er ist nicht frei von Widersprüchen, die
     rung der Misrachim auf ihr Panier geschrie-             aus den entgegensetzten Denkfiguren der
     ben haben.                                              postzionistischen Intellektuellen und der
                                                             zionistischen Auftraggeber und Mitautoren
     Diese Identitätspolitik hat eine merkwür-               einschließlich des Namensgebers der Kom-
     dige Liaison von rechten Politikern und                 mission herrühren. So lebten die Misrachim
     linksliberalen Postnationalisten zustande               angeblich in Harmonie mit der arabischen
     gebracht, die z. B. in den sog. Biton-Report            Umwelt, sie gehörten einer traditionalen
     mündete. Der Erziehungsminister Naphtali                Gesellschaft an, die zuerst durch den euro-
     Bennet von der rechten nationalreligiösen               päischen Kolonialismus in Konflikt mit ihren
                                                             Traditionen und mit ihrer arabischen Um-
                                                             welt geriet. Denn ein Teil der Juden nahm
                                                             sich der Kultur der Kolonialmächte an. Sie
                                                             waren nicht zionistisch und nicht nationa-
                                                             listisch. Im Gegenteil, der Zionismus, der
                                                             den europäischen Juden einen Ausweg
                                                             bot, belastete noch mehr das Verhältnis
                                                             von Juden zu ihrer arabischen Umwelt. Im
                                                             Gegenzug soll der Behandlung des Zionis-
                                                             mus und der modernen hebräischen Auf-
                                                             klärung, die nun einmal zum historischen
                                                             Bedingungsgefüge Europas und des asch-
                                                             kenasischen Judentums gehören, eine
                                                             ebenbürtige Darstellung jüdischer Gebilde-
                                                             ter in der arabischen Welt und vermeintli-
     Der Biton-Report, Erez Biton und Naftali Bennet, 2016   cher oder wirklicher Vordenker einer proto-
     Quelle: Haaretz
                                                             zionistischen Variante orientalischer Prä-
     Partei hat den Dichter nordafrikanischer                gung folgen.
     Herkunft Eres Biton beauftragt, eine Kom-
     mission zu bilden, die die Darstellung der
     Misrachim und deren Geschichte im Bil-                  Forderung nach Proporz
     dungssystem durchkämmen sollte. Der Re-
     port ist für die einen eine längst fällige              Die Kommission fordert den Proporz in der
     Korrektur des Narrativs (Geschichtsdarstel-             Repräsentation des „misrachischen Narra-
     lung) der Misrachim, eine Bereicherung des              tivs“ in allen einschlägigen Lehrfächern. Sie
     israelischen Mosaiks, für die anderen wie-              fordert eine Symmetrie in der Darstellung
     derum eine aufgesetzte, von „politischer                jüdischen Kulturguts aschkenasischer und
     Korrektheit“ durchsetzten Neufassung der                sephardischer bzw. orientalischer Gemein-
     jüdisch-israelischen Geschichte und eine                den. Im Fach Hebräische Literatur sollen
     Kampfansage an die Aschkenasim sowie an                 Werke misrachischen Genres stärker zu
     den westlichen Antlitz des Staates Israel.              Worte kommen.

     Die Positionen der linksliberalen Gruppe, Ist die Behauptung gerechtfertigt, die Be-
     von denen einige in der Kommission saßen handlung der Geschichte und der kultu-
     oder als Berater herangezogen wurden, rellen Güter der Juden sephardischer und

14
schichte der sephardischen Juden, nach
                                                                 ihrer Vertreibung aus der Iberischen Halb-
                                                                 insel und der Juden in islamischen und ara-
                                                                 bischen Ländern eingeführt werden und
                                                                 allen Studenten Pflichtkurse zu diesen The-
                                                                 men auferlegt werden.

Geschichte sephardischer Juden: Hunderttausende wurden
im 15. Jh. aus Kastilien ausgewiesen.
Spanische Illustration aus dem Mittelalter, Foto: Ullstein
                                                                 Orientalische Identitätsbeflissene

                                                                 Diese Form der intellektuellen Steuerung
                                                                 und des politisch motivierten, geistigen
                                                                 Hochseilakts wird nicht von allen begrüßt.
                                                                 Auch unter Intellektuellen orientalischer
                                                                 Herkunft wird die Militanz der rechten und
                                                                 linken Identitätsstreiter als vereinnahmend,
                                                                 bevormundend und gebieterisch empfun-
                                                                 den. Die Absonderungsversuche der iden-
                                                                 titätsbeflissenen, linksliberalen Intellektuel-
                                                                 len und Kulturschaffenden orientalischer
Geschichte orientalischer Juden: Schulklasse der franko-
jüdischen „Alliance Israelite Universelle“ in Tetuan, Marokko,   Herkunft unterliefen, so die Kritik, in ihrer
um 1910
Quelle: DAVID – Kulturzeitschrift
                                                                 eindimensional sektiererischen und „lands-
                                                                 mannschaftlichen“ Sichtweise den Grund-
orientalischer Herkunft, nach der Vertrei-                       konsens und Zusammenhalt der Gesell-
bung der Juden aus der Iberischen Halbin-                        schaft. Sie predigten die gesellschaftliche
sel, komme zu kurz? Seit 1976 sind diese                         Diversität, laufen aber Gefahr die hetero-
Themen zunehmend in die Schulbücher                              gene Gesellschaft auseinander zu dividie-
eingegangen. Vielleicht nicht genug, das                         ren und das Gespür für die gesellschaftliche
mag sein. Kann überhaupt eine künstliche                         Solidarität auszuhöhlen. Statt Verständnis
Symmetrie in der Behandlung der westli-                          zu erzeugen, erregen sie Animosität. Die
chen und orientalischen Juden gerechtfer-                        Kritik, auch aus den Reihen anderer Intel-
tigt werden? Lehrpläne der Geistes- und                          lektueller orientalischer Abstammung, rich-
Sozialwissenschaften können nicht quanti-                        tet sich gegen die Reduktion des Subjekts
tativ austariert werden, sondern der Rele-                       auf sein Herkommen und gegen einen eth-
vanz und der tatsächlichen historischen                          nisch bestimmten politischen Determinis-
Wirkungsmacht der Themen entsprechend                            mus. Diese Koppelung der politischen Posi-
erstellt werden. Vor der Shoah machten die                       tion an die Ethnie grenze an Rassismus.
Juden in arabischen und moslemischen
Ländern sowie die Nachkömmlinge der his-                         Diese identitätsbeflisssenen Streiter neh-
panischen Juden im Balkan weniger als                            men für sich Anspruch aus der Position des
Zehntel der weltweiten jüdischen Bevölke-                        diskriminierten „anderen“, d. h. aller Misra-
rung aus. Leider ist die Stundenzahl der                         chim, über die „hegemonialen“ Aschkena-
geistes- und sozialwissenschaftlichen Fä-                        sim herzufallen. Sie nennen sie in ihrer fast
cher in den Schulen sowieso gering und die                       manichäischen Sichtweise „den weißen
Kenntnisse der jüdisch-europäischen und                          Stamm“. Misrachim werden zur Negativfolie
allgemeinen Geschichte sind schon eh                             der Aschkenasim. Sie verkehren oft abwer-
spärlich. Nun sollen diese noch mehr ge-                         tende Klischees der Misrachim ins Positive.
kürzt werden zugunsten dieser themati-                           Sie stellen mit Stolz den karikierten volks-
schen Neugewichtung. In Universitäten                            tümlichen Traditionalismus heraus, setzen
sollen Lehrfächer über die Kultur und Ge-                        die Folklore der Misrachim in Musik und Li-

                                                                                                                  15
stand“ der arabischen Gesellschaften für Is-
                                                     rael nachahmenswert ist.

                                                     Die israelische Soziologin nordafrikanischer
                                                     Herkunft Eva Illuz beanstandet, dass sich
                                                     diese linksliberalen Identitätsstreiter, statt
                                                     eine breite, gemeinsame Plattform von
                                                     Misrachim, Aschkenasim, Russen, Äthiopier
                                                     und Araber anzustreben, die gegen soziale
                                                     Missstände und Diskriminierung ankämpft,
                                                     um eine solidarische, gerechte und demo-
                                                     kratische Gesellschaft zu errichten, sich eth-
     Quelle: Israel Folklore
                                                     nizistisch gebärden und so sich mit unde-
     teratur der klassischen und höheren Kultur      mokratischen Parteien wie die „Schass“ zu-
     entgegen, betreiben eigene Dichtung, die        sammentun. Statt als intellektuelle Weg-
     sie selbstgefällig als Vulgärdichtung be-       weiser Frustration in produktive Bahnen zu
     zeichnen und beanspruchen Sprachrohr            lenken und eine Politik der Hoffnung zu be-
     der Peripherie gegen den sogenannten            treiben, säen sie Hass. Statt der Fragmentie-
     „Staat Tel Aviv“ zu sein. Invektiven gegen      rung der Gesellschaft entgegenzusteuern,
     die Aschkenasim, denen eine „orientalisti-      vertiefen sie die Risse.
     sche“ – sprich überhebliche europäische
     Haltung gegenüber den Juden aus arabi-          Der amerikanische Philosoph Richard Rorty
     schen Ländern vorgeworfen wird, gelten          beklagte diese narzisstische Fixierung auf
     als legitime Aufrechnung. Gegenkritik wird      die eigene Gruppe der Identitätspolitik und
     allerdings als typische rassistische Anma-      forderte die Rückkehr zu einem gesamtge-
     ßung des „weißen Stammes“ gedeutet.             sellschaftlichen Liberalismus à la Roosevelt.
     Dabei sind viele dieser linksliberalen Strei-   Der zeitgenössische amerikanische Ideen-
     ter in Universitäten bestens etabliert, ver-    historiker Mark Lila sieht in dem Spaltpilz
     danken ihre Positionen und ihr Vokabular        des identitätsfixierten Linksliberalismus den
     westlichen wissenschaftlichen Paradigmen,       Grund für den Wahlsieg von Donald Trump.
     instrumentalisieren aber die wirkliche oder     In Israel wirkt die Identitätspolitik nicht nur
     vermeintliche ethnische Kluft, um sich          segregierend, sondern neigt dazu in Spu-
     Machtpositionen und Prestige, also eigenes      rensuche zu schwelgen, statt konkrete so-
     kulturelles Kapital anzueignen. So fordert      zioökonomische Probleme zu lösen.
     die Biton-Kommission Quoten in der Beset-
     zung des „Rats für Höhere Bildung“, dem
     Lenkungsausschuss der Universitäten. Die        Vision einer neuen israelischen Identität
     Ausfälle gegen die „privilegierten“, „weißen“
     europäischen Juden und gegen die zionis-        Wie steht es nun um das zionistische Pro-
     tische Moderne sind der antikolonialisti-       jekt, eine gemeinsame jüdische-israelische
     schen, antiwestlichen Rhetorik entlehnt.        kulturelle Identität zu stiften? Und wie steht
     Aber es ist die westliche Zivilisation, die     es um die Herausforderung, eine über-
     heute für Fortschritt steht und noch immer      geordnete israelische Identität von Juden
     als Richtmaß für die vielgeschmähte Mo-         und Nichtjuden zu errichten? Die Idee des
     derne gilt, deren Produkt diese Intellektu-     Schmelztiegels dürfte überholt sein, und an
     ellen und Kulturschaffenden selber sind.         ihrer Stelle könnte sich ein Zusammenle-
     Die Annahme Israel könnte, wenn es seine        ben heterogener Gruppen einstellen, aller-
     westlichen Züge abstreift, sich in den          dings unter anderen Vorzeichen als zwi-
     Nahen Osten besser integrieren, wirft die       schen Aschkenasim und Misrachim, oder
     Frage auf, ob der bedenkliche „Zivilisations-   zwischen russischen und etwa äthiopischen

16
Juden. Mit jeder neuen in Israel, besonders            die kulturelle, religiöse und nationale iden-
aus sogenannten gemischten Ehen, hervor-               titäre Kluft.
gehender Generation dürften sich die in-
nerjüdischen ethnischen Unterschiede                   In der Armee, früher eine wichtige Integra-
verflüchtigen.                                          tionsschiene, dienen nur noch 50% der
                                                       betroffenen Altersgruppe. Verschiedene
Die Herausforderung für die das Selbstver-             Erfahrungsräume erzeugen verschiedene
ständnis der zukünftigen israelischen Ge-              Erwartungshorizonte. Dem bisherigen Kon-
sellschaft ist vom israelischen Staatspräsi-           sens des jüdisch-demokratischen Staats
dent Reuven (Ruvi) Rivlin in einem pro-                entgegnen die ultraorthodoxen mit theo-
grammatischen Vortrag im Juni 2015 ange-               kratischer Heilserwartung, während israeli-
schnitten worden. Die frühere Hegemonie                sche Araber mit der Idee einer allgemeinen
der weltlich, dann auch der gemischten,                Staatsbürgernation oder der eines Mehr-
weltlich und traditional-jüdischen Variante            völkerstaates spielen. Die Option der Zwei-
des Zionismus, weiche einer pluralistischen            staatenlösung zwischen Juden und Paläs-
Aufgliederung der Gesellschaft in verschie-            tinensern wird durch die bi-nationale Vor-
dene, sich in ihrer Stärke immer mehr an-              stellung von anderen hinterfragt, die ent-
gleichende „Stämme“. Er benannte zuerst                weder den jüdischen oder den demokra-
die früher tonangebenden, mehrheitlich                 tischen Charakter Israels zu untergraben

Beispiele der Vielfalt der israelischen Gesellschaft

weltlichen bzw. traditional-weltlichen Juden,          droht. Diese Segmentierung sei eine Ge-
zweitens die national-religiösen, drittens             fahr, aber auch eine Chance. Die Einigelung
die ultraorthodoxen Juden und viertens die             jeder Gruppe in eine Minderheitenmenta-
israelischen Araber. In den ersten Schulklas-          lität sei zerstörerisch, so der Staatspräsident
sen machen die zwei letzteren nicht-zionis-            weiter. Rivlin, Mitglied des Likud und über-
tischen Gruppen schon fast die Hälfte der              zeugter Zionist, schlägt eine „neue israeli-
Schüler aus. Separate Erziehungszweige                 sche Ordnung“ vor, die in manchen Zügen
und oft getrennte Wohnorte verfestigen                 an postzionistische Vorstellungen erinnert,

                                                                                                         17
obwohl ihr Minimalkonsens der jüdisch-demokra- Das nach dem Zeitpunkt des Vortrags beschlossene
tische Staat sein soll.                              Nationalstaatsgesetz in Israel wiederum steuert
                                                     einen anderen Kurs als den des Staatspräsidenten.
Sie, so Rivlin, bedarf folgender vier Fundamente: Das Gesetz versucht der, aus der Sicht dessen Ini-
1. Die Gewissheit jeder Gruppe, dass eine Teil tiatoren, vermeintlichen Bedrohung des bisherigen
    habe an dem neuen gemeinsamen Projekt, jüdischen-nationalen Konsenses, entgegenzuwir-
    nicht den Verzicht auf ihre grundlegenden ken. Die im Gefolge des neuen Grundgesetzes
    Identitätsmerkmale erfordert.                    entfachte Diskussion im Lande sowie zwischen li-
2. Gemeinsame Verantwortung für das neue Ge- beralen Strömungen in der jüdischen Diaspora
    meinwesen. Das Aufbrechen des Mehrheit- und jüdischen, rechtkonservativen Protagonisten
    Minderheiten-Rasters, nimmt jede Gruppe in des Gesetzes offenbart die ideologische Manö-
    die Pflicht, Verantwortung für die Zukunft des vriermasse im israelischen Identitätsdiskurs.
    Staates und der Gesellschaft zu tragen.
3. Gerechtigkeit und völlige Chancengleichheit
    für alle Gruppen.                                                 Dr. Gad Arnsberg, geb. 1945.
4. Die größte Herausforderung von allen ist die                       Historiker und langjähriger Hoch-
    Schaffung einer gemeinsamen israelischen                           schullehrer am akademischen
    Identität. Das entstehende israelische Mosaik                     Beit Berl College und an der Uni-
    ist keine Last, sondern eine große Chance. Es                     versität Tel Aviv in Israel sowie
                                                                      Leiter der Internationalen Abtei-
    birgt in sich kulturelles Reichtum, Inspiration,
                                                                      lung des Beit Berl College. Wuchs
    Menschlichkeit und Sensibilität.                                  in Israel und Deutschland auf.
                                                      Studierte Volkswirtschaft an der Universität Frank-
70 Jahre nach der Gründung des Staates ist des-       furt am Main und Geschichte und Politik an der
sen Gestaltung längst nicht abgeschlossen.*           Universität Tel Aviv.
* Als Nachsatz fügt der Autor hinzu:
Sie können auch lesen