Israelisches Selbstverständnis im Wandel? - Zum Identitäten-Diskurs in Israel von Gad Arnsberg - Österreichisch ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Zeitschrift der Österreichisch-Israelischen Gesellschaft 51. Jahrgang Sondernummer 2019 3,–€ Israelisches Selbstverständnis im Wandel? Zum Identitäten-Diskurs in Israel von Gad Arnsberg Erscheinungsort Wien, Verlagspostamt 1080 Wien P.b.b. GZ02Z031415M
„ Titelbild: Fotos: Protest gegen Polizeigewalt, Tel Aviv, 2015 © Activestills Aus Frankreich wandern Juden nach Israel ein, 2019 © Jewish Agency Gedruckt nach der Richtlinie des österreichischen Umweltzeichens „Druckerzeugnisse“, Gedruckt auf ökologischem Papier aus der Mustermappe von „ÖkoKauf Wien“. Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 21, Reprographie, UW-Nr 835 CO2 kompensiert produziert 2
Einleitung zur Sondernummer Gad Arnsbergs Text auf der Flucht vermehrt Juden aus Äthiopien und Jemen „Israelisches Selbst- ins Land. Diese Menschen, die Mizrachim, haben ur- verständnis im Wan- sprünglich einen anderen Hintergrund wie aschkenasi- del? Zum Identitäten- sche Juden, die mehrfach aus Europa, den USA oder Diskurs in Israel“ be- Russland stammen. leuchtet eine Facette der Geschichte Israels, Bestimmt werden diese Gruppen durch ihre Kultur, den die vielen von uns Grad Ihrer Bildung und durch die eigene Geschichte sehr Susi Shaked Hans-Jürgen vielleicht nicht so ge- unterschiedlicher Verfolgungen und Leiden. Generalsekretärin Tempelmayr Generalsekretär läufig ist. Die Gesetze Israels bürgen für gleiche Rechte für alle. Gad Bekannt und vielfach diskutiert ist der Konflikt zwischen Arnsbergs Aufsatz zeigt uns aber, dass es vielfach Diskri- Israelis und Palästinensern. Oft und intensiv besprochen minierung der orientalischen Juden gab. Noch heute werden Probleme zwischen streng religiösen und eher glauben viele Nachkommen solcher Familien sich un- säkularen Bürgern des Landes. Doch wenig wird über gleich behandelt. jene Juden geschrieben, die in den letzten hundert Jah- ren von vielen anderen Teilen der Welt, vor allem aus dem Aus ihrer Mitte aber entwickeln manche nach Absolvie- vorderen Orient und Nordafrika, aber auch aus Indien rung höherer akademischer Ausbildung eine neue Denk- nach Israel eingewandert sind. Ihre vielseitige Herkunft weise in sozialer und künstlerischer Hinsicht gegenüber stellt noch in diesen Jahren in manchen Bereichen die jenen Schichten, die weiterhin mehr ihren kulturellen Tra- schwierige Frage nach der heutigen israelischen Identität. ditionen verhaftet bleiben. Gad Arnsberg macht in seinem Bericht deutlich, welche Israels Spitzen der Politik führen weiterhin einen Identi- Konflikte entstanden und entstehen, wie die politischen tätsdiskurs über seine Bürger; so Gad Arnsberg in diesem Parteien in den letzten Jahrzehnten mit diesen umge- Beitrag. gangen sind und wie sie, die Parteien, versucht haben diese Gruppen und deren Anliegen für sich politisch zu SHANA TOVA 5780 nutzen. Wir lesen in diesem hoch interessanten Artikel, dass die Hälfte aller heute in Israel lebenden Nachkommen von entweder sephardischen Juden oder aus dem Orient ein- gewanderten Mizrachim sind. In jüngster Zeit kommen Bitte verwenden Sie den beiliegenden Zahlschein für Ihren Mitgliedsbeitrag! Herzlichen Dank! Werden auch Sie Mitglied der Österreichisch-Israelischen Gesellschaft! Die Zeitschrift „schalom“ ist inkludiert! Die Freundschaft mit den Menschen in Israel ist uns wichtig! Das Formular finden Sie auf unserer Website: www.oeig.at Unterstützen Sie bitte unsere Arbeit und erwägen Sie ein Spende! Impressum: Medieninhaber, Herausgeber: Österreichisch-Israelische Gesellschaft (ÖIG) Redaktion/Anzeigenannahme: 0664 1769332 Lange Gasse 64, 1080 Wien, Österreich E-Mail: oeig08@gmail.com Website: www.oeig.at, e-mail: oeig08@gmail.com, Bankverbindung: Präsidenten: Peter Florianschütz und Markus Figl Bank Austria Generalsekretäre: Susi Shaked und Hans-Jürgen Tempelmayr IBAN: AT561100000262620801 Layout: Miriam Weigel BIC: BKAUATWW 3
Israelisches Selbstver Zum Identitäten- Von Gad Arnsberg Nicht nur in Europa stellt sich die Frage nach den Gestaltungsoptionen und den Gefährdungen der jeweiligen Gesellschaften, sondern auch in Israel wird zunehmend heftig um die Fragen nach Zukunft und Selbstver- ständnis des Landes und der Gesellschaft gerungen. Israel – ein jüdischer und demokratischer Staat – im Spannungsfeld zwischen Partikular- interessen und Mainstream, verschiedenen konkurrierenden Auffassungen von Zionismus, Religion und Säkularität, von verschiedenen kulturellen Herkunftsprägungen, dem Verhältnis von Mehrheit und Minderheit. Und wie verhält sich das alles zu der von den Gründern des Staates Israel angedachten israelischen Identität? Zionismus als Bewegung der Moderne Dem aus dem zentraleuropäischen, bürger- lichen Milieu kommende Gründer des politischen Zionismus, Theodor Herzl, schwebte ein liberaler, weltlicher Staat vor. Die aus dem osteuropäischen, proletaroi- den Erfahrungsraum stammenden Grün- dungsväter Israels verknüpften mit dem Zionismus stärker eine komplette soziale Zionistenkongress in Basel, 1897, Theodor Herzl und mentale Umstrukturierung des Diaspo- Quelle: GPO | Public Domain rajudentums im Rahmen einer anvisierten Der Staat Israel ist aus einer Idee hervorge- produktiven und gemeinnützigen Muster- gangen. Das Bedingungsgefüge für diese gesellschaft. Die sozialistischen Vordenker Idee war europäisch und von Phänomenen Israels erhofften, dem „entwurzelten“ und der Moderne gekennzeichnet. Es war der in „gebückten“ bzw. „kopflastigen“ Diaspora- Europa aufkommende neuzeitliche Natio- juden den „kraftstrotzenden“ von der Pio- nalismus und der postemanzipatorische, nierideologie der Aufbauphase besessenen politische Antisemitismus, die als Geburts- hebräischen Arbeiter entgegenzusetzten. helfer einer eigenen jüdischen Nationalbe- In der vorstaatlichen Periode, in der die wegung, also des Zionismus, dienten. Die Landgewinnung handlungsleitende Be- Idee dieser Bewegung war nicht rein künst- deutung im sogenannten „Konstruktiven lich „konstruiert“, sondern beruhte auf der Zionismus“ besaß, schien die Leitfigur (der alten messianischen Heilserwartung der Idealtyp) des bodenstämmigen Pioniers Juden eines Tages in ihre Urheimat zurück- auf, der eingebettet in seiner landwirt- zukehren. Neu war das Konzept, das alte schaftlichen Kommune, den Boden bereitet ethnoreligiöse Motiv national und säkular und notfalls wehrhaft verteidigt. Im Sinne umzudeuten. der Moderne sollten von nun an Klasse und 4
ständnis im Wandel? -Diskurs in Israel Nation als breite Identitätsklammer an und nach außen verteidigt werden. Die re- Stelle der herkömmlichen voremanzipato- volutionäre und utopische, zum Teil anar- rischen Religion treten. Die neu erzeugte chisch sich artikulierende Pionierideologie landwirtschaftliche und industrielle Arbei- wurde staatlich eingehegt. Sie sollte den terschaft sollte das Rückgrat der neuen Ge- Zwecken des Staates (raison d'etat) unter- sellschaft sein. Allen gemeinsam war die geordnet und der Realpolitik angepasst Illegale Einwanderung nach Palästina Quelle: Israel Forever Foundation Abkehr von den durch Diskriminierung werden. Diese „Verstaatlichung“ des Pionier- geschaffenen Gebrechen diasporischer, elans wurde von Ben Gurion mit dem Be- jüdischer Lebenswelten und Verhaltenswei- griff mamlachtiut belegt. sen, was als Normalisierung jüdischer Exis- tenz verstanden wurde. Nach der Staatsgründung strömten Über- lebende der Shoah sowie jüdische Immi- Mamlachtiut und „Schmelztiegel- granten aus arabischen Ländern nach ideologie“ der Gründungsjahre Israel. Innerhalb weniger Jahre verdrei- fachte sich fast die jüdische Bevölkerung. Mit der Gründung des Staates Israel, 1948, Ben Gurion bezeichnete unglücklicherweise endete die von den Idealen eines „Sturm die neuen Einwanderer als „Menschen- und Drangs“ geprägte Aufbauphase. Der staub“, sozusagen als eine passive und knet- Staat musste nun nach innen konsolidiert bare, amorphe Masse, die eine neue Identität 5
steht. Er, wie andere Grünungsväter Israels, schlug den historischen Bogen zur alten biblischen Staatsherrlichkeit als Messlatte für die regenerierte Nation, dabei die „ver- kümmernde“ zweitausendjährige Diaspo- raexistenz überspringend. Diese von oben dekretierte „Leitkultur“ fand nur bedingt Eingang in die städti- schen, liberalen, bürgerlichen Kreise. Sie sträubten sich gegen den Etatismus, den wirtschaftlichen Dirigismus und gegen die gemeinnützige Politik der regierenden Ar- beiterparteien. Diese meist aus Mitteleu- ropa stammenden, mittelständischen Ein- wanderer sowie die orthodoxen Kreise und die mehrheitlich aus arabischen Ländern stammenden jüdisch-traditionellen Seg- mente der Bevölkerung weigerten sich die Lebenswelten ihrer Herkunftsländer ganz abzustreifen. Im Zeitalter der Moderne dienten das Indi- viduum, die Klasse und die Nation als Be- zugsgrößen der Identität. So verhielt es sich auch in Israel. Sie waren Fixpunkte liberaler, sozialistischer und nationaler Denkfiguren, die das Raster des öffentlichen Diskurses in David Ben-Gurion, im Hintergrund die Negev Wüste Israel auszeichneten. Sie gaben vor univer- sal zu sein, waren aber dem europäischen als stolze Israelis annehmen sollte. Die Ein- Bedingungsgefüge entlehnt. ebnung der von den vermeintlichen Ver- werfungen der Diaspora gezeichneten, par- tikularen Identitäten der verschiedenen Ein- wanderungsgruppen zugunsten eines neuen kollektiven Bewusstseins, das sozusagen dem ideologischen Reißbrett entnommen wurde, führte den Namen – Schmelztiegel- ideologie. Die Bausteine des neuen kollek- tiven Bewusstseins bestanden aus dem Pionierethos und der erwähnten Devise der mamlachtiut. Letztere sollte den Neuan- kömmlingen ein staatsbürgerliches Be- wusstsein einzuflößen. Die Diaspora habe, so Ben Gurion, einen korrumpierenden Ef- fekt auf viele Juden gehabt. Er war von der Idee beseelt nicht nur eine normale, son- Mit der zweiten (1904/05-1914) und dritten Alijah dern gar eine mustergültige Nation zu schaf- (1918–1923) kam die Generation der Pioniere und Gründer- fen. Er verwendete die Metapher or la'goim väter nach Palästina. Foto: National Photo Collection Israel (Licht der Nationen), wie es im Buche Jesaja 6
Widersprüche schen Rhetorik und den als zurückgeblie- ben empfundenen jüdischen Einwande- Viele Juden aus arabischen Ländern fühlten rern aus arabischen Ländern tat sich schon sich von diesem Diskurs ausgegrenzt. früh kund. Zu dieser Entfremdung kam oft ihre ge- schlossene Ansiedlung in abgelegenen Ge- genden oder in von arabischen Flücht- lingen während des Unabhängigkeitskrie- ges verlassenen Stadtteilen. Diese geogra- fische Absonderung erschwerte noch mehr ihre gesellschaftliche Eingliederung. Diese Besiedlungspolitik entsprang dem Zwang der Regierung die im Unabhängigkeits- krieg eroberten Gebiete schnell zu erschlie- ßen, stand aber im Widerspruch zur Inte- grationsdevise der „Schmelztiegelideolo- gie. Diese forderte die Neueinwanderer auf, ihre herkömmlichen Identitätsmerk- male abzustreifen, vermochte sie aber nicht durch die neue israelische Identitätsklam- mer zu erfassen und sozioökonomisch ein- Yemenitische Juden en route von Aden nach Israel, wäh- rend der Operation „Magischer Teppich,“ 1949–1950 zubinden. Die Erwartungshaltung der herr- Quelle: Wikimedia Comons schenden Eliten in Israel war, dass diese aus rückständigen Verhältnissen kommenden Ein erstes Indiz für den schlummernden Juden, sich an die höheren westlichen Nor- Konflikt waren die im Jahr 1959 ausgebro- men des Staates anpassen. Ephraim Kishon chenen Unruhen von aus Nordafrika stam- vermochte in seiner sozialkritischen Film- menden Einwohnern in „Wadi Salib“, einem komödie „Salah Shabbati“ (1964) diese Dis- maroden, ehemals arabischen Stadtteil von sonanzen aufs Korn zu nehmen. Die Kluft Haifa. Sie bezichtigten die sozialistische zwischen der sozialistischen und zionisti- Mapai-Regierung, sie bei der Wohnraumzu- weisung zu diskriminieren. Im Jahr 1971 trat eine militante Gruppe von jüdischen Jugendlichen nordafrikanischer Herkunft in Jerusalem ins Rampenlicht. Sie nannte sich in Anlehnung an die gleich- namige kämpferische Gruppe von Afro- amerikanern die „Schwarzen Panther“. Sie gab sich eine sozialistische Plattform, was dem politischen Grundtenor der meisten Juden aus arabischen Ländern in Israel wi- dersprach. Die Gruppe protestierte gegen die Diskriminierung durch das europäisch geprägte Establishment. Hier zeichneten sich kulturell bedingte sozioökono0mische Trennlinien ab. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu verwendete hierfür den Begriff „Kulturkapital“, also die Akkumula- tion von Bildung als Kriterium für die gesell- 7
gegen die Unterordnung der bürgerlichen Freiheiten unter kollektiven gesellschaftli- chen und staatlichen Zwängen. Im Fahr- wasser dieses liberalisierenden Gegenzugs erhoben auch die sich sozial und kulturell benachteiligt fühlenden jüdischen Bevölke- rungsgruppen der Misrachim zunehmend ihre Stimme. Sie wandten sich gegen die Einebnung ihrer kulturellen Eigenheiten durch die Schmelztiegelideologie bei gleich- zeitiger Abschiebung in die geografische und gesellschaftliche Peripherie. Demonstration der „Black Panthers“ in Tel Aviv am 1. Mai 1973 Foto: Imago/UPI Photo Es stellte sich auch heraus, dass die histori- schaftliche und wirtschaftliche Stellung. schen Beharrungskräfte, die Beständigkeit Die bisher verdeckte Spannung zwischen der überlieferten Wertvorstellungen in der Juden europäischer Herkunft (Aschkena- jüdischen Bevölkerung stärker waren als sim)1 und Juden orientalischer Herkunft gedacht. Seit dem Eichmann-Prozess von (Misrachim)2, die sich zunehmend als selbst- 1961 nahm die Shoah einen zunehmend bewusste ethnische Eigengruppe bekann- größeren Stellenwert im Selbstverständnis ten und als minderprivilegiert ihre Rechte des Staates ein. Bis dahin standen nur die im sozioökonomischen und kulturellen Be- Ghettokämpfer und Partisanen hoch im reich einforderten, trat hervor. Sie stellte die Ansehen. Sie reihten sich in das jüdische bisherige israelische Selbstdeutung einer Heldenepos ein, das Teil der staatstragen- aufstrebenden, geschlossenen, solidarischen den Ideologie der Gründungsphase war. und sozialgerechten jüdischen Staatsna- Nun kamen auch die individuellen Opfer zu tion, die zukunftsgerichtet die vermeintli- Wort, die bislang verschämt ihre stigmati- chen Verwerfungen der Diaspora hinter sierte Opferrolle verdrängten. Die zionisti- sich lässt vor einer Zerreißprobe. sche Devise, die Lage der Juden zu nor- malisieren, der sozialistische Pionierethos Je mehr der Staat sich etablierte, wich der und die Schmelztiegelideologie, verloren revolutionäre Elan der Gründungsväter den an Zugkraft. Je mehr die Shoah zur zentralen bürgerlichen Bedürfnissen der Mittelschich- Identitätsklammer wurde, umso mehr wich ten. Diese wandten sich wie erwähnt gegen das modernistische, hebräisch-israelische den überbordenden Staat, den wirtschaft- Bewusstsein einem national-religiösen jü- lichen Dirigismus und Egalitarismus sowie dischen Selbstverständnis. Dies bedeutete 1 Als Aschkenasim werden mittel-, nord- und osteuropäische Juden und ihre Nachfahren bezeichnet. Der Ausdruck leitet sich vom biblischen Personen- und Gebietsnamen "Aschkenas" ab. Bereits im 9. Jahrhundert übertrugen ihn eingewanderte Juden auf das deutschsprachige Gebiet und die dort lebenden Juden. Mit deren zunehmender Verbreitung ging der Name auf alle europäischen Juden über (mit Ausnahme der in Portugal und Spanien ansässigenSephardim) und schließt heute auch deren Nachfahren in englischsprachigen Ländern mit ein. Von etwa 1200 bis 1945 war Jiddisch die Sprache vieler Aschkenasim, vor allem der Juden in Osteuropa. Darüber hinaus sind sie aber so verschieden wie ihre Herkunftsländer. 2 Die Sephardim sind in erster Linie die Nachkommen der Juden von der Iberischen Halbinsel. Sie wurden von dort 1492 ver- trieben. 50 000 Juden flüchteten damals in Richtung Nordafrika und Südosteuropa. Manche ihrer Erben sprechen heute noch Ladino, das Mittelalterliche Judenspanisch. Die Anzahl ihrer Nachkommen wird auf 3,5 Millionen geschätzt. Die meisten leben heute in Israel, Frankreich, der Türkei, den USA oder in Lateinamerika. Als Sephardim werden heute aber fälschlicherweise oft auch die Juden aus islamischen Ländern bezeichnet, von denen viele in Israel leben. Bei diesen handelt es sich vielmehr um "Misrachim", orientalische Juden, die aus Irak, Iran, Syrien, Jemen und Ägypten eingewandert sind. Heute zählen auch die Juden aus Nordafrika zu den Misrachim. Auch bei ihnen gibt es kulturelle Unterschiede je nach Herkunftsland. Da die Misra- chim in der Regel mit europäischen Prozessen wie Emanzipation und Säkularisierung nicht Konfrontiert waren und auch den Holocaust nicht durchleiden mussten, haben sie ihr traditionelles Judentum weiter gepflegt, was sich in eigenen Synagogen und Ritualen bemerkbar macht. Sephardisches Judentum stellt keine gesonderte Strömung innerhalb des Judentums dar, sondern eine eigene kulturelle Tradition. 8
eine partielle Umorientierung von der zu- Waren bis 1977 Denkfiguren wie Nation, kunftsorientierten, konstruktiven und opti- Klasse und Individuum vorherrschende mis- tischen Ausrichtung des zionistischen Identitätskategorien der politischen De- Projekts, im Sinne der Gründerideologie, batte zwischen den eingefahrenen Fronten auf eine rückwärtsgewandte, von Traumata von links und rechts in Israel, so trat nun jüdischer Schicksalsgemeinschaft gezeich- eine ethnisch-kulturelle Dimension hinzu. nete Grundhaltung. Auch die durch die Der Likud, trotz seiner zionistischen-euro- Kriege von 1967 und 1973 heraufbeschwo- päischen Grundzüge, vermochte dank sei- renen Existenzängste gemahnten an die ner jüdisch-volkstümlichen, traditionalisti- Shoah. schen und teils nationalistischen Merkmale einerseits und liberalen und pluralistischen Ansätze andererseits die bisher von dem Fokus des Gründungsethos sich ausge- schlossen fühlenden Gruppen wie die rechtsnationalen Revisionisten, die bürger- lichen, freiberuflichen und unternehmeri- schen Mittelschichten und die margina- lisierten orientalischen Juden anzuspre- Shoah Gedenkveranstaltung, Mai 2019 in Yad Vashem chen. Die zwei ersten Gruppen schieden Foto: Abir Sultan sich von der hegemonialen Arbeiterbewe- gung in ihrer nationalen bzw. klassenspezi- Politische Wende 1977 – fischen Orientierung, also entlang den her- die Anfänge des „Likud“ gebrachten politischen Scheidelinien, wo- hingegen die betonte Thematisierung der Diese verschiedenen Tiefenströmungen zu- bisher ausgeklammerten innerjüdischen, sammen mit den zutage tretenden Verschleiß- ethnisch-kulturellen Divergenzen neu war. erscheinungen und Korruptionsaffären der regierenden Arbeitspartei sowie die Pro- Die orientalischen Juden kamen aus Regio- testbewegung infolge des unsäglichen nen, die die modernen zivilisatorischen Pro- Oktoberkriegs ermöglichten die politische zesse in Europa wie Aufklärung, Emanzi- Wende von 1977, als ein rechter Block von pation, Säkularisierung nicht, oder nur be- national-konservativen und liberalen Par- grenzt, vollzogen haben. Die Ideengüter von teien – der Likud – an die Macht kam. Liberalismus, Demokratie, Nationalismus und Sozialismus waren oft nicht Teil ihrer Es war eine Allianz von bürgerlichen Mittel- politischen Sozialisation. Im Gegenzug blieb schichten und soziökonomisch und kul- ihnen auch die Konfrontation mit dem post- turell an den Rand gedrängten Gruppen emanzipatorischen politischen und rassi- der Misrachim. schen Antisemitismus, zuletzt mit dem Faschismus, Nationalsozialismus und dem Holocaust meistens erspart. Der Kontext, in dem der Zionismus entstand und die Bau- elemente des Zionismus entsprachen nicht ihrer Befindlichkeit und ihrem historischen Erfahrungsraum. Nur eine Elite dieser Juden adoptierte die europäischen Ideengüter über die koloniale Schiene oder dank kari- tativer, jüdisch-europäischer Einrichtungen. In der arabischen Welt waren sie oft Bürger Menachem Begin und Aliza Begin bei der Wahl in Tel Aviv, zweiter Klasse. Durch die Entstehung des 17. Mai 1977 Foto: Ya’acov Sa’ar, GPO Staates Israel wurden sie Opfer von massiven 9
Verfolgungen und Vertreibung. Ihr Bezug tisch waren. Der Likud suchte den An- zu Israel war vorwiegend jüdisch-traditio- schluss an die jüdische Diaspora, die so- nell und nicht politisch oder zionistisch mo- zialistischen Parteien erstrebten den Bruch tiviert. mit ihr. Der Likud ehrte die jüdische Tra- dition und blickte wehmütig in die Vergan- Somit war die politische Kehrtwende von genheit, die sozialistischen Parteien waren 1977 auch ein Paradigmenwechsel im israe- modernistisch und zukunftsgerichtet. Der lischen Selbstverständnis. Die Auflocke- Likud vermochte auch den religiös-ethni- rung der Gesellschaft schuf wie erwähnt schen Traditionalismus unter den Juden aus Freiraum für marginalisierte Gruppen, die arabischen Ländern in nationale Bahnen zu sich vom bisherigen Konsens ausgeschlos- lenken und so dieser bisher marginali- sen fühlten, ihre partikulare ethnisch-kultu- sierten Gruppe ein Gefühl der Teilhabe an relle (Misrachim), ethnisch-religiöse (Schass dem großen nationalen Kollektiv zu vermit- Partei), nationale (israelische Araber), Gen- teln. Der vom deutschen Historiker Dieter der (Feministinnen) oder sexuelle LGTBs Langewiesche verwendete Ausdruck „Ge- fühlsraum Nation“ kommt einem in den Sinn. Ein anderes Auffangbecken für die sich dis- kriminiert fühlenden Juden aus arabischen Ländern war die religiöse Schass Partei, die 1982 entstand. Sie gab vor die sogenannte „Alte Herrlichkeit“ des orientalischen Ju- dentums wiederherzustellen. Im Unterschied zum Likud, der unter einem allgemeinen, national-konservativen Banner auch die orientalischen Wählerstimmen einbinden wollte, war die Schass Partei ethnisch-seg- regierend. © Geoffrey Grinder Die zunehmende Pluralisierung der israeli- (Lesben, Schwule, Transgender und Bisexu- schen Gesellschaft spiegelte die Vielfalt der elle) Identität zu entfalten, ihre gesellschaft- Gesellschaft wider, in der Juden aus aller liche Anerkennung, in bestimmten Fällen Herren Länder zusammenkamen und in der wie etwa bei der Zulassung von gleichge- eine arabische Minderheit lebt. Sie war ein schlechtlichen Ehen, auch ihre rechtliche Gegenzug zum Anspruch der Gründungs- Gleichstellung durchzusetzen und, wo nö- väter eine neue hebräische Nation sozusa- tig, auch eine Umverteilung staatlicher Gel- gen aus einem Guss zu schaffen. In einer der einzufordern, was in der einschlägigen so jungen zusammengewürfelten Gesell- Literatur als „Verteilungsgerechtigkeit“ be- schaft wie Israel, die im Prozess der Nations- zeichnet wird. bildung (nation building) war und ist, in der es an überlieferten gemeinsamen Grund- Der Likud vermittelte den Misrachim, die normen noch mangelte, in der ein großer mehr als die Hälfte der jüdischen Bevölke- Teil der Einwanderer aus nicht-demokrati- rung in Israel ausmachten, die Empfin- schen, traditionalen Gesellschaften kamen, dung, Teil einer größeren jüdischen Schick- vermag ein Pluralismus entweder zu einem salsgemeinschaft zu sein. Er sprach deren kunstvollen Mosaik zu werden oder zur Gefühlswelt an, im Unterschied zu den so- Fragmentierung der Gesellschaft zu führen, zialistischen Parteien, deren Gedankenge- wenn die zentrifugalen Kräfte die Ober- bäude, bar jeder Emotionalität, rationalis- hand gewinnen. 10
Kampagnen gegen die vermeintliche ein Paradebeispiel für eine gelungene Inte- Hegemonie einer linken, gration. Sie brachte es bis zu einem hohen aschkenasischen Elite Offiziersrang und zur Position des Armee- sprechers. Sie spricht von Pluralisierung der Leider haben die Politiker der rechten Par- israelischen Kulturszene, offenbart aber teien die bislang unterprivilegierten Grup- ihre Militanz, wenn sie von den „letzten Zuk- pen, wie die orientalischen Juden, gegen kungen“ der alten Eliten spricht. Sie verfolgt die vermeintlich linken aschkenasischen Eli- eine paritätische Pflege von westlichen und ten ausgespielt. 1981 in der großen Wahl- „orientalischen“ Gütern in der jüdischen kundgebung des Likud in Tel Aviv schlug Kulturszene in Israel. Im Militärrundfunk dessen damaliger Parteichef und Minister- sollte Popmusik westlichen und orientali- präsident, Menachem Begin, politisches schen Genres gleichmäßig gesendet wer- Kapital aus der unglücklichen Redewen- den. Sie lässt prüfen, ob die Schaubühne dung eines berühmten Schauspielers, der „Habimah“ ihrem Ruf als Nationaltheater auf einer vorangegangenen Wahlveranstal- gerecht wird. Maßgebend hierfür sei, ob tung des linken Ma'arach (Arbeitspartei) sich abfällig über die orientalischen Wähler des Likud – vornehmlich marokkanische Juden – geäußert hatte. Den Ma'arach be- schuldigte Begin, einen ganzen – sprich- wörtlich – „Stamm!!!“ – den der orienta- lischen Juden – verunglimpft zu haben. Auf der Likud-Versammlung zog Begin mit Hasstiraden über die Kibbuzim her, die rote Fahnen hissten statt blau-weiße. Auf einer Kundgebung des Ma'arach wurde der Spit- zenkandidat Shimon Peres von orientali- schen Juden mit Tomaten beworfen, wo- rauf er sie als kulturlosen Pöbel bezeichnete Habima National Theater „The time of love “ von Ron Roy Rashkes © Gerard Allon und hinzufügte, er lasse sich von deren rüden „orientalischen“ Gesten nicht ein- schüchtern. Netanjahu wurde 1997 vom das Repertoire alle Segmente der Gesell- Fernsehen dabei ertappt, als er einem alten schaft repräsentiere, im Klartext also, ob jüdischen Rabbiner und Kabbalisten nord- auch Stücke orientalischer Autoren, die die afrikanischer Herkunft ins Ohr flüsterte, die Lebenswelt der Misrachim wiedergeben, Linken in Israel hätten vergessen, was es aufgeführt werden. Unlängst brüstete sie bedeute Jude zu sein. Immer wieder sprach sich damit, nie Tschechow gelesen zu Netanjahu davon, dass er die alten Eliten, haben. Sie sei in einem jüdisch-orientali- Stichwort für Linke und Aschkenasim, schen und sephardischen Ambiente aufge- durch neue Eliten ablösen möchte. wachsen und sei nicht weniger gebildet als die Konsumenten westlicher Kultur. Vor kurzem, bei der Preisverleihungsfeier der is- Kunst- und Kulturverständnis raelischen Filmakademie ist sie über die ihrer Ansicht nach unausgewogene Politik Vor allem in der letzten Zeit betreibt die der Filmförderstiftungen hergefallen. Sie Kulturministerin Miri Regev, ein Likud-Mit- meinte, sie dienen der alten geschlossenen glied nordafrikanischer Herkunft, eine un- Elite – womit sie die (linken) Aschkenasim verblümte Kampagne gegen die angeb- meinte, zuungunsten der Kunstschaffen- liche linke, aschkenasische Elite im Kultur- den der gesellschaftlichen und geografi- und Kommunikationsbereich. Dabei ist sie schen Peripherie. Dabei ist die Filmszene in 11
ihrer personellen Besetzung und ihren Su- der Regierung verdient. Zum Wesen der jets so vielfältig wie kaum ein anderer Kul- Kunst wie der Wissenschaft gehören be- turbereich. Sie betreibt eine Kampagne kanntlich auch die Kritik und die Schaffens- gegen die höhere bzw. klassische Kultur per freiheit. Regev wird vorgeworfen durch ihr se und setzt ihr die volkstümliche Kultur als Verhalten die Stereotypen gegen die Mis- gleichwertig entgegen. Hier knüpft sie an rachim, denen ungehobeltes, aggressives die postmoderne linke und relativierende und lautes Verhalten, mangelnde Bildung Identitätspolitik an, von der ich noch zu und Chauvinismus nachgesagt werden, zu sprechen komme. bestätigen. Sachkenner mutmaßen, sie in- strumentalisiere zynisch ethnische Ressen- Höhere Kultur ist per definitionem elitär timents zu ihren politischen Zwecken. Aus- und nicht demokratisch. Künstler und Kunst- fälle gegen rückständig anmutende, volks- erzeugnisse werden nicht durch das Mehr- tümliche und abergläubische Gebräuche, heitsprinzip gekürt. Es gibt Institutionen, meist unter orientalischen Juden, werden die vom Prinzip der Meritokratie, dem Prin- von Politikern, hauptsächlich der Rechten zip der Leistung und des Verdiensts, be- und der orthodoxen, von orientalischen Ju- stimmt werden. So z. B. das Oberste Gericht den gewählten, Schass Partei, ausgeschlach- oder die Hochschullandschaft. Auch sie tet. Jede abfällige Bemerkung gegen die werden nun von rechten Politikern als Misrachim verstößt gegen die „politische Hochburgen der alten, „linken“ aschkenasi- Korrektheit“ und wird als rassistisch ge- schen Elite unter Beschuss genommen. Die brandmarkt. der mamlachtiut innewohnende Grund- idee, der Errichtung staatstragender, neu- traler und leistungsorientierter Institutio- Linksliberale Identitätsstreiter nen, die wiederum dem modernen euro- päischen Staatsverständnis entnommen wurde, weicht einem aus Amerika herrüh- renden Argwohn gegenüber staatlichen Einrichtungen, bzw. der Hinterfragung ihrer Neutralität und folglich dem Streben, diese mit Gleichgesinnten zu durchdringen. Es ist wahr, dass durch den historischen Kul- turvorsprung der Juden europäischer Her- kunft, die zudem Israel aus der Taufe ̈ gehoben haben, viele dieser Institutionen Athiopische Israelis protestieren in Tel Aviv gegen Gewalt mehrheitlich von ihnen besetzt worden und Rassismus, 2015 Foto: Tomer Neuberg sind. Es mag durchaus sein, dass in diesen Institutionen oft Seilschaften herrschen. Sie In dem Identitätsdiskurs wirken neben den aber nun nach dem demokratischen Wahl- besagten, oft zynischen, Politikern auch prinzip oder ethnischen Proporz neu zu be- eine kleine, aber durchaus medienwirk- setzten, wie dies in Amerika mit der same Gruppe von linksliberalen Intellektu- „positiven Diskriminierung“ geschah, ist be- ellen und Kulturschaffenden, meist orien- denklich. talischer Abstammung, mit. Sie importier- ten aus den USA die Denkfiguren dieses Ihr – der Ministerin – Verständnis und nicht Diskurses. Der Begriff Identitätspolitik nur ihres von Demokratie ist sehr elemen- (identity politics) entstammt den Cultural tar. Es beschränkt sich auf die Herrschaft Studies. Er wurde den emanzipatorischen der Mehrheit. Daraus lautet sie den Grund- Bewegungen diskriminierter sozialer Grup- satz ab, dass nur Kunst, die sich loyal dem pen zugeschrieben, wie etwa der Bürger- Staat gegenüber verhält, die Unterstützung rechtsbewegung in Amerika. Dort began- 12
nen bereits in den 1980er Jahren margina- lisierte Gruppen ein kollektives Bewusstsein zu entwickeln, das auf die individuellen Identitäten ihrer Mitglieder aufbaute. Den Beginn machten die politischen Bewegun- gen der Afroamerikaner, es folgten ein Teil der Feministinnen, schwule und lesbische Gruppen, dann amerikanische Ureinwoh- ner, Amerikaner asiatischer und hispani- scher Herkunft usw. Identitätspolitik wird durch die Betroffenen auch dadurch betrie- ben, dass sie stigmatisierende Zuschreibun- Protest äthiopischer Aktivisten und Aktivistinnen gegen gen (wie etwa Nigger) übernehmen, um Polizeigewalt, 2015 Foto: Activestills deren Bedeutung umzukehren. Identitäts- politik kann zur Angleichung an die Identi- dungsvätern angedacht. Sie sehen im Zio- tät der Mehrheit führen, wie zum Beispiel nismus den kolonialen Herd des Konflikts die eingeschlechtliche Ehe, sie kann aber mit den Arabern und glauben durch die auch durch die Überhöhung kultureller Be- Abkehr von ihm sozusagen das Rad der Ge- sonderheiten separatistische und funda- schichte zurückdrehen und eine idyllisch mentalistische Züge annehmen. verklärte Vergangenheit der Koexistenz von Arabern und Juden in der pränationalen Diese Gruppe von linksliberalen Intellektu- Ära wiederherstellen zu können. Sie leug- ellen und Kulturschaffenden in Israel for- nen die Existenz des neutralen staatlichen dert das Einbringen ihrer Herkunftskultur in Prinzips der mamlachtitut, die Ben Gurion das israelische Kulturgut, also die Umvertei- für entscheidend fand, um das mangelnde lung des „kulturellen Kapitals“, eine gleich- Staatsbewusstsein bei den aus der Zerstreu- mäßige Besetzung von Misrachim und ung eingeströmten Juden zu erwek-ken. Für Aschkenasim in allen wichtigen öffentli- sie verbirgt sich dahinter die verschleierte chen Einrichtungen, die Redistribution von jüdisch-europäische Hegemonie. Sie be- staatlichen Geldern und des Bodenbesitzes streiten die Existenz einer israelischen Iden- zugunsten der misrachischen Peripherie tität, die die Vorherrschaft des „weiße (Verteilungsgerechtigkeit), falls noch vor- Stamms“ der Aschkenasim bemäntelt. An- handen, die Aufhebung der als diskriminie- stelle der nationalen Identität soll eine plu- rend empfundenen Kanalisierung der ralistische Gesellschaft von partikularen Jugend in den sogenannten, mehrheitlich Gruppenidentitäten entstehen. Diese Form von orientalischen Einwanderern besiedel- des kulturellen Partikularismus stellt eine ten, Entwicklungsstädten in die berufliche Herausforderung an die Prämissen des zu- Schulbildung und die historische Aufarbei- kunftsorientierten Zionismus dar. Sie ist z. T. tung begangenen Unrechts an ihren Eltern rückwärtsgewandt und rekurriert auf die und Großeltern. Neueres Beispiel hierfür ist althergebrachte Bande der präzionistischen der vierteilige Fernseh-Dokumentarfilm: Diasporagemeinde im Maghreb oder in „Salah, hier ist das Land Israel“. den Nahoststaaten. Ein Teil dieser Gruppe bedient sich der post- Die postzionistische Haltung von einigen modernen und antikolonialistischen Rheto- unter ihnen allerdings unterscheidet sie rik und versteht sich als postzionistisch. von Positionen der Rechten in Israel, die Er fordert von daher die „Dekonstruktion“ sich ebenfalls zu Fürsprechern der Misra- des zionistischen „Meganarrativs“ der Neu- chim gemacht haben. Letztere wollen die schöpfung eines nationalstaatlichen, heb- partikularen Identitäten durch die überge- räischen Kollektivs, wie von den Grün- ordnete nationale Bande einfrieden, die 13
ersteren wollen sie auflösen. Die Ironie ist, schwingen z. T. in dem Jargon des Biton-Re- dass die meisten Juden aus arabischen ports mit. Postmoderne Termini wie Narra- Staaten, politisch rechts stehen, im Gegen- tiv, Hegemonie, Orientalismus, Eurozentris- satz zu den linksliberalen, teils postzionisti- mus, Anti-Kolonialismus, Kulturelles und schen Intellektuellen und Kulturschaffen- Symbolisches Kapital durchwirken den Re- den, die den Kampf gegen die Diskriminie- port. Er ist nicht frei von Widersprüchen, die rung der Misrachim auf ihr Panier geschrie- aus den entgegensetzten Denkfiguren der ben haben. postzionistischen Intellektuellen und der zionistischen Auftraggeber und Mitautoren Diese Identitätspolitik hat eine merkwür- einschließlich des Namensgebers der Kom- dige Liaison von rechten Politikern und mission herrühren. So lebten die Misrachim linksliberalen Postnationalisten zustande angeblich in Harmonie mit der arabischen gebracht, die z. B. in den sog. Biton-Report Umwelt, sie gehörten einer traditionalen mündete. Der Erziehungsminister Naphtali Gesellschaft an, die zuerst durch den euro- Bennet von der rechten nationalreligiösen päischen Kolonialismus in Konflikt mit ihren Traditionen und mit ihrer arabischen Um- welt geriet. Denn ein Teil der Juden nahm sich der Kultur der Kolonialmächte an. Sie waren nicht zionistisch und nicht nationa- listisch. Im Gegenteil, der Zionismus, der den europäischen Juden einen Ausweg bot, belastete noch mehr das Verhältnis von Juden zu ihrer arabischen Umwelt. Im Gegenzug soll der Behandlung des Zionis- mus und der modernen hebräischen Auf- klärung, die nun einmal zum historischen Bedingungsgefüge Europas und des asch- kenasischen Judentums gehören, eine ebenbürtige Darstellung jüdischer Gebilde- ter in der arabischen Welt und vermeintli- Der Biton-Report, Erez Biton und Naftali Bennet, 2016 cher oder wirklicher Vordenker einer proto- Quelle: Haaretz zionistischen Variante orientalischer Prä- Partei hat den Dichter nordafrikanischer gung folgen. Herkunft Eres Biton beauftragt, eine Kom- mission zu bilden, die die Darstellung der Misrachim und deren Geschichte im Bil- Forderung nach Proporz dungssystem durchkämmen sollte. Der Re- port ist für die einen eine längst fällige Die Kommission fordert den Proporz in der Korrektur des Narrativs (Geschichtsdarstel- Repräsentation des „misrachischen Narra- lung) der Misrachim, eine Bereicherung des tivs“ in allen einschlägigen Lehrfächern. Sie israelischen Mosaiks, für die anderen wie- fordert eine Symmetrie in der Darstellung derum eine aufgesetzte, von „politischer jüdischen Kulturguts aschkenasischer und Korrektheit“ durchsetzten Neufassung der sephardischer bzw. orientalischer Gemein- jüdisch-israelischen Geschichte und eine den. Im Fach Hebräische Literatur sollen Kampfansage an die Aschkenasim sowie an Werke misrachischen Genres stärker zu den westlichen Antlitz des Staates Israel. Worte kommen. Die Positionen der linksliberalen Gruppe, Ist die Behauptung gerechtfertigt, die Be- von denen einige in der Kommission saßen handlung der Geschichte und der kultu- oder als Berater herangezogen wurden, rellen Güter der Juden sephardischer und 14
schichte der sephardischen Juden, nach ihrer Vertreibung aus der Iberischen Halb- insel und der Juden in islamischen und ara- bischen Ländern eingeführt werden und allen Studenten Pflichtkurse zu diesen The- men auferlegt werden. Geschichte sephardischer Juden: Hunderttausende wurden im 15. Jh. aus Kastilien ausgewiesen. Spanische Illustration aus dem Mittelalter, Foto: Ullstein Orientalische Identitätsbeflissene Diese Form der intellektuellen Steuerung und des politisch motivierten, geistigen Hochseilakts wird nicht von allen begrüßt. Auch unter Intellektuellen orientalischer Herkunft wird die Militanz der rechten und linken Identitätsstreiter als vereinnahmend, bevormundend und gebieterisch empfun- den. Die Absonderungsversuche der iden- titätsbeflissenen, linksliberalen Intellektuel- len und Kulturschaffenden orientalischer Geschichte orientalischer Juden: Schulklasse der franko- jüdischen „Alliance Israelite Universelle“ in Tetuan, Marokko, Herkunft unterliefen, so die Kritik, in ihrer um 1910 Quelle: DAVID – Kulturzeitschrift eindimensional sektiererischen und „lands- mannschaftlichen“ Sichtweise den Grund- orientalischer Herkunft, nach der Vertrei- konsens und Zusammenhalt der Gesell- bung der Juden aus der Iberischen Halbin- schaft. Sie predigten die gesellschaftliche sel, komme zu kurz? Seit 1976 sind diese Diversität, laufen aber Gefahr die hetero- Themen zunehmend in die Schulbücher gene Gesellschaft auseinander zu dividie- eingegangen. Vielleicht nicht genug, das ren und das Gespür für die gesellschaftliche mag sein. Kann überhaupt eine künstliche Solidarität auszuhöhlen. Statt Verständnis Symmetrie in der Behandlung der westli- zu erzeugen, erregen sie Animosität. Die chen und orientalischen Juden gerechtfer- Kritik, auch aus den Reihen anderer Intel- tigt werden? Lehrpläne der Geistes- und lektueller orientalischer Abstammung, rich- Sozialwissenschaften können nicht quanti- tet sich gegen die Reduktion des Subjekts tativ austariert werden, sondern der Rele- auf sein Herkommen und gegen einen eth- vanz und der tatsächlichen historischen nisch bestimmten politischen Determinis- Wirkungsmacht der Themen entsprechend mus. Diese Koppelung der politischen Posi- erstellt werden. Vor der Shoah machten die tion an die Ethnie grenze an Rassismus. Juden in arabischen und moslemischen Ländern sowie die Nachkömmlinge der his- Diese identitätsbeflisssenen Streiter neh- panischen Juden im Balkan weniger als men für sich Anspruch aus der Position des Zehntel der weltweiten jüdischen Bevölke- diskriminierten „anderen“, d. h. aller Misra- rung aus. Leider ist die Stundenzahl der chim, über die „hegemonialen“ Aschkena- geistes- und sozialwissenschaftlichen Fä- sim herzufallen. Sie nennen sie in ihrer fast cher in den Schulen sowieso gering und die manichäischen Sichtweise „den weißen Kenntnisse der jüdisch-europäischen und Stamm“. Misrachim werden zur Negativfolie allgemeinen Geschichte sind schon eh der Aschkenasim. Sie verkehren oft abwer- spärlich. Nun sollen diese noch mehr ge- tende Klischees der Misrachim ins Positive. kürzt werden zugunsten dieser themati- Sie stellen mit Stolz den karikierten volks- schen Neugewichtung. In Universitäten tümlichen Traditionalismus heraus, setzen sollen Lehrfächer über die Kultur und Ge- die Folklore der Misrachim in Musik und Li- 15
stand“ der arabischen Gesellschaften für Is- rael nachahmenswert ist. Die israelische Soziologin nordafrikanischer Herkunft Eva Illuz beanstandet, dass sich diese linksliberalen Identitätsstreiter, statt eine breite, gemeinsame Plattform von Misrachim, Aschkenasim, Russen, Äthiopier und Araber anzustreben, die gegen soziale Missstände und Diskriminierung ankämpft, um eine solidarische, gerechte und demo- kratische Gesellschaft zu errichten, sich eth- Quelle: Israel Folklore nizistisch gebärden und so sich mit unde- teratur der klassischen und höheren Kultur mokratischen Parteien wie die „Schass“ zu- entgegen, betreiben eigene Dichtung, die sammentun. Statt als intellektuelle Weg- sie selbstgefällig als Vulgärdichtung be- weiser Frustration in produktive Bahnen zu zeichnen und beanspruchen Sprachrohr lenken und eine Politik der Hoffnung zu be- der Peripherie gegen den sogenannten treiben, säen sie Hass. Statt der Fragmentie- „Staat Tel Aviv“ zu sein. Invektiven gegen rung der Gesellschaft entgegenzusteuern, die Aschkenasim, denen eine „orientalisti- vertiefen sie die Risse. sche“ – sprich überhebliche europäische Haltung gegenüber den Juden aus arabi- Der amerikanische Philosoph Richard Rorty schen Ländern vorgeworfen wird, gelten beklagte diese narzisstische Fixierung auf als legitime Aufrechnung. Gegenkritik wird die eigene Gruppe der Identitätspolitik und allerdings als typische rassistische Anma- forderte die Rückkehr zu einem gesamtge- ßung des „weißen Stammes“ gedeutet. sellschaftlichen Liberalismus à la Roosevelt. Dabei sind viele dieser linksliberalen Strei- Der zeitgenössische amerikanische Ideen- ter in Universitäten bestens etabliert, ver- historiker Mark Lila sieht in dem Spaltpilz danken ihre Positionen und ihr Vokabular des identitätsfixierten Linksliberalismus den westlichen wissenschaftlichen Paradigmen, Grund für den Wahlsieg von Donald Trump. instrumentalisieren aber die wirkliche oder In Israel wirkt die Identitätspolitik nicht nur vermeintliche ethnische Kluft, um sich segregierend, sondern neigt dazu in Spu- Machtpositionen und Prestige, also eigenes rensuche zu schwelgen, statt konkrete so- kulturelles Kapital anzueignen. So fordert zioökonomische Probleme zu lösen. die Biton-Kommission Quoten in der Beset- zung des „Rats für Höhere Bildung“, dem Lenkungsausschuss der Universitäten. Die Vision einer neuen israelischen Identität Ausfälle gegen die „privilegierten“, „weißen“ europäischen Juden und gegen die zionis- Wie steht es nun um das zionistische Pro- tische Moderne sind der antikolonialisti- jekt, eine gemeinsame jüdische-israelische schen, antiwestlichen Rhetorik entlehnt. kulturelle Identität zu stiften? Und wie steht Aber es ist die westliche Zivilisation, die es um die Herausforderung, eine über- heute für Fortschritt steht und noch immer geordnete israelische Identität von Juden als Richtmaß für die vielgeschmähte Mo- und Nichtjuden zu errichten? Die Idee des derne gilt, deren Produkt diese Intellektu- Schmelztiegels dürfte überholt sein, und an ellen und Kulturschaffenden selber sind. ihrer Stelle könnte sich ein Zusammenle- Die Annahme Israel könnte, wenn es seine ben heterogener Gruppen einstellen, aller- westlichen Züge abstreift, sich in den dings unter anderen Vorzeichen als zwi- Nahen Osten besser integrieren, wirft die schen Aschkenasim und Misrachim, oder Frage auf, ob der bedenkliche „Zivilisations- zwischen russischen und etwa äthiopischen 16
Juden. Mit jeder neuen in Israel, besonders die kulturelle, religiöse und nationale iden- aus sogenannten gemischten Ehen, hervor- titäre Kluft. gehender Generation dürften sich die in- nerjüdischen ethnischen Unterschiede In der Armee, früher eine wichtige Integra- verflüchtigen. tionsschiene, dienen nur noch 50% der betroffenen Altersgruppe. Verschiedene Die Herausforderung für die das Selbstver- Erfahrungsräume erzeugen verschiedene ständnis der zukünftigen israelischen Ge- Erwartungshorizonte. Dem bisherigen Kon- sellschaft ist vom israelischen Staatspräsi- sens des jüdisch-demokratischen Staats dent Reuven (Ruvi) Rivlin in einem pro- entgegnen die ultraorthodoxen mit theo- grammatischen Vortrag im Juni 2015 ange- kratischer Heilserwartung, während israeli- schnitten worden. Die frühere Hegemonie sche Araber mit der Idee einer allgemeinen der weltlich, dann auch der gemischten, Staatsbürgernation oder der eines Mehr- weltlich und traditional-jüdischen Variante völkerstaates spielen. Die Option der Zwei- des Zionismus, weiche einer pluralistischen staatenlösung zwischen Juden und Paläs- Aufgliederung der Gesellschaft in verschie- tinensern wird durch die bi-nationale Vor- dene, sich in ihrer Stärke immer mehr an- stellung von anderen hinterfragt, die ent- gleichende „Stämme“. Er benannte zuerst weder den jüdischen oder den demokra- die früher tonangebenden, mehrheitlich tischen Charakter Israels zu untergraben Beispiele der Vielfalt der israelischen Gesellschaft weltlichen bzw. traditional-weltlichen Juden, droht. Diese Segmentierung sei eine Ge- zweitens die national-religiösen, drittens fahr, aber auch eine Chance. Die Einigelung die ultraorthodoxen Juden und viertens die jeder Gruppe in eine Minderheitenmenta- israelischen Araber. In den ersten Schulklas- lität sei zerstörerisch, so der Staatspräsident sen machen die zwei letzteren nicht-zionis- weiter. Rivlin, Mitglied des Likud und über- tischen Gruppen schon fast die Hälfte der zeugter Zionist, schlägt eine „neue israeli- Schüler aus. Separate Erziehungszweige sche Ordnung“ vor, die in manchen Zügen und oft getrennte Wohnorte verfestigen an postzionistische Vorstellungen erinnert, 17
obwohl ihr Minimalkonsens der jüdisch-demokra- Das nach dem Zeitpunkt des Vortrags beschlossene tische Staat sein soll. Nationalstaatsgesetz in Israel wiederum steuert einen anderen Kurs als den des Staatspräsidenten. Sie, so Rivlin, bedarf folgender vier Fundamente: Das Gesetz versucht der, aus der Sicht dessen Ini- 1. Die Gewissheit jeder Gruppe, dass eine Teil tiatoren, vermeintlichen Bedrohung des bisherigen habe an dem neuen gemeinsamen Projekt, jüdischen-nationalen Konsenses, entgegenzuwir- nicht den Verzicht auf ihre grundlegenden ken. Die im Gefolge des neuen Grundgesetzes Identitätsmerkmale erfordert. entfachte Diskussion im Lande sowie zwischen li- 2. Gemeinsame Verantwortung für das neue Ge- beralen Strömungen in der jüdischen Diaspora meinwesen. Das Aufbrechen des Mehrheit- und jüdischen, rechtkonservativen Protagonisten Minderheiten-Rasters, nimmt jede Gruppe in des Gesetzes offenbart die ideologische Manö- die Pflicht, Verantwortung für die Zukunft des vriermasse im israelischen Identitätsdiskurs. Staates und der Gesellschaft zu tragen. 3. Gerechtigkeit und völlige Chancengleichheit für alle Gruppen. Dr. Gad Arnsberg, geb. 1945. 4. Die größte Herausforderung von allen ist die Historiker und langjähriger Hoch- Schaffung einer gemeinsamen israelischen schullehrer am akademischen Identität. Das entstehende israelische Mosaik Beit Berl College und an der Uni- ist keine Last, sondern eine große Chance. Es versität Tel Aviv in Israel sowie Leiter der Internationalen Abtei- birgt in sich kulturelles Reichtum, Inspiration, lung des Beit Berl College. Wuchs Menschlichkeit und Sensibilität. in Israel und Deutschland auf. Studierte Volkswirtschaft an der Universität Frank- 70 Jahre nach der Gründung des Staates ist des- furt am Main und Geschichte und Politik an der sen Gestaltung längst nicht abgeschlossen.* Universität Tel Aviv. * Als Nachsatz fügt der Autor hinzu:
Sie können auch lesen