Istanbul Blues Annette Großbongardt - Leseprobe aus: Mehr Informationen zum Buch finden Sie hier.

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Leseprobe aus:

     Annette Großbongardt

         Istanbul Blues

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 Copyright © 2008 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin
1    Istanbul: Partystadt, Moloch,
     Zukunftsschmiede

Morgens, wenn Metin Saka zur Arbeit fährt, liegt ihm
der Bosporus zu Füßen. Die Straße führt am Ufer ent-
lang, vorbei an der alten Zwingsfeste Rumelihisarı, wo
der Osmanen-Sultan Mehmed II. 1453 den Angriff zur
Eroberung des christlichen Konstantinopel startete,
weiter durch das schicke Bebek, wo sich die Meerenge in
eine sanfte Bucht weitet, in der Segelboote und Motor-
yachten schaukeln. Metin Saka sieht riesige Gastanker,
Containerschiffe und Autofähren vorüberziehen, und
manchmal überholt er ein Kreuzfahrtschiff.
  Auch das Feinkostgeschäft, das er betreibt, liegt am
Bosporus in dem dörflichen Istanbuler Stadtteil Arna-
vutköy. Das Osmanische Reich siedelte hier einst Al-
baner vom Balkan an, um den muslimischen Bevölke-
rungsanteil zu erhöhen.
  Es ist ein kalter, regnerischer Wintertag, und Metin
Saka hat sich das Elektroöfchen unter den Kassentisch
gestellt. Ständig schwingt die Ladentür auf, und der Wind
vom Bosporus bläst herein. Wenigstens wenn er kassiert,
kann sich der Händler so ein bisschen wärmen. Ansons-
ten muss der Laden kühl bleiben, damit Käse und Wurst
nicht verderben. Schwarze Oliven aus Bursa, Honig aus
dem ostanatolischen Siirt, Dörrfleisch aus der Schwarz-
meerstadt Rize, Schafskäse aus Balıkesir – Saka bietet re-

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gionale Spezialitäten aus der ganzen Türkei an, «immer
von dort, wo sie am besten sind», betont er stolz.
   Ein Kunde tritt herein: «Abi, Bruder, schneid mir
doch ein Stück von dem weißen Käse ab, aber tam yali,
von dem fetten, bitte.» Dann kommt ein Wurstlieferant,
der klagt, Herr Metin habe schon länger nichts mehr bei
ihm bestellt. «Die Kunden mögen die anderen Marken
lieber, was soll ich machen?», erklärt ihm Saka und
nippt an seinem Tee, immer mit der Ruhe. Versöhnlich
klopft er dem Lieferanten auf die Schulter. Hier draußen
am Bosporus geht das Leben eben noch gemächlich zu.
   Nur eine Viertelstunde entfernt stehen die glitzernden
Bürotürme und Shopping Malls von Levent, dröhnt der
Verkehr auf den beiden fast immer verstopften Stadt-
autobahnen, die sich durch endlose triste Hochhaussied-
lungen, billige Massenquartiere, ziehen.
   Als Metin Saka 1962 als Sohn eines Fischers in Is-
tanbul geboren wurde, zählte die Stadt gerade mal gut
anderthalb Millionen Einwohner. Doch mit jedem Jahr
strömten mehr Zuwanderer aus den armen Regionen
Anatoliens und vom Schwarzen Meer hierher. Bis heu-
te hat sich die Bevölkerung fast verzehnfacht, offiziell
leben zwölf Millionen Menschen in Istanbul, Schätzun-
gen gehen von mindestens vierzehn Millionen aus. Die
Stadt ist zu einer gigantischen Megacity gewachsen, ver-
gleichbar mit Delhi, Jakarta, dem Großraum New York
oder São Paulo.
   Wie sich seine Heimat dabei veränderte, hat Metin
Saka mit wachen Augen verfolgt, seit er vor elf Jahren
aus Deutschland zurückkam. Sein Vater hatte als Gast-
arbeiter in Stuttgart angeheuert. Saka ging dort zur
Schule, machte eine Lehre, arbeitete als Lackierer.

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Als er 1997 nach Istanbul heimkehrte, hatte die Armee
gerade wieder mal eine Regierung von der Macht ver-
drängt, unruhige, instabile Jahre folgten, bis zur großen
Wirtschaftskrise 2000/2001, als die Lira abstürzte, die
Inflation auf 68 Prozent kletterte und über eine Million
Menschen ihre Arbeit verloren.
  Seitdem aber geht es wirtschaftlich steil aufwärts.
Metin Saka hat es vom Angestellten zum Ladenbesit-
zer gebracht. In der Straße vor seinem Geschäft fahren
abends reiche Istanbuler in dicken Jeeps vor und werfen
ihren Schlüssel einem der vielen Einparker zu, ohne die
in Istanbul nichts mehr geht. Dann setzen sie sich in ei-
nes der wunderbaren Fischlokale mit Bosporusblick.
  «Die Türkei ist wohlhabender geworden – und selbst-
bewusster», meint Saka. Er ist für die EU, «eine gute
Organisation», wie er findet. Aber inzwischen überlegt
er auch schon mal, «ob wir Europa vielleicht gar nicht
brauchen». Er hat nun ein Haus in Tarabya, dem frühe-
ren Fischerdorf am Bosporus, in dem er geboren wurde
und in dem noch heute die prächtige weiße Villa steht,
die Kaiser Wilhelm I. 1885 als Sommerresidenz für die
deutschen Botschafter bauen ließ. In seinem Laden be-
schäftigt der Feinkosthändler nun selbst mehrere Helfer,
und drüben, am asiatischen Ufer der Stadt, baut er ein
zweites Geschäft auf.

Istanbul ist das Herz des Aufschwungs, der Wachstums-
motor der Türkei. Sechzig Prozent der Im- und Exporte
des Landes laufen über die Metropole, mehr als ein Fünf-
tel des Bruttoinlandsprodukts wird hier erwirtschaftet,
aus Istanbul fließt das meiste Steuergeld in die Staats-
säckel. Hier haben die großen Banken und die interna-

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tional erfolgreichen Unternehmen wie der Pharmariese
Eczacıbaı, der Röhrenhersteller Borusan, der Hausgerä-
tehersteller Arçelik oder der Bierbrauer Efes ihren Sitz,
aber auch kreative Jungunternehmer sind erfolgreich.
Für ausländische Investoren ist die Türkei ein attrakti-
ver Standort geworden.
   Istanbul ist die Zukunftswerkstatt der Türkei. Hier
werden das Tempo und die Richtung bestimmt, in der
sich das Land entwickelt. Hier kann man die Leistungs-
kraft dieses jungen Landes spüren. 36 Prozent der Bevöl-
kerung sind unter neunzehn Jahren.
   In Istanbul ballen sich die Elite-Universitäten des
Landes, trifft sich internationales Publikum zu Messen
und Konferenzen, bewegt sich die Kunst-, Musik- und
Filmszene. Hier leben die bedeutendsten Schriftsteller
der Türkei, Yaar Kemal, Orhan Pamuk, Elif afak, Pe-
rihan Maden, Ahmet Altan und Murathan Mungan,
entstehen neue Museen, finden sich die angesagtesten
Clubs.
   In Istanbul sei «immer alles in Bewegung», schwärmt
der deutsch-türkische Erfolgsregisseur Fatih Akın, der
die Millionenstadt immer wieder zum Schauplatz seiner
Filme macht, zuletzt in «Auf der anderen Seite», einer
deutsch-türkischen Ballade über Liebe, Einsamkeit und
Tod. Auch in seinem Musikfilm «Crossing the Bridge»
streift Akın durch Istanbul, alles fließt in diesem Film,
der Sound, die Stimmung und die Bilder. «Crossing the
Bridge» trug in deutschen Szenekreisen mit dazu bei,
dass Istanbul zur Kultstadt wurde. Der Film zeigt eine
multikulturelle, entspannte Türkei, eine Türkei, wie
Europa sie sich wünscht. So weit ist das Land noch
nicht, aber der Wandel hat begonnen. Das kann man in

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Istanbul besonders gut spüren. «Die Stadt erlebt gerade
ihre Wiedergeburt», schwärmt Fatih Akın.
   Mehrere Wochen im Jahr verbringt der Hamburger
türkischer Herkunft hier. Dann sitzt er am liebsten in
einem der Kaffeehäuser von Beyolu, dem europäischs-
ten aller Istanbuler Stadtteile, schaut dem Treiben zu
und sammelt Ideen. Hier, auf dem Hügel am Goldenen
Horn, wo Genueser Handelsleute im späten 13. Jahr-
hundert eine Kolonie gegründet hatten, kam Europa
nach Istanbul.
   Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ent-
stand in Beyolu eine moderne Verwaltung, gemischt
besetzt mit Muslimen und Christen. Wo über Jahrhun-
derte traditionell die Weinschänken der Griechen zu fin-
den waren, siedelten sich ausländische Vertretungen an,
öffneten Banken, Hotels, Krankenhäuser, Theater, Mu-
seen und sogar Kaffeehäuser im französischen Stil. Ganz
wie in Paris ging man ins «Café du Luxembourg» oder
ins «Café de la Couronne», in denen adrett gekleidete
Kellnerinnen feingebrühten Kaffee und ein Glas Wasser
auf einem Tablett servierten.
   Beyolu ist heute ein Szeneviertel, in das die Touristen
strömen. Die kleinen Gassen, die von der historischen
Fußgängermeile, der Istiklal Caddesi, abzweigen, sind
voller Restaurants und Musikkneipen. Vor allem den ex-
klusiven Dachgarten-Bars mit einzigartigem Panorama-
blick auf das Goldene Horn und das Marmarameer, auf
Moscheen und Paläste verdankt Istanbul nun seinen Ruf
als globale Partystadt und Fun-City. Bier, Rakı, Wein, Gin
Fizz und Bloody Mary, die Barkeeper mixen fast jeden
Drink nach Wunsch. In Istanbul zeigt die Türkei, wie
sie westliche Spaßkultur mit dem Islam vereinbart, wie

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sie den Spagat zwischen Minarett und Minirock schafft.
Weil zwischendurch der Muezzin ruft, weil es Wasser-
pfeifen, Dampfbäder und alte Basare gibt, wo Laufbur-
schen mit Henkeltabletts voller Gläser mit dampfendem
Tee von Laden zu Laden eilen, riecht die Stadt ein wenig
noch nach Orient. Auch deshalb lieben Touristen Istan-
bul. Allein 2007 reisten fast sieben Millionen auslän-
dische Besucher an den Bosporus, ein Großteil von ihnen
Deutsche. Alle, die Istanbul gesehen haben, schwärmen
von der schönen Stadt am Wasser. Selbst strikte Gegner
eines türkischen EU-Beitritts wie Angela Merkel oder
Wolfgang Schäuble erliegen ihrem Charme.
   Bestünde die Türkei nur aus Istanbul, wäre sie be-
stimmt längst in der EU.
   Die betagte Metropole mit ihrer mehr als 2600 Jah-
re alten Geschichte aus Byzanz, Ost-Rom und Osma-
nischem Reich gilt als «hip» und «sexy», internationale
Gazetten feiern die Stadt als «schnellste Metropole des
Morgenlandes» und «eine der coolsten Städte der Welt».
Im britischen «Wallpaper», der Trend-Bibel für neuesten
Stil und Geschmack, hängte Istanbul 2007 sogar erst-
mals New York, Stockholm, Peking und Wien ab und
holte sich, auch wegen seiner vielen kreativen Jung-De-
signer, den Titel «beste Stadt».
   Pracht und Wohlleben standen für die alte osmanische
Türkei der Sultane, in Atatürks neuer Republik galt das
als dekadent. Nun ist die Lust am Luxus zurückgekehrt.
Die Istanbuler Schickeria zeigt, was sie hat, mit ihren
protzigen Jeeps, schicken Yachten, edlen Outfits auf
exklusiven Partys. Immer neue, immer prächtigere Ein-
kaufspaläste entstehen mit ausländischen Edelmarken
wie Harvey Nichols, Ferragamo, Fendi, Louis Vuitton,

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Wallis, Wagamama, aber auch türkischen Kreationen
von Vakko, Beymen und Mudo.
   Im Nobelhotel «Les Ottomans», eingerichtet in ei-
nem alten Pascha-Palast direkt am Bosporus, kosten die
Suiten ab 800 Euro pro Nacht. Das Interieur folgt osma-
nischem Stil – satte, schimmernde Farben, viel Glanz
und Gold, üppige Kissen, kunstreiche Ornamente, Spie-
gel und handgeschnitzte, perlmuttverzierte Möbel.
   Auch die alten prachtvollen Holzvillen der Osmanen,
lange vernachlässigt, für den Straßenbau geopfert oder
von Grundstücksspekulanten zerstört, sind wieder be-
gehrt und werden aufwendig restauriert. Dort residieren
die reichsten Familien der Türkei. In Istanbul ist das
Geld zu Hause: Nach Moskau, London und New York
ist die Bosporus-Metropole die Stadt mit den meisten
Milliardären, hat das Magazin «Forbes» recherchiert.
   Häufig gilt Istanbul als eine Art türkische Sonderzone,
die für den Rest der Türkei, insbesondere für das anato-
lische Hinterland, nicht repräsentativ sei. Sicher, Istan-
bul ist nicht die ganze Türkei, aber sie enthält alles, was
die Türkei ausmacht: ihr gewaltiges Potenzial, ihren
Erfolg, aber auch ihr Versagen, ihre typischen Probleme,
Nöte, Defizite. Und mit Millionen Arbeitsmigranten,
die nach Istanbul kamen, ist Anatolien längst ein Teil
von Istanbul geworden – und damit sind es auch soziale
Not, Arbeitslosigkeit, mangelnde Bildung, Wut und Re-
signation.
   Tiefe Widersprüche bestimmen die Türkei auf ihrem
Weg in die Zukunft, sie spiegeln sich besonders deut-
lich in Istanbul. Die kosmopolitischste aller türkischen
Städte ist auch eine Hochburg der Nationalisten, hier
agitiert die ultranationalistische «Große Anwaltsver-

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einigung», die Dutzende von Schriftstellern und Intel-
lektuellen, auch Orhan Pamuk, wegen «Beleidigung des
Türkentums» vor Gericht zerrte.
   Hier, im belebten Stadtzentrum, auf dem Bürgersteig
vor seiner Zeitungsredaktion, wurde der türkisch-
armenische Journalist Hrant Dink erschossen. Und
mitten in Istanbul, der westlichsten Stadt des Landes,
liegen tiefreligiöse Bezirke wie das Wallfahrtszentrum
Eyüp am Goldenen Horn, wo ein Bannerträger des
Propheten Mohammed begraben sein soll, oder Fatih,
wo Frauen von Kopf bis Fuß schwarz verschleiert sind,
Männer religiöse Bärte und Kappen tragen. Einige Stra-
ßen dort werden von islamischen Orden kontrolliert,
es gibt kein Fernsehen, keine Banken und keinen Al-
kohol.
   Deutlicher sichtbar noch als anderswo ist in Istanbul
das krasse soziale Gefälle, das die Türkei prägt. Der
Wohlstand der Aufschwungsjahre hat die Unterschicht
bisher nicht erreicht. Die türkischen Soziologen Aye
Bura und Calar Keyder sprechen von einer neuen
Armut auch in den Städten, obwohl die soziale Not
auf dem Land immer noch am größten ist. Aber weil
sich Istanbul vom Industriestandort immer mehr zum
Dienstleistungszentrum wandelt, finden ungelernte Ar-
beitskräfte nicht mehr so einfach Jobs. Auch können sie
sich ihre Unterkünfte nicht mehr wie frühere Zuwan-
derer selbst zimmern. Es gibt Stadtteile in Istanbul, etwa
das Migrantenviertel Tarlabaı, nur zehn Minuten vom
quirligen Beyolu entfernt, die fast zu Slums herunterge-
kommen sind. Auch in den tristen Arbeitervorstädten
entlang den Autobahnen ist vom Glanz der schönen
Stadt am Bosporus nichts zu spüren.

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