Istanbul im Kontext der Europäischen Stadt

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Istanbul im Kontext der Europäischen Stadt
Katharina Sucker

Städte verändern sich, ihre Bevölkerungszahlen wachsen oder schrumpfen, Ar-
beitsmarkt, Politik und kulturelle Lebensweisen lassen eine Stadt oft binnen
kurzer Zeit zu einem anderen Ort werden. Der Dynamik des Wandels sind alle
Elemente, die eine Stadt ausmachen, gleichermaßen unterworfen – mit einer
Ausnahme. Das Bild der Stadt scheint einer anderen Logik unterworfen. Es
scheint sich oftmals binnen weniger Jahre radikal zu ändern, oder es scheint
vollkommen zu erstarren.
      So tragen Städte im asiatischen Raum kaum noch eine Erinnerung an ihre
Tausende von Jahren alte Geschichte in sich, während die Städte Europas, zu-
mindest in ihrem historischen Kern, in dem visuellen Erscheinungsbild einer
mehrere Jahrhunderte zurückliegenden Epoche verharren.
      Welche Kräfte jedoch sind für die Entstehung und Veränderung städtischer
Strukturen verantwortlich, und was lässt sich über den Fortbestand des Bildes
der europäischen Stadt sagen?
      Gerade im Kontext großer Stadtmarketing-Projekte wie der Europäischen
Kulturhauptstadt steigt die Intensität der Auseinandersetzung mit der europä-
ischen Lebensweise und der Beschaffenheit kultureller Werte, welche sich in den
Räumen historisch gewachsener Städte niedergeschlagen haben. Dennoch gilt als
europäisch, was sich an den Regelkatalog europäischer Idealbilder hält. Ob und
inwiefern jedoch das, was die europäische Gesellschaft heute vorantreibt, mit
diesen Idealbildern kompatibel ist, scheint nicht von allzu großer Bedeutung zu
sein.
      Als Titelträger der Europäische Kulturhauptstadt 2010 macht Istanbul die-
sen Konflikt nur allzu deutlich. Die Planungs- und Strukturveränderungsmaß-
nahmen, welche im Hinblick auf die Europäisierung der Stadt vorgenommen
worden sind, tragen zwar europäische Namen, weichen jedoch vom Bilde grün-
derzeitlicher Blockrandbebauung, sozialer Durchmischung und dem Wechsel-
spiel zwischen öffentlichen und privaten Räumen eindeutig ab.
      Istanbul hat seine eigene Interpretation europäischer Lebensweise baulich
geäußert, was für eine Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität
von nicht unerheblichem Interesse ist.

O. Frey · F. Koch (Hrsg.), Die Zukunft der Europäischen Stadt,
DOI 10.1007/978-3-531-92653-7_20,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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     Dieses liegt in der Erkenntnis begründet, dass der Gegenstand städtebauli-
cher Probleme verkannt wird, wenn Planungstätigkeiten auf der Grundlage von
Wirklichkeiten getroffen werden, die nicht (mehr) bestehen.
     In diesem Fall kann davon ausgegangen werden, dass planerische Interven-
tionen auf der Basis falscher Erkenntnisse vorgenommen werden und dieses
solange gilt, wie die bauliche Struktur der Stadt wieder in einen Zustand der
Wechselwirkung mit der Gesellschaft gebracht wird. Dass dieser Zustand der
Inkongruenz für viele Städte Europas gilt, ist mehrfach beobachtet und beschrie-
ben worden:
     „Die physische Gestalt der Stadt ist Produkt, Gefäß und Symbol sozialer
Verhältnisse. Die Gesellschaft, die die Gestalt der traditionellen europäischen
Stadt hervorgebracht hat, existiert nicht mehr.“ (Siebel 2004: 35)
     Die Aufgabe dieses Beitrages lautet nun zu überprüfen, warum die räumli-
che Entwicklung Istanbuls, einer Stadt, welche sich bis dahin mehr und mehr
europäischen Rahmenbedingungen angenähert hat, dennoch vom Bild der euro-
päischen Stadt abweicht und ob sich auf der Basis historisch vergleichender
Evaluierungen Prognosen für die Zukunft der europäischen Stadt aufstellen las-
sen. Für diese Untersuchung ist es deshalb notwendig, jene Faktoren isoliert zu
betrachten, welche die Struktur der europäischen Stadt haben entstehen lassen.
Diese Faktoren werden dann auf ihre Gültigkeit, innerhalb der Stadtentwick-
lungsgeschichte Istanbuls überprüft, um zu einer Antwort auf die Frage zu ge-
langen, ob Istanbul für den wissenschaftlichen Diskurs als eine europäische Stadt
bezeichnet werden kann oder nicht.
     Basierend auf den Ergebnissen dieser Untersuchung sollen diejenigen Ele-
mente, welche im historischen Rückblick als abweichend herausgestellt werden
konnten, anschließend genauer betrachtet werden, um sie im Hinblick auf die
veränderte Raumproduktion zu bewerten. Den Ausgangspunkt für diese Ausei-
nandersetzung bietet die Definition Walter Siebels, der auf der Basis von fünf
unterschiedlichen Merkmalen die Gesamtheit des Begriffes der traditionellen
europäischen Stadt zusammengefasst hat. Um uns näher mit den von Siebel an-
geführten Merkmalen auseinandersetzen zu können, sollen diese hier zunächst
einmal genannt werden:

      Die erste ist die „Präsenz von Geschichte im Alltag des Städters“ (2004:
      13), deren Kern vor allem in der Emanzipationsgeschichte des Bürgertums
      im Zuge des ausklingenden feudalen Systems liegt.
      Die zweite beruft sich auf die Stadt als utopisches Versprechen und Wegbe-
      reiterin der wirtschaftlichen Unabhängigkeit und politischen Emanzipation
      (2004: 14).
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     Drittens gilt die Stadt als „besonderer Ort einer urbanen Lebensweise“,
     deren Besonderheit vor allem in der Trennung zwischen privater und öffent-
     licher Sphäre liegt, welche ihrerseits ihren Ausdruck im Raum der Stadt hat
     (2004: 14).
     Als vierter Aspekt erscheint wiederum das Bild von der Gestalt der Europä-
     ischen Stadt, und zu guter Letzt schließt Siebel mit der sozialstaatlichen Re-
     gulierung der Europäischen Stadt, welche ihre Wirkung unter anderem in
     der Stadtplanung durch die regulierenden Maßnahmen der Stadtverwaltung
     als zivilgesellschaftlicher Institution sowie durch den sozialen Wohnungs-
     bau entfaltet (2004: 17f.).

Die genannten Merkmale lassen sich in eine historische Ursache-Wirkungs-
Abfolge einordnen, welche typisch ist für eine relative kleine Region in welcher
mit Ausgang des Feudalismus erstmalig die Stadt zum Zentrum der Kapitalak-
kumulation erhoben wurde. Durch die Befreiung der Gesellschaft aus der Mo-
narchie rückte diese selber ins Zentrum städtischer Verwaltung und etablierte
sozialstaatliche Umverteilungsmechanismen welche jene vorrangegangen zentra-
listischen Strukturen ersetzte.
      Wir haben es also mit einem Erklärungsmodell für einen bestimmten Typ
von Stadt zu tun, welcher sich innerhalb des weltwirtschaftlichen Trends als
einzigartig herausgebildet hat.
      Dennoch sind weder die kapitalistische Wirtschaft, noch die Etablierung
bürgerlicher Verwaltungsstrukturen oder die Existenz eines Bürgertums über-
haupt Phänomene welche nur die europäische Stadt vorzuweisen hat. Sie sollten,
wie dies im eurozentristischen Diskurs oft geschieht, keinesfalls als zwangsläu-
fig miteinander verkoppelt dargestellt werden.
      Eine weltwirtschaftliche Perspektive ist für eine korrekte Platzierung dieser
Beobachtungen daher von großer Bedeutung.

     Schon bei Siebel wird die Gültigkeit einzelner der genannten Merkmale auch für an-
     dere Städte außerhalb Europas nicht ausgeschlossen.
     „Keines dieser Merkmale kann für sich genommen eine Besonderheit der Europä-
     ischen Stadt begründen, denn keines benennt etwas, das einzig die Europäische
     Stadt charakterisieren würde. Für jedes finden sich Beispiele außerhalb Europas.
     Auch findet sich nicht jedes Merkmal gleichermaßen in jeder Stadt Europas. Aber in
     ihrer Summe beschreiben die fünf Merkmale einen Idealtypus von Stadt, der so nur
     auf die Europäische Stadt zutrifft.“
     ( Siebel 2004: 12)

Trotzdessen wird die räumliche Ausprägung der Stadt, ihr Bild, auf den für die
postfeudale europäische Gesellschaft typischen Werdegang bezogen. Das Erklä-
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rungsmodell Siebels legt also nahe, dass gerade das Ineinandergreifen der ge-
nannten Merkmale die räumliche Ausprägung der Europäischen Stadt hervorge-
rufen hat.
     Um Rückwirkend zu einer Aussage über das Verhältnis zwischen Raum-
produktion und Gesellschaft zu gelangen und dieses für die heutige Zeit der
Stadtentwicklung neu zu bewerten ist es deshalb notwendig, die genannten
Merkmale unabhängig voneinander und über den Rahmen des Erklärungsmo-
dells hinaus zu betrachten.
     Istanbul ist dabei für unsere Untersuchung von besonderem Interesse, da ihr
eine Entwicklungsgeschichte zugrunde liegt, an der sich alle Merkmale Walter
Siebels nachvollziehen lassen. Sie kann also nach dessen Definition als dem
Typus der Europäischen Stadt zugehörend gelten. Dennoch würde sie bei einer
weltgeschichtlichen Kontextualisierung nicht als jene typische Europäische Stadt
bezeichnet werden, auf welche sich Siebels Erklärungsmodell bezieht. Die Aus-
einandersetzung mit Städten anderer Weltregionen ist daher von großer Bedeu-
tung, um Hintergründe für die zeitgenössischen Probleme der Europäischen
Stadt zu ermitteln. Istanbul ist historisch an einer Schnittstelle unterschiedlicher
Herrschaftsstrukturen einzuordnen. Sie steht bis heute im Spannungsfeld zwi-
schen autoritativer Bürokratie und bürgerlicher Selbstverwaltung. Die Institutio-
nalisierung von Privateigentum als Basis des europäischen Kapitalismus ist
durch wiederholte Rezentralisierungsmaßnahmen wieder und wieder in Frage
gestellt worden und somit die Etablierung bestimmter sozialstaatlicher Struktu-
ren, welche sich in Europa in Wechselwirkung mit der Raumproduktion als typi-
sierende kulturelle Traditionen und Lebensweisen herausgebildet haben. Istanbul
ist demzufolge ein Beispiel für eine Stadt, welche die globalen Tendenzen des
Neoliberalismus quasi ungehindert in die Raumproduktion integriert hat, und
demonstriert deshalb die Wirklichkeiten auch der postmodernen europäischen
Gesellschaft anhand seiner räumlichen Ausprägung. In den folgenden Abschnit-
ten soll nun näher auf die Merkmale Walter Siebels eingegangen werden.

1     Zuerst die Bourgeoisie – zur Rolle bürgerlicher Tradition und
      Selbstverwaltung

Bis zum Untergang des Osmanischen Reiches war Istanbul eine Handelsmetro-
pole ohne einen etablierten Produktionssektor und somit auch ohne eine Klas-
sengesellschaft im Sinne Webers (2002) Es existierte aber dennoch eine Bour-
geoisie. Diese ging vornehmlich aus den Reihen einer ausländischen Handelseli-
te hervor, welche den – in das Steuersystem des Reiches integrierten – Handels-
standort Istanbul als Umschlagplatz ihrer Waren nutzte.
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      Im Rahmen der Reformen von Tanzimat um 1850 ist diese städtische Elite
unter anderem für die Institutionalisierung von Privateigentum verantwortlich,
ein Recht welches sie für die Errichtung eigener kultureller Einrichtungen und
deren Legalisierung als Privatbesitz anstrebte. Dies war voraussetzend für die
Entstehung eines komplexen Verwaltungssystems, dem der Schutz von Privatei-
gentum sowie das Management öffentlicher Einrichtungen und die Pflege öffent-
lichen Raumes zu teil wurde.
      Ein wichtiger Unterschied jedoch besteht im geringen Einfluss der Bour-
geoisie auf einen weiterführenden Prozess der Demokratisierung und der He-
rausbildung der Kommune als starke zivilgesellschaftliche Institution. Im Falle
Istanbuls ist die Bourgeoisie, so Tekeli, (1982: 71) durch den Staat selber in
Leben gerufen worden und aus diesem Grunde weitaus weniger bedeutend als ihr
europäisches Äquivalent was die Verfestigung ziviler Institutionen betrifft.
      Tekeli betont, dass – obwohl das Erstarken der Lokalverwaltung als zivil-
gesellschaftliche Institution durch die Beschaffenheit der Bourgeoisie gehemmt
war – sie dennoch über eigene lokale Entscheidungsgewalt verfügte und dies
auch im Interesse der Einwohnerschaft einzusetzen verstand. Auf lokalpoliti-
scher Ebene lässt sich infolgedessen auch die Initiierung öffentlicher Verwal-
tungseinrichtungen und Dienstleistungen beobachten, die sich durch eine öffent-
liche Sphäre und eine entsprechende Bauweise manifestierte. Die strukturellen
Veränderungen der Stadt nach Durchsetzung der Reformen lässt uns leicht ver-
gessen, dass – obwohl die Auswirkungen auf den Raum ähnlich denen der west-
europäischen Entwicklung gewesen sind – sie dennoch nicht auf die spezifisch
Eigenarten einer Klassengesellschaft mit Emanzipationshintergrund beruhen.
      Der hauptsächliche Unterschied ist dabei dass trotz lokaler Dezentralisie-
rung, der Staat selbst die fiskalische Umverteilung zur Erhaltung sozialer Ge-
rechtigkeit in die Hand nimmt und diese in die Stadtproduktionsmodalitäten
einbezieht.
      Anders im frühindustriellen Europa: Dort ist das Streben nach Gerechtigkeit
allein an die Fähigkeit der unteren Schichten gebunden, sich politisch zu organi-
sieren und über zivile Organisationen ihre Forderungen nach wirtschaftlicher
Teilhabe zu artikulieren. In Istanbul hat privater Grundbesitz in der Stadt alleine
– also ohne zivilgesellschaftlich gesteuerte Umverteilungsmechanismen – zur
Etablierung öffentlicher Räume geführt, die im Kontext europäischer Urbanisie-
rungstheorien leicht falsch interpretiert werden könnten.
      Die autoritative Tradition erlebte mit Untergang des Osmanischen Reiches
einen Bruch. Das Abreißen gesellschaftlicher Kontinuität wurde unter Mustafa
Kemal zum Paradigma einer Nationalstaatsbildung, der die Reproduktion der
westlichen Moderne zur Schaffung einer nationalen türkischen Bourgeoisie und
Produktionswirtschaft als Hauptziel galt (Atasoy 2005: 36).
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      Da der Prozess der Turkifizierung die Wiederaneignung von in fremder
Hand befindlichem Eigentum mit einschloss, wurde der Nation die Basis für
einen Übergang in eine auf zivilgesellschaftlichen Strukturen basierende Raum-
produktion genommen. Gleichzeitig zu jenem augenscheinlichen strukturellen
‘Rückschritt’ jedoch legte die veränderte Wirtschaftspolitik der Republik eine
neue Grundlage für den Prozess der Wiederaneignung durch das Volk, welcher
gekoppelt war an den Übergang in eine industrielle liberale Klassengesellschaft
ähnlich der West-Europas, jedoch in einem weitaus früheren Entwicklungssta-
dium.
     Nach der Wirtschaftskrise und im Vakuum der Übergangsperiode setzte ein
durch Binnenmigration hervorgerufenes massives Bevölkerungswachstum ein,
welches die leer stehenden innerstädtischen Viertel füllte und sich anschließend
weiter entlang der entstehenden Kleinindustrieareale am Goldenen Horn fortsetz-
te. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Stadt in einem Entwicklungsstadium, in
welchem die einstmals in die osmanische imperialistische Kultur eingebetteten
Strukturen sozialer Umverteilung bereits abgeschafft waren, es aber noch keine
anderen sozialstaatlichen Werkzeuge der Integration gab. Aus diesem Grunde
kam es zu einer Überlagerung der formellen bürgerlichen Strukturen des alten
Handelszentrums durch informelle Strukturen.
     Dies führte dazu, dass Istanbul erstmals deutlich vom Bild der Europäischen
Stadt abrückte. Ehemalige, gutbürgerliche Viertel verloren recht schnell ihr kos-
mopolitisches Flair und verkamen während der 50 Jahre zu heruntergekomme-
nen Unterhaltungsmeilen für eine vornehmlich männliche Arbeiter-Kundschaft,
die nach der Arbeit aus den Industrie-Arealen in die alt-bürgerlichen Quartiere
heraufzog.
     Solange die Erschließung der Stadt für die kemalistische Elite nach Norden
voranschreiten konnte, wurde die Informalisierung des ehemaligen Zentrums
nicht zum Problem kultureller Konfrontation. Jedoch entstand dabei mangels
einer einheitlichen Entwicklungsstrategie ein Nebeneinander von Formalität und
Informalität, das von einer starken Nord-Süd-Dichotomie geprägt war, die zur
Grundlage für eine duale Stadtentwicklung werden sollte. (vgl. Esen 2005a: 126)

2     Emanzipation im Schnelldurchlauf. Sozialstaatliche Regulierung als
      Selbstbedienungskonzept

Die Zeit, die mit der Landflucht und Verstädterung einsetzte, ist eigentlich eine
Phase gewesen, die an gesellschaftlichen Veränderungen das aufholen würde,
was in Istanbul bereits mit den Tanzimat-Reformen begonnen hatte, sich aus
zwei Gründen jedoch bislang nicht durchsetzen konnte. Erstens war die Etablie-
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rung einer bürgerlich-selbstverwalteten Stadt durch die Hemmung zivilgesell-
schaftlicher Organisation im Osmanischen Reich gehemmt. Zweitens wurde jene
osmanische Bourgeoisie mit Etablierung der Republik enteignet und durch anti-
liberale Paradigmen von einer Einmischung in das Stadtgeschehen abgehalten.
Ohne diese Voraussetzungen zum gesellschaftlichen Aufstieg waren die ersten
20 Jahre der Republik eine Zeit der Stagnation. „Workers were not permitted to
strike or form unions. In 1938 the association law consolidated the labour law
by denying both the existence of classes and the right to establish class-based
organizations.” (Atasoy 2005: 57)
      Es ergab sich jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg nun ein erneuter Rich-
tungswechsel, mit dem sich Istanbul stärker als zuvor in den europäischen Ent-
wicklungsdiskurs einzufügen begann. Die politische Lage für die Türkei wäh-
rend des Kalten Krieges machte die Demokratisierung des Parteiensystems er-
forderlich, ein Schritt, der für den Aufstieg der Arbeiterklasse grundlegend war.
Ihre auf diesem Wege erlernten Mechanismen der Integration und der Aneignung
sind ausschlaggebend dafür, um hierfür eine Parallele zur Europäischen Stadt
hinsichtlich von Siebels zweitem Kennzeichen ziehen zu können, dem der Stadt
als Wegbereiter wirtschaftlichen Aufstiegs und politischer Emanzipation.
      Beschleunigt war die Geschichte der Emanzipation durch die Entwicklungs-
strategie der 50er und 60er Jahre, welche alle staatlichen Ressourcen in den in-
dustriellen Sektor fließen ließ, um dadurch eine weitestgehende Unabhängigkeit
von Importen von außen zu erreichen. „Die Konsequenz für die Stadtentwick-
lung war die Minimierung sowohl staatlicher als auch privater Investitionen in
die gebaute Umwelt.“ (Sengül 2005: 82)
      Die Stadtbevölkerung, welche bis 1980 um mehrere Millionen Menschen
anwuchs, war ohne staatliche Unterstützung oder Daseinsvorsorge auf sich selbst
angewiesen. Dennoch blieb trotz des Fehlens von sozialstaatlicher Reglementie-
rung und sozialer Wohnungspolitik, welche laut Siebel in europäischen Städten
die Bildung von Slums bislang verhindert haben, das Aufkommen derselben in
Istanbul aus (vgl. Siebel 2004: 17). Der Staat stellte den neuen Bewohnern Istan-
buls ein anderes Modell der Integration bereit, das darin bestand, urbanen Grund
und Boden von dem Prozess der Kapitalakkumulation auszuschließen. Während
staatliche Investitionen zunehmend dazu verwendet wurden, den Prozess der
Industrialisierung voranzutreiben, fand die Produktion der Stadt auf Basis einer –
durch Kleinkapital und eigene Ressourcen der wachsenden Bevölkerung finan-
zierten – „Selbst-Bedienungsurbanisierung“ (Esen 2005b) statt.
      Land als öffentliche Ressource, und nicht etwa sozialer Wohnungsbau und
staatlich regulierte Gehälter, bildete das Integrationsmodell für das Stadtwach-
stum durch Migration. Im Übergang von zentraler Umverteilung zu zivilrechtli-
cher Regulierung entstand eine Situation des Konflikts zwischen dem alten und
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dem neuen, auf Privateigentum basierenden Modell. Einerseits sah sich der Staat
gezwungen, staatlichen Boden für die Urbanisierung zur freien Verfügung zu
stellen, auf der anderen Seite jedoch war er durch das Bewusstsein geprägt, dass
die Überwindung der global-wirtschaftlichen Randposition nur durch eine kapi-
talistisch geprägte Boden-Wirtschaft zu gewährleisten sei (vgl. Atasoy 2005: 80;
Sengül 2005: 82): „Das Eindringen der Siedler auf urbanen Grund und Boden
mit der Absicht, ihn dauerhaft zu nutzen, stellte die Autorität des Staates als
Hüter von Privateigentum und marktförmigem Tausch in Frage.“ (Atasoy 2005:
80)
      In diesem Spannungsfeld begann der Staat damit, für einzelne Gebiete oder
Häuser Bauverbote oder Abrissmaßnahmen zu verhängen und damit eine Situa-
tion der permanenten sozialen Unsicherheit zu schaffen, die einen Prozess der
Anpassung an die Regeln der kapitalistischen Marktwirtschaft forcierte. Ohne
die Existenz effektiver Planungsinstrumente zur Steuerung der Stadtentwicklung
durch dezentrale Kommunalpolitik (vgl. Siebel 2004: 17) begann der Prozess der
Politisierung im kleinen Maßstab. „Sie organisierten sich schnell in Ortsverbän-
den politischer Parteien, zeigten ein reges Interesse an Lokalpolitik und verstan-
den es, ihre Wahlstimmen gegen urbane Errungenschaften wie fließendes Was-
ser, Strom, Kanalisation, Straßen und nicht zuletzt Legalisierung auf dem besetz-
ten Grund auszuhandeln.“ (Esen 2005b: 39)
      Ausschlaggebend für die Zielsetzung des vorliegenden Beitrages ist dabei in
erster Linie die systematische Etablierung einer starken Kommunalpolitik, wel-
che durch das neue Wählerpotential innerhalb der Migranten an Einfluss gewann
und als Gegenleistung dafür sorgte, dass aus den Neuankömmlingen eine auf-
steigende, politisch emanzipierte Mittelschicht wurde. Die Verteilung der öffent-
lichen Ressource ‘Grund und Boden’ und ihre Bereitstellung für den Markt der
reinen Kapitalakkumulation sorgte für eine erfolgreiche Integration mehrerer
Generationen armer Bauern und beförderte die neue, anatolisch-stämmige Klasse
direkt in das Zentrum nationaler Politik. Die Gecekondu-Bewohner der ersteren
Migrationswellen, die es in das Grundbuch geschafft hatten, kamen der Nachfra-
ge der weiterhin wachsenden Stadtbevölkerung nach Wohnraum nach, indem sie
auf ihren Grundstücken mehrgeschossige Apartmenthäuser errichteten. Dies war
durch ein 1961 verabschiedetes Gesetz zur Legalisierung von Geschosseigentum
möglich geworden und erfolgte ohne die Substitution des Staates durch ein Sys-
tem der „Baudienstleistung im Tausch gegen Stockwerke“ (mehr dazu in: Esen
2005a: 40-43).
      Dabei erhielt der Baudienstleistende als Bezahlung eine vereinbarte Zahl an
Stockwerken, die er anschließend verkaufte.
      Mit der Etablierung dieses so genannten Yapsat-Modells, welches das Ge-
cekondu-Modell ablöste, vollzog sich die „Emanzipation des Wirtschaftsbürgers,
Istanbul im Kontext der Europäischen Stadt                                   351

des Bourgeois, aus den geschlossenen Kreisläufen der Familie hin zur offenen
Ökonomie als Marktwirtschaft“ (Siebel 2004: 13) in rasantem Tempo. Der Markt
der Immobilienwirtschaft boomte und beförderte etliche Hunderttausende aus
dem Dasein des einfachen Arbeiters in das des Grundbesitzers mit geregelten
finanziellen Einkommen. „Die Stadt als Hoffnung“ (Häußermann 1995; Siebel
2004: 24) hatte sich, zumindest für den Zeitraum von zwei Dekaden nach den
ersten Migrationswellen, auch für Istanbul erfüllt.

3   Zwei zu berücksichtigende Aspekte bei der Entstehung von öffentlicher
    Sphäre

Im Kontext europäischer Wirtschaftspolitik lässt sich die anfängliche Unterstüt-
zung mittelloser Einwanderer durch den Staat als spontane Strategie der Investi-
tion in seine Arbeitskraft verstehen. Sie ist durchaus vergleichbar mit den in
Europa viel früher herausgebildeten wirtschaftlichen Interventionsmechanismen,
welche ihrerseits auf westlichen Traditionen einer Produktionswirtschaft beru-
hen. Gleichzeitig ist die Reorganisation von Land in der Stadt ausschlaggebend
für Istanbuls Übergang aus osmanischer Tradition in eine auf Privateigentum
basierende westliche Tradition. Dennoch ist es wohl auf die Reduzierung eines
Prozesses, der sich in West-Europa bis ins Mittelalter zurückverfolgen lässt, auf
einen Zeitraum von knapp 50 Jahren zurückzuführen, dass sich die Legalität von
Privateigentum nicht innerhalb kultureller Traditionen gefestigt hat. Dazu gehört
auch die Etablierung eines Regelkataloges für die Vergabe von Baurechten,
Baurichtlinien und der Verwaltung öffentlicher Räume. Diese Aufgaben der
urbanen Verwaltung wurden im Osmanischen Reich schlicht bürokratisch gere-
gelt. Es ist auch auf diese Regulierung zurückzuführen, dass sich mit der Über-
tragung von Entscheidungsgewalten auf die Kommunen eine Polarität zwischen
öffentlichem und privatem Raum herausbilden konnte. Die Etablierung der öf-
fentlichen Sphäre fand im Osmanischen Reich jedoch weitestgehend unabhängig
von den in Europa typischen wirtschaftlichen Strukturen, der Lohnarbeit und der
Klassengesellschaft statt.
      Im Gegensatz dazu führte die Etablierung der freien Marktwirtschaft in der
Türkei schnell zu einer Auflösung dieser urbanen Form, was eben daran liegt,
dass die Balance von Regulierung und Privateigentum ausschlaggebend für die
Polarität zwischen öffentlichem und privatem Raum ist, und eben nicht der Kapi-
talismus selbst. Die Beobachtung Simmels gilt deshalb nur innerhalb eines Rah-
mens, der sich auf Städte feudalen Ursprungs bezieht, welche ihre Regulations-
mechanismen fest in die Stadtplanung integriert haben. „Die Kapitalistische
Wirtschaft und die städtische, auf quantitativen Beziehungen basierende Le-
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bensweise bedingen sich derart, dass man schwer unterscheiden kann, ob die
Erste sich einer Formierung durch die Zweite unterzog oder genau anders he-
rum“ (Simmel 2002: 13).
      In der postmodernen, neoliberalen Stadt befindet sich die Regulierung durch
die öffentliche Hand nun auf dem Rückzug. Wirtschaftswachstum kann in die-
sem fortgeschrittenen Stadium des Kapitalismus fast nur noch durch die Produk-
tion der Stadt, den Urbanisierungsprozess selber gewährleistet werden. In der
neoliberalen Stadt also kommt es zu einer Umkehrung, indem die Stärke des
Wirtschaftswachstums die Geschwindigkeit des Zerfalls der urbanen Lebenswei-
se bestimmt (vgl. Häußermann 2004: 26): „Der Siegeszug urbaner Lebensweise
ging von Anfang an einher mit seiner Aushöhlung.“
      Dieser Zustand gilt für alle Städte, welche den Kapitalismus als Grundlage
ihres Wirtschaftssystems haben, nämlich für jene Nationen, in denen Urbanisie-
rung nur aufrecht erhalten werden kann, solange das wirtschaftliche System eine
Basis der ökonomischen Integration durch stetiges Wirtschaftswachstum sichert
(vgl. Häußermann 1995: 95)).“so lange es mit der Entwicklung der Stadt insge-
samt aufwärts ging, konnte die Stadt eine Integrationsmaschine sein,…“
      Ein zweiter Aspekt, den es zu beachten gilt, betrifft die öffentliche Sphäre
als Raum zivilgesellschaftlichen Handelns. Zu Beginn der Republik ist in Istan-
bul eine mutwillige Zerstörung des öffentlichen Raumes und mit ihm ein fort-
schreitender Verfall der öffentlichen Sphäre festzustellen. Bewertet man dieses
Phänomen aus dem Blickwinkel der Europäischen Stadt, lassen sich hier wiede-
rum Antworten auf Grundlage der Rolle erkennen, die dem öffentlichen Raum
als politischem Ort zukommt. Mit der Republikanischen Volkspartei, die 1923
die Macht übernahm, war dem Staat eine Exekutive unterstellt, welche aus den
Reihen des Staates sein Personal bezog: „Der Staat hielt in der Gesellschaft die
absolute Macht inne und die Republikanische Volkspartei (RPP) war ihm direkt
unterstellt.“ (Atasoy 2005: 49) Die Einheit aus Staat und Regierung führte zur
absoluten Autonomie und Macht der Republik auf kleinster Ebene und erlaubte
fortan keine außer-parteiliche politische Aktivität. Die Einhaltung der Regeln
machte sich bemerkbar in der Repression potentieller Opposition, dem Verbot
von Versammlungen in öffentlichen Räumen sowie der Strafbarkeit des Zeigens
politisch abweichender Symbole. Die Einbindung der Zivilgesellschaft in die
Stadtentwicklung war demzufolge anfangs unterbunden, was sich auch an den
derzeitigen Stadtentwicklungsstrategien zeigt. Mit fortschreitender Liberalisie-
rung allerdings etabliert sich die öffentliche Stadt nicht wieder neu, wie dies in
West-Europa nach autogerechter Sanierung und Fordismus der Fall gewesen ist,
      sondern verkümmert als dekoratives Überbleibsel im Diskurs einer Stadt-
entwicklung, die durch internationales Kapital als Hauptakteur des heutigen
Trends vorangetrieben wird.
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      Öffentlicher Raum in der neoliberalen Stadt scheint nur dort reproduziert zu
werden, wo er zivilgesellschaftlich verankert ist und als Tradition im Städtebau
fortlebt. In seinem Buch „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“ argumen-
tiert Richard Sennett, dass dieses weitergereichte traditionelle Erbe für die Erhal-
tung der kosmopolitischen Lebensart ausschlaggebend ist (vergl. Sennett 2002).
Verwaltung und Gestaltung des öffentlichen Raumes ist in der europäischen
Stadtgeschichte stets eine Aufgabe zivilgesellschaftlicher Organisation gewesen.
Darüber hinaus gibt es ein Bewusstsein dafür, dass der Raum europäischer Städ-
te ‘erkämpfter’ Raum und deshalb von symbolischer Bedeutung ist, erinnert er
doch an die Befreiung aus der Herrschaft des Feudalismus und den Werdegang
der Demokratie.
      Im Gegensatz dazu ist die Lossagung der Türkei aus osmanischer Herr-
schaft nicht aus einer bürgerlichen Bewegung heraus entstanden, sondern durch
einen bürokratischen, auf Regierungsebene ausgetragenen militaristischen Konf-
likt. Die Basis der Republik ist nicht der Werdegang der Demokratie, sondern
eine Staatsbürokratie, welche – angelehnt an westliche Ideale – die Demokratie
dem Volk auferlegt, aus dessen Reihen sie als zentralistische Macht ihr Bürger-
tum selber auswählt. Erst mit der Liberalisierungspolitik der achtziger Jahre
etablierte sich eine einflussreiche neue Mittelklasse, welche damit begann, Ans-
pruch auf den öffentlichen Raum der Stadt zu erheben, in erster Linie, um diesen
zu einem Ort der Kapitalakkumulation im großen Stil werden zu lassen.

3.1 Über die Definition einer neuen städtischen Kultur und die Fragmentierung
    des Raumes

Bis in die achtziger Jahre verlief der Prozess der Urbanisierung weitgehend un-
geplant. Die kleinteilige Verdichtung der Stadt durch die vorangegangenen
Kleinkapitalinvestitionen à la Yapsat ließ, abgesehen von dezentralen Arealen,
kaum eine großräumliche Veränderung oder Erweiterung der Infrastruktur zu.
Diese wurde nach 1980 nun von privaten Konzernen übernommen, welche den
Bausektor zur treibenden Kraft der türkischen Wirtschaft werden ließ. Zu Beginn
wirkte sich der Auftritt großer Akteure nur in halb-illegalen Neubauprojekten in
den Randgebieten der Stadt aus, welche Wohnraum für die Oberschicht in Form
von Gated Communities schuf. Später jedoch dehnte sich der Wirkungskreis
privater Baudienstleister auch auf die zentraler gelegenen Teile der Stadt in Form
von Sanierungs- und Transformationsmaßnahmen aus.
     Die Einführung des Mortgage-Systems um die Jahrhundertwende bedeutete
den letzten Schritt aus der Tradition staatlicher Regulierung durch Nutzwerte,
welche in der Grauzone der Informalität nun immer weniger mit der stillschwei-
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genden Akzeptanz der Stadtregierung rechnen konnten. Der Übergang zur For-
malisierung bedeutet in jedem Falle die Angleichung an die Produktionsmecha-
nismen der Städte westlicher Tradition auf der Stufe eines weit fortgeschrittenen
Kapitalismus. Allerdings ist der Wandel von der Produktion der Stadt mit Nutz-
wert zur Produktion der Stadt reinen Marktwertes für Istanbul zur Endstation des
Übergangs in einen europäischen Urbanisierungsdiskurs geworden. Regulierun-
gen dieses Prozesses der Privatisierung und Hüter öffentlichen Raumes gibt es
kaum, und somit steht der Zementierung gesellschaftlicher Ungleichheit durch
die weitere Produktion der Stadt nichts im Wege.
     Betrachtet man diesen Prozess aus einem anderen Blickwinkel, so fällt auf,
dass die Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe der Stadt und ihrer gesell-
schaftlichen Identität in die Spekulation und die Mechanismen des Stadtmarke-
tings eingebettet ist. Der Markt der Immobilienwirtschaft generiert eine enorme
Anzahl an Marketing-Kampagnen, welche eine Flut von Immobilienanzeigen in
allen Bereichen des Mediensektors hat entstehen lassen. Kulturelle Unterschiede
und soziale Ungleichheiten sind innerhalb dieses Prozesses der Nährboden,
durch den der Entwurf neuer Marketingstrategien gewährleistet ist.
     Dadurch wird jeder Versuch sozio-kultureller Angleichung auf politischer
Ebene durch die Raumproduktion gehemmt. In anderen Worten: Der Neolibera-
lismus führt zu einer direkten Übertragung der gesellschaftlichen Verhältnisse
auf die Raumproduktion und behindert so eine mögliche Lösung bestehender
Konflikte.
     Die Austragung kultureller Konflikte im Raum, welche sich im Rahmen der
neoliberalen Entwicklung mehr und mehr intensiviert hat, scheint gleichzeitig zu
einer Überformung bestehender Wertvorstellungen zu führen. Verfolgt man die
städtebauliche Debatte, so lässt sich eine auf Opposition basierende Umformung
der jeweiligen Ideale beobachten. Dort gilt es hauptsächlich das Gegenteil davon
zum Ausdruck bringen zu wollen, was die anderen an Vorstellung in die Stadt-
produktion mit einbringen. Dabei ist „die öffentliche Präsenz, Einstellung, Hal-
tung, Materialität und Form kulturellen Verhaltens des einen nahezu unerträglich
für den anderen.“ (Esen 2005a: 123)
     Ein Beispiel dafür ist der Werdegang des Apartmenthauses in Istanbul. Zu
Zeiten des Osmanischen Reiches Residenz der reichen, europäisch geprägten
Handels-Elite, wurde es nach 1920 von der republikanischen Bourgeoisie über-
nommen. Viertel der Oberschicht wie Niúantaúi entstanden nach westlichem
Vorbild in der Nordstadt, während entlang der Industrieareale die Migranten-
schaft mit selbst fabrizierten bescheidenen Einfamilienhäuschen vorlieb nahm. In
den sechziger Jahren jedoch verkam das Apartmenthaus in Form des mehrfach
aufgestockten und vermieteten Yapsat-Hauses zur standardisierten Wohnform
der Arbeiterschaft. Der aus dem GeÇekondu entstandene drei- bis fünfstöckige
Istanbul im Kontext der Europäischen Stadt                                     355

Apartmentblock (mit einfachsten Mitteln und unter Verwendung billigster Mate-
rialien erbaut), wurde daraufhin in den Kreisen der städtischen Elite als akzep-
table Wohnform verworfen. In den siebziger Jahren begann man dann mit dem
Bau der ersten Gated Community in Form einer Einfamilienhaus-Garten-
Siedlung.
      Durch die fortschreitende Konsolidierung sind heute kaum noch Urbanisie-
rungspraktiken außerhalb der neoliberalen Bautätigkeit auszumachen. Informelle
Entwicklungen werden sofort und ohne Diskussion entfernt und ihre Verursacher
in Areale non-partizipativen Wohnens umgesiedelt. Dies hat dazu geführt, dass
der Konflikt um den Raum sich zunehmend auf eine rein visuelle Ebene kon-
zentriert hat, welche sich zwar durch ihre Symbolik, nicht jedoch durch Prakti-
ken urbanen Zusammenlebens unterscheidet. Aus der systematischen Unterbin-
dung von Formen jedweder Informalität lässt sich die Polarität der Stadtentwick-
lung eher auf die Konsolidierung der informellen Stadt reduzieren (vgl. Bilgin
2005: 93-96).
      Dennoch stehen die Zugehörigkeit und die Definition der eigenen kulturel-
len Identität im Zentrum der durch Großkapital regierten Raumproduktion, wo-
bei es den Verfechtern eines alt-bürgerlichen Istanbuls sowie den Eroberern
deren angestammter Territorien nicht so sehr um die Durchsetzung kultureller
Lebensarten und Praktiken geht als vielmehr um die Herausstellung der eigenen
Überlegenheit. Der Raum der Stadt wird im Verlauf der sozialen Wandels zum
Austragungsort eines Kampfes um kulturelle Symbole, wobei der Zustand der
Symbolhaftigkeit selber zum Konfliktpunkt wird.

4    Fazit

An Istanbul lässt sich die Verwandlung einer Stadt als Ort sozialer Integration in
einen Ort als Instrument der Kapitalakkumulation sehr deutlich zurückverfolgen.
Dabei ist klar geworden, dass Istanbul sich heute in den globalen Trend des Neo-
liberalismus, der Kommodifizierung und der Privatisierung eingefügt hat. Die
Konsequenzen treten dabei in der Istanbuler Stadtlandschaft direkt und offen zu
Tage. Sie erscheinen in einer extremen Form räumlicher Segregation, welche
gefördert ist durch den Spielraum einer halb-legalen, undurchsichtigen Planung.
Ausschlaggebend für diese Entwicklungen, so hat sich gezeigt, ist die Etablie-
rung eines auf Privateigentum basierenden Systems sozialer Umverteilung. Trotz
einer Verspätung um zwei Jahrhunderte ist das Ausmaß dieser Entwicklungen
stärker als in Siebels idealtypischer Europäischer Stadt: Dies ist darauf zurückzu-
führen, dass die frühe Konsolidierung von Grund und Boden, ihre schon zu ei-
nem frühen Zeitpunkt entwickelte Infrastruktur als struktureller Rahmen für die
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Bebauung sowie ein kulturell verankertes Bewusstsein für Gut und Recht der
Öffentlichkeit zu einem Fortbestand ihrer Struktur, weit über ihre soziale Gültig-
keit hinaus, beigetragen hat. Für eine Stadt, welche neue soziale Ungleichheiten
und Konflikte durch die Produktion ihrer Räume produziert, ist die Beschaffen-
heit dieser Räume bestimmend für die Integration von Mechanismen zur einer
gerechteren und flexibleren Verteilung öffentlicher Ressourcen. Auf der anderen
Seite jedoch sind die bildhaften Qualitäten dieser Räume selber zur Handelsware
des fortgeschrittenen Kapitalismus geworden wodurch das Bild der Stadt an sich
viel von seiner Aussagefähigkeit über Potentiale dieser Art eingebüßt hat.
      Istanbul zeigt in diesem Sinne, wie akut das Problem neo-liberaler Produk-
tionsmechanismen ist, während die strukturelle Erhaltung europäischer Städte
ihre Stadtväter in vermeintlicher Sicherheit wiegt – doch es ist nicht alles Gold,
was glänzt. Istanbul demonstriert das Verschwinden von Handlungsgrundlagen
urbanen Zusammenlebens zugunsten kommodifizierter Gruppenzugehörigkeiten
sowie die Risiken, die sich aus der Manipulierbarkeit der Gruppenidentitäten
durch ihre Verkoppelung mit dem Medien- und Marketing-Sektor ergeben.
      Es erscheint müßig, über eine partizipative, sozial-integrative Urbanisierung
nachzudenken, solange das wirtschaftliche Überleben der Stadt an die nachhalti-
ge Produktion sozialer Ungleichheit gekoppelt ist. So ist die erfolgreiche Integra-
tion einer sich verzehnfachenden Bevölkerung durch eine nicht-geldwerte Form
der Urbanisierung à la Istanbul eben auf die Logiken der Stadt als Ort der Kapi-
talakkumulation zurückzuführen.
      Die Idee, die es aus der Auseinandersetzung mit Istanbul zu beziehen gilt,
sollte darum eine sein, welche den Diskurs außerhalb von Verteilung öffentlicher
Mittel bewegt, nämlich die Bewertung städtischer Räume gemäß ihres Nutzwer-
tes. Die informelle, durch menschliche Ressourcen erbaute Stadt mag den Ans-
prüchen globaler Repräsentationsarchitektur nicht genüge zu tun. Dennoch hält
die Produktion von Stadt durch das Potential der unteren Einkommensschichten
den unbezahlbaren Wert der Möglichkeit zur Aneignung von Raum auf Basis
eigener Nutzungskonzepte und Bedürfnisse bereit, und somit die Basis, Stadt als
Wechselwirkung sozialer Realitäten und physischer Räume neu zu erfinden.
Istanbul im Kontext der Europäischen Stadt                                            357

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