Jahrbuch 2020 Qualität der Medien Hauptbefunde - Die Schweizer Medienöffentlichkeit im Bann der Corona-Krise - Foeg.uzh.ch

Die Seite wird erstellt Stefan-Di Adam
 
WEITER LESEN
Jahrbuch 2020 Qualität der Medien Hauptbefunde - Die Schweizer Medienöffentlichkeit im Bann der Corona-Krise - Foeg.uzh.ch
Forschungszentrum
Öffentlichkeit und Gesellschaft

                                  Jahrbuch 2020
                                  Qualität der Medien
                                  Hauptbefunde
                                  Die Schweizer Medienöffentlichkeit
                                  im Bann der Corona-Krise

                                  fög – Forschungszentrum Öffentlichkeit und
                                  Gesellschaft / Universität Zürich
Jahrbuch 2020 Qualität der Medien Hauptbefunde - Die Schweizer Medienöffentlichkeit im Bann der Corona-Krise - Foeg.uzh.ch
1
                          Hauptbefunde – die Schweizer
                          Medienöffentlichkeit im Bann
                          der Corona-Krise
                          Mark Eisenegger

    Zusammenfassung

    Die Welt, die Schweiz und die Schweizer Medienöffentlichkeit stehen im Bann der COVID-19-Krise. Die
    Auswirkungen lassen sich an sämtlichen Untersuchungsdimensionen dieses Jahrbuchs ablesen. Für den
    Journalismus zeigen diese einerseits mehrere positive Befunde: mehr Interesse an und mehr Nutzung von
    professionellen Informationsangeboten, zeitweise auch bei jungen Menschen, die ansonsten weniger news-
    affin sind, oder auch relativ gute Leistungen in der Berichterstattungsqualität. Andererseits aber zeigt sich
    in aller Deutlichkeit die prekäre finanzielle Lage des Informationsjournalismus in der Schweiz. Der im letz-
    ten Jahrbuch Qualität der Medien (fög, 2019) als Folge der Tech-Plattformisierung beschriebene Umbau der
    Schweizer Medien­öffentlichkeit hat sich in der Corona-Krise weiter akzentuiert. Zwar verzeichnete Google
    im laufenden Corona-Jahr erstmals einen leichten Umsatzrückgang, und auch Facebook wuchs etwas lang­
    samer. Angesichts der globalen, rezessiven Lage haben die Tech-Plattformen aber deutlich «outperformt»
    (Maron, 2020). Dem steht ein Informationsjournalismus gegenüber, der einen markanten Rückgang bei den
    Werbeeinnahmen verzeichnete, Kurzarbeit einführen und staatliche Unterstützung anfordern musste. Alle
    grossen Schweizer Medienhäuser haben weitere Kostensenkungsmassnahmen und eine Reduktion des Stel-
    lenetats angekündigt oder bereits umgesetzt. Informationsmedien wie Micro, CNN Money Switzerland oder
    Le Régional mussten eingestellt werden, Medien legten Ressorts zusammen oder wollen inskünftig stärker
    auf die Karte der Automatisierung setzen. Plattform-Leitbilder werden damit auch in journalistischen Orga-
    nisationen immer mehr zum Massstab der eigenen Zukunftstauglichkeit. Zwar schossen die Nutzerzahlen
    für journalistische Angebote in die Höhe, und es konnten mehr Digitalabonnements und journalistische In-
    halte verkauft werden. Dem digitalen Zuwachs auf der Nutzerseite war es jedoch nicht möglich, den Ein-
    bruch bei den Werbeeinnahmen während der Corona-Krise annähernd zu kompensieren. Die globalen Tech-
    Plattformen aus dem Silicon Valley haben ihre Marktmacht und Position in der Krise gesamthaft also weiter
    gefestigt, während die systemrelevanten professionellen Informationsmedien journalistisch zwar gut ge­
    arbeitet, strukturell aber nochmals an Boden verloren haben.
            Angesichts der aktuellen Situation legt die diesjährige Ausgabe des Jahrbuchs einen Schwerpunkt auf
    die Corona-Krise, bleibt aber nicht dabei stehen. Von sechs Studien beziehen sich drei unmittelbar auf die
    Corona-Thematik. Während eine Studie die Qualität der Schweizer Medienberichterstattung während der
    Corona-Krise bilanziert, befasst sich eine zweite mit der Kommunikationsdynamik zur Pandemie in sozialen
    Medien, das heisst in der Twitter-Sphäre. Wie das Medien- und Informationsnutzungsverhalten in dieser
    Aus­nahmesituation aussieht, wird in einer dritten Studie untersucht.
            Die anderen drei Analysen befassen sich mit weiterführenden Themen. Einen traditionellen Schwer-
    punkt im Jahrbuch bildet die sogenannte Repertoireforschung. Diese gibt darüber Aufschluss, welche In­
    formationsmedien eine Person typischerweise nutzt. In einer qualitativen Untersuchung haben wir uns
    ­vertiefend der Gruppe der jungen Erwachsenen angenommen. In dieser vierten Studie beleuchten wir deren
     mediale Lebenswelten ganz generell und auch speziell während der Corona-Pandemie und zeigen Wege auf,
     wie diese Nutzerinnen und Nutzer wieder stärker für den Informationsjournalismus gewonnen werden
     ­können. Eine fünfte Studie zeigt, wie sich das genutzte Medienmenü auf die Themenwahrnehmung aus-
      wirkt. Schliesslich haben wir uns in der sechsten Studie mit der Entwicklung und Qualität der Wissen-
      schaftsberichterstattung befasst. Diese Thematik ist im Kontext der Corona-Pandemie besonders aktuell,
      hat die Krise doch die Bedeutung des Wissenschaftsjournalismus deutlich vor Augen geführt.
            Diese Hauptbefunde fassen die zentralen Erkenntnisse der sechs Studien sowie die Erträge des Jahr-
      buchs zur Entwicklung der Medienqualität, zur Mediennutzung, zu den Einstellungen der Schweizer Be­
      völkerung gegenüber dem Journalismus und den Tech-Plattformen, zur Wahrnehmung der Problematik der
      Desinformation, zur finanziellen Situation des Schweizer Informationsjournalismus sowie zur Medien­
      konzentration zusammen. Den Abschluss bildet das Fazit mit Handlungsempfehlungen.
2                           Hauptbefunde – die Schweizer Medienöffentlichkeit im Bann der Corona-Krise

    1           Studien zur Corona-Pandemie                      den Umgang mit Zahlen und Statistiken. Zwar haben
                                                                 einzelne Redaktionen diesbezüglich gut gearbeitet,
    1.1	Qualität der COVID-19-Bericht­                          gesamthaft aber erfolgte der Umgang mit Zahlen zu
         erstattung – gut, aber mit Mängeln                      wenig einordnend und zu wenig kritisch-distanziert.
                                                                 Mehrere Medien haben Zahlen und Statistiken oft

    M         edien haben auf die Konstruktion von gesell-
              schaftlichen Krisen einen entscheidenden Ein-
    fluss. Sie beeinflussen, wie bedrohlich die Situation
                                                                 «nackt» vermeldet, ohne diese weiter zu erklären
                                                                 oder einzuordnen.
                                                                           Verschiedene Kritikerinnen und Kritiker hatten
    erscheint, wie gross der politische Handlungsdruck           den Medien eine zu wohlwollende Haltung gegen-
    ist oder inwieweit die Bevölkerung bereit ist, be-           über Behörden und Regierungen vorgeworfen. Dies
    stimmten Massnahmen zu folgen. Angesichts dieser             wird durch unsere Studie nicht bestätigt. Gesamt-
    Bedeutung stellt sich die Frage nach der Qualität der        haft hielten die untersuchten Medien durchaus kri­
    Medienberichterstattung in der Krise. Unsere Studie          tische Distanz zu den Behörden, die in der Krise mit
    auf der Grundlage quantitativer Inhaltsanalysen für          besonderen Vollmachten ausgestattet wurden. Aller-
    den Zeitraum bis Ende April 2020 (und mit automa-            dings offenbart unsere Untersuchung eine zu un­
    tisierten Verfahren bis Juni 2020) bestätigt: Die Leis-      kritische Haltung der Medien in der sensitiven Phase
    tung der Schweizer Informationsmedien während                kurz vor dem Lockdown. Eine kritische Auseinander-
    der Pandemie war relativ gut (Eisenegger et al.,             setzung mit der Massnahme, zum Beispiel durch ein-
    2020), ins­besondere in Anbetracht der erschwerten           ordnende Vergleiche mit Ländern wie Italien, in
    Arbeits­bedingungen und erlittenen Ertragsausfälle.          denen der Lockdown deutlich früher verhängt
                                                                 ­
    Positiv zu bewerten ist erstens die Relevanz: Die            wurde, blieb aus. Die Informationsmedien haben
    untersuchten Informationsmedien bemühten sich,
    ­                                                            ­dadurch mitgeholfen, den Lockdown vorzubereiten
    nicht bei Einzelfällen und -schicksalen stehen zu             und zu legitimieren.
    ­bleiben, sondern gesamtgesellschaftliche Folgen ins                   Zudem war die journalistische Einordnungs-
     Zentrum zu rücken. Zweitens schlägt auch die thema-          leistung während der Krise insgesamt unzureichend.
     tische Vielfalt positiv zu Buche: Die Schweizer              Die Medien beschränkten sich überwiegend auf die
     Informations­medien beleuchteten die Pandemie aus            Kommentierung der Ereignislage. Eine vertiefte Aus-
     unterschiedlichen thematischen Perspektiven. Neben           einandersetzung mit den Ursachen und Folgen der
     medizi­nischen Aspekten wurden auch die politischen          Krise sowie den Massnahmen basierend auf gründ­
     oder wirtschaftlichen Implikationen der Krise behan-         licher Eigenrecherche blieb ein Randphänomen.
     delt. Drittens kann man den Medien keinen Alarmis-           ­Auffallend ist weiter die grosse Abhängigkeit von
     mus vorwerfen: Die Berichterstattung war selbst in            ­externen Expertenstimmen. Mehr als 80% der unter-
     Boulevard- und Pendlermedien zumeist sachlich ge-              suchten Beiträge machten einen Bezug zu einer
     halten. Eine Panikmache blieb aus.                             ­Expertin oder einem Experten. Dies zeigt, dass der
             Allerdings zeigt unsere Studie auch deutliche           Informationsjournalismus viel an Kraft verloren hat,
     Mängel. Die Corona-Thematik hat wie kein anderes                Ereignisse mit den bestehenden Ressourcen eigen-
     Ereignis die journalistische Berichterstattung domi-            ständig einzuordnen. Es rächt sich der Abbau des
     niert (vgl. Darstellung 1). Bis zu 70% der Bericht­             Wissenschaftsjournalismus, der sogar während der
     erstattung machten phasenweise in Haupt- oder                   Corona-Krise in einzelnen Redaktionen fortgesetzt
     ­Nebenschwerpunkten eine Referenz auf das Virus.                wurde. Schliesslich muss man auch die Vielfalt der
      Als Folge davon fielen andere wichtige Themen im               Expertinnen und Experten in der Corona-Bericht­
      ersten Halbjahr 2020 aus der Agenda. Der Klima­                erstattung bemängeln. Die überwiegende Mehrzahl
      wandel, der das Wahljahr 2019 noch bestimmt hatte,             der wissenschaftlichen Expertinnen und Experten,
      verlor im untersuchten Zeitraum als Thema der                  die in Medien ihre Einschätzungen abgeben konnten,
      ­Berichterstattung deutlich an Aufmerksamkeit. Wäh-            stammten aus dem medizinischen Feld der Virologie,
       rend die Corona-Berichterstattung thematisch recht            der Epidemiologie oder der Immunologie. Expertin-
       vielfältig war, hat die Vielfalt jenseits dieser Thema-       nen und Experten aus anderen Disziplinen, zum Bei-
       tik also deutlich gelitten. Bemängeln muss man auch           spiel den Wirtschafts-, Rechts- oder Sozialwissen-
3                                         Hauptbefunde – die Schweizer Medienöffentlichkeit im Bann der Corona-Krise

      1.1.2020              1.2.2020               1.3.2020                   1.4.2020                  1.5.2020                1.6.2020             30.6.2020
80%

70%

60%

50%                                                           3

40%
                                                                  1

30%
                                                              2
20%

10%

                                                              4
0%

                          Phase 1:                      Phase 2:           Phase 3:           Phase 4:
                       1.1. – 27.2.2020             28.2. – 15.3.2020   16.3. – 7.4.2020   8.4. – 30.4.2020

1     Deutschschweiz         2    Suisse romande     3    Svizzera italiana       4    Klimadiskurs

Darstellung 1: Täglicher Anteil an Medienberichten mit Referenz zu COVID-19 nach Sprachregionen

Die Darstellung zeigt den Anteil der Beiträge mit mindestens einer Referenz zu COVID-19 bzw. zum Coronavirus (n = 100 612) an der gesamten Berichterstattung
der untersuchten Medien (n = 308 616) nach Sprachregionen (Mediensample für die automatisierte Inhaltsanalyse). Als Referenzwert wurde der Anteil der
Berichterstattung mit Bezug zum Klimadiskurs an der Gesamtberichterstattung verwendet (n = 14 334).
Lesebeispiel: In der Svizzera italiana war der Anteil von Beiträgen mit Bezug zu COVID-19 an der Gesamtberichterstattung mit 75% am 21. April 2020 am höchsten.

                 schaften, kamen kaum zu Wort. Das ist bemerkens-                 zu hörende Vorwurf, der öffentliche Rundfunk be-
                 wert, zeitigt die Corona-Krise doch nicht erst seit              richte zu staatsnah, wird durch unsere Studie wider-
                 dem Lockdown gesellschaftliche Konsequenzen weit                 legt. Zusammen mit den Sonntags- und Wochen­
                 über medizinische Aspekte hinaus. Auch unterschei-               medien zeigte der öffentliche Rundfunk die grösste
                 den sich die thematisierten Expertinnen und Ex­                  kritische Distanz zu staatlichen Akteuren. In einzel-
                 perten je nach Sprachregion stark. Dies zeigt, dass              nen Dimensionen haben auch die Boulevard- und
                 ein Sprachregion-übergreifender Diskurs nur wenig                Pendlermedien gut gearbeitet. Unsere Untersuchung
                 stattgefunden hat (vgl. Darstellung 2).                          belegt das Bemühen um Sachlichkeit. Alarmismus
                       Die Qualität der Corona-Berichterstattung un-              und Panikmache blieben auch bei diesen Medien
                 terscheidet sich zwischen den Medientypen. Positiv               meistens aus. Interessant sind auch die sprachregio-
                 heben sich die Abonnementszeitungen und der öf-                  nalen Unterschiede. Die Medien der Suisse romande
                 fentliche Rundfunk mit einer besonders hohen Viel-               berichteten etatistischer und zeigten eine geringere
                 falt an Themen, einer höheren Relevanz und mehr                  kritische Distanz zu den Behörden.
                 Hintergrundberichterstattung ab. Der immer wieder
4                                          Hauptbefunde – die Schweizer Medienöffentlichkeit im Bann der Corona-Krise

      –1,5        –1,25              –1             –0,75            –0,5             –0,25             0                 0,25                0,5             0,75                   1

                                                                                                                                                                           Stadler

1,4

1,2
                                                                                                                                                Weltwoche

1

                                                                                                                                                Vernazza
0,8                                                                                                                                                                  Sax

                                           Raoult                                                                                                           Eichenberger
0,6
                                                                                                                                                    Sturm        Aguzzi

0,4                     Flahault
                                                                                                                                                    20minuten.ch
                                                                                                      Koch
                                          Le Matin Dimanche

0,2     Yazdanpanah                                 Adhanom
                                  20minutes.ch
                          Eggimann                   lematin.ch                                                                              Sonntagsblick
                                   letemps.ch                                                                            watson.ch
               Pittet                                    24heures.ch Eckerle                  aargauerzeitung.ch                            blick.ch
0                                       rts.ch
                                                            lenouvelliste.ch                                     Egger           Salathé            Drosten
                                                      Fellay
                                            Nanshan                                                                                                             Streeck
                                                                               Ryan                         srf.ch           nzz.ch
–0,2
                                                                                                                                           tagesanzeiger.ch
                                                                                                                            Hodcroft
                                                                                                    Battegay                                         Neher
–0,4                                                                                                                                          Brunetti
                                                                                                                 bernerzeitung.ch
                                                                                                                                               Griot
                                                                                                               Sonntagszeitung                            Berger
                                                                                                                                             NZZ am Sonntag
–0,6
                                                                                                                                                              Thiel
                                                                                                                                  Widmer
                                                                                                                            Bachmann
                                                                                                                                                              Althaus

–0,8

Darstellung 2: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Berichterstattung zur Corona-Pandemie

Die Grafik veranschaulicht die Resonanz der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den einzelnen Medien in Phase 1 bis 4 (ohne Radio und TV-
Sendungen). Die Grösse der Kugel zeigt, wie oft die Person in der Berichterstattung insgesamt thematisiert wurde (Anzahl Beiträge). Die Position der
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und der Medien in der Grafik zeigt die relative Bedeutung der Person in der Berichterstattung des jeweiligen
Mediums. Je näher, desto exklusiver wurde ein Akteur in einem Medium thematisiert. Je weiter eine Beobachtung vom Ursprung des Koordinatensystems
entfernt liegt, desto stärker unterscheidet sie sich vom Durchschnitt. Die X-Achse wird durch die Sprachregion bestimmt, die Y-Achse durch die Medien-
typen. Die Werte wurden mittels einer Korrespondenzanalyse ermittelt.
Lesebeispiel: Beda Stadler erhielt vergleichsweise oft in der Weltwoche Resonanz. Im Vergleich zu den anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-
lern wurde er durchschnittlich oft thematisiert.
5                          Hauptbefunde – die Schweizer Medienöffentlichkeit im Bann der Corona-Krise

    1.2        Etablierte Akteure bestimmen                  nötig. So gibt es Anzeichen, dass Messengerdienste
               den Diskurs über die Corona-                  wie WhatsApp in der Verbreitung von Desinforma­tion
               Pandemie in sozialen Medien                   eine durchaus ernstzunehmende Rolle spielen (Eisen-
                                                             egger, 2019; Reuters Institute, 2019). Dies auch deshalb,

    W        ie die journalistischen Leitmedien hat die weil es sich hier um private Kommunikation handelt,
             ­Corona-Pandemie auch die sozialen Medien in die sich dem kritischen Zugriff von aussen entzieht.
    den Bann gezogen. Dies bestätigt unsere Studie zur
    Kommunikationsdynamik in der Schweizer Twitter-
    Sphäre auf der Grundlage von 1,7 Millionen Tweets 1.3                Behörden und der öffentliche Rund-
    im Zeitraum vom 1. Januar bis zum 30. April 2020                     funk: die wichtigsten Informations-
    (Rauchfleisch et al., 2020). Von den aktiven Schwei-                 quellen in der Krise
    zer Twitter-Nutzerinnen und -Nutzern haben sich
    knapp 60% mehr oder weniger stark am öffentlichen
    Diskurs zur Corona-Thematik beteiligt, das heisst,       D    ass der traditionelle Informationsjournalismus
                                                                  während der Corona-Krise gut gearbeitet hat,
    sich selbst geäussert oder auf Inhalte zum Thema legt auch die Studie zum Mediennutzungsverhalten
    ­reagiert. In e­ iner Studie des letztjährigen Jahrbuchs während der Krise nahe (Friemel et al., 2020). Am
     hat sich ­herausgestellt, dass auf Twitter die Hier­ grössten stufen die Befragten aus der Deutsch-
     archie der b­ estimmenden Meinungsführerinnen und schweiz die Bedeutung der Informationskanäle des
     Meinungsführer teilweise auf den Kopf gestellt wird Bundes ein, gefolgt von den Informationsangeboten
     (Vogler et al., 2019). Zivilgesellschaftliche Akteure des öffent­lichen Rundfunks und den Angeboten der
     und Privatpersonen sowie politische Interessen­ privatwirtschaftlich organisierten Schweizer Medien-
     gruppen ­prägen die Agenda in der Twitter-Sphäre in häuser. Den sozialen Medien wie Facebook, Instagram
     der Regel stärker als der Journalismus. Dieser Befund und Twitter wird von den befragten Schweizerinnen
     bestätigt sich aber während der Corona-Krise nicht. und Schweizern eine klar untergeordnete Bedeutung
     Die klassischen Meinungsführerinnen und Meinungs- ­zugesprochen. Es bestätigt sich somit auch hier der
     führer, das heisst der professionelle Informations- Befund, dass in Zeiten der Krise herkömmliche Infor-
     journalismus s­ owie die Behörden (zum Beispiel das mationsquellen verstärkt nachgefragt werden. Analog
     Bundesamt für Gesundheit BAG oder der Bundesrat) zu den Befunden der inhaltlichen Berichterstattungs-
     prägen den Diskurs während der Krise am stärksten. qualität konstatieren aber auch die befragten Mängel
     In ­Zeiten grosser Verunsicherung und erhöhten In­ in Bezug auf die Thematisierung der Corona-Krise.
     formationsbedarfes machen auf sozialen Medien die Eine grosse Mehrheit der Schweizerinnen und
     traditionellen, journalistischen Informations­anbieter Schweizer findet bereits zu Beginn des Lockdowns,
     sowie die etablierten (politischen) Akteure wieder dass die Pandemie zu viel thematisiert wurde (vgl.
     Boden gut (vgl. Darstellungen 3–5).                     Darstellung 6). Die Wahrnehmung eines «Over-
            Im Corona-Diskurs spielte Desinformation load» deckt sich mit dem exorbitanten Wert von bis
     zwar bei Schweizer Twitter-Nutzerinnen und -Nut- zu 70% der Medienberichterstattung, die sich an ein-
     zern eine Rolle, jedoch keine prominente. Das belegt zelnen Tagen auf die COVID-19-Thematik beziehen.
     die vertiefende Untersuchung von Twitter-Diskursen Der Ton der journalistischen Corona-Berichterstat-
     mit desinformativer Tendenz, so zum Beispiel die tung wird von einer Mehrheit der Befragten für ange-
     Diskussion über 5G-Antennen, die angeblich zur messen beurteilt. Demgegenüber fällt das Urteil ge-
     ­Verbreitung von COVID-19 beitragen würden, oder genüber sozialen Medien kritischer aus: Die Hälfte
      über COVID-19 als biologische Waffe, die in einem der Befragten gibt an, soziale Medien würden drama-
      Labor in Wuhan entwickelt worden sei. Die Analyse tisieren, während gleichzeitig 14% der Meinung sind,
      belegt, dass die Schweizer Twitter-Community auf dass in sozialen Medien verharmlost werde. Hier be-
      solche desinformativen Inhalte zurückhaltend re- stätigt sich der Befund, dass der Diskurs auf sozialen
      agiert und sie kaum weiterverbreitet.                  Plattformen im Vergleich zu demjenigen in her-
            Zur valideren Einschätzung des Problems der kömmlichen journalistischen Medien insgesamt emo-
      Desinformation sind jedoch weiterführende Studien tionaler und polarisierender ist (Papacharissi, 2016).
6                                    Hauptbefunde – die Schweizer Medienöffentlichkeit im Bann der Corona-Krise

Darstellungen 3–5: Retweet-Repertoires pro Sprachregion

Die Darstellungen zeigen die Retweet-Repertoires für die Mainstream-Communitys der einzelnen Sprachregionen. Dazu wurden für jede der drei Grup-
pen die 90 Accounts, die am meisten retweetet wurden, über ein Netzwerk visualisiert. Je grösser die Labels, desto öfter wurde ein Account retweetet.
Je näher die Accounts sind, desto öfter werden sie von den gleichen Nutzerinnen und Nutzern retweetet.
7                                    Hauptbefunde – die Schweizer Medienöffentlichkeit im Bann der Corona-Krise

                                                0%        20        40    60         0%       20       40       60    0%        20      40          60

            Redaktionelle Medienangebote                    2,5%                                   41,7%                                  55,8%
Umfang      Interpersonale Kommunikation                    3,8%                                      47,4%                            48,8%
            Soziale Medien                                  7,2%                              32,8%                                          60,0%
            Redaktionelle Medienangebote                    3,4%                                       52,0%                         44,5%
Ton         Interpersonale Kommunikation                    10,2%                                           58,5%              31,3%
            Soziale Medien                                  13,5%                              36,0%                                    50,5%
                                                     zu wenig thematisiert /                                               zu viel thematisiert /
                                                                                          angemessen
                                                     verharmlosend                                                         dramatisierend

Darstellung 6: Bewertung der Thematisierung (Umfang und Ton) der Corona-Krise

Die Darstellung zeigt für die Bewertung des Umfangs und des Tons die verschiedenen Anteile in Prozent. Datengrundlage sind die jeweils gültigen Ant-
worten (redaktionelle Medienangebote: n = 990; interpersonale Kommunikation: n = 937; soziale Medien: n = 430). Für diese Auswertung wurden die
Antworten der 7er-Skala jeweils wie folgt zusammengefasst: 1 bis 3 («zu wenig thematisiert / verharmlosend»), 4 («angemessen») und 5 bis 7 («zu
viel thematisiert / dramatisierend»).
Lesebeispiel: Über die Hälfte der Befragten findet bezüglich des Umfangs, dass die Corona-Krise in den redaktionellen (55,8%) und sozialen Medien
(60,0%) zu viel thematisiert wird.

            2            Weiterführende Studien                                richten gelangen in der Regel zufällig zu dieser
                                                                               ­Nutzergruppe, und zwar mittels Social-Media-Platt-
            2.1          Junge nicht verloren für den                           formen, die auf dem Smartphone nebenher genutzt
                         Informations­journalismus                              werden. Zentral für die Informationsverarbeitung ist
                                                                                das eigene soziale Netzwerk. Auf Nachrichten wird

            Z     wischen 2009 und 2020 ist die Gruppe der so­
                  genannten News-Deprivierten von 21% auf 37%
            gewachsen. Mit 54,6% ist ihr Anteil in der Alters-
                                                                                die junge Nutzergruppe fast ausschliesslich dann
                                                                                aufmerksam, wenn «Friends» oder Bekannte einen
                                                                                Beitrag teilen. Auch das Elternhaus spielt in diesem
            gruppe der jungen Erwachsenen besonders hoch. Da-                   Zusammenhang eine wichtige Rolle: Face-to-Face-
            bei handelt es sich um Nutzerinnen und Nutzer, die                  Gespräche zu Hause über News sind ein wichtiger
            journalistische Informationsangebote unterdurch-                    Faktor, situativ über gesellschaftliche Themen infor-
            schnittlich nutzen und einer höheren Gefahr der                     miert zu werden und das Interesse an Nachrichten
            ­Unterversorgung mit Nachrichten ausgesetzt sind.                   zu wecken.
             Dies war Grund genug, im Rahmen einer qualitativen                         Das Interesse an Nachrichten ist stark von per-
             Studie das Medien- und Informationsnutzungsver-                    sonalisierten Faktoren beeinflusst: Nachrichten
             halten von 19 Schweizerinnen und Schweizern im                     ­werden vor allem dann rezipiert, wenn im persön­
             ­Alter zwischen 20 und 25 Jahren vertieft zu unter­                 lichen Netzwerk – sowohl online wie auch offline –
              suchen (Schwaiger, 2020). Ziel der Studie war es,                  darauf hingewiesen wird, sei es durch Personen des
              den Ursachen für das spezifische Informations- und                 öffentlichen Lebens (Influencerinnen und Influen-
              Mediennutzungsverhalten nachzuspüren und kon-                      cer) oder aus dem pri­vaten Umfeld. Es handelt sich
              krete Ansatzpunkte aufzuzeigen, wie das Interesse                  dann um B   ­ eiträge, ­welche die Jungen in ihrer per­
              für Informationsjournalismus bei der Zielgruppe der                sönlichen ­Lebenswelt berühren. Allgemeiner stossen
              Jungen wieder verstärkt werden kann.                               News auf Interesse, wenn sie ein Mittel der eigenen
                    Die Resultate zeigen, dass die Studienteil­                  Identitäts- und Gemeinschaftspflege darstellen. Ge-
              nehmenden eine präzise Vorstellung davon haben,                    nutzte und geteilte News sollen zur eigenen Identi-
              was «Nachrichten» bedeuten, nämlich relevante In-                  tät, zur eigenen Community, mit der man sich iden-
              formationen zum aktuellen Weltgeschehen. Nach-                     tifiziert, passen. News haben Nachrichtenwert, wenn
8                                                Hauptbefunde – die Schweizer Medienöffentlichkeit im Bann der Corona-Krise

                                                                                   suchte Gruppe der jungen Erwachsenen situativ
                                                                                   durchaus stark zum News­konsum animieren. Das
                                             7                                     Interesse an News steigt auch dann, wenn das Gefühl
                                                            2                      wächst, etwas in der ­eigenen Community verpasst zu
                                                                                   haben oder nicht mitreden zu können.
                       1
                                                                                            Eine Bindung an herkömmliche Medienmarken
                                                                   12
                                                                                   ist allerdings kaum noch vorhanden. Es zeigen
                                                       5
                                                                                   sich bei dieser Zielgruppe klare Tendenzen eines
                                     6
     8                                                                             emergenten Medienkonsums (fög, 2020). Spezi­
                           10                                                      fische Medientitel werden nicht mehr gesamthaft
                                         Ich                            9
                                                                                   genutzt oder ­     angesteuert. Stattdessen wird auf
                                                       14
                                         4                                         ­sozialen Plattformen ein hochdyna­misches persön­
                 11                                                                 liches Nachrichtenbündel aus unterschiedlichsten
                                                                                    Quellen rezipiert. Entscheidend dafür, ob ein einzel-
                                                            15
                                                                                    ner Nachrichten­   artikel in die T­ iefe gelesen wird,
                                13                 3                                sind – neben dem individuellen Interesse – Titel und
                                                                                    Bild. Die untersuchten Nutzerinnen und Nutzer
                                                                                    ­reagieren also auf Formen der Nachrichtenaufbe­
                                                                                     reitung, wie beispielsweise «Clickbaiting».
                                                                                            Die Studie bestätigt eine geringe Zahlungs­
                                                                                     bereitschaft für News. Bezahlschranken werden von
1    Facebook              6    Google                      11   Online-News         den jungen Erwachsenen auch stark kritisiert. Ein
2    Twitter               7    TV                          12   Radio               kostenloser Zugang zu gesellschaftlich relevanten
3    Snapchat              8    Blogs                       13   Netflix
4    WhatsApp              9    Print Qualität              14   Instagram           Beiträgen wird von den Studienteilnehmenden quasi
5    YouTube               10   Spotify                     15   Print Boulevard     als Grundrecht bezeichnet. Eine gewisse Zahlungs-
                                                                                     bereitschaft würde nur bestehen, wenn eine Platt-
Darstellung 7: Nutzungshäufigkeit von Medienkanälen                                  form journalistische Inhalte aus unterschiedlichsten
                                                                                     Quellen auf der Grundlage einer kostengünstigen
Die Darstellung zeigt die Nutzungshäufigkeit unterschiedlicher Medien­
kanäle unter den 20- bis 25-jährigen Studienteilnehmerinnen und -teilneh-
                                                                                     Flatrate anbieten würde. Die untersuchte Zielgruppe
mern. Je näher ein Kanal in der Kreismitte platziert ist, umso häufiger wird         orientiert sich beim Bezahlverhalten somit stark an
er genutzt.                                                                          gebündelten Diensten wie Spotify.
Lesebeispiel: Die Plattformen YouTube, Instagram, WhatsApp und Google
­werden von den Jungen besonders häufig genutzt.
                                                                                            Eine grosse Bedeutung hat bei den untersuch-
                                                                                     ten jungen Erwachsenen die «Messengerisierung»
                                                                                     (Eisenegger, 2019, S. 12): Häufig gelangen News­
                                                                                     beiträge über Messengerdienste wie WhatsApp zu
             sie in sozialen Medien auf Aufmerksamkeit stossen                       den jungen Erwachsenen. Bei der untersuchten
             können, sie also das ­Potenzial haben, soziales Netz-                   ­jungen Nutzergruppe macht sich somit eine Verlage-
             werkkapital zu ver­grössern. Trifft dies zu, macht sich                  rung des gesellschaftlichen Diskurses weg von öf-
             die junge Nutzergruppe durchaus auch einmal aktiv                        fentlichen hin zu privaten Platt­formen bemerkbar.
             auf die Suche nach zusätzlichen Informationen. In-                       Für den Newskonsum am wichtigsten b      ­ leiben aber
             sofern sind ­junge Erwachsene, insbesondere die, die                     zurzeit noch die auf Bild, Video und Ton setzenden
             den «News-Deprivierten» zugerechnet werden kön-                          Social-Media-Plattformen YouTube und Instagram.
             nen, für den Informationsjournalismus keineswegs                         Eine audiovisuelle Aufbereitung ist für die Nutzer-
             ver­loren. Kommunika­   tionsereignisse mit Mobili­                      gruppe ein wichtiges Kriterium der Vermittlungs-
             sierungscharakter (z.B. «Fridays for Future» oder                        qualität und steigert das Interesse. Obwohl weniger
             ­#MeToo), die das Poten­zial haben, die eigenen Com-                     häufig genutzt, werden die traditionellen journalis­
              munity zu bewegen, oder auch personalisierte The-                       tischen Medienkanäle TV, Radio und Presse deutlich
              men mit Identifikations­potenzial können die unter-                     glaubwürdiger eingeschätzt als die häufig genutzten
9                           Hauptbefunde – die Schweizer Medienöffentlichkeit im Bann der Corona-Krise

    Social-Media-Kanäle. Begründet wird dies mit der
                                                                                              0%      2     4      6      8      10    12
    höheren Qualität und dem besseren Ein­halten jour-
    nalistischer Standards. Dies ist ein weiterer Beleg für      News-Deprivierte              1                                  2
    die Reflektiertheit der untersuchten Nutzergruppe.           Global Surfer
          Da die Studie während der Corona-Pandemie
                                                                 Intensivnutzer/innen
    durchgeführt wurde, lassen sich Erkenntnisse zum
                                                                 Homeland Oriented
    Mediennutzungsverhalten während der Krise ab­
                                                                 Old World & Onlinependants
    leiten. Der in der Literatur beschriebene «Corona-
                                                                 Old World Boulevard
    Bump» kann auch durch unsere Studie bestätigt
    ­werden (Kalogeropoulos et al. 2020). Die untersuch-         1    Mittel              2    Hoch
     te Nutzergruppe hat sich während der Corona-Krise
     vermehrt traditionellen, journalistischen Angeboten         Darstellung 8: Kommunikationsereignisse mit Bewegungs­c harakter
                                                                 in den Themenagenden der Repertoiretypen
     zugewendet. Dieser Effekt ist aber nicht von Dauer.
     Aus der Wahrnehmung einer Informationsflut zur
                                                                 Die Darstellung zeigt, wie stark bei den wahrgenommenen Kommunika­
     Corona-Thematik resultiert schon bald wieder ein            tionsereignissen auf der persönlichen Themenagenda ein Bewegungs­
     unterdurchschnittliches Newsinteresse.                      charakter vorhanden ist (n = 41 118 Befragte in den Jahren 2009 bis 2020).
                                                                 Aufgrund der Vorauswahl von 20 resonanzstarken Kommunikations­
                                                                 ereignissen des jeweiligen Vorjahres ist die Varianz der Anteilswerte
                                                                 beschränkt. Umso mehr sind selbst geringe Anteilsunterschiede bedeut-
    2.2         «News-Deprivierte»: Themen                       sam und statistisch signifikant.
                mit Bewegungscharakter prominenter               Lesebeispiel: «News-Deprivierte» haben auf ihrer Agenda mit 10,5% den
                                                                 höchsten Anteil von Kommunikationsereignissen mit mittlerem und hohem
                auf dem Bildschirm                               Bewegungscharakter.

    E     ine weitere Studie interessierte sich für die Frage,
          wie sich das persönliche Medienmenü unter-
    schiedlicher Nutzergruppen, die sogenannten News-
    repertoires, auf die Themenwahrnehmung auswirkt              womöglich auf Resonanz stossen (vgl. Darstellung 8).
    (Schneider & Eisenegger, 2020). Mit Blick auf das            Es handelt sich bei den «News-Deprivierten» also
    ­Repertoire der «News-Deprivierten», das durch einen         keineswegs um bewusste News-Verweigerinnen und
     unterdurchschnittlichen Newskonsum mit starkem              -Verweigerer. Voraussetzung für das Interesse an
     Fokus auf soziale Medien geprägt ist, zeigen sich           Nachrichten ist aber, dass die journalistischen In-
     klare Muster: Komplexe, gesellschaftspolitische             halte lebensweltlich anschlussfähig sind und in so­
     ­Themen sind bei dieser Nutzergruppe weniger auf            zialen Netzwerken für das eigene Identitäts- und
      der Agenda. Softnews, emotionalisierte und bedroh-         ­Beziehungsmanagement vorteilhaft erscheinen.
      liche Themen dafür umso mehr. Kommunikations-                       Auch zu anderen Repertoiretypen hat die
      ereignisse mit Bewegungscharakter wie die #MeToo-           ­Studie wichtige Befunde herausdestilliert. Die Ana­
      Debatte oder die «Fridays for Future»-Thematik fin-          lyse belegt, dass sich «Global Surfer», die gebildet
      den überdurchschnittliche Beachtung. Das steht im            sind, berufliche Verantwortung tragen und in den
      Einklang mit den Resultaten der qualitativen Studie          digitalen Medienwelten kritisch-reflektiert unter-
                                                                   ­
      (vgl. Kapitel 2.1), dass junge Erwachsene mit über-          wegs sind, trotz ihrer Affinität für politische und
      wiegender S­ ocial-Media-Nutzung diese Themen ver-           wirtschaftliche Themen weit unterdurchschnittlich
      gleichsweise intensiv verfolgen. Damit unterstreicht         mit schweizerischen Themen, wie zum Beispiel
      auch diese Studie auf der Grundlage einer quantita­          ­Abstimmungen, beschäftigen. Das stellt ein demo-
      tiven, standardisierten Bevölkerungsumfrage, dass             kratiepolitisches Problem dar, zumal die «Global
      die Gruppe der «News-Deprivierten» durchaus mit               Surfer» zusammen mit den «News-Deprivierten» zu
      journalis­
               tischen Inhalten erreicht werden kann.               den Repertoires zählen, die in den letzten Jahren am
      Nämlich dann, wenn die Themen Mobilisierungs­                 stärksten gewachsen sind. Im Jahr 2020 sind mehr
      potenzial a­ufweisen, Identifikationsmöglichkeiten            als 60% aller erfassten Nutzerinnen und Nutzer
      bieten und in den jeweiligen sozialen Netzwerken              ­einem dieser beiden Repertoires zuzurechnen.
10                                  Hauptbefunde – die Schweizer Medienöffentlichkeit im Bann der Corona-Krise

Jahr                                Anteil an einordnender              Anteil an emotional aufgeladener     Anteil des Bezugs zur Schweiz
                                    Berichterstattung                   Berichterstattung                    in der Berichterstattung
2015                                36,4%                               2,4%                                 38,1%
2016                                21,4%                               4,4%                                 32,7%
2017                                18,0%                               1,9%                                 31,2%
2018                                10,9%                               5,2%                                 34,0%
2019                                13,5%                               5,4%                                 36,3%
Total                               20,0%                               3,9%                                 33,7%

Tabelle 1: Inhaltliche Qualitätsaspekte der Wissenschaftsberichterstattung im Jahresvergleich

Die Tabelle zeigt, wie sich die inhaltlichen Qualitätsaspekte Einordnungsleistung, Emotionalität und Bezug zur Schweiz (Bezugsraum regional und
­n ational) über die Jahre entwickelt haben.
 Lesebeispiel: Im Jahr 2019 sind 13,5% der Beiträge einordnend. 2015 betrug dieser Wert noch 36,4%.

            2.3         Wissenschaftsberichterstattung –                nimmt es zu, wobei das Mehr an Wissenschafts­
                        wichtig, aber vernachlässigt                    berichterstattung im Onlinesegment hauptsächlich
                                                                        mit Agenturmeldungen bestritten wird.

            W        issenschaftliches Wissen prägt die heutige Ge-
                     sellschaft mehr denn je. Das hat die Corona-
            Krise deutlich vor Augen geführt. Dabei sind journa-
                                                                              Mit Blick auf die in der Wissenschaftsbericht­
                                                                        erstattung vermittelte Medienqualität fällt über die
                                                                        Jahre eine signifikante Abnahme der Einordnungs-
            listische Informationsmedien für die Schweizer Be-          leistung auf. Während 2015 noch 36,4% der Beiträge
            völkerung die wichtigste Quelle für wissenschaftliches      als einordnend eingestuft waren, sind es im Jahr 2019
            Wissen. Trotz seiner Bedeutung ist der Wissen-              nur noch 13,5% (vgl. Tabelle 1). Am stärksten einord-
            schaftsjournalismus jedoch ein Nischenressort. Er           nend ist die Wissenschaftsberichterstattung in den
            kämpft mit sinkenden Ressourcen und einer zuneh-            Medienangeboten des öffentlichen Rundfunks (34%),
            menden Abhängigkeit von der Hochschulkommuni-               der Sonntagszeitungen und Magazine (32%) sowie in
            kation. Vor diesem Hintergrund untersucht unsere            den Onlineausgaben der Abonnements­         zeitungen
            Studie die Bedeutung und Qualität der Wissen-               (23%). Umgekehrt weisen die Online­ausgaben der
            schaftsberichterstattung in Schweizer Medien der            Boulevard- (9%) und Pendlermedien (8%) tiefe An-
            Gattungen Online, Presse, Radio und Fernsehen im            teile an einordnender Berichterstattung auf, obwohl
            Zeitraum 2015 bis 2019 – also vor der Corona-Krise –        sie überdurchschnittlich viel Wissenschaftsbericht-
            anhand der Qualitätsindikatoren des Jahrbuchs               erstattung aufweisen. Dasselbe gilt für die Webange-
            ­( Vogler & Schäfer, 2020).                                 bote der SRG SSR, die wissenschaftliche Themen am
                    Die Analyse bestätigt den geringen Stellenwert      wenigsten einordnen.
             der Wissenschaftsberichterstattung in Schweizer                  Die Mängel im Bereich der Einordnungs­
             Medien. Der Anteil jener Beiträge, die sich schwer-        leistung und die generelle Ausdünnung des Wissen-
             punktmässig auf Wissenschaft beziehen, bleibt über         schaftsjournalismus sind problematisch. Nicht erst
             die fünf Untersuchungsjahre zwar stabil, beträgt           die Corona-Krise hat aufgezeigt, dass wissenschaft­
             durchschnittlich aber nur 2,1% der Gesamtbericht­          liches Wissen elementar ist. Auch das Wissenschafts-
             erstattung. Zu diesem geringen Stellenwert passt,          system bedarf einer kritischen, kompetenten Be­
             dass nur noch wenige qualitätsstarke Medienmarken          obachtungsinstanz von aussen. Der Wissenschafts-
             über eine ausdifferenzierte Wissenschaftsrubrik            journalismus ist unverzichtbar für die Vermittlung
             ­verfügen. Der Stellenwert der Wissenschaftsbericht-       wissenschaftlichen Wissens in der Gesellschaft, aber
              erstattung unterscheidet sich zudem nach Gattung.         auch für seine kritische Einordnung. Diese journalis-
              Im Printbereich nimmt das Berichterstattungsvolu-         tische Funktion ist aufgrund der wachsenden Res-
              men wissenschaftlicher Beiträge ab, in den Rund-          sourcenknappheit im Journalismus zunehmend in-
              funkmedien bleibt es stabil, und im Onlinebereich         frage gestellt.
11                                    Hauptbefunde – die Schweizer Medienöffentlichkeit im Bann der Corona-Krise

                                      0   1   2   4     5    6      7    8   –2 –1 0   1    2   3   –2 –1 0      1   2   3      –2 –1 0   1   2    3   –2 –1 0    1   2   3

Öffentliches Radio                                                 7,7
Öffentliches Fernsehen                                             7,4
SRG SSR-Online                                               6,7
Abonnementszeitungen                                         6,5
Sonntagszeitungen/Magazine                                  6,2
Abonnementszeitungen-Online                                 6,2
Privatfernsehen                                        5,3
Pure-Online                                           5,0
Pendlerzeitungen-Online                               4,9
Boulevardzeitungen-Online                         4,6
Boulevardzeitungen                                4,6
Pendlerzeitungen                                  4,4

                                      Qualitätsscore                           Relevanz               Vielfalt               Einordnungsleistung       Professionalität

Darstellung 9: Qualitätsscores der Medientypen

Die Darstellung zeigt die Qualitätsscores für zwölf Medientypen. Die Typen sind absteigend rangiert. Für jeden Typ ist zudem angegeben, ob er in den
vier Qualitätsdimensionen Relevanz, Vielfalt, Einordnungsleistung und Professionalität positiv oder negativ vom Typendurchschnitt abweicht. Daten-
grundlage bilden alle Beiträge der Qualitätsanalyse aus der Zufallsstichprobe 2019 (n = 21 324, 58 Medientitel).
Lesebeispiel: Die Newsportale der SRG SSR nehmen im Qualitätsranking der Medientypen mit 6,7 Scorepunkten den drittbesten Platz ein. In der Quali-
tätsdimension Einordnungsleistung schneiden sie aber unterdurchschnittlich ab.

              3             Weitere Befunde aus dem Jahrbuch                              redaktionen haben diese inhaltliche Medienkonzen­
                            Qualität der Medien                                           tration auf eine neue Stufe gehoben (Vogler et al.,
                                                                                          2020). Wir beobachten also einen doppelten Viel-
              3.1           Medienqualität – Professionalität                             faltsverlust.
                            bleibt stabil, Vielfalt und Einordnungs-                             Zudem nehmen auch die Einordnungsleistun-
                            leistung sinken                                               gen ab, wenn auch nicht so stark wie in der Vielfalts-
                                                                                          dimension. Die auf Hintergründe und Recherche

              G     esamthaft zeigen sich im Zeitraum 2015–2019
                    Qualitätsverschlechterungen bei zwei von vier
              Qualitätsdimensionen (fög, 2020). Die deutlichste
                                                                                          konzentrierte Berichterstattung verliert wohl als
                                                                                          Folge der Ressourcenknappheit an Gewicht. Dem­
                                                                                          gegenüber nimmt die Interpretationsleistung zu, das
              Abnahme messen wir in der Vielfaltsdimension. Die                           heisst, Medien stützen sich vermehrt auf eigene
              untersuchten Medien decken ein immer kleineres                              Berichte statt auf Agenturmaterial und teilweise
                                                                                          ­
              Spektrum an Themen und geografischen Räumen in                              kommentieren sie auch öfter (vgl. Darstellung 9).
              ihrer Berichterstattung ab. Dies ist pro­blematisch,                        Partiell zeigt sich eine Tendenz, das Weniger an Ein-
              weil die Vielfalt nicht nur innerhalb der einzelnen                         ordnung durch ein Mehr an Meinungsjournalismus
              Medientitel abnimmt, sondern auch in der Medien­                            zu ersetzen. Im Bereich der Professionalität verbes-
              arena insgesamt. Medien versuchen vor dem Hinter-                           sern sich die Informationsmedien. Die Berichterstat-
              grund ihrer Ressourcenengpässe Synergien zu nut-                            tung ist überwiegend sachlich gehalten und orien-
              zen, indem sie in wachsendem Ausmass Beiträge                               tiert sich zumeist an professionellen journalistischen
              ­teilen (vgl. Kapitel 3.5). Die eingeführten Zentral­                       Standards. Auch das Qualitätsniveau der Relevanz,
12                         Hauptbefunde – die Schweizer Medienöffentlichkeit im Bann der Corona-Krise

     das heisst der Fokus auf bedeutsame Hardnews, kann        3.2        Mediennutzung – kein Zuwachs
     über die Jahre gehalten werden.                                      der «News-Deprivierten»
            Bei fünf Medientypen bleibt die gemessene
     Qualität relativ stabil. Nur bei den gedruckten Boule-
     vardzeitungen verbessert sie sich signifikant. Die
     Medienqualität sinkt ausgerechnet bei mehreren
                                                               M          it Blick auf die Entwicklung der Medien­
                                                                          nutzung zeigt sich, dass jene Newsrepertoires
                                                               weniger wichtig werden, die ihr Medienmenü vor
     Medientypen, die im Vergleich eine überdurch-
     ­                                                         ­allem auf traditionelle Nachrichtenmedien abstützen
     schnittliche Medienqualität aufweisen: bei gedruck-        (fög, 2020). Zusammengenommen er­reichen diese
     ten Abonnementszeitungen, Sonntags- und Wochen-            Repertoires der «Old World» 2020 noch einen Nut-
     medien sowie bei den Informationssendungen des             zeranteil von 26%, während dieser 2009 noch fast
     öffentlichen Rundfunks (vgl. Darstellung 9).               50% betrug. Demgegenüber sehen wir ­kontinuierliche
            Der sprachregionale Vergleich der erfassten         Zuwächse der Repertoiretypen der «New World», die
     Medienqualität offenbart interessante Muster. In           vor allem Newssites, Social-Media-Plattformen und
     ­allen drei Sprachregionen tragen erstens die Medien-      weitere Onlineangebote für ihren Newskonsum
      typen des öffentlichen Rundfunks, die gedruckten          ­nutzen. Die Anteile der «News-Deprivierten» und
      Abonnementszeitungen und teilweise auch die                der «Global Surfer» nehmen über die Jahre stark
      Newssites der Abonnementszeitungen zu einer über-          zu, während jene der «Intensivnutzer» stagnieren.
      durchschnittlichen Qualität bei. In der Suisse ro-         Im Vorjahresvergleich bleibt der Anteil der «News-­
      mande existiert zweitens im Bereich der Sonntags-          Deprivierten» jedoch stabil (siehe Darstellung 10).
      presse und Wochenmagazine kein Titel, der an die                    Social Media gewinnen als Informationsquellen
      Qualität der Angebote in der Deutschschweiz (v.a.          an Bedeutung. In der Gruppe der 18- bis 24-Jährigen
      NZZ am Sonntag) und in der Svizzera italiana (Il           sind sie die wichtigste Informationsquelle. Im Ver-
      Caffè) heranreicht. In der Suisse romande und vor          gleich zum Vorjahr hat in dieser Altersgruppe der
      allem in der Svizzera italiana fehlen drittens Medien-     ­Anteil derjenigen, die soziale Medien als Hauptquelle
      typen, die in der Deutschschweiz eine unterdurch-           angeben, um 9 Prozentpunkte zugenommen. 26%
      schnittliche Qualität haben. So gibt es in der Svizze-      konsumieren News sogenannt emergent: Medien-
      ra italiana keine täglichen Boulevardmedien und in          marken werden nicht mehr direkt angesteuert,
      der Suisse romande erscheint die Boulevardzeitung           ­stattdessen werden Nachrichtenbündel aus unter-
      Le Matin seit 2018 nur noch digital. Die Medientypen         schiedlichsten Quellen, die über Algorithmen oder
      innerhalb der Svizzera italiana unterscheiden sich           Empfehlungen zu den Nutzerinnen und Nutzern
      viertens viel weniger voneinander als die Medien­            ­gelangen, genutzt. Dies ist insofern problematisch,
      typen innerhalb der Deutschschweiz. Dies gilt mit             weil dadurch das Markenbewusstsein für journalis­
      Einschränkungen auch für die Suisse romande: Zwar             tische Angebote geschwächt werden kann und die
      ist dort die untersuchte Pendlerzeitung qualitativ            Zahlungsbereitschaft abnimmt (fög, 2019).
      schlechter als ihre sprachregionalen Pendants, aber                 Bei allen Nutzergruppen wächst die Bedeutung
      die anderen Medientypen unterscheiden sich nicht              von WhatsApp. Die Messengerisierung (Eisenegger,
      so stark voneinander, wie sie dies in der Deutsch-            2019) schreitet demnach in der Schweiz voran und
      schweiz tun. Vor allem erreichen in der Suisse ro-            hat in der Corona-Krise nochmals an Fahrt aufge-
      mande auch die qualitativ besseren Medientypen                nommen. Dies ist nicht unproblematisch, weil sich
      nicht die gleich hohe Qualität wie in der Deutsch-            der gesellschaftliche Diskurs damit zunehmend in
      schweiz. Zugespitzt formuliert: In der Svizzera itali-        private Foren verschiebt, die sich – zum Beispiel bei
      ana und teilweise in der Suisse romande wird die              desinformativen Tendenzen – einem kritischen
      Qualität des Angebots «gemittelt», während in der             Zugriff von aussen entziehen. Bereits 16% der
                                                                    ­
      Deutschschweiz der grössere Markt ein differen­               Schweizerinnen und Schweizer geben an, Messen-
      zierteres Angebot mit einem grösseren Spektrum                gerdienste zum Teilen von Nachrichtenbeiträgen zu
      an ­ verschiedenen Medienqualitäten hervorbringt              nutzen.
      (Udris et al., 2020).
13                                   Hauptbefunde – die Schweizer Medienöffentlichkeit im Bann der Corona-Krise

         2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 20                   2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 20
40%                                                                        40%
35%                                                                        35%
30%                                                                        30%
25%        2                                                               25%
20%                                                                        20%        3

           1                                                                          2
15%                                                                        15%
                                                                                      1
10%        3                                                               10%
 5%                                                                         5%
 0%                                                                         0%
1     Old World Boulevard             3   Homeland Oriented                1     Intensivnutzer/innen            3   News-Deprivierte
2     Old World & Onlinependants                                           2     Global Surfer

Darstellung 10: Abnahme der Old World-Newsrepertoires und Zunahme der New World-Newsrepertoires

Die Darstellung zeigt die Anteilsentwicklungen der sechs Repertoiretypen im Zeitraum von 2009 bis 2020 (n = 41 118). Von 2016 auf 2017 wurde das Set
der zugrundeliegenden Medienkategorien erweitert.
Lesebeispiel: Der Anteil der «News-Deprivierten» nimmt von 21% im Jahr 2009 auf 37% im Jahr 2020 zu.

               3.3       Einstellungen – Bedenken gegenüber                zichtbare Voraussetzung für das Funktionieren der
                         Desinformation nehmen zu                          Gesellschaft ein.
                                                                                  Die Bedenken der Schweizer Bevölkerung,

               V    on den befragten Schweizerinnen und Schwei-
                    zern können 30% der Aussage, man könne den
               Medien vertrauen, weder zustimmen noch diese ab-
                                                                           Falschmeldungen in Onlinenachrichten nicht erken-
                                                                           nen zu können, haben im Vergleich zum Vorjahr
                                                                           ­zugenommen. Am kritischsten wird Facebook in Be-
               lehnen (fög, 2020). 26% verneinen die Aussage ganz.          zug auf das Problem der Desinformation einge-
               Das ­zeigen Daten des Reuters ­Institute for the Study       schätzt. Am grössten ist die Sorge, dass Regierungen,
               of Journalism, mit dem das fög als Schweizer Länder-         Politikerinnen und Politiker oder Parteien aus der
               partner eine Kooperation unterhält. Trotzdem reiht           Schweiz (23%) oder dem Ausland (21%) Falschinfor-
               sich die Schweiz mit diesen Werten im internatio­            mationen verbreiten. Demgegenüber ist die Sorge,
               nalen Vergleich immer noch im vorderen Drittel ein.          dass der Journalismus oder einfache Bürgerinnen
               Das Medienvertrauen ist hierzulande also vergleichs-         und Bürger desinforma­tive Inhalte in Umlauf brin-
               weise hoch. Auch ist das Medienvertrauen in her-             gen, deutlich geringer. Dies kann als Indiz gewertet
               kömmliche journalistische Informations­        medien        werden, dass die Schweizer Bevölkerung die Fakten-
               deutlich höher als in Tech-Plattformen wie Google            treue der journalistischen Informationsmedien in
               und Facebook, wobei eine Diskrepanz ­zwischen den            der Schweiz relativ hoch einstuft.
               Suchmaschinen und Social Media deutlich wird. Wäh-
               rend 29% der Nutzerinnen und Nutzer angeben, dass
               sie Informationen aus Suchmaschinen überwiegend 3.4            Finanzierung – Zahlungsbereitschaft
               und stark vertrauen, sind es für Social Media weniger,         verbessert sich bei jungen Erwachse-
               nämlich nur 19%. Die öffentlichen Diskus­sionen über           nen leicht
               Fake News und Hatespeech dürften auf die Vertrau-
               enswerte der ­sozialen Medien drücken. Gleichzeitig
               stuft eine Mehrheit der Schweizerinnen und Schwei-
               zer die U
                                                                          D
                                                                        ie Corona-Krise hat die Finanzierungskrise des
                                                                        Informationsjournalismus weiter akzentuiert
                       ­ nabhängigkeit des Journalismus als unver- (fög, 2020). Bereits davor waren die Werbeeinnah-
14                                   Hauptbefunde – die Schweizer Medienöffentlichkeit im Bann der Corona-Krise

                                                0%          5         10            15             20   25       30         35         40        45

                                                  2                                                                                          42,3%
Norwegen
                                                  1                                                                                          26,5%
                                                                                                             26,8%
Schweden
                                                                                                             20,2%
                                                                                            17,0%
Dänemark
                                                                                            14,5%
                                                                                         14,3%
Niederlande
                                                                                         11,6%
                                                                                         13,4%
Schweiz
                                                                                         10,1%
                                                                                         12,2%
Spanien
                                                                                         9,6%
                                                                                         12,0%
Irland
                                                                                         9,0%
                                                                                         11,5%
Belgien
                                                                                         12,2%
                                                                            10,6%
Österreich
                                                                            6,6%
                                                                            10,3%
Frankreich
                                                                            10,8%
                                                                                           10,1%
Italien
                                                                                           16,3%
                                                                           9,8%
Deutschland
                                                                           8,3%
                                                                           6,9%
UK
                                                                           6,5%

1     2016               2   2020

Darstellung 11: Entwicklung der Zahlungsbereitschaft für Onlinenews im internationalen Vergleich

Die Darstellung zeigt für die Schweiz und die Referenzländer den Anteil der Befragten, die angeben, im letzten Jahr für Onlinenews bezahlt zu haben
(Quelle: Reuters Institute, 2020).
Lesebeispiel: Im Jahr 2020 geben in der Schweiz 13% der Befragten an, im vergangenen Jahr für Onlinenews bezahlt zu haben. 2016 betrug dieser
Wert 10%.

              men der Schweizer Medienanbieter anhaltend und                Google, Facebook) in der Schweiz im Jahr 2019 rund
              stark rückläufig. 2019 verloren gedruckte Zeitungen           1,6 Milliarden Franken Onlinewerbeeinnahmen zu-
              nochmals 8% ihrer Werbeerlöse und lagen erstmals              flossen. Die Plattformisierung der M­ edienwelt ent-
              unter 1 Milliarde Schweizer Franken. Auch die Werbe­          zieht damit dem Informationsjour­      nalismus an­
              einnahmen des Fernsehens sind rückläufig (–8%) und            haltend finanzielle Ressourcen, und dies in substan-
              betragen 2019 noch rund 700 Millionen Franken. Der            zieller Höhe.
              Onlinewerbemarkt ist demgegenüber leicht gewach-                     Vor dem Hintergrund der starken Einnahme-
              sen (+4%), kann den Einnahmeschwund aber nicht                ausfälle im Werbemarkt gewinnen Bezahlmodelle für
              kompensieren. Das Medienforschungs­unternehmen                den Informationsjournalismus an Bedeutung. Aller-
              Publicom kommt auf der Basis einer Expertenbefra-             dings bleibt die Zahlungsbereitschaft in der Schweiz
              gung zum Schluss, dass den Tech-Plattformen (u.a.             tief. Nur gerade 13% der Schweizerinnen und Schwei-
15                         Hauptbefunde – die Schweizer Medienöffentlichkeit im Bann der Corona-Krise

     zer geben an, für Onlinenews zu bezahlen. Immerhin        men 84%, in der Svizzera italiana 86%. Dem steht ein
     hat die Zahlungsbereitschaft von 2016 auf 2019 um         Anteil in der Deutschschweiz von immer noch hohen
     3 Prozentpunkte zugenommen (vgl. Darstellung 11).         69% gegenüber (vgl. Darstellung 12). Sowohl im
     Die Zahlungsbereitschaft für Onlinenews hängt in          Presse- wie im Onlinemarkt ist die TX Group der be-
     der Schweiz von der Sprachregion, vom Alter und           deutendste Akteur.
     vom Geschlecht ab. In der Suisse romande (16%) ist               Neben der strukturellen Medienkonzentration
     die Zahlungsbereitschaft höher als in der Deutsch-        fördert die grossflächige Einführung von Verbund-
     schweiz (12%). Allerdings ist der Anteil der Zah-         systemen die inhaltliche Medienkonzentration. Die-
     lungsbereiten in der Suisse romande seit 2016 weni-       se bemisst sich am Ausmass, wie stark gleiche Me­
     ger stark angestiegen (+1 Prozentpunkt) als in der        dienbeiträge in verschiedenen Medientiteln geteilt
     Deutschschweiz (+4 Prozentpunkte). Bei älteren            werden. Für das Jahrbuch wurde die inhaltliche
     Menschen, die ganz generell weniger oft digitale,         ­Medienkonzentration im Deutschschweizer Presse-
     sondern traditionelle Newsquellen nutzen, ist die          markt von 2017 bis 2019 untersucht. Also genau für
     ­Zahlungsbereitschaft für Onlinenews weniger aus­          jene Jahre, in denen TX Group und CH Media ihre
      geprägt, ebenso bei Frauen. Allerdings hat bei jungen     Zentralredaktionen einführten bzw. ausbauten. Die
      Frauen im Alterssegment von 18 bis 24 Jahren die          geteilten Medienbeiträge wurden über automati­
      Zahlungsbereitschaft am meisten zugenommen                sierte Textvergleiche ermittelt.
      (+12%) und beträgt aktuell 19%. Die wachsende                   Die Untersuchung bestätigt, dass die inhalt­
      ­Zahlungsbereitschaft bei jüngeren Menschen macht         liche Medienkonzentration im Untersuchungszeit-
       Hoffnung, dass eine Generation heranwächst, die          raum deutlich zunimmt. Von 2017 auf 2019 erhöht
       wieder vermehrt bereit ist, für News im Web zu be-       sich der Anteil an geteilten Beiträgen in der ge­samten
       zahlen. Wie unsere qualitative Studie zur medialen       Medienarena von 10% auf 21%. Im Verbundsystem
       Lebenswelt junger Erwachsener gezeigt hat (vgl.          der TX Group wächst der Anteil geteilter Beiträge
       ­Kapitel 2.1), wäre die junge, an Spotify und Netflix    von 2017 auf 2019 um 21 Prozentpunkte auf 37%. Dies
        ­gewohnte Nutzergruppe unter bestimmten Bedin-          ist eine Folge der Eingliederung der Basler Zeitung
         gungen bereit zu zahlen – z.B. für gebündelte An­      und der Berner Zeitung ins Verbundsystem. Im Ver-
         gebote aus unterschiedlichen Quellen auf ein und       bundsystem der CH Media führt die Zusammen­
         derselben Plattform und dies zu einer kostengünsti-    legung der Redaktionen im Jahr 2019 zu einer Steige-
         gen Flatrate.                                          rung der inhaltlichen Medienkonzentration von 12%
                                                                auf 20%. Eine besonders hohe inhaltliche Medien-
                                                                konzentration besteht im demokratiepolitisch sen­
     3.5        Die inhaltliche Medienkonzentration             sitiven Bereich der nationalen Politikbericht­
                schreitet fort                                  erstattung. Sie hat zwischen 2017 und 2019 um
                                                                20 Prozentpunkte zugenommen und beträgt 2019

     D     ie Finanzierungskrise des Informationsjournalis-
           mus treibt die strukturelle und die inhaltliche
     Medienkonzentration in der Schweiz voran (fög,
                                                                hohe 41%. Der regionale Blick auf das nationale Ge-
                                                                schehen hat dadurch merklich gelitten. Auch im Be-
                                                                reich der aus demokratietheoretischer Sicht beson-
     2020). Die strukturelle Medienkonzentration – fest-        ders sensitiven, meinungsbetonten Artikel nimmt
     gemacht an den Besitzverhältnissen und an der An­          die inhaltliche Medienkonzentration zu. Die Anzahl
     gebotsvielfalt journalistischer Medientitel – ist be-      geteilter Leitartikel, Kommentare und Rezensionen
     reits weit fortgeschritten (fög, 2020). 2019 ­betragen     ist im Untersuchungszeitraum um 8 Prozentpunkte
     in der Deutschschweiz die Anteile der drei grössten        gestiegen. Eine Folge ist, dass zunehmend gleiche
     Medienhäuser (Konzentrationsrate CR3) am Presse-           Abstimmungsempfehlungen ausgespielt werden.
     markt 82%, jene für die Suisse romande und die             Aber auch im Bereich der Organisationsbericht­
     ­Svizzera italiana 89% bzw. 68%. Im Onlinemarkt ist        erstattung ist die inhaltliche Medienkonzentration
      die Medienkonzentration in den kleineren Sprach­          in meinungsbetonten Beiträgen ein Problem: Die
      regionen erheblich grösser: In der Suisse romande         gleichförmige Skandalisierungstendenz wird da-
      beträgt der Anteil der drei grössten Medienunterneh-      durch intensiviert.
16                                           Hauptbefunde – die Schweizer Medienöffentlichkeit im Bann der Corona-Krise

Konzentrationsrate (CR3)                                                            Konzentrationsrate (CR3)

            0%       20      40       60      80     100     Kontrolleure   Titel               0%        20      40       60     80   100     Kontrolleure   Titel

             1                                             79%        11    17                    1                                          56%        28    33
Presse       2                                             89%         7    13      Presse        2                                          83%        11    35
             3                                             89%         7    13                    3                                          82%        28    34
                                                           81%         5    9                                                                60%         8    11
Online                                                     87%         6    10      Online                                                   71%         9    16
                                                           84%         6    11                                                               69%         9    16

1    2001        2    2018        3   2019                                          1    2001         2    2018        3   2019

                                                   Suisse romande                   Deutschschweiz

                                                                                    Svizzera Italiana

                                                                                    Konzentrationsrate (CR3)

                                                                                                0%        20      40       60     80   100     Kontrolleure   Titel

                                                                                                  1                                          64%         6    6
                                                                                    Presse        2                                          67%         6    6
                                                                                                  3                                          68%         6    6
                                                                                                                                             89%         4    5
                                                                                    Online                                                   85%         4    5
                                                                                                                                             86%         4    5

                                                                                    1    2001         2    2018        3   2019

Darstellung 12: Konzentration im Presse- und Onlinemarkt

Die Darstellung zeigt die Marktanteile der drei grössten Kontrolleure (Konzentrationsrate CR3) pro Sprachregion sind und wie sich die Anteile im Zeit-
verlauf verändert haben. Zudem ist die Zahl der Kontrolleure und Titel vermerkt (Quelle: WEMF, NET-Metrix). Berücksichtigt wurden alle Presse- und
Onlinetitel, die mehr als 0,5% der sprachregionalen Bevölkerung erreichen.
Lesebeispiel: In der Suisse romande kontrollieren die drei grössten Medienhäuser (TX Group 68%; Editions Suisses Holding 12%; media f sa 8%) im Jahr 2019
89% des gesamten Pressemarktes. Im Referenzjahr 2001 war dieser Anteil noch deutlich geringer, und die Top-3-Kontrolleure setzten sich aus anderen
Medienhäusern zusammen.
Sie können auch lesen