2 Evangelische Akademie Bad Boll

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2 Evangelische Akademie Bad Boll
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Juni 2019
                                     2

            Phantasie statt Alternativlosigkeit – Neue Wege wagen
            Kirche erfindet sich neu in am ehemaligen US-Standort Franklin ● Neue
            Wege zur Integration von entlassenen Strafgefangenen ● Nachhaltige
            Bildung für eine Welt im Wandel ● Luc Ciompi und die Psychiatriereform
2 Evangelische Akademie Bad Boll
Editorial

		                      Liebe Leserin, lieber Leser,

Dorothee Sölle war eine Prophetin. Ihre Botschaften sind im-     entwicklung geht. Eine Exkursion in das Konversions-Gebiet
mer noch brennend und lebendig. Sie war radikal im Denken.       Franklin bei Mannheim, das einst die größte Wohnsiedlung
Ein Satz hat mich getroffen: »Wir sind Kollaborateure der Sün-   amerikanischer Soldaten in Deutschland war, zeigt, dass
de, schon indem wir zur nördlichen reichen Welt gehören.«        auch die katholische und die evangelische Kirchen neue Wege
Deutschland hat in den ersten vier Monaten schon so viele        suchen – weg von einer »quasi staatlichen Institution zu
Ressourcen verbraucht, wie dem Land eigentlich für das ganze     einem Player unter anderen« (Dekan Ralph Hartmann, S. 8f.).
Jahr zur Verfügung stehen. Germanwatch schreibt dazu: »Die       Die Pädagogin Margret Rasfeld hat im April auf der Tagung
Menschen hierzulande leben seit dem 3. Mai daher auf Kosten      »Odyssee 4.0 – Digitalisierung in Schule und Unterricht« ein
kommender Generationen und der Menschen im globalen              Plädoyer für nachhaltige Bildung gehalten (s. S. 14f.) und die
Süden, die deutlich weniger verbrauchen, aber stärker von den    Fridays for Future-Bewegung begrüßt: »Großartig, dass die
ökologischen Folgen betroffen sind.« Das liest man und fühlt     jungen Menschen für den Klimawandel auf die Straße gehen!«
sich doch nicht unmittelbar angesprochen – es bleibt abstrakt    Ihr Vorschlag ist weitgehend: »Machen wir in unseren Schulen
und verweist nicht direkt auf das persönliche Handeln. Aber      den Freitag – oder einen anderen Tag – zum Zukunfts-Tag
der Satz: »Wir sind Kollaborateure der Sünde …« trifft jeden     für weltverantwortliches Handeln: Nachhaltigkeit, Frieden,
Einzelnen und zeigt, dass wir Verantwortung tragen.              Zukunft.«
Auch der Bericht des Weltbiodiversitätsrats (IPBES) beleuchtet
unsere Zuständigkeit für den Planeten: Eine Million Pflan-       »Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie
zen- und Tierarten sind vom Aussterben bedroht. Das ergab        Menschen«, heißt das neue Buch von Harald Welzer, das Jobst
die Auswertung Tausender Studien durch 150 Experten aus 50       Kraus auf S. 27/28 vorstellt. Welzer weiß, dass dort, wo die
Ländern. Die protestierenden jungen Menschen der Fridays         »Widersprüche zwischen den Selbstansprüchen einer Gesell-
for Future-Bewegung wollen das alles nicht mehr akzeptieren.     schaft und ihrer Praxis zu groß werden«, sich »Widerstand
Sie wissen, dass es ihre und die Zukunft ihrer Kinder ist, die   entwickelt.« Er sieht die Notwendigkeit »in diese Widersprü-
gerade verzockt wird. Immerhin wird jetzt offen über eine        che hineinzugehen« und zu »zeigen, wie es anders geht«.
CO2-Abgabe diskutiert. Wenn die Politik mit diesem Instru-       Dazu braucht es kreative Formen des Protests, auch durch die
ment ökologische und soziale Ziele miteinander vereinbaren       Kunst, die uns weiterbringen kann.
würde, wäre das eine einmalige Gelegenheit, vor allem die
Verursacher zu belangen und zu zeigen, was das für alle be-      Lassen Sie sich von Harald Welzers Gesellschaftsutopie und
deutet. Ob die Politik das wirklich schafft?                     von den anderen Beiträgen inspirieren und finden Sie ihren
                                                                 eigenen phantasievollen Weg, die Welt verantwortungsvoll
Kreative Ansätze aus ganz verschiedenen Bereichen stellen        zu gestalten!
wir in dieser Ausgabe von SYM vor. Ansätze, die zeigen, dass
man der Alternativlosigkeit mit Phantasie begegnen muss, um      Ich wünsche Ihnen einen schönen Sommer und
nicht in Resignation und Politikverdrossenheit abzutauchen.      grüße Sie herzlich,
Nicht immer mehr Pillen in der Psychiatrie, sondern auch
andere Therapien anwenden (S. 16f.), Strafgefangene, die ent-
lassen werden, anders und vernetzt unterstützen, damit nicht
das bekannte Schema des schnellen Rückfalls bestätigt wird
(S.12f.). Und neue Ideen entwickeln, wenn es um Quartiers-       Martina Waiblinger

2                                                                                                                  SYM 2/2019
2 Evangelische Akademie Bad Boll
Inhalt

                                                                                           26
4                                                                                          Aus der Akademie
Aktuell ...                                                                                ▪ Neu in der Akademie:
▪ Erste Zertifikate für Inter-                                                               Monika Appmann und
  kulturelle Lots_innen                                                                      Miriam Kaufmann
▪ Barbaraossa-Berglauf – ein                                                               ▪ Entwicklungspolitische
  Akademie-Team war dabei                                                                    Landeskonferenz 2019
▪ Neue Gästezimmer in der                                                                    »Afrika im Blick«
  Akademie
▪ Württembergs Synode
  ermöglicht Segnung gleich-                                                               27
  geschlechtlicher Paare                                                                   Rezensionen

6
Akademiegeschichte
                                 8                                                         Publikationen
                                                                                           ▪ Harald Welzer:
                                                                                             Alles könnte anders sein

Werbung für zivilgesell-
                                 Schwerpunkt:                                              ▪ Thomas Roithner:
                                                                                             Sicherheit, Supermacht
schaftliches Engagement:         Phantasie gegen Alternativlosigkeit –                       und Schießgewähr
Die Aktion Gemeinsinn e.V.       Neue Wege wagen                                           ▪ Halbjahresprogramm 2/2019
(1957-2015)
                                 Kirche erfindet sich neu – Aus einem Standort amerika-

7                                nischer Soldaten entsteht in Franklin ein Wohnquartier.
                                 Von Martina Waiblinger
                                                                                           28
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Kunst
                                 Neue Wege zur Integration von entlassenen
1. Ausstellung in Bad Boll:
                                                                                           29
                                 Strafgefangenen. Von Oliver Kaiser
Cartoons von Jals
                                 Bildung für eine Welt im Wandel.
                                                                                           Verlosung
18                               Von Margret Rasfeld
                                                                                           Impressum
Extra                            Luc Ciompi und die Psychiatriereform.
                                 Von Achim Donat
Agenda 2030 und die
Religionen
                                                                                           30
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                                                                                           Von Dr. Barbara Schäfer
Vorschau                         Titelbild
Tagungen vom 10. Juni bis
31. Oktober 2019
                                 Berliner Schülerinnen bei einer Fridays for Future-
                                 Demonstration am 29. März 2019                            31
                                                                                           Meditation
                                 Foto von Shutterstock / Rolf G Wackenberg
                                                                                           Ist es ein Wunder?
                                                                                           Von Thomas Haas

SYM 2/2019                                                                                                               3
2 Evangelische Akademie Bad Boll
Aktuell

                                                                                 Von Vorschlägen zu einer diskriminierungsfreien
                                                                                 Verbandskommunikation bis zu Schulungskonzep-
                                                                                 ten, von der Anbahnung von Begegnungen bis
                                                                                 zur systematischen Hinterfragung des Alltags-
                                                                                 handelns: Sie führten in Eigenregie vor Augen, in
                                                                                 welcher Vielfalt Ideen zum interkulturellen Lernen
                                                                                 kooperativ entwickelt und umgesetzt werden kön-
                                                                                 nen – und dass das Thema der Interkultur nicht nur
                                                                                 mit Fragen der Herkunft, Religion und Sprache ver-
                                                                                 knüpft werden muss, sondern mit jeglicher Form
                                                                                 von Diskriminierung oder Privilegien. Diese Erfah-
                                                                                 rungen dürfen die Lotsinnen und Lotsen nun als
                                                                                 Multiplikator_innen in ihren Verbänden einbringen
                                                                                 und teilen. Nach den drei Abschlussmodulen soll
Die Teilnehmenden         Erste Zertifikate an interkulturelle                   es im Herbst mit weiteren Seminaren weitergehen.
des vorerst letzten
                          Lotsinnen und Lotsen überreicht                        Die Johanniter-Unfall-Hilfe und der Naturschutz-
Seminars erhalten ihre                                                           bund (NABU) beteiligen sich an dem Projekt, weil
Zertifikate. Vom Team     Die ersten Zertifikate für interkulturelle Lotsinnen   sie die gesamte Gesellschaft erreichen und abbil-
sind rechts im Bild
                          und Lotsen konnten am Sonntag, 24. März im Rah-        den möchten und zudem überzeugt sind, dass die
Rebecca Frank, Jo-
hanniter-Unfall-Hilfe     men des Modellprojekts »Konzepte, Methoden und         Beschäftigung mit interkulturellen Kompetenzen
Baden-Württemberg         Instrumente interkulturellen Lernens in Verbänden      eine bleibende Gegenwarts- und Zukunftsaufgabe
und Projektleiter Dr.     und Vereinen« in der Evangelischen Akademie            ist. Sie wollen Synergien nutzen und hoffen, dass
Thomas Haas. Das          Bad Boll überreicht werden. In den bisherigen drei     daraus neue Netzwerke, Freundschaften, Aktionen
Modell-Projekt ist        Abschlussmodulen haben seit November 2018 ins-         und Projekte entstehen werden.
eingebettet in das Pro-   gesamt 21 Teilnehmende von NABU (Naturschutz-
gramm »Zusammenhalt
                          bund Baden-Württemberg) und Johanniter-Unfall-         Ein Teilnehmer sagte zu dem Seminar: »Gesunde
durch Teilhabe« des
Bundesministeriums        Hilfe (JUH) das gemeinsame Schulungsprogramm           Lebensbedingungen und eine intakte Umwelt sind
des Innern, für Bau und   erfolgreich abgeschlossen, weitere Seminare            für alle Menschen gleich wichtig und daher sollten
Heimat. Als eines von     stehen im Herbst an.                                   auch möglichst alle gesellschaftlichen Gruppen
18 Modellprojekten        Das Projekt erhofft sich von den Lotsinnen und         in die Aktivitäten [meines Verbands] einbezogen
bundesweit erprobt die    Lotsen eine Funktion als Brückenbauer_innen und        werden. Neben den konkreten Anregungen zur
Akademie Wege zur         Ansprechpartner_innen in ihrem konkreten haupt-        möglichen Umsetzung von mehr biologischer und
langfristigen Einbet-
                          oder ehrenamtlichen Arbeitsfeld. Zugleich sind Sy-     kultureller Vielfalt bietet der Kurs auch sehr leben-
tung inter- und trans-
kultureller Kompeten-     nergieeffekte in der Verbandsinterkultur zwischen      dige und vielfältige Denkanstöße über persönliche
zen. Zum Team gehört      JUH und NABU gewünscht. In einer Praxisphase           Standpunkte in der Gesellschaft.«
noch der Fotograf,        zwischen Basis- und Abschlussmodul sollten die                                                     Dr. Thomas Haas
Markus Pagel, NABU.       Teilnehmenden Projekte entwickeln und umsetzen.         www.ev-akademie-boll.de/projekte/interkulturelle-lotsen.html

                                                                                 Barbarossa Berglauf

                                                                                 Mit Schneeflocken bei 3 Grad Celsius haben am
                                                                                 Sonntag, 5. Mai erstmals sechs Mitarbeitende der
                                                                                 Evangelischen Akademie Bad Boll am jährlich statt-
                                                                                 findenden Barbarossa-Berglauf am Hohenstaufen
                                                                                 teilgenommen: Von li. nach rechts: Jörg Hübner,
                                                                                 Carmen Storch, Jacqueline Detzel, Anke Wolke,
                                                                                 Georg Lämmlin und Jessica Pallaske. Das neue
                                                                                 Motto der Akademie »Im Dialog: Gesellschaft
                                                                                 gestalten«, das auf hinten auf den T-Shirts steht,
                                                                                 wurde an diesem Tag erstmals öffentlich gemacht.

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2 Evangelische Akademie Bad Boll
Aktuell

Akademie renoviert Gästezimmer:
Flexibler nutzbar, besonders für Familien
Die Akademie steht vor einem größeren Umbau.
Von April bis Oktober ist der Westflügel des Ta-
gungszentrums geschlossen. »Die Gästezimmer
werden saniert und zu größeren Räumen umge-
baut«, berichtet Geschäftsführer Achim Ganßloser.
Den Westflügel gebe es seit den 50er Jahren, »und
daran muss jetzt auch der technische Stand ange-
passt werden«, erklärt er. Ebenso wie der Brand-
schutz, Wasser- und Abwasserleitungen, sowie die      herauskommt. Hell, freundlich, neues Parkett,           Hell, freundlich und
Sanitäranlagen im Gebäude. Bis auf die Rohbau-        neues Mobiliar. Außer dem Bett gibt es ein auszieh-     modern muten die
ebene werde der Westflügel laut Ganßloser er-         bares Schlafsofa. Da übernachtet dann auch mal          neuen Gästezimmer im
                                                                                                              Hauptbau an. Bei der
neuert. »Den Saal im oberen Geschoss betrifft das     ein Tourist. Denn die Tagungsstätte ist auch ein
                                                                                                              Renovierung des West-
nicht, nur die Gästezimmer«, merkt er an. Die Zim-    Hotel. Aktuell hat das Haus 86 Einzelzimmer und         flügels werden Mehr-
mer werden beim Umbau neu ausgestattet, »dabei        14 Zweibettzimmer. Moderne Technik ist natürlich        bettzimmer eingerich-
wollen wir auch die Raumkonzeption verändern.         da, das ist in einem Tagungszentrum ein Muss. Im        tet - hier ist die Nach-
Aus zwölf Einbettzimmern werden sechs Mehrbett-       gesamten Haus gibt es WLAN. Nachhaltigkeit fin-         frage - vor allem für
zimmer.« Die Räume sollen flexibler nutzbar sein,     det sich auf Schritt und Tritt im Haus. Der Haupt-      Familien - gestiegen.
besonders für Familien. Denn hier sei die Nachfra-    bau mit dem Empfang war der erste Neubau nach           Mit der Renovierung,
                                                                                                              die dieses Jahr vollen-
ge in der letzten Zeit stark angestiegen.             der Gründung der Akademie. Gleich darauf folgte
                                                                                                              det werden soll, sind
Zudem sei es wichtig, betont Ganßloser, auf die       schon der Westflügel. Geschichte sind die einstigen     die Akademiegebäude
Nachhaltigkeit zu achten. »Die Möbel sind aus         Süd- und Parkflügel, an ihrer Stelle kam 2010 ein       einmal »durchsaniert«.
Eiche, modern, elegant und schlicht.« Für das         neuer Südflügel. Die Villa Vopelius, das denkmal-       Nachhaltigkeit ist ein
Parkett werde ebenso Eichenholz verwendet. Im         geschützte Stammhaus der Akademie, wurde um             wichtiger Aspekt bei
Flur werde Naturkautschuk genutzt, das den Hall       die Jahrtausendwende liebevoll saniert. Neues kam       der Renovierung.
dämpft und gleichzeitig nachhaltig ist. Am 8. April   hinzu, wie der preisgekrönte gläserne Speisesaal.
wurde mit dieser Modernisierung begonnen, die         Jetzt also noch der Westflügel. Aber: »Es wird dann
auch ein Abschluss ist: Die Akademiegebäude sind      auch wieder die nächste Sanierung kommen«, sagt
dann einmal durchsaniert. Im Hauptbau lässt sich      Ganßloser.
sehen, wie so ein Zimmer aus den 50er-Jahren neu                                          Maren Bertits/NWZ

Württembergs Synode ermöglicht                        Präambel fest, dass es zum Ja oder Nein in dieser
Segnung gleichgeschlechtlicher Paare                  Frage »keinen Ausgleich auf einem Mittelweg,
                                                      sondern nur die Möglichkeit, getrennte Wege
Stuttgart (epd). Die württembergische Landessyno-     zu eröffnen« gebe. Der Theologische Ausschuss
de hat die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare er-   würdigte, dass der jetzt gewählte Gesetzestext zwei
möglicht. Mit 65 von 90 Stimmen verabschiedeten       Formen der Bibelauslegung nebeneinander stehen
die Synodalen am 23. März in Stuttgart mit der        lasse. Bislang war für homosexuelle Paare in der
erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit ein Gesetz,      württembergischen Landeskirche eine Segnung im
das Segnungsgottesdienste für Schwule und Lesben      privaten Rahmen, aber kein öffentlicher Gottes-
weder vorschreibt noch generell verbietet. Bun-       dienst möglich. Von den 20 Mitgliedskirchen der
desweit einmalig ist, dass das Gesetz auch schon      Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) nimmt
Personen des »dritten Geschlechts« einbezieht.        nur die Landeskirche Schaumburg-Lippe keine
Dem Beschluss zufolge können bis zu einem Vier-       Segnungen vor. Die Evangelische Landeskirche in
tel der württembergischen evangelischen Kirchen-      Baden hat 2016 mit der »Trauung für alle« ho-
gemeinden »gleichgeschlechtlichen Paaren oder         mosexuelle Paare und heterosexuelle vollständig
Paaren, von denen zumindest eine Person weder         gleichgestellt. Weltweit lehnen die katholische Kir-
dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht         che, Orthodoxe, die meisten Freikirchen und viele
angehört«, einen Segnungsgottesdienst nach einer      evangelische Kirchen auf anderen Kontinenten die
zivilen Eheschließung anbieten. Zugleich hält die     öffentliche Segnung von Schwulen und Lesben ab.

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2 Evangelische Akademie Bad Boll
Akademiegeschichte

Werbung für zivilgesellschaftliches Engagement:
Die Aktion Gemeinsinn e.V. (1957-2015)
Von Anja Kafurke                              gnen zurück, die nicht ein bestimmtes
                                              Produkt bewarben, sondern auf eine
Professionell gestaltete Werbung für ge-      Bewusstseinsveränderung im Individu-
meinnützige Zwecke begegnet uns heute         um abzielten und kostenlos produziert
überall im Alltag und die Debatten um         und veröffentlicht wurden. Nachrichten-
bürgerschaftliches Engagement und Zi-         agenturen, manchmal auch Hörfunk und
vilgesellschaft sind ein fester Bestandteil   Fernsehen berichteten von den Kampag-
der politischen und gesellschaftlichen        nen, Tages- und Wochenzeitungen sowie
Auseinandersetzung. Einen Beitrag dazu        Fachzeitschriften stellten kostenfrei, also
leistete die in Bonn ansässige und ehren-     pro bono, Anzeigenraum zur Verfügung.
amtlich arbeitende Aktion Gemeinsinn.         Auch Privatpersonen, Unternehmen und
Die Idee zur Gründung des gemeinnützi-        Stiftungen spendeten für den Druck und        anzunehmen und nahm finanziel-
gen Vereins entsprang einer Tagung der        Versand der produzierten Printmedien.         le Unterstützung nur zur Förderung
Evangelischen Akademie Bad Boll (14.-         Die Themen der Kampagnen betrafen             einzelner Projekte an. Außerdem waren
16.1.1957) unter dem Motto »Weckung           politisch-gesellschaftliche Belange, wie      die Zeitungen aufgrund ihrer eigenen
des Gemeinsinns – eine Werbeaufgabe«.         Kinder und Jugendliche, Zivilcourage          Wirtschaftslage nicht mehr in dazu in
Die Aktion Gemeinsinn wurde im selben         und Bürgerschaftliches Engagement, das        der Lage, kostenfreien Anzeigenplatz
Jahr vom Politik- und Geschichtswis-          Alter, politische Partizipation oder Frem-    zur Verfügung stellen. Hinzu kam, dass
senschaftler Prof. Dr. Carl-Christoph         denfeindlichkeit. Die bekannteste und         es schwierig wurde, ehrenamtliche
Schweitzer, Dr. Eberhard Müller, dem          erfolgreichste der 48 Kampagnen war           Mitarbeitende für die Arbeit bei der
Leiter der Akademie Bad Boll u.a. ins         »Herr Ohnemichel«, ein schemenhaft            Aktion Gemeinsinn zu gewinnen und die
Leben gerufen. Ihr Vorbild war das ame-       dargestellter Mann, der jegliche Verant-      Verantwortlichen im Umgang mit den
rikanische National Advertising Council,      wortung von sich weist.                       Neuen Medien eher ungeübt waren und
das 1942 in Washington, D.C., gegründet                                                     so hinter der Konkurrenz zurückblie-
wurde und als koordinierende Instanz          Im Verlauf der Geschichte bediente sich       ben. Problematisch war auch, dass die
kostenlose Werbekampagnen für die             die Aktion Gemeinsinn auch anderer            Aktion Gemeinsinn mit ihren Kampa-
amerikanischen Kriegsanstrengungen            Kommunikationsformen. 64 Tagungen,            gnen und Aktivitäten ein sehr breites
initiierte. Bis heute produziert es mit       Foren, Kolloquien, Preisverleihungen,         Themenspektrum ansprach, Trends der
gemeinnützigen Organisationen und der         ein Fotowettbewerb im Rahmen der              Zivilgesellschaft punktuell förderte, aber
amerikanischen Regierung Werbekam-            Kampagne »Wie fair bist du?«, eine            nicht ein bestimmtes Kernthema in den
pagnen.                                       Homepage, eine Facebook-Seite und die         Mittelpunkt ihrer Tätigkeit stellte. Dies
                                              Neuen Medien sind hier als Beispiele zu       machte die Identifikation mit dem Verein
Die Gründer der Aktion Gemeinsinn             nennen. 2010 stellte sie die Internetplatt-   schwierig. Insgesamt lieferte die Aktion
bezogen sich bei ihrer Namenswahl auf         form »mixmit.de« vor, die sich besonders      Gemeinsinn in den knapp 60 Jahren
Freiherr Karl vom Stein, der in der Nas-      an Jugendliche richtete. Sie konnten auf      ihres Bestehens wichtige Impulse für die
sauer Denkschrift von 1807 mehr »Bür-         der Internetseite eigene Musik hochla-        Zivilgesellschaft, indem sie demokrati-
gersinn« und »Gemeingeist« gefordert          den, mit Hilfe eines Online-Tonstudios        sche Handlungsmöglichkeiten aufzeig-
hatte, was sie zu »Gemeinsinn« zusam-         abmischen, eigene Songtexte veröffentli-      te, gesamtgesellschaftliche Probleme
menzogen und mit der »Aktion«, dem            chen und mit anderen gemeinsam Musik          öffentlichkeitswirksam anprangerte und
Tätigwerden, verknüpften. Das zentrale        produzieren. Über ein Internetforum           die Menschen zu mehr Selbstbestim-
Ziel war es, Bürgerinnen und Bürger           konnten sich die Mitglieder der Com-          mung und Eigenverantwortung moti-
gegenüber wichtigen gesellschaftspoliti-      munity auch zum Thema Migration und           vierte.
schen Problemen zu sensibilisieren und        Integration austauschen.
sie zum Engagement zu motivieren. Die                                                       Bis Anfang der 70er Jahre war die Geschäftsstelle
                                                                                             der Aktion Gemeinsinn in der Akademie Bad Boll
Menschen sollten dazu angeregt werden,        Die Aktion Gemeinsinn wurde 2015              angesiedelt und es gibt zwei Dutzend Ordner dazu
Dinge selbst in die Hand zu nehmen und        aufgelöst – die Gründe waren vielfältig.       im Archiv. Anja Kafurke hat für ihre Dissertation
die Lösung drängender Konflikte nicht         Zum einen waren finanzielle Probleme                 über die Aktion Gemeinsinn das Bad Boller
dem Staat zu überlassen. Dazu griff die       ausschlaggebend – der Verein lehnte                                    Material durchgearbeitet.
Aktion Gemeinsinn auf Werbekampa-             es von Beginn an ab, staatliche Gelder

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2 Evangelische Akademie Bad Boll
Ausstellung

Cartoons von Jals. Die Vernissage war am 10. Januar 1977

Da bei Redaktionsschluss die Informatio-         bene sind für viele, wenn nicht gleichbedeu-
nen für die nächste Ausstellung noch nicht       tend so doch artverwandt. Das wird erfahren         Jals - Alfred J. Smolinski
vorlagen, bringen wir in dieser Ausgabe einen    bei den Schwierigkeiten, die Werke moderner
Auszug aus einem Beitrag über die erste          Künstler haben, um in manchen kirchlichen           Jals, mit bürgerlichem
Ausstellung, die in Bad Boll gezeigt wurde:      Kreisen Eingang zu finden. Die klassische           Namen Alfred Smoliski, ist
Freundlicherweise hat der Karikaturist Jals      Kunst hat in den Augen und Herzen vieler            1938 in Essen geboren.
uns für diese Ausgabe einige druckfähige         kirchlicher Gruppen eine Monopol-Stellung.          Seit 1978 ist er Bürger von
Karikaturen geschickt. Leider haben wir keine    Aber erst noch Karikaturen! Passen die in den       Küssnacht in der Schweiz.
guten Aufnahmen von der Vernissage, bei der      kirchlichen Raum? Sie verzerren die Wahr-
Jals »zur Musik des schwäbischen Liederma-       heit, vertreten beißende Kritik, setzen dem         Jals ist ein international
chers Wolle Kriwanek und unter Mitwirkung        Spott aus, brandmarken öffentlich …                 bekannter Karikaturist, des-
von Gästen in Sekundenschnelle Dutzende          Für unseren Bereich interessant wird die            sen treffsichere und tief-
treffender Zeichnungen hergestellt« hat.         Karikatur dort, wo sie mit Humor und Ironie         gründige Cartoons in
                                                 unmittelbar von der Distanz zur Betroffenheit       Zeitungen und Zeitschriften
Helmut Mayer, der theologische Leiter der        führt: ich bin gemeint! Diese Betroffenheit         im In- und Ausland ver-
Tagungsstätte Löwenstein, schreibt in den        macht aus dem spöttischen Gelächter ein             öffentlicht wurden. Er ist
Aktuellen Gesprächen 1/1977: »… Hier stehen      Lachen der Versöhnung, ein Schmunzeln               immer noch aktiv. Auf seiner
wir vor demselben Dilemma in der Kirche,         über das allgemein Menschliche und das              Website findet man eine
das bei Analysen der Frömmigkeitsformen          Allzumenschliche …«.                                Sammlung seiner Arbeiten.
genauso erlitten wird wie in der Suche nach      Informationen zur nächsten Ausstellung in der       www.jals.ch
Kriterien für kirchliche Kunst: Das alles muss   Evangelischen Akademie Bad Boll finden Sie unter:
erhaben sein. Kirche, Kunst und das Erha-        www.ev-akademie-boll.de/akademie/kunst.html

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2 Evangelische Akademie Bad Boll
Exkursion nach Franklin

Kirche erfindet sich neu
Aus einem Standort amerikanischer Soldaten entsteht in Franklin ein Wohnquartier

      Die Gruppe beim Gang durch Franklin - rechts die alten
      renovierten Wohngebäude und links die Neubauten.

Auf dem Gelände der ehemaligen US-amerikanischen Wohnsiedlung Ben-                             Pfarrer Bernd Brucksch, der seit 2 Jahren
jamin Franklin Village in Mannheim, die bis 2012 bis zu 10 000 amerika-                        mit 50 Prozent auf Franklin ist. Sie füh-
nische Militärangehörige beherbergte, soll bis 2025 Wohnraum für 9000                          ren die Gruppe später durchs Quartier.
Menschen entstehen. Die Kirchen sind von Anfang an dabei.
                                                                                               Paradigmenwechsel
Von Martina Waiblinger                             Raums steht ein Altar, den Freunde der      Der Mannheimer Dekan Ralph Hart-
                                                   Pfarrer vom Boulderhaus in der Sports-      mann bringt gleich am Anfang auf
35 Interessierte haben sich der Exkursi-           Arena auf FRANKLIN gebaut haben             den Punkt, was während des Infota-
on angeschlossen, die von den Studien-             – aus Reststücken von Vierkanthölzern,      ges immer wieder anklingt: Was die
leiterinnen der Evangelischen Akademie             die dort zum Bau der Boulderwände ver-      katholische und die evangelische Kirche
Bad Boll PD Dr. Anja Reichert-Schick               wendet wurden. So trägt dieser massive      hier beim Aufbau des neuen Wohnquar-
und Karin Uhlmann angeboten wurde.                 Holzaltar ein Stück lebendige Geschich-     tiers zusammen machen, hat eine neue
Es geht um Chancen und Herausforde-                te des neuen FRANKLIN in sich. Zur          Qualität und ist ein klarer Paradigmen-
rungen bei der Entstehung eines neuen              Einführung gibt es Infos von kirchlicher    wechsel. Zuerst aber kommt die Kirche
Quartiers. Die Teilnehmenden treffen               und städtischer Seite. Daniela Reiff,       wieder ins Zentrum, wo sich das Leben
sich in der ehemaligen Elementary                  Referentin der Entwicklungsgesellschaft     abspielt – in der amerikanischen Sied-
School auf dem weitläufigen Gelände                MWSP Mannheim, erklärt, was wie             lung waren hier die Sportanlagen, wie es
von Franklin Village, auf dem man                  genau geplant ist und Prof. Dr. Annette     in den USA üblich ist. Dekan Hartmann:
schon weitem überall Baukräne erken-               Spellerberg referiert zum Thema »Das        »Kirche auf Franklin: das soll ein Ort der
nen kann. An den auf Kinderhöhe ange-              Quartier der Zukunft – gibt es das?«. Am    Begegnung sein, auch der Religionen.
brachten Haken für die Mäntel stehen               besten kennen sich die beiden Pfarrer       Hier ist immer was los: Kino, Konzert
noch die Namen der amerikanischen                  vor Ort aus – von katholischer Seite Pas-   und Kirche. Dabei wollen wir ein Player
Kinder, die dort bis 2012 zur Schule               toralreferent Richard Link, der seit 2,5    sein unter vielen. Es ist neu, Kirche zu
gegangen sind. Im hinteren Teil des                Jahren hier mit 100 Prozent arbeitet und    sein, die ein auf Zukunft ausgerichtetes

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Exkursion nach Franklin

Laboratorium ist, in dem ausprobiert wird,        wir das alte Zentrum mit der »Sportsarena«,
was wir mit anderen gemeinsam gestalten           wo früher die berühmten amerikanischen
können. Statt einer quasi staatlichen Insti-      Albert-Schweitzer-Basketball-Turniere statt-
tution wollen wir ein den Sozialraum mitge-       fanden, dem alten Kino und einem Highlight
staltender zivilgesellschaftlicher Akteur unter   von Franklin – dem Bauwagen, den die Pfar-
anderen sein. Das ist ein Paradigmenwechsel.      rer Richard Link und Bernd Braucksch seit
Selbstverständlich sind wir ökumenisch            2016 »betreiben«. In der Sports-Arena wird
unterwegs.«                                       nach dem Umbau nicht nur geboldert – es
                                                  gibt eine Halfpipe zum Skaten und in einem                 US-Army in Mannheim
Gang durchs Quartier mit                          Nebenraum werden Yoga- und Pilateskurse
momentan 700 Menschen                             angeboten. Die lange Bar im Eingangsbereich                Am 28. März 1945 erreicht
Beim Gang durch »die größte Baustelle             hat durchaus amerikanisches Flair und die                  die 44th Infantry Division der
Deutschlands« sehen wir ganz verschiedene         Gruppe wird hier wunderbar verköstigt.                     7. US-Armee unter General
Entwicklungsstadien – Rohbauten auf der                                                                      George S. Patton Mannheim-
einen, schon bewohnte Mehrfamilienhäu-            Bauwagen als provisorische, mobile Kirche                  Käfertal. Die Flak- und die
ser auf der anderen Seite. Ende 2017 sind         Auf dem grünen, leicht angerosteten Bau-                   Gallwitz-Kaserne der Wehr-
neue Bewohner in die EVO-Häuser eingezo-          wagen steht in großen Buchstaben: »Komm                    macht werden besetzt. Zur
gen, die ihre Energie mit Solarzellen selbst      und sieh! – Glaube verleiht neue Energie«.                 Hebung der Truppenmoral
produzieren. Andere Wohnblöcke wurden             Pastoralreferent Link und Pfarrer Brucksch                 ziehen ab Ende der 40er Jahre
nur renoviert und energetisch saniert – hier      sind schon etwas stolz auf den von der Firma               auch die Familienangehörigen
leben auch schon neue Familien – an den           Sax & Klee gespendeten Bauwagen, der im                    der US-Truppen nach. Ab 1951
Hauseingängen blühen schon Tulpen und             neuen Quartier bekannt ist wie ein bunter                  entsteht auf dem zuvor be-
Hyazinthen. Momentan sind es um die 700           Hund. Auch der Geschäftsführer der MWSP                    schlagnahmten Ackerland das
Menschen, die versuchen hier heimisch zu          Achim Judt findet ihn »cool und extrem                     Benjamin Franklin Village (BFV).
werden. Das ist natürlich nicht so einfach.       mutig«. Seit Herbst 2016 zieht der Bauwagen                Die US-Armee baut die zivilen
Auch wenn es für Kinder sicher unendlich          der katholischen und evangelischen Kirche                  Wohnbereiche immer nach
viel zu entdecken gibt – das Ganze ist doch       die Aufmerksam der Leute auf sich. »Wir                    demselben Muster. So kön-
in erster Linie eine Riesenbaustelle und auf      wollten signalisieren, dass Gott schon da                  nen sich die Familien schnell
den Straßen bewegen sich vornehmlich              ist, wenn die Neuen einziehen. Gott ist nahe               orientieren. 1957 leben mehr
Lastwagen. Eine Infrastruktur mit Läden,          bei den Menschen«, erläutern die Pastoren.                 als 7000 Amerikaner im BFV. Zu
Kneipen, Apotheken etc. entsteht erst lang-       Pastoralreferent Richard Link ergänzt: »Wir                Beginn der 1980er Jahre wer-
sam – ein Nahversorger lohnt sich erst ab         wollten von Anfang an dabei sein. Mit dem                  den 20 Millionen Dollar in die
5000 Einwohnern. Immerhin soll es ab Ende         Bauwagen war das möglich. Er ist ein Symbol                Infrastruktur investiert. FV wird
des Jahres einen Versorger geben, bei dem         dafür, wie Kirche auch sein kann. Ganz                     immer mehr zu einem »norma-
man die wichtigsten Lebensmittel erhält.          anders als die Institution Kirche. Hier haben              len« Stadtteil von Mannheim.
Ein Waldkindergarten platzt schon aus allen       wir ein Provisorium. Hier kann sich etwas                  Zum »Christmas Tree Lighting«
Nähten, und der Kindergarten der Evange-          entwickeln. Und das Gute an ihm ist ja eben,               pilgern die Mannheimer ins
lischen Kirche ist seit Jahresbeginn geöffnet.    dass er mobil ist. Wir fahren damit beispiels-             Village. Nach den Terroran-
Die Gruppe macht hier einen Halt. Es ist          weise zu Sport- und Kulturveranstaltungen                  schlägen vom 11. September
Mittagsessenszeit und die Kleinen drängen         und führen Segnungen z.B. beim Volkslauf                   2001 erhöht die US-Armee in
an die gedeckten Tische zum Mittagessen.                                                                     Deutschland die Sicherheits-
                                                  Die Pastoren Bernd Brucksch (li.) und Richard Link vor
50 Kinder und 10 Krippenkinder werden hier        dem schon weit über Franklin hinaus bekannten Bau-         vorkehrungen. Das Wohnge-
betreut und mit Frühstück, Mittagsessen und       wagen                                                      biet von BFV wird vollständig
Nachmittagssnack versorgt. Alles ist ganz                                                                    umzäunt. Das bisher offene
neu und sieht sehr propper aus. Die Leiterin                                                                 Gelände ist für Deutsche nicht
Andrea Bauer ist ganz stolz auf diese Einrich-                                                               mehr zugänglich. 2007 beginnt
tung. Eine Ganztagesgrundschule beginnt im                                                                   der Abzug der amerikanischen
September mit dem Unterricht für 160 bis 190                                                                 Streitkräfte. Am 31. Mai 2011
Schulkinder. Und die Buslinie 67, die an den                                                                 löst die US-Army die Garnison
ÖPNV angebunden ist, fährt bereits auf der                                                                   Mannheim auf.
Andrew-Jackson-Straße, inzwischen bereits
umweltfreundlich mit Elektrobus. Die ame-
rikanischen Straßennamen erinnern an die
ehemaligen Bewohner. Schließlich erreichen

SYM 2/2019                                                                                                                                 9
Exkursion nach Franklin

durch und Familiengottesdienste.« Das wird                                          die Kirche zu einem kulturellen bzw. multi-
sehr gut angenommen. Für Gottesdienste              »Kirche macht Stadt. Hand in    religiösen Zentrum des neuen Stadtteils wer-
steht inzwischen die Elementary School zur         Hand zu einer gemeinwohl-        den. Hauptmieter werden die evangelische
Verfügung, aber der Bauwagen ist immer             orientierten Quartiersent-       und die katholische Kirche sein, der Ort soll
noch wichtig. Viele Besucher fragen danach.        wicklung«, Tagung vom 8.-9.      aber verschiedenen Religionsgemeinschaften
Eine andere Besonderheit ist, dass der katho-      Oktober 2019 in Bad Boll         als Begegnungsort und für ihre kulturelle und
lische Pastoralreferent und der evangelische                                        soziale Arbeit dienen. Vielleicht wird auch ein
Pfarrer immer in ökumenischer Verbunden-           »Kirche und Stadt entwickeln     Jugendhaus eingerichtet – vieles ist denkbar.
heit auftreten. Pfarrer Brucksch: »Wir suchen      gemeinsam ein Quartier der       Das muss sich aber noch entwickeln. Neben
Kontakt zu denen, die neu einziehen. Wir           Zukunft« – dies ist ein Pro-     der Kirche soll bis 2023 mit dem Aushub ein
klingeln und sagen: Herzlich Willkommen in         zess, der eher die Ausnahme      Hügel entstehen. Darunter verborgen sind
Franklin.« Die Reaktionen auf diesen öku-          als die Regel darstellt. Mit der dann die Mobilitätszentrale »Blue Village
menischen Besuch sind eigentlich immer             Veranstaltung erörtern wir die   Franklin mobil« und ein 150 qm großer
positiv.« Ein weiteres Angebot der Pfarrer ist     Rolle der Kirche als Faktor der  Supermarkt. Achim Judt, der Geschäftsführer
es, »Menschen zusammenzubringen«. Dazu             Stadtentwicklung, zeigen be-     der MWSP kommt in der abschließenden Fra-
laden sie Mittwoch abends zum »Feierabend«         reits bestehende Kooperationen gerunde auf die Vision von Dekan Ralph Hart-
ein. Bernd Brucksch: »Wir reden über Gott          auf und entwickeln Ideen, wie    mann am Anfang zurück. »Wir bringen das
und die Welt. Dann gibt es noch eine kleine        das Zusammenwirken zukünf-       Zentrum wieder zur Kirche. Unsere Grund-
Andacht und einen Segen.« Die beiden wollen        tig gelingen kann. Auch dem      idee ist: Wir wollen nicht eine Moschee, eine
aber nicht nur Angebote machen, sondern            gegenseitigen Blick aufeinander Synagoge und verschiedene Kirchen, sondern
auch zur Eigeninitiative anregen und dafür         sowie der gemeinsamen Ent-       ein großes Begegnungszentrum.« Eine mos-
Raum bieten: »Wir wollen Menschen dazu             wicklung von Handlungsopti-      lemische Organisation hat bereits Interesse
motivieren, Dinge selbst umzusetzen, die           onen wird in Form von »Such-     angemeldet. Es entwickelt sich etwas auf
ihnen wichtig sind, wenn es um ihren Glau-         räumen« Zeit gewidmet. Die       Franklin. Und die Kirche ändert sich.
ben geht.« So hat sich z.B. eine Mutter-Kind-      Tagung ermutigt, gemeinsam
Gruppe etabliert, die sich in der Elementary       neue Wege zu beschreiten und Podiumsdiskussion: »Kirche und Stadt ge-
School regelmäßig trifft.                          die Zukunft der Städte »Hand     stalten das Quartier der Zukunft«
                                                   in Hand« zu gestalten. Studien- In der abschließenden Diskussionsrunde in
Das Selbstverständnis als pastoraler Mitar-        leitung: PD Dr. Anja Reichert-   der Elementary School geht es um Fragen des
beiter hat sich für Richard Link durch seine       Schick und Karin Uhlmann.        »Teamworkings« von Stadt und Kirche bei
Arbeit auf Franklin verändert: »Ich verstehe       Infos: www.ev-akademie-boll.     der Entwicklung des Quartiers. Mit welchen
mich inzwischen viel mehr als ›Kundschaf-          de/tagung/450419.htm             Kompetenzen können sich die Beteiligten
ter‹. Wir gehen raus aus unserer ›Burg‹, un-                                        einbringen? Welche Visionen möchten sie
serer Kirche, aus den Pfarrämtern aufs Feld,                                        realisieren? Und wie könnte die Mitwirkung
dahin, wo die Menschen leben bzw. ein neues                                         der Kirchen strukturell verankert werden?
Leben anfangen. Wir suchen die Menschen                                             Neben den Pastoren und Dekan Hartmann
auf und fragen, was sie aktuell bewegt und                                          waren als Vertreter der Stadt Baubürger-
was für Erwartungen und Wünsche sie an uns                                          meister Lothar Quast und Achim Judt, der
haben. Wir hören zu und versuchen daraus                                            Geschäftsführer der MWSP vertreten. Zum
›Angebote‹ zu entwickeln, wir probieren                                             Ende der Diskussion sollte ein Satz vervoll-
Dinge aus und revidieren das wieder, was                                            ständigt werden: »Wenn Kirche und Stadt im
noch nicht gefragt scheint. Es geht uns um                                          Rahmen der Quartiersentwicklung koope-
eine Kirche, die möglichst vielen Menschen                                          rieren, dann….«. Achim Judt von der MWSP
Teilhabe ermöglicht.«                                                               entgegnete darauf treffend: »…dann werden
                                                                                    Kräfte gebündelt und Gutes kann entstehen.«
Franklin Kirche                                                                     Mit diesem Statement hat er nicht nur das
Die letzte Station ist die Franklin Kirche – die                                    Wirken auf Franklin auf den Punkt gebracht
ehemalige Kirche der amerikanischen Sol-                                            sondern auch den »Geist« in Worte gefasst,
daten mit über 350 Plätzen. Sie wurde 1955                                          der diese Veranstaltung den Tag über beglei-
eingeweiht und entwickelte sich mehr und                                            tet und sowohl Kirche als auch Stadt in ihrem
mehr zum Zentrum des religiösen Lebens der                                          gemeinschaftlichen Vorgehen bekräftigt hat.
amerikanischen Bevölkerung in Mannheim –
zum Teil mit engen Beziehungen zu deut-                                               Siehe auch Fotos auf der Rückseite und Links auf S. 28
schen Gemeinden. Nach ihrer Sanierung soll

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Kaleidoskop

Neu und innovativ: Café Downtism in Teheran
                                             Das haben wir nicht erwartet: In Teheran wurde im letzten Jahr ein Inklusions-
                                             café eröffnet, in dem Menschen mit Down-Syndrom oder Autismus arbeiten. Für
                                             viele ist es der erste Job in ihrem Leben. Initiatorin ist Ailin Agahi. Die 36-jährige
                                             Musikerin hat 17 Jahre lang Menschen mit Behinderung unterrichtet und Kon-
                                             zerte mit ihnen gegeben. Mit der Unterstützung von zehn Familien ihrer Musik-
                                             schüler_innen und staatlicher Finanzhilfe konnte sie beginnen. Ihr Ziel ist: Sie
                                             möchte diesen Menschen helfen, eine Arbeit zu finden. Das ist für diese Gruppe
                                             besonders schwierig. Sie möchte, dass sie sehen, was in ihnen steckt und dass die
                                             Gesellschaft diese Menschen überhaupt trifft. Ailin Agahi hat bereits 40 Mitar-
                                             beitende – meist Jugendliche und junge Erwachsene. Sie verdienen den Mindest-
                                             lohn. Sowohl sie als auch die Gäste sind begeistert. Siehe: https://bit.ly/2vKfi2f

Kaufnix# - Kampagne der Deutschen Umweltstiftung
Unser Lebensstil zerstört auf Dauer unsere Erde. Und viele fordern eine Änderung unseres Verhaltens.
Viele sind aber überfordert, vom Reden ins Tun zu kommen. Nun hat die Deutsche Umweltstiftung
am 19. April eine zweimonatige Kampagne ausgerufen, die sich gegen grenzenloses Wachstum und
unbedachten Konsum ausspricht. Ziel der Kampagne ist, aktuell vorherrschende Konsummuster zur
Diskussion zu stellen und den Konsum einzuschränken. Dazu stellt die Deutsche Umweltstiftung in Zu-
sammenarbeit mit zahlreichen Gastautor*innen und Interviewpartner*innen wie Niko Paech, Angelika
Zahrnt und Claudia Kemfert das Konzept der Suffizienz als Lösungsansatz für eine nachhaltige Zukunft
vor. Vorschläge und die Beiträge finden sich auf der Kampagnen-Website: https://kaufnix.net und in den
sozialen Medien unter #kaufnix

                               Buchempfehlung von Udo E. Simonis: Klimapolitik - Ziele, Konflikte, Lösungen
                               Dr. Dr. h.c. Udo E. Simonis, Professor Emeritus für Umweltpolitik am Wissenschaftszentrum
                               Berlin (WZB) empfiehlt das Buch dringend: »Da kommt ein Buch in den Blick, welches eine stra-
                               tegische Umkehr und eine neue politische Dynamik einläuten könnte – ein zwar kurzes aber in-
                               formatives und anregendes Buch des Direktors des Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung
                               (PIK), Ottmar Edenhofer und seines Mitarbeiters Michael Jakob. Die Autoren beginnen mit einer
                               knappen Zieldefinition: ›Das Ziel der Klimapolitik besteht darin, die Folgen des Klimawandels
                               zu begrenzen‹. Ein kleines Buch voller innovativer Ideen und Vorschläge, ein Buch mit provoka-
                               tiven Herausforderungen und vielfältigen Anregungen, ein Buch für Studenten und junge Leute
                               (...) aber auch für Politiker, die das Thema Klimapolitik bei ihren Verhandlungen allzu sehr
                               vernachlässigt haben.« Ausführliche Besprechung: https://bit.ly/2VPgr7j

Selbstfürsorge und Recovery bedingen sich gegenseitig. Recovery meint den Weg zur Wiedergenesung und wird oft als
Heldenreise beschrieben. Helden der Reise sind die Betroffenen und ihre Wegbegleiter. Sie suchen den Weg aus einer psychi-
schen Krise hin zu dem selbstbestimmten Leben des Betroffenen. Eine solche Reise habe ich selbst gemacht. Die Grundlage für
das Gelingen ist die vertrauensvolle Beziehung zwischen Betroffenen und Therapeuten. Am tiefsten Punkt meines Lebens war der
Wunsch, dass sich meine Lebensumstände ändern. Dies konnte nur gelingen, da ich mich einem schmerzlichen und zugleich
heilenden Analyseprozess meiner Biografie stellte. Die Auseinandersetzung mit dem, was war, was ist und was anders werden
sollte. Es gab einen Punkt, an dem ich mich entscheiden musste, konkrete Handlungen hin zu einem neuen Leben umzusetzen.
Ohne die Menschen, die mit mir auf dem Weg waren, hätte ich dies nicht geschafft. Heute weiß ich, was ich brauche, um meine
psychische Stabilität zu erhalten. Dieser Weg bedeutet nicht, keine Krisen mehr zu haben. Er stellt aber die Gewissheit her, aus
diesen als Expertin meines Weges wieder herauszufinden. Mein Motto lautet: Recovery ist der Weg, der zu mir selbst führt. Ich
darf auf dem Weg fallen, aufstehen, Krone richten und weiter gehen. https://ddpp.eu/news-meldung/id-100-wege-um-recovery-
zuunterstuetzen.html. Conny Matscheko, Evangelische Akademie Bad Boll, referierte auf der Psychiatrietagung, s.a. S. 16-17.

SYM 2/2019                                                                                                                      11
Strafgefangene

Neue Wege zur Integration von
entlassenen Strafgefangenen
Von Oliver Kaiser                          Justizministerium nahm diesen Ansatz       rungshilfe auf der einen Seite sowie
                                           auf. Nach einjähriger Arbeit konnte am     Sozialämter, Jobcenter und Arbeitsagen-
Der Übergang vom Vollzug in die Frei-      12.12.2016 die Kooperationsvereinba-       turen auf der anderen Seite – deutlich
heit ist für die Gefangenen mit erhebli-   rung zur »Integration von entlassenen      zielgerichteter miteinander kooperieren,
chen Schwierigkeiten verbunden. Haben      Strafgefangenen und Sicherungsver-         als dies bisher der Fall ist.
die entlassenen Strafgefangenen keine      wahrten« abgeschlossen werden. Durch
positiven Bindungen und können sie         die mit Unterschrift in Kraft getretenen   Die Vielzahl der Vertragspartner der
nicht auf Unterstützung bei der Wieder-    Regelungen können alle am Integra-         Kooperationsvereinbarung mag verwun-
eingliederung zurückgreifen, besteht       tionsprozess beteiligten Akteure – vor     dern, ist aber ein Spiegel der notwen-
eine hohe Gefahr erneuter Straffällig-     allem die Justizvollzugsanstalten, die     digen Klärungsprozesse und Hilfestel-
keit. Die Lebenslagen der Betroffenen      freie Straffälligenhilfe und die Bewäh-    lungen. An einem fiktiven Fallbeispiel
sind häufig gekennzeichnet durch
Sozialisationsdefizite, lückenhafte Er-
werbsbiographien und Suchtmittelmiss-
brauch. Verstärkt werden diese Umstän-
de durch Isolation und Stigmatisierung,
die insbesondere eine Integration in den
Arbeitsmarkt deutlich erschweren. Das
Suggerieren einer stetig wachsenden
Kriminalitätsbelastung in den Medien
verstärkt die gesellschaftliche Ausgren-
zung. Diese wirkt sich besonders negativ
bei der Suche nach einer Wohnung und
Arbeitsplatz aus.

Eine erfolgreiche Integration kann nur
im Rahmen einer gut funktionierenden
Zusammenarbeit verschiedener Hilfs-
angebote sowie staatlichen Stellen wie
dem Sozial- und Arbeitsamt gelingen.
Das Netzwerk Straffälligenhilfe Baden-
Württemberg GbR setzte sich seit
seiner Gründung 2005 für eine bessere
Vernetzung der Akteure im Übergang
vom Strafvollzug in die Freiheit ein.
Mit dem ersten umgesetzten Projekt,
dem »Nachsorgeprojekt Chance«, zeigt
das Netzwerk seit über 13 Jahren die
Erfolge eines koordinierten Übergangs-
managements von Haft in die Freiheit
auf. Ausgehend von diesen Erfahrungen
entstand ein Positionspapier, das 2015
dem Justizministerium vorgelegt wurde.
Hierin empfahl das Netzwerk eine ver-
bindliche Kooperation aller am Hilfe-
prozess beteiligten Institutionen. Das

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Strafgefangene

lassen sich die vielfältigen Schnittstellen       gesichert, die begonnen Maßnahmen zur
aufzeigen.                                        Arbeitsintegration und Schuldnerberatung
                                                  fortgesetzt werden etc. Entscheidend ist aber,
Herr M. wurde zu einer Haftstrafe von 13 Mo-      dass die notwendigen Hilfebedarfe in Haft
naten verurteilt. Er wohnte alleine. Herr M.      erkannt und eingeleitet werden. Wäre Herr
war vor der Inhaftierung arbeitslos und bezog     M. beispielsweise in die Wohnungslosigkeit
Leistungen nach dem SGB II – also Hartz IV.       entlassen worden, wäre die Gefahr eines
Er ist verschuldet. Gleich nach Haftantritt       erneuten Scheiterns sehr hoch gewesen, die
muss er beim zuständigen Jobcenter und            begonnen Integrationsansätze wären mit
seiner Krankenkasse abgemeldet werden. Der        hoher Wahrscheinlichkeit verpufft.                      »Die Kooperationsvereinba-
zuständige Sozialdienst unterstützt Herrn                                                                 rung über die Integration von
M. dabei, dass er während der Haftzeit seine      Für eine erfolgreiche Integration von ent-              Strafgefangenen. Was ist dar-
Wohnung nicht verliert. Die Miete kann vom        lassenen Strafgefangenen muss der Jus-                  aus geworden - was kann und
Sozialamt während einer (kurzen) Haftzeit         tizvollzug vertrauensvoll mit Akteuren der              muss noch werden?« Tagung
übernommen werden. Im Fall von Herrn M.           nachsorgenden Hilfen und zuständige Stellen             in Bad Boll, 15.-16.7.2019
lehnt das Sozialamt dies aber aufgrund der        zusammenarbeiten. Der neue Weg dabei ist
Haftdauer ab. Die Haft will Herr M. nutzen,       die Kooperationsvereinbarung, die hierzu                Vor fast drei Jahren unterzeich-
um seine persönlichen Verhältnisse zu ord-        den Rahmen bietet.                                      neten Justiz-, Wirtschafts- und
nen. Er nimmt das Angebot der Schuldnerbe-                                                                Sozialministerium, Agentur für
ratung in Haft wahr. Die hierfür zuständige                                                               Arbeit, kommunale Spitzenver-
Mitarbeiterin aus der freien Straffälligenhilfe   Netzwerk Straffälligenhilfe                             bände, Freie Wohlfahrtspflege
fertigt mit ihm eine Gläubiger- und Schul-                                                                und Straffälligenhilfe die
denaufstellung an. Parallel dazu nimmt er         Eine bundesweit einmalige Besonderheit                  Kooperationsvereinbarung über
Beratungen bei der Agentur für Arbeit in          stellt das Netzwerk Straffälligenhilfe in Baden         die Integration von Strafgefan-
Haft in Anspruch, die hierfür Termine in der      Württemberg GbR dar. Die 45 Vereine der                 genen in Baden-Württemberg.
Vollzugsanstalt anbieten. Aufgrund guter          Straffälligenhilfe in Baden Württemberg sind            Flächendeckend sollen verbind-
Führung und einer günstigen Sozialprognose        in drei Verbänden organisiert – dem Badi-               liche Strukturen zur Integration
zeichnet sich ab, dass Herr M. vorzeitig ent-     schen Landesverband für soziale Rechtspfle-             geschaffen werden, damit Ent-
lassen werden kann. Die Reststrafe wird zur       ge (KdöR) mit Sitz in Karlsruhe, Verband                lassenen der Übergang gelingt.
Bewährung ausgesetzt, nach Haftende wird er       der Bewährungs- und Straffälligenhilfe                  Noch in Haft und unmittelbar
von einem Bewährungshelfer unterstützt.           Württemberg e.V. Stuttgart und dem Paritä-              nach der Entlassung soll z.B.
Vor der Entlassung muss aber dringend eine        tischen Wohlfahrtsverband, Landesverband                die Wohnungsfrage geklärt
Wohnung gefunden werden. Herr M. bewirbt          Baden-Württemberg e.V. Die Verbände haben               und eine berufliche Perspektive
sich bei einer betreuten Wohneinrichtung der      sich zum Netzwerk Straffälligenhilfe Baden-             aufgezeigt werden. Wie sieht es
freien Straffälligenhilfe, die ihm nach einem     Württemberg GbR zusammengeschlossen.                    heute mit der Umsetzung der
Vorstellungsgespräch eine Aufnahmezusage          Die große Anzahl von Vereinen und Ein-                  Kooperationen vor Ort aus, wie
gibt. Hierzu muss aber wiederum mit dem           richtungen, die sich auf alle Landkreise des            geht es weiter? Näheres, siehe:
Sozialamt die Übernahme der Betreuungs-           Bundeslandes verteilen, ermöglicht es dem               www.ev-akademie-boll.de/
kosten geklärt werden. Herr M. will auch den      Netzwerk, flächendeckende Angebote zu                   tagung/520419.html
begonnenen Prozess der Schuldnerberatung          unterbreiten.
fortsetzen. Hierzu kann er mit Hilfe des Sozi-
aldienstes einen Termin bei der kommunalen
Schuldnerberatungsstelle an seinem späteren
Wohnort ausmachen. Die bereits erstellte
                                                                                Oliver Kaiser ist im
Gläubiger- und Schuldenaufstellung hat er                                       Vorbereitungskreis der
bei Entlassung auf einem USB-Stick ausge-                                       Tagung »Die Koope-
händigt bekommen.                                                               rationsvereinbarung
                                                                                über die Integration on
                                                                                Strafgefangenen. Was
In dem Fallbeispiel wurden die zu organi-                                       ist daraus geworden
sierenden Hilfestellungen in der Haftphase                                      - was kann und muss
aufgezeigt. In der kritischen Phase des Über-                                   noch werden?«, die
gangs und in den ersten Monaten in Freiheit                                     von 15.-17. Juli statt-
                                                                                finden wird.
kommen unzählige weitere Hilfestellungen                                        Siehe Text rechts.
hinzu. Das Einkommen von Herrn M. muss

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Nachhaltige Bildung

Bildung für eine Welt im Wandel
Von Margret Rasfeld                         Steht der Mensch im Mittelpunkt oder      in der Grundschule antreibt. Kinder
                                            das Abarbeiten von Lehrplänen? In         werden zu Gewinnern und Verlierern
Die Menschheit steht vor entscheiden-       Zeiten, wo Herzensbildung, Kreativität,   und nicht zu Meistern ihrer Talente. Wir
den Weichenstellungen. Krisen überall       Komplexität und Querdenken bedeut-        erzeugen Erwartungen, Leistungsdruck,
machen deutlich, dass unser derzeiti-       sam sind, lehrt der heimliche Lehrplan    Angst, Stress − bei allen Beteiligten. Die
ges Wachstumsparadigma vom höher,           oft noch Zerstückelung, Hierarchie von    Begeisterung am Lernen, die Neugier
schneller, weiter und der Konkurrenz        Fächern, Gleichschritt – im kompeti-      geht verloren. Und was der Schule am
gegeneinander nicht zukunftsfähig ist.      tiven Modus. Zukunftslernen jedoch        besten gelingt, ist, den Menschen Angst
Menschliches Zusammenleben ist künf-        braucht WIR-Qualitäten: Arbeiten an       vor Fehlern einzuprägen. Fatal für die
tig auf Nachhaltigkeit in allen Lebensbe-   komplexen Aufgaben im Team, Vernet-       Transformation, in der es um Vertrauen
reichen angewiesen. Eine Zeit solch fun-    zungsqualitäten, Scheitern als Lern-      in das Neue geht. Reproduzierbares
damentaler Herausforderungen verlangt       quelle. Rankings und Noten sind ein       Fachwissen spielt eine immer geringere
nach neuen Formen der Bildung. Es geht      Instrument des Wettbewerbs, sie prägen    Rolle. Es geht um das Verstehen von
um die Transformation unserer Gesell-       die junge Generation auf Vergleich und    Systemen und Zusammenhängen, um
schaft von der Konkurrenzhaltung des        Konkurrenz. Die Ökonomisierung ist        Werteorientierung und um Gestaltungs-
»höher, schneller, weiter« in die Kraft     auch in die Schulen eingezogen. Der       kompetenz. Haltung und Persönlich-
der Gemeinschaft. Und damit geht es im      verinnerlichte Best-Leistungs-Anspruch    keit sind Voraussetzungen dafür, mit
Kern um den heimlichen Lehrplan.            bedient die Optimierungsgesellschaft      Herzenskraft und Mut zu handeln. Die
                                            und führt bis hin zum Burnout schon       Kinder brauchen Zutrauen und Anerken-
Schulen sind wirkmächtig, denn sie          bei Kindern. 100 Jahre nach der Reichs-   nung, sie müssen in alle sie betreffenden
prägen Einstellungen und Haltungen.         schulkonferenz stecken wir immer noch     Fragestellungen einbezogen werden.
Dies tun sie vor allem durch den »heim-     im dreigliedrigen System fest, was die    Das Potential liegt in den zwischen-
lichen Lehrplan«, die gelebte Kultur.       Fokussierung auf Best-Noten schon         menschlichen Beziehungen, im schöp-

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Nachhaltige Bildung

ferischen Gestalten, in Vernetzungen. Die             sich die Jugendlichen der Sekundarstufe für
Antwort auf die Krisen der Zeit ist Beziehung.        ein Jahr oder länger einmal in der Woche
Dies erfordert ein radikales Umdenken der             in einer selbst gewählten verantwortungs-
Rolle des Lehrers – und der Schule.                   vollen Aufgabe im Gemeinwesen. Dadurch
                                                      wird zivilgesellschaftliches Engagement ein
Aufbruch, Umbruch, Wandel – der Sinn von              zentrales Element in der Lernbiografie aller.
Schule im 21. Jahrhundert                             Denn Verantwortung lernt man nicht aus
Die am 25. September 2015 von der Weltge-             Büchern, sondern indem man Verantwor-                 Frei-Days for Future
meinschaft verabschiedeten Global Goals               tung übernimmt. Demokratien leben von der
haben neuen Schwung in die Debatte um                 sozialen Kreativität der Menschen und ihrer           Großartig, dass die jungen
Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE)             Bereitschaft, sich für das Gemeinwohl zu              Menschen für den Klima-
gebracht. Was gibt es Sinnvolleres, als dass          engagieren.                                           wandel auf die Straße gehen.
junge Menschen sich mit den großen Fragen                                                                   Welch eine Bewegung lösen
der Menschheit auseinandersetzen. Think               An Herausforderungen wachsen                          sie aus! Das ist Civil-Courage.
global – act local. Das bringt den SINN, den          Ein weiteres Erfolgsmodell ist das »Fach«             Sie nehmen für ihr wichtiges
so viele Menschen vermissen. Dazu hat die             Herausforderung. Jugendliche werden in                Anliegen Nachteile in Kauf.
UNESCO das Weltaktionsprogramm Bildung                Berufen arbeiten, die es noch nicht gibt.             23.000 #ScientistsForFuture
für Nachhaltige Entwicklung aufgelegt.                Vertrauen in Ungewissheit ist eine hochbe-            waren am 15. März bei der
Deutschland hat daraus den Nationalen                 deutsame Zukunftskompetenz. Herausforde-              #FridaysForFuture-Großdemo
Aktionsplan abgeleitet, der im Juni 2017 von          rung bedeutet: Schüler in der Stufe 8, 9 und          bereits an ihrer Seite. Und
der Kultusministerkonferenz verabschiedet             10 bekommen Zeit, um hinaus in die Welt zu            die#ParentsForFuture sind
wurde. Darin finden sich zukunftsweisen-              gehen und eine Herausforderung zu meis-               auch aufgewacht – und
de Aufforderungen: »Um die Agenda 2030                tern, die sie sich gesucht und eigenständig           allesamt stellen sie sich
zu verwirklichen, müssen wir umfassende               vorbereitet haben. 150 Euro haben sie für drei        ausdrücklich auf die Seite
gesellschaftliche Transformationen anstoßen           Wochen pro Person zur Verfügung, für Unter-           der streikenden Kids. Machen
und umsetzen. Bildung spielt in diesem Pro-           kunft, Fahrtkosten und Verpflegung. Jugend-           wir in unseren Schulen den
zess eine Schlüsselrolle. [...]Bildung befähigt       herberge kann man sich davon nicht leisten.           Freitag – oder einen anderen
zur Gestaltung von politischen, wirtschaft-           Die Kids müssen kreativ werden. Unterwegs             Tag – zum Zukunfts-Tag für
lichen und zivilgesellschaftlichen Verände-           sind sie meist zu Fuß, mit dem Fahrrad                welt-verantwortliches Han-
rungen [...]. Um dies zu erreichen, müssen            oder auf dem Wasser. Oder sie unterstützen            deln: Nachhaltigkeit, Frieden,
wir unser Bildungssystem so ausrichten,               soziale oder ökologische Projekte, arbeiten           Zukunft. Die wichtigen Fragen
dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene               auf einem Bauernhof, ernten Oliven, pflanzen          der Welt-Entwicklung gehen
das Wissen und die Fähigkeiten erwerben,              Bäume oder gründen eine Band. Dabei lernen            ja nicht in Fächern auf; sie
die für die Beantwortung dieser Fragen nötig          sie Durchhaltevermögen, an eigene Gren-               sind fachübergreifend. Sie sind
sind. Wir brauchen kreative Ideen, Visionen           zen zu stoßen, das Ziel nicht aus den Augen           generelle, substantielle Lern-
und Gestaltungsmut.« BNE richtet ihren                zu verlieren, gemeinsam stark zu sein und             und vor allem auch Tat-Felder.
Fokus auf das Handeln. Die »Schulfächer«              zusammenzuhalten. Das Verzichten-Können               So können die notwendigen
Verantwortung und Herausforderung zeigen              auf üblichen Schlaf- und Wohnkomfort sowie            Freiräume geschaffen werden
exemplarisch, welch positive Wirkung es hat,          die Allzeit-Verfügbarkeit von Kühlschrank,            für das Handeln vor Ort in
wenn wir jungen Menschen etwas zutrauen.              Toilette, Wasser, Strom und Internet gehören          Schule und Gemeinde, aktuelle
Beim Projekt Verantwortung engagieren                 zu den zentralen Erfahrungen. Eine der wich-          Forschungen und Fragestellun-
                                                      tigsten Erfahrungen ist die, wie freundlich die       gen, Plenumsdiskussionen, das
                                                      Menschen sind.                                        Entwerfen von Zukunftsent-
                            Margret Rasfeld war
                            Schulleiterin der
                                                                                                            würfen, Schul- und öffentliche
                            Evangelischen Schule      Schöner kann man nicht lernen, dass es sich           Versammlungen, das Teilen
                            Berlin Zentrum und        lohnt, sich auf Neues einzulassen und Un-             von Good News, Menschen mit
                            Mitbegründerin der        sicherheiten auszuhalten. Begleitet werden            Botschaften, intergenerationa-
                            Initiative ›Schule im
                            Aufbruch‹. Sie war
                                                      sie von Lehramtsstudierenden, die aus der             les Lernen.
                            Referentin bei der        Herausforderung das lernen, was im Studium            Margret Rasfeld
                            Tagung: »Odyssee          meist fehlt: die neue Rolle als Coach, Einblick
                            4.0. Digitalisierung      in Gruppenprozesse, Zutrauen in die Fähig-
                            in Schule und Un-
                            terricht«, 3.-4. April.
                                                      keiten von jungen Menschen, Loslassen und
                            S.a.: https://esbzlog.    Vertrauen in ergebnisoffene Prozesse.
                            wordpress.com/about/                          Siehe auch Links zum Text S. 28

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