Depression - eine persönliche Recherche - Verfasser: Giordano Giannoccolo Staffelackerstrasse 23 8953 Dietikon Betreuer: Peter Morf Kantonale ...

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Depression - eine persönliche Recherche - Verfasser: Giordano Giannoccolo Staffelackerstrasse 23 8953 Dietikon Betreuer: Peter Morf Kantonale ...
                                                	
  

       Depression –
eine persönliche Recherche

           Verfasser: Giordano Giannoccolo
                Staffelackerstrasse 23
                    8953 Dietikon

                 Betreuer: Peter Morf

       Kantonale Maturitätsschule für Erwachsene
                Mühlebachstrasse 112
                         8008 Zürich

                  Zürich, 07.01.2014
Depression - eine persönliche Recherche - Verfasser: Giordano Giannoccolo Staffelackerstrasse 23 8953 Dietikon Betreuer: Peter Morf Kantonale ...
                                                                                                                                                                            	
  

Inhaltsverzeichnis
Abstract .............................................................................................................. 3	
  

Persönliche Anmerkung ..................................................................................... 4	
  

Portraits der drei Protagonisten .......................................................................... 6	
  
               Marina Gyger ................................................................................................ 6	
  
               Anna Leuthold .............................................................................................. 9	
  
               Max Hildebrand .......................................................................................... 16	
  

Ursachen einer Depression .............................................................................. 24	
  
               Verdrängung von Problemen und Leistungszwang .................................... 24	
  
               Schicksalsschläge und das Gute an der Trauer ......................................... 25	
  
               Biologische und genetische Faktoren ......................................................... 26	
  
               Biographische Faktoren und Umfeld .......................................................... 29	
  

Muster der Depression ..................................................................................... 31	
  
               Diagnostik nach ICD-10 (WHO).................................................................. 31	
  
               Innere Symptome ....................................................................................... 32	
  
                  Geminderte	
  Grundstimmung	
  ...........................................................................................................	
  32	
  
                  Interessenverlust	
  ..................................................................................................................................	
  32	
  
                  Antriebslosigkeit	
  ...................................................................................................................................	
  32	
  
               Äussere Symptome .................................................................................... 32	
  
                  Depressive	
  Starre	
  und	
  Konzentrationsschwäche	
  ...................................................................	
  32	
  
                  Schlaflosigkeit	
  und	
  gestörtes	
  Essverhalten	
  ...............................................................................	
  33	
  
                  Panik	
  in	
  Form	
  eines	
  Fluchtimpuls	
  .................................................................................................	
  33	
  

Wege der Depression ....................................................................................... 34	
  
               Sozialer Rückzug ........................................................................................ 34	
  
               Suizid - Scheingewinnung von Kontrolle .................................................... 34	
  
               Verknüpfung Suizid und Depression .......................................................... 35	
  
               Darüber reden............................................................................................. 36	
  

Fazit.................................................................................................................. 37	
  

Danksagung...................................................................................................... 38	
  

Arbeitsbericht ................................................................................................... 39	
  

Abbildungsverzeichnis ..................................................................................... 41	
  

Filmverzeichnis ................................................................................................ 41	
  

Literaturverzeichnis ......................................................................................... 41	
  

Anhang ............................................................................................................. 42	
  

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Abstract
     	
  
In dieser Arbeit, welche ich als persönliche Recherche führe, werde ich mich dem Thema
Depression widmen. Persönlich ist die Recherche deshalb, weil ich in meinem nächsten
Umfeld Personen, die an einer Depression erkrankt sind/waren, kenne. Ein zweiter Grund,
weshalb es sich bei dieser Arbeit um eine persönliche Annäherung an das Thema
Depression handelt, besteht im Aufbau der Arbeit selbst.
Als Zielsetzung steht das Nachvollziehen einer Depression im Vordergrund. Ein weiterer
Punkt, welcher mit dem ersten einhergeht, ist die Frage, weshalb man überhaupt an einer
Depression erkrankt.

Der erste Teil erzählt aus dem Leben von drei betroffenen Personen, die mit dem Thema
Depression und Verlusterlebnissen konfrontiert werden. Die Namen der Personen und
Örtlichkeiten wurden in den Portraits jeweils abgeändert.

Im zweiten Teil meiner Arbeit geht es um die Analyse der Ursachen und Muster sowie die
Wege, welche Menschen, die an einer Depression leiden, einschlagen. Der Theorieteil soll
vorwiegend als Erläuterung und Ausführung zum Literarischen verstanden werden. Er soll
dem Leser ein tieferes Verständnis für die Krankheit geben und helfen die Geschichten aus
dem ersten Teile besser nachvollziehen zu können. Aus diesem Grund beziehe ich mich
im Theorieteil hauptsächlich auf die Erlebnisse der Personen und füge als Ausschnitte aus
den geführten Interviews mit Herrn Prof. Dr. med. Heinz Böker und Herrn Prof. Dr. med.
Konrad Michel hinzu. Die vollständigen Interviews stehen im Anhang zur Verfügung.
     	
                           	
  

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Persönliche	
  Anmerkung	
  
Ich möchte vorwegnehmen, dass ich in meiner Arbeit nicht explizit auf die verschiedenen
Depressionsformen     (Erschöpfungsdepression,   saisonale     Depression,      manische
Depression etc.) eingehen kann, wohl aber auf die gesellschaftlichen Normen, die eine
solche begünstigen können. Um gleich bei der Gesellschaft zu bleiben, bitte ich den Leser
folgendes zu beachten:

Bei dem Aufkommen des Wortes Depression in einem Alltagsgespräch fällt schnell mal der
Satz. „Ach, das gehört heute ja fast schon zum guten Ton in der Arbeitswelt. Dort wird ein
Burnout beinahe als eine Auszeichnung angesehen.“, oder „Ach, jeder hat doch mal einen
Tiefpunkt in seinem Leben. Manche Leute haben einfach einen Hang zum
überdramatisieren.“ Solche überspitzte Aussagen sind mir im Laufe meiner Arbeit immer
wieder zu Ohren gekommen. Deshalb möchte ich mich gleich zu Beginn davon
distanzieren. Ich möchte den Leser von Anfang an darauf sensibilisieren, dass solche
Aussagen weit vom Verstehen einer Depression (oder eines Burnouts) entfernt liegen.
Menschen die unter einer Depression leiden, erfahren einen wesentlichen Einschnitt in ihre
Lebensqualität. Eine Verharmlosung der Krankheit liegt meines Erachtens meist in der
Intoleranz solch ein Leiden ernst zu nehmen und sich aktiv damit auseinanderzusetzen.
Nur weil man eine Krankheit nicht fassen kann, sind ihre Auswirkungen und der damit
verbundene Leidensprozess nicht im Geringsten weniger schmerzvoll und
ernstzunehmend als bei einer „fassbaren“ Krankheit. Mit diesem Hintergedanken wünsche
ich dem Leser nun ein lehrreiches Lesevergnügen.

     	
                           	
  

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                In	
  Gedenken	
  an	
  
                           	
  
              Michèle	
  Giannoccolo	
  
	
     	
  

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     Portraits	
  der	
  drei	
  Protagonisten	
  

     Die drei untenstehenden Geschichten basieren auf wahren Gegebenheiten. Die Namen
     und Örtlichkeiten wurden in jeder Geschichte jeweils verändert. Ausserdem wurden die
     Geschichten beim Niederschreiben aufgrund des Persönlichkeitsschutzes und des
     expliziten Wunsch der mitwirkenden Personen, die diese Geschichten erlebt haben,
     angepasst.

     Marina Gyger

     „Am besten wäre es doch, wenn ich morgens gar nicht mehr aufwache“, dachte ich mir als
     ich die Augen aufschlug und auf den Wecker starrte. 6:20 zeigten die neongrünen Zahlen
     auf dem Display meines Weckers. Schon wieder hatte ich nur drei Stunden geschlafen. Ich
5    schaute hinüber und sah noch die Einbuchtung auf der linken Seite des Ehebettes. Es war
     noch nicht einmal ein Monat her, da lag dort noch schnarchend mein Mann, der mich
     gegen ein jüngeres Modell eingetauscht hatte. Ach was, ich war diejenige, die ihm die
     Scheidungspapiere vor den Latz knallte, die er sogleich verriss, und mich um eine weitere
     Chance anbettelte. Ich wollte sie ihm nicht mehr gewähren. Es waren bereits zu viele
10   Chancen ausgesprochen worden, zu viele Versprechen nicht eingehalten worden und zu
     viele Kompromisse gemacht worden. Doch trotzdem fehlte er mir, auch wenn mich sein
     Schnarchen immer wieder auf die Palme brachte. „Nun gut, auf geht’s in Richtung Küche,
     vielleicht bringt mich die morgendliche Zigarette auf andere Gedanken“. Also schlurfte ich
     die Treppe hinunter und erreichte die Küche, auf dem Weg dorthin fiel mir auf, dass ich
15   dringend mal wieder die Treppen putzen sollte, auch Staubsaugen wäre keine dumme
     Idee. Doch dazu fehlte mir einfach die Kraft und Motivation. Ausserdem hätten sich die
     Kinder auch mal um ein bisschen mehr um Ordnung hier drin bemühen können. „Doch die
     interessieren sich sowieso nur für ihr eigenes Leben. Ich gehe hier drin noch vor die
     Hunde. Kein Schwein interessiert es, wie ich mich fühle oder ob ich überhaupt noch was
20   fühle“. Kurze Zeit darauf fühlte ich wenigstens etwas. Zuerst den Filter der Zigarette
     zwischen meinen Lippen und dann eine wohlige, wenn auch kurze Entspannung mit dem
     ersten Zug der Zigarette. Doch schon beim dritten riss der Alltag mich mit seinen dreckigen
     Klauen zurück in die Küche. Trotzdem rauchte ich die Zigarette fertig und wollte mir
     nochmals eine gönnen als ich die Schritte meines Ältesten hörte. Er kam in die Küche und
25   grunzte: „Morgen.“ Er sah so verschlafen aus wie immer. Ein echter Morgenmuffel.
     Langsam, als wäre sein Körper noch nicht zu schnellen Bewegungen fähig, gab er zuerst
     die Cerealien und danach die Milch in eine Schale. Dabei schaute er kaum auf und setzte
     sich, ohne ein Wort von sich zu geben, an den Tisch. „Ja ich habe auch gut geschlafen
     und du?“, sagte ich aufgekratzt. „Mhhhh, nicht jetzt Mum. Du weißt, ich hasse es am
30   Morgen zu reden“, sagte er grummelnd und konzentrierte sich darauf die Schrift auf der
     Verpackung der Cerealien zu lesen. „Ich mach mir ein Kaffee, willst du auch einen?“ Er
     nickte und schaufelte die bereits durchgeweichten, ringähnlichen Cerealien in sich. Ich
     stellte ihm den Kaffee hin und er antworte mit einem gähnenden „Danke“. Danach
     schleppte er sich wieder die Treppe hoch. Lustlos nippte ich an meinem Kaffee und
35   schaute auf den Sekundenzeiger der Wanduhr. Mal wieder hatte meine Tochter
     verschlafen, dachte ich kopfschüttelnd. Es blieb mir nichts anderes übrig, als sie wie jeden
     Morgen zu wecken. Oben angekommen, klopfte ich und öffnete die Tür. Natürlich war es
     noch dunkel in ihrem Zimmer. Schemenhaft erkannte ich ihre Umrisse, die sich durch die
     Bettdecke abzeichneten. Ich zog den Rollladen hoch und erschrak über ihre Unordnung.
40   Mein Ordnungssinn mag ja manchmal mangelhaft sein, aber meine Tochter spielt da in
     einer ganz anderen Liga. Mir war es ein Rätsel, wie sie in diesem Zimmer überhaupt leben
     konnte. Auf dem Boden lagen überall Kleider, darauf Gläser und Flaschen alles kreuz und
     quer und in der Ecke glaubte ich ein angebissenes Sandwich zu erspähen. „Schatz

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     aufstehen, du kommst sonst zu spät in die Schule.“ Als Antwort kriegte ich ein
45   unverständliches Brabbeln. Ich rüttelte sie ein wenig. „Ja Mum, ich mach ja. Nur noch fünf
     Minuten, ok?“ Genervt antwortete ich: „In fünf Minuten bist du unten“, und ging wieder
     runter. Unterdessen hatte Iwan seine Aktentasche auf dem Tisch und ging nochmals
     irgendwelche Dokumente in einer grünen Mappe durch. Er war in dieser Hinsicht etwas
     paranoid, aber das hatte er bestimmt von seinem Vater geerbt. „Ich komme heute Abend
50   nicht nachhause Mum. Ich schlafe bei meinem Vater.“ „Tu das! Meine Gesellschaft scheint
     dir ja in letzter Zeit nicht mehr gut genug zu sein.“, sagte ich etwas schärfer als gewollt, so
     dass es mir schon fast leid tat. Er schüttelte den Kopf und rieb sich mit den Fingern über
     die Augen. „Mum, ich hab jetzt keine Zeit für eine langwierige Diskussion.“ Er sagte den
     Satz mit einem strengen Unterton. Als Antwort zeigte ich ihm die kalte Schulter, denn er
55   wusste ganz genau, wie sehr ich diesen strengen, ja beinahe belehrenden Tonfall hasste.
     Schließlich bin ich kein kleines Kind mehr. Im nächsten Moment umarmte er mich und gab
     mir einen Kuss auf die Backe. „Ich wünsch dir einen schönen Tag.“ Ich antworte nicht,
     wendete mich weiterhin ab und wartete, bis die Tür ins Schloss fiel. Wie konnte es nur
     soweit kommen? Was war aus der einst glücklichen Familie geworden? Ein
60   Trümmerhaufen. Zerbrochene Fragmente der Erinnerung. So zerbrochen wie ich mich
     fühlte. Wann war ich das letzte Mal überhaupt richtig glücklich. Vielleicht als Iwan seine
     Berufsmatur bestanden hatte aber das ist jetzt auch schon ein paar Jahre her. Geknickt
     schleppte ich mich ins Badezimmer und unter die Dusche. Erneut fragte ich mich, welchen
     Sinn dieses Leben noch hatte. „Die besten Jahre liegen hinter mir. Meine Kinder sind
65   erwachsen und brauchen ihre alte, durchgeknallte Mutter nicht mehr“, murmelte ich vor
     mich hin. Als ich meinen Körper wusch, bemerkte ich beim Einseifen, wie schön glatt mein
     Bauch geworden war. Immerhin etwas, was mir noch Freude bereitete und das ganz ohne
     Sport. Mein gesenktes Haupt hob sich langsam und ich fischte nach einem Handtuch.
     Angezogen trat ich wieder in die Küche. Auch Anja hatte sich unterdessen bemüht
70   aufzustehen und sah verträumt auf ihre noch nicht belegten Brote. „Na, hast du gut
     geschlafen Schatz?“ Sie zuckte mit den Schultern und antwortete: „Mum, ich brauch
     dringend Geld für die Schule.“ Ich seufzte „Frag deinen Vater. Ich hab dir diese Woche
     schon genug geliehen.“ Sie grummelte und schnitt ihr Brot auf. „Kannst du ihn nicht
     fragen?“ „Nein, wir haben im Moment kein gutes Verhältnis zueinander.“ Seit ich ihm
75   vorgeworfen hatte, er sei ein rücksichtloser Bastard, dem seine richtige Familie am Arsch
     vorbeigehen würde. Aber das brauchte Anja nicht zu wissen. Gestern hatte ich mich
     bereits mit Iwan darüber gestritten. Er sagte, ich würde mich benehmen wie eine Irre und
     würde meine ungelösten Konflikte auf seinen Vater projizieren, um mich selbst nicht damit
     zu konfrontieren. Doch meiner Meinung nach war Iwan derjenige, der sich nicht damit
80   konfrontieren wollte, dass sein Vater ein lügender Schleimbolzen war. „Muuum, kannst du
     mir wirklich nicht ein bisschen Geld geben? Ich zahl es dir auch zurück versprochen.“
     Seufzend gab ich ihr einen Hunderter. „Bis Monatsende hast du Zeit es mir
     zurückzugeben, verstanden junge Dame?“ Sie rollte mit den Augen und antwortete: „Jaja,
     alles klar.“ Was so viel hiess wie, lass mich in Ruhe, Alte. Ich schnappte mir meine
85   Tasche. „Bis heute Abend, viel Spass in der Schule.“ Darauf bekam ich ein müdes
     „Tschüss“ als Antwort. In meinem Inneren rotierte es als ich zum Auto lief. Ein Bedürfnis
     mich hinters Steuer zu setzen und einfach irgendwohin zu fahren, überfiel mich.
     Hauptsache weg aus diesem trostlosen Alltag. Irgendwohin, wo die Sonne schien und ich
     mich nicht Tag ein, Tag aus beschissen fühle. Schlussendlich fand ich mich doch auf der
90   gewohnten Route Richtung Arbeit wieder.

     Mein Job war so unbefriedigend, eintönig und perspektivlos, genauso wie mein Leben und
     wie gehabt suchte ich wieder einmal zehn Minuten lang nach einem freien Parkplatz. Ein
     paar Strassen weiter fand ich unglücklicherweise noch einen. Drei Seitwärts-
95   parkierversuche später schaffte ich es dummerweise auch noch mein Auto in die freie
     Lücke zu zwängen. Kaum ausgestiegen kam mir, um meinem morgendlichen Albtraum
     noch die Krone aufzusetzen, John entgegen. Mit seinem aufdringlichem Lächeln und Witze
     reissend, die ich wie immer zum Gähnen fand, eskortierte er mich unaufgefordert ins Büro.

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      Nach dem Hochfahren meines Computer kam auch noch mein „neuer“ Chef/ehemaliger
100   Mitarbeiter/abgewiesener Verehrer an mein Schreibtisch und erkundigte sich nach meinem
      Wohlbefinden. Natürlich war es ihm nicht entgangen, wie John sich in meiner Gegenwart
      benahm und bot mir an, sich persönlich darum zu kümmern. Ich wehrte ab und hoffte,
      dass damit die Sache erledigt war, doch selbstverständlich war sie das nicht.
      Zufälligerweise hätte er Karten zu einem Santana Konzert. Ob ich nicht vielleicht Zeit und
105   Lust hätte ihn zu begleiten. Da ich zwar genügend Zeit doch umso weniger Lust hatte, die
      ich in letzter Zeit nicht mal für meine wirklichen Freunde aufbringen konnte, bediente ich
      mich einer Notlüge. „Geht leider nicht Karl, meine Tochter hat an dem Tag ausgerechnet
      ihre Fahrprüfung, ich habe ihr versprochen nachher mit ihr Essen zu gehen.“ Er nahm die
      Hände von meinem Pult, auf welches er sich zuvor stützte und sagte: „Na, da kann man
110   wohl nichts machen. Übrigens will ich die Zahlen betreffend des Müller-Falls noch heute
      Nachmittag auf meinem Schreibtisch haben.“ Den zweiten Teil des Satzes schnauzte er
      mehr als ihn auszusprechen. Anscheinend hatte er meine kleine „weisse“ Lüge
      durchschaut. Ich rieb mir über die Stirn und bemerkte, dass mein allmorgendliches
      Kopfweh ebenfalls pünktlich zur Arbeit erschienen war. Ich zog die Schublade auf, fischte
115   ein Aspirin heraus und machte mich an die Arbeit. Der Fall Müller erwies sich als
      zeitaufwendiger, als gedacht und so kam ich wieder mal nicht dazu einen Happen zu
      Mittag zu essen. Naja, macht nichts. In den letzten Wochen verspürte ich sowieso kaum
      noch Hunger.

120   Eigentlich war heute mein freier Nachmittag, doch bis ich den Computer herunterfuhr, war
      es schon wieder 5 Uhr geworden. Ich verfluchte meinen Chef innerlich, aber das nützte
      wohl auch nichts. Unkraut vergeht ja bekanntlich nicht. Obwohl ich hier drin verwelkte.
      Müde und mit der festen Überzeugung, dass meine Augenringe sicherlich wieder
      Nachwuchs gekriegt hatten, überwand ich mich doch noch einkaufen zu gehen. Anja
125   musste sich heute Abend wohl mit einer Tiefkühlpizza zufrieden geben. Für ein
      selbstgekochtes Abendessen fehlte mir einfach die Energie. Zuhause angekommen
      schmiss ich mich aufs Sofa und schaltete den Fernseher ein. Endlich konnte ich meine
      tristen Gedanken mit flackernden Bildern für kurze Zeit ausblenden und mich in die
      Scheinwelten der TV-Soaps zurückziehen, in denen schlussendlich alle glücklich werden.
130   Doch heute schien nicht einmal das zu funktionieren. Mein Kopfweh wurde immer
      schlimmer und so warf ich noch eine zweite Schmerztablette ein und öffnete
      „gezwungenermassen“ etwas früher als gewohnt den Rotwein. Nach einer halben Stunde
      kam Anja nachhause. Anstelle eines „Hallo“ oder einem „Wie geht’s dir?“, kam ein: „Mum,
      warum bist du schon wieder am Trinken, du weißt, dass dir zu viel Alkohol nicht gut
135   bekommt.“ Ich rieb mir die Schläfen. „Was geht dich das an, meinst du, ich weiss nichts
      von deiner kleinen Whiskyflasche unter deinem Bett. Bevor du andere belehrst, solltet du
      dich zuerst einmal selbst an der Nase nehmen.“ Sie sah mich empört an und konterte: „Ja
      aber im Gegensatz zu dir leere ich die innerhalb von Monaten, nicht an einem Tag. Gott,
      warum bist du nur so anstrengend.“ Nun reichte es mir endgültig. „Wie redest du mit deiner
140   Mutter, du freches Balg. Geh in dein Zimmer!“ Sie stapfte wutentbrannt davon drehte sich
      um und sagte: „Ich hasse dich.“ Rannte hoch und schloss ihre Zimmertüre ab. Gerne wäre
      ich ihr hinterhergerannt und hätte sie dafür bestraft, aber selbst dafür fehlte mir die nötige
      Energie. Also blieb ich liegen und verschaffte meinem Kopfweh mit jedem weiteren
      Schluck Wein Abhilfe.
145
      So gegen halb Neun kam Anja runter und wärmte sich ihre Pizza auf. Zu dem Zeitpunkt
      hatte ich bereits die Hälfte der Flasche geleert und gesellte mich zu ihr. Wir sprachen kein
      Wort miteinander, jedoch bot sie mir ein Stück von der Pizza an, welches ich nur zögerlich
      ass, da ich noch immer keinen Appetit hatte. Plötzlich sagte Anja: „Ich habe mit Dad
150   gesprochen, er sagte, du sollst dich mal bei ihm melden.“ Stumm ass ich weiter und stütze
      mit der anderen Hand meinen immer schwerer werdenden Kopf. „Er will sich mal mit dir
      verabreden, damit ihr alles in Ruhe miteinander besprechen könnt.“ Was wollte er schon
      gross mit mir besprechen? Wahrscheinlich wollte er sich nur daran ergötzen, wie

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      miserabel es mir ohne ihn ging. Ich schenkte mir ein weiteres Glas Wein ein. Anja seufzte
155   und räumte den Tisch ab. Ich blieb noch eine Weile mit mir alleine sitzen. Dachte über
      alles nach. Über mein sinnloses Dasein, die täglichen Torturen, meinen untreuen
      Ehemann, meine undankbaren Kinder. Wie konnte es nur soweit kommen? Wieso hatte
      sich die ganze Welt gegen mich verschworen? Ab welchem Zeitpunkt entschied sich das
      Schicksal mir stetig ein Bein zu stellen bis ich irgendwann nicht mehr die Kraft dafür hatte
160   aufzustehen? Warum immer ich?

      Als ich das nächste Mal auf die Uhr schaute, war es bereits Mitternacht. Warum sollte ich
      überhaupt noch ins Bett gehen. Schlafen stellte sowieso keine Option mehr dar. Also
      setzte ich mich aufs Sofa und hörte ein wenig Musik und öffnete nochmals eine Flasche
165   Wein. Aus den Boxen sang gedämpft Bruce Springsteens „born to run“. Eines meiner
      absoluten Lieblingslieder, welches mich durch die schlimmsten Zeiten begleitete, doch
      heute Abend erschien es mir fremd. So fremd wie ich mir plötzlich selber erschien. Nein,
      ich wollte nicht mehr rennen. Ich war gefangen in meiner eigenen Welt. Ich war nicht mehr
      jung. Ich konnte nicht einfach davonrennen. Ich musste in meinem Käfig verharren bis sich
170   Gott meiner erbarmt und mich davon erlöst.

      An das Nächste, an was ich mich erinnerte, war Anja, wie sie mich wachrüttelte. „Mum, ich
      bleibe heute zuhause, ich fühl mich nicht so gut. Hast du was gegen Bauchweh?“ Wortlos
      stand ich auf und wühlte durch die Schublade, in der ich all meine Medikamente
175   aufbewahrte. „Danke“, sagte sie und verschwand. Ich starrte eine Zeit lang auf die
      Medikamente. Wieso sollte ich es Gott überlassen, bis er mich erlöste. Ich könnte mich ja
      auch selbst von diesen Qualen erlösen. Endlich wieder mal etwas anderes spüren als
      diesen dumpfen Schmerz, als diese endlose Sinnlosigkeit, als diese ewige Tortur abgefüllt
      in grauen aufeinanderfolgenden Tagen. Befreit davon! Von dieser grausamen Welt, die es
180   auf mich abgesehen hatte. Ich schüttete ein paar Schlaftabletten gemischt mit einigen
      anderen auf meine Hand. „Ich will endlich wieder frei sein und selbst entscheiden können.
      Ich will endlich wieder ich sein. Ich will endlich wieder etwas spüren.“ Mit diesen Gedanken
      führte ich die Tabletten zu meinem Mund.

185   Anna Leuthold

      Auf einen Schlag war mein Leben auf den Kopf gestellt und nichts war mehr so, wie es
      war. Dabei hatte der Tag so gut begonnen: „Shoppen mit Lena“ stand in meiner Agenda.
      Darauf hatte ich mich schon die ganze Woche gefreut. Als ich aber nach der erfolgreichen
190   Tour mit Lena im Kaffee sass, überkam mich eine eigenartige Müdigkeit, gefolgt von einer
      Art Übelkeit. Lena fragte mich, ob wir noch weitere Läden abklappern sollten. Ich nickte,
      doch in meinen Gedanken driftete ich ab. Zwar begriff ich, was Lena zu mir sagte, ihre
      Stimme rückte aber immer weiter weg. Es war, als würde ich mich in eine dunkle Ecke in
      meinem Kopf zurückziehen. Warum war mir zu diesem Zeitpunkt schleierhaft. Als ich dort
195   sass, begann es in mir zu rotieren. Mir fielen die Berge von Büchern und Dossiers ein, die
      noch unbearbeitet zuhause rumlagen, der Haushalt, der noch erledigt werden sollte, und
      all die E-Mails, welche von mir beantwortet werden sollten. Ich bekam Angst. „Mein Gott,
      was ist nur mit mir los? Reiss dich zusammen.“, sagte ich zu mir selbst und rieb mir die
      Stirn. Bis zum heutigen Tage war ich noch jeder akademischen und persönlichen Aufgabe
200   gewachsen, auch wenn ich oft eine Nachtschicht nach der anderen einlegen musste.
      Jedoch spürte ich dieses Mal keine innere Kraft, die mich dazu anspornte. Nach dem
      dritten Laden brach ich die Shoppingtour vorzeitig ab. Mit der Entschuldigung, dass ich
      mich nicht gut fühlte.

205   Endlich zuhause angekommen, war ich vollkommen erschöpft. Unfähig auch nur noch ein
      Buch aufzuschlagen warf ich mich aufs Bett, zog die Bettdecke über meinen Kopf und

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      schlief sofort ein. Der Wecker klingelte um acht Uhr. Anscheinend hatte ich es doch noch
      geschafft, diesen am Vorabend zu stellen. Ich fühlte den gestrigen - sagen wir mal -
      Schock tief in den Knochen. Doch jetzt war alles vorbei. Wahrscheinlich hatte ich was
210   aufgelesen und nach zehn Stunden Schlaf wieder auskuriert. Dann musste ich heute wohl
      für die Vorlesung doppelt effizient lernen.

      Nach der morgendlichen Dusche stand mir bereits die nächste Herausforderung bevor.
      Wäre jemand bei mir gewesen, er hätte mich sicherlich für verrückt gehalten. In der Küche
215   stand ich geschlagene 30 Minuten, bis ich den Kaffee zubereitet hatte. Ich konnte mich
      zuerst nicht entscheiden, welches Pulver ich für den Kaffee nehmen sollte, dann welchen
      Becher und dann wie viel Stück Zucker. Es schien alles so kompliziert. Währenddessen
      spann ich Gedanken zu völlig entlegenen Themen: warum ich immer die gleichen
      Cornflakes kaufte, warum ich mich für das Wirtschaftsstudium und nicht für Jura
220   entschieden hatte, warum meine Mutter mich schon seit einer Woche nicht mehr
      angerufen hatte.

      Als ich es endlich geschafft hatte, mich aus diesem Strudel von Gedanken
      herauszureissen, erschrak ich. Es war schon 9:00 Uhr. Sofort nahm ich meinen Kaffee und
225   setzte mich an meinen Schreibtisch. Zuerst ging alles wie gewohnt. Meine Augen
      überflogen den Stoff, die eine Hand unterstrich die wichtigsten Sätze und die andere Hand
      machte sich Notizen. Der Einzige, der sich immer wieder eine Pause zu gönnen schien,
      war mein Kopf. Er wälzte immer wieder Probleme, die nichts mit dem Stoff zu tun hatten.
      Geschichten tauchten auf, die ich für längst abgeschlossen hielt. Der Streit mit meinem
230   Exfreund nach der Trennung, der Auszug von Zuhause, der plötzliche Kontaktabbruch mit
      meiner Freundin Tamara, das Verhältnis zu meinem Vater. Nach einer Weile bemerkte ich,
      dass ich so nicht weiterkam. Ich verhandelte mit mir selbst, dass wenn ich jetzt brav
      weiterarbeite, ich mir zur Belohnung einen erholsamen Samstag gönnen würde. Ohne
      Stress und ohne irgendwelche Aufgaben. Mit diesem Deal liess sich die Woche
235   einigermassen gut überstehen. Als dann der Samstag kam und ich mit Lena zur
      Belohnung ins Kino ging, war ich mir sicher, dass alles wieder ins Lot kommen würde.
      Doch mein Körper machte mir einen Strich durch die Rechnung. Während des Films
      spürte ich ein heftiges Stechen in der Brust. Ich krallte mich mit meinen Fingern in die
      Polsterung. Der Raum schien kleiner zu werden und die Leute, davon war ich überzeugt,
240   drehten sich alle zu mir um. Einige schienen mich mitleidig anzusehen, andere blickten
      hämisch und wertend, aber warum nur? Warum half mir niemand? Anscheinend stimmte
      mit mir was nicht. Mein Herz raste, mein Puls war so hoch, dass Lena ihn bestimmt schon
      hören konnte. Doch sie reagierte nicht, also zog ich sie am Ärmel. Als sie sich mir
      zuwandte, sagte ich mit zittriger Stimme „Lena, ich glaub, ich hab einen Herzinfarkt.“
245   Zuerst dachte sie wohl, dass ich den bald vor Lachen bekäme aufgrund der
      humoristischen Darstellung auf der Leinwand. Als sie jedoch mein Gesicht sah, wusste sie,
      dass ich es ernst meinte. Sie fragte mich, ob ich denn noch aufstehen könne. Nach einigen
      Versuchen schaffte ich das. Sie brachte mich ins Foyer und stürzte an die Kinokasse.
      Aufgelöst schrie sie die Ticketdame an, den Notruf zu wählen. Zitternd wollte ich Lena
250   hinterherrufen „Geh nicht, bleib bei mir, bitte.... Ich halte es nicht mehr aus“. Doch sie war
      schon weg und während ich alleingelassen auf dem kleinen Plastikstuhl um die Kontrolle
      über meinen Körper kämpfte, der innerlich von der Brust aus zu verbrennen schien,
      übermannte mich ein starkes Verlangen zu flüchten. Doch wohin? Wohin sollte ich fliehen?
      Der Schmerz war in mir drin. Egal, wohin ich flüchten würde, es würde nicht aufhören.
255   Noch bevor Lena zurückkam und mir Atemtechniken erklärte, welche sie am Telefon vom
      Rettungssanitäter empfohlen bekommen hatte, ging mir ein Licht auf. Mir wurde klar, was
      mit mir nicht stimmte. Ich hatte einen Angstanfall – was mir nach dem Eintreffen vom
      Rettungspersonal bestätigt wurde. Aber auch nach den einfühlsamen Worten der
      Rettungsmänner hörte mein Körper nicht auf zu zittern. Ich wollte immer noch flüchten und
260   das Glasfenster des Kinos schien dafür passend. Als ich meine Angstgefühle aufgeregt
      und nun auch tränenreich vermitteln konnte, wurde mir ein Beruhigungsmittel in Form einer

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      blauen Tablette verabreicht. Langsam begann die Flamme in mir zu erlöschen. Auf die
      Frage, ob ich im Moment in psychiatrischer Behandlung sei, antwortete ich: „Nicht mehr“.

265   Vor drei Jahren, als die gymnasialen Abschlussprüfungen bevorstanden, suchte ich mit
      Mutters Hilfe bei einem Therapeut Unterstützung, da ich nicht mehr schlafen konnte. Ich
      lag nächtelang wach und als meine Noten absackten, war meiner Mutter klar, dass eine
      Lösung her musste. Also ging ich ein paar Sitzungen lang zu Herrn Schmidt. Ich mochte
      ihn sehr. Er strahlte eine Freundlichkeit aus, die mir versicherte, dass alles gut werde.
270   Zurück in der Gegenwart fragte mich der Mann in Gelb-Orange, ob er meinen ehemaligen
      Therapeuten anrufen sollte. Ich bejahte, da meine Psyche und mein Körper eindeutig
      genug gezeigt hatten, dass ich Hilfe brauchte. Ausserdem war der Gedanke an ein
      Wiedersehen mit Herrn Schmidt gar nicht so schlecht. Als ich seine Stimme aus dem
      Hörer vernahm, verschwand das Brennen komplett.
275
      Ich hatte Glück, Herr Schmidt fand zwei Tage darauf Zeit für mich in seinem
      Terminkalender. In der Zwischenzeit versuchte ich weiter, meine Gedanke zu ordnen und
      mich auf mein Studium zu konzentrieren. Doch die kreisenden Gedanken kamen immer
      wieder. Dazu begleitete mich im Hinterkopf die schleichende Angst, dass ich jederzeit auf
280   offener Strasse heulend zusammenbrechen könnte. Am Tag nach dem Zusammenbruch
      rief mich meine Mutter an, die sich besorgt über mein Wohlergehen erkundigte. Teils um
      sie zu beruhigen, teils um mich selber zu beruhigen, versicherte ich ihr, dass alles wieder
      in bester Ordnung sei. Die Sitzung mit Herrn Schmidt diente nur zur Bestätigung, dass der
      Vorfall einmalig gewesen sei. Natürlich war mir klar, dass dies sicherlich nicht so leicht aus
285   der Welt zu schaffen war. Doch die Tatsache, dass bei mir eine Schraube locker sein
      könnte, versetzte mich bereits wieder in Panik.

      Endlich kam der ersehnte Termin mit Herrn Schmidt. Kaugummi kauend hockte ich im
      Wartezimmer. All die alten Gefühle, mit denen ich vor drei Jahren zu kämpfen hatte,
290   kamen wieder hoch. Der Gedanke, der sich am deutlichsten in meinem Gedächtnis
      eingebrannt hatte und jetzt wieder aus einer dunklen Ecke meiner Erinnerung
      angekrochen kam, war: „Ich bin nicht mal volljährig und schon reif für einen
      Seelenklempner.“ Mit dieser Mischung aus Freude auf ein Wiedersehen und Abneigung
      gegenüber der Situation schaukelte ich auf dem Stuhl hin und her, während ich auf dem
295   Patientenformular meine Krankenkasse bekanntgab. „Vielleicht subventioniert mir der
      Staat neben meinem Studium auch noch die Behandlung von dessen psychischen
      Folgen“, dachte ich zynisch und gab das Formular der charmant lächelnden
      Sprechstundenhilfe zurück. Nach zwanzig Minuten nahm mich Herr Schmidt in Empfang.
      Sein Händedruck, sein sanftmütiges Lächeln, ja selbst sein dezentes Parfum hatten sich
300   nicht verändert. Auch sein Behandlungszimmer war gleich geblieben. Wie gewohnt und als
      hätten wir uns erst letzte Woche gesprochen, nahm ich auf dem Sessel platz und er bot
      mir an, mich jederzeit aufs Sofa legen zu können, falls ich dies bevorzugen würde. Doch
      ich bevorzugte den Sessel. Nach einem fünfminütigen Smalltalk erzählte ich Herrn
      Schmidt, was ich in der Zwischenzeit alles so gemacht und erreicht hatte. Er hörte mir
305   aufmerksam zu, nickte hie und da und beglückwünschte mich sogar zu meinem Erfolg.
      Danach kamen wir auf die letzte Zeit zu sprechen und sein Gesichtsausdruck wurde
      ernster. Ich erzählte ihm von meinen Konzentrationsschwächen. Er wollte wissen, ob das
      ewige Grübeln schon öfters aufgetreten sei. Als ich dies verneinte, kamen wir auf den
      Vorfall im Kino zu sprechen. Mir war es sehr unangenehm, mit ihm darüber zu reden. Als
310   ich den Fluchtgedanken ansprach, überlegte ich mir zuerst, ob ich den Gedanken mit dem
      Fenster auslassen sollte. Ich entschied mich dagegen und seine Miene wurde noch
      ernster. Anscheinend hatte ich etwas gesagt, dass man nicht so einfach vor sich hersagen
      konnte. Seine Reaktion veranlasste mich dazu, mich in den Sessel einsacken zu lassen.
      Herr     Schmidt    veränderte   ebenfalls  seine    Position. Seine      zuerst locker
315   übereinandergeschlagenen Beine standen nun auf dem Boden und sein Oberkörper lehnte
      er in meine Richtung. „Hatten Sie schon einmal Gedanken ähnlicher Natur?“ Huch, jetzt

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      waren wir also wieder beim Sie, früher duzten wir uns doch. Ich überlegte und fuhr mir
      nachdenklich mit dem Zeigefinger übers Kinn. „Haben wir solche nicht alle?“, sagte ich in
      der Hoffnung, sein ernster Blick würde etwas nachlassen. „Nun durchaus, aber es gilt die
320   aktiven von den passiven Suizidgedanken zu unterscheiden. Die Passiven treffen wir alle
      einmal in einem Tief unseres Lebenswegs an. Jedoch verfliegen sie rasch wieder. Die
      aktiven Suizidgedanken bleiben dagegen über längere Zeit. Meistens findet dabei ein
      aktives Planen des Suizidaktes statt. Das kann sich über Wochen ja sogar Monate
      hinwegziehen.“ Ich hörte Herrn Schmidts Ausführungen genau zu und überlegte
325   angestrengt. Klar hatte ich auch schon mal Suizidgedanken, vor allem nach der Trennung
      von meinem Exfreund, aber die waren, soweit ich das in Erinnerung hatte, passiver Natur.
      Ich teilte ihm dies mit und er lehnte sich wieder zurück und notierte sich etwas in seinen
      Block. Endlich lächelte er mich an und ich lächelte verunsichert zurück. „Sollten sich diese
      Gedanken oder die Panikattacken in nächster Zeit häufen, bitte ich Sie mir umgehend
330   Bescheid zu geben, unter Umständen wäre es das Beste eine psychiatrische Behandlung
      als Ergänzung zur Therapie hinzuzufügen.“ Mit anderen Worten, wenn ich endgültig den
      Verstand verloren hatte, sollte man mich mit Medikamenten vollpumpen, um keine Gefahr
      für mich oder andere darzustellen. Anscheinend sah mir Herr Schmidt die Enttäuschung
      an und fügte hinzu. „Dies werden wir natürlich nur bei einer akuten affektiven Störung
335   vornehmen und es dient in erster Linie zur Unterstützung der Therapie.“ Daraus wurde ich
      auch nicht viel schlauer. Trotzdem bedankte ich mich artig. Machte einen weitern Termin
      aus und ging müde und abgekämpft aus dem Gebäude.

      Da es mich draussen fröstelte, knöpfte ich die Jacke zu. Die Sonne liess sich kaum blicken
340   und ein dichter Nebel schlängelte sich zwischen den Bäumen hindurch. Wie eine
      Würgeschlange, die ihre Beute zuerst umgarnte, bevor sie zudrückte. Von der Wärme des
      Sommers war nichts mehr da. Genauso wenig, wie von der Energie, die sich damals in
      meinem Herzen und Körper ausgebreitet hatte. Ich fühlte mich matt und besiegt. Vielleicht
      litt ich ja unter einer sogenannten Herbstdepression. Dann wäre das Ende wenigstens bei
345   Saisonende in Sicht. „Ausserdem könnte es sich ja wirklich um eine einmalige Reaktion
      handeln, die aufgrund meiner schulischen Belastung ausgelöst wurde – ein Burnout
      vielleicht oder vielleicht brauche ich einfach wieder einmal Ferien.“ Zu Hause schien mir
      diese Idee gar nicht so schlecht, vor allem als ich meinen Blick über alle ungelesenen
      Bücher und Dossiers schweifen liess. Seufzend sank ich zu Bett, ohne Richtung
350   Schreibtisch zu schauen. Ich schlief sofort ein und verbrachte eine unruhige, traumlose
      Nacht. Als ich am Morgen aufwachte, fühlte ich mich beinahe gleich erledigt wie am
      Abend. Heute stand eine Nachtschicht im Büro an, in welchem ich 40% arbeitete, um
      meinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Ich setzte einen Kaffee auf. Missmutig sah ich
      dem Tag entgegen. Ans Lernen war nicht zu denken. Wenn ich vor einem Buch sass,
355   Seite für Seite las, kam es vor, dass ich einfach nicht verstand, was auf diesen Seiten
      geschrieben war. Manchmal musste ich Sätze bis zu fünfmal durchlesen, bis ich deren
      Inhalt einigermassen begriff. Mir kamen immer mehr Zweifel an meiner Intelligenz, denn
      auch bereits Gelerntes schien nach ein paar Stunden wieder verschwunden zu sein. Ich
      schien stehen zu bleiben, doch die Zeit raste mir davon. Nur noch vier Tage bis zum
360   Abgabetermin meines ersten Entwurfs und es fehlten noch etliche Kapitel. Ich rieb mir
      meine pochende Schläfe. Ich hatte das Gefühl, dass mein Schädel zu explodieren drohte.
      Vielleicht half was zum Naschen weiter. Ich ging in die Küche und brach mir eine Tafel
      Schokolade ab. Dann noch eine und noch eine, bis ich nur noch das silbrige Einpackpapier
      vor mir liegen sah. Super, jetzt kam auch noch das schlechte Gewissen wegen meiner
365   Figur dazu. Ich setzte mich an den Schreibtisch. In einem verzweifelten Versuch schlug ich
      ein Buch auf und sah die Buchstaben wie wild vor meiner Nase umhertanzen. Für jemand
      anderen mochten sie zu einem sinnigen Ganzen verschmelzen. Vor meinen Augen waren
      sie nur eine Schikane und zeigten mir meine Unfähigkeit auf. Ich klappte das Buch zu und
      versuchte ruhig durchzuatmen. Ich spürte, wie sich in mir wieder eine Unruhe auszubreiten
370   begann. Ein ähnliches Gefühl wie im Kino. Ich dachte daran Lena anzurufen. Noch
      während ich nach dem Telefon griff und die Nummer eintippte, bemerkte ich, dass es sich

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      wahrscheinlich stärker ausbreiten würde. Lena nahm ab. „Ja, hallo hier ist Anna. Sag hast
      du vielleicht Zeit? Ich fühl mich nicht gut.“ Was denn los sei, fragte sie. „Ähhhm, nichts. Ist
      halb so wild, vielleicht einfach zu wenig oder zu viel geschlafen.“ Sie versicherte mir, dass
375   sie in einer Stunde bei mir sein werde. Ich flüsterte ein Dankeschön und legte auf. Doch
      die Unruhe war damit nicht verflogen. Was war nur los mit mir? Keinen Gedanken konnte
      ich richtig zu Ende denken. Ging unruhig in der Wohnung auf und ab. Fühlte mich plötzlich
      eingeengt und fremd in meinen eigenen vier Wänden. Beschloss zu duschen. Als ich den
      Wasserhahn aufdrehte, schien sich auch etwas in mir aufzudrehen. Auf einmal flossen
380   Tränen. Mein Inneres fühlte sich glühend heiss an. Als wollte mein Körper etwas
      verbrennen oder abstossen. Vielleicht ja sogar meine Seele. Ich sackte auf die Knie und
      liess das warme Wasser nur so auf mich einprasseln. Es tat alles weh. Ein innerer
      Abgrund tat sich auf und drohte mich zu zerreissen.

385   Das Nächste, an das ich mich erinnerte, waren Lenas Rufe. Auf einmal stand sie in der
      Dusche und zog mich hoch. Ich konnte nicht anders, als mich an sie zu klammern. Mein
      nackter Körper durchnässte ihre Kleider. „Es hat niemand aufgemacht, da bin ich
      reingekommen“, sagte sie sanft, half mir aus der Dusche und wickelte mich in Tücher.
      Danach legte sie mich aufs Sofa und machte mir Tee. Ich erzählte ihr alles, was in den
390   letzten Stunden und seit dem Zwischenfall im Kino vorgefallen war. Sie nickte
      verständnisvoll und fragte, ob sie jemanden anrufen sollte. Ich schüttelte den Kopf. Wen
      sollte sie schon anrufen. Meiner Mutter wollte ich so nicht unter die Augen treten. Dieses
      erbärmliche Häufchen Elend einer Tochter wollte ich ihr ersparen. Vielleicht meinem
      Vater? Ach, der interessierte sich in letzter Zeit nur noch für seine „neue“ Familie. Seine
395   Erstgeborene war ihm wohl zu langweilig geworden. Genauso wie er meiner Mama
      überdrüssig geworden war. Ich bat Lena zu bleiben. Sie willigte ein unter der Bedingung
      gleich morgen einen Termin mit Herrn Schmidt wahrzunehmen. In meiner jetzigen Lage
      würde er mich sicherlich irgendwo dazwischenschieben können. Da ich diese Nacht nicht
      alleine sein wollte, ging ich auf den Deal ein.
400
      Glücklicherweise hatte Herr Schmidt gegen Mittag tatsächlich noch eine kleine Lücke in
      seinem Terminkalender. Lena begleitete mich, nach einer durchheulten Nacht, zum
      Termin. Dieses Mal entschloss ich mich gleich hinzulegen. Ich brachte Herrn Schmidt auf
      den neusten Stand der Dinge und erzählte ihm von meinem gestrigen Zusammenbruch in
405   der Dusche. Auf seine Frage, wie ich mich denn jetzt fühlte, antwortete ich: „Innerlich
      aufgerieben und leer.“ Selbstverständlich schrieb Herr Schmidt mit. „Was waren das für
      Gedanken, welche Sie spürten, bevor diese innere Unruhe eingesetzt hatte?“ Keine
      Ahnung. Gedanken aus meiner Vergangenheit oder an die bevorstehende Arbeit.
      Manchmal auch Gedanken an meinen Ex oder an die Scheidung meiner Eltern. Halt wild
410   auftauchende Gedanken, die ich nicht kontrollieren konnte. Auch diese Aussage schien für
      ihn von grosser Wichtigkeit, denn sie wurde sogleich notiert. Im weiteren Verlauf der
      Sitzungen gingen wir nochmals auf meine Eltern ein, obwohl er da noch recht gut im Bilde
      war. Auch über meinen Exfreund sprachen wir. Ich hatte ihn vor einem Jahr kennenglernt.
      Eine Zeitlang war es mit ihm das Paradies auf Erden. Doch wegen meiner akademischen
415   Verpflichtung, die immer zeitintensiver wurde, suchte er sich eine weitere Gespielin für
      einsame Nächte. Zum Schluss der Sitzung blieb die Frage offen, ob ich es noch alleine mit
      mir in einem Zimmer aushalte. Ich zuckte mit den Achseln und sagte ihm, dass ich ja noch
      Lena hatte. Er schlug mir vor, eine Reha in Betracht zu ziehen und falls die
      Suizidgedanken wieder auftauchten, sollte ich nicht zögern ihn anzurufen. Zum Schluss
420   gab er mir die Karte einer psychologischen Notaufnahme und riet mir dringendst zu einer
      psychiatrischen Behandlung. Ich nickte mehr oder weniger bewusst, verabschiedete mich
      höflich und bedankte mich für seine Zeit.

      Zuhause erwartete mich eine „angenehme“ Überraschung. Meine Mutter stand in der
425   Küche und kochte für mich. Ich sah Lena leicht säuerlich an. Anscheinend hatte sie mich
      verpetzt. Als mich meine Mutter sah, kam sie auf mich zu und nahm mich sofort in den

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      Arm. „Anna, was machst du nur für Sachen. Lena hat mir alles erzählt. Wieso bist du nicht
      gleich zu mir gekommen?“ In ihrem Augenwinkel sah ich eine kleine Träne. Das liess mich
      erschaudern. Meine Mutter, die ich seit meiner Kindheit als eine sehr strikte und
430   distanzierte Erziehungsperson erlebt hatte, weinte bei dem Gedanken, dass ihre Tochter
      ein Wrack ist. Bei dem Gedanken konnte ich meine Tränen erst recht nicht mehr
      zurückhalten. Ich klammerte mich an ihr fest. „Mama, ich glaube ich bin kaputt“, gab ich
      flennend und rotzend von mir. „Nicht doch, es wird alles wieder gut. Mama ist ja jetzt da,
      heute ruhst du dich erst mal aus, wegen der Uni und der Arbeit, mach dir da keinen Stress.
435   Ich regle das schon. Konzentrier du dich erst mal auf deine Genesung.“ Ich fiel aus allen
      Wolken. Mama hatte Verständnis für meine Wehwehchen? „Am besten nicht hinterfragen,
      einfach nur geniessen“, dachte ich mir und liess mich von ihr streicheln. „Morgen gehen wir
      zu einem guten Psychiater. Ich kenne da einen. Zu dem bin ich selbst mal gegangen nach
      der Trennung von deinem Vater.“ Wie bitte, Mama war in Behandlung! Das wusste ich
440   nicht. Nach der Trennung schien sie so wie immer. Vielleicht ein bisschen kühler und
      strenger als sonst. Nun dann liegt es wohl in der Familie.
      Nach dem Abendessen verabschiedete sich Lena und Mama kümmerte sich weiterhin
      zärtlich um mich. Sie liess mir ein warmes Bad einlaufen, und während ich badete, machte
      sie meine Wäsche, bezog das Bett und räumte auf. Ich fühlte mich wieder wie ein kleines
445   Kind, welches das Anrecht besass, bemuttert und verwöhnt zu werden. Beim
      Schlafengehen kuschelte ich mich an sie, bevor wir gemeinsam einschliefen. Doch nicht
      für lange. Ich wachte nachts wieder auf. Die Unruhe war zurückgekehrt. Nur war es dieses
      Mal kein Brennen, es war schlimmer, ein Inferno, das sich in meiner Brust ausbreitete bis
      hin zu meinem linken Oberarm. Ich stand auf und lief ins Bad. Sah mich im Spiegel an und
450   dachte nur. „Was geht hier ab, was stimmt nicht mit mir? Warum tut mir mein Körper das
      an!“ Am liebsten hätte laut rausgeschrien. Es war mir einfach zu viel. Schlimm genug, dass
      ich mein Leben nicht mehr auf die Reihe kriegte. Doch nun schien ich auch die Kontrolle
      über meinen Körper zu verlieren.
      Ich hatte wohl Mama geweckt, während ich unruhig durch die Wohnung lief. „Süsse, ist
455   alles ok?“ „Nein nichts ist ok, es tut weh. Es ist alles Kacke. Mein ganzes Leben ist
      beschissen. Was stimmt nur nicht mit mir, Mama.“ Sie nahm mich in den Arm und
      streichelte mich: „Nichts Anna, du machst zur Zeit nur eine schwere Phase durch.
      Manchmal bleibt man im Leben halt stehen, weil man nicht mehr wie bisher weitermachen
      kann. Das kann jedem passieren.“ Ich wollte erwidern, dass ich mich trotzdem nicht so
460   scheisse fühlen wolle, aber da flossen schon wieder Tränen und ich klammerte mich ganz
      doll an Mama fest. Das Inferno verwandelte sich wieder in ein erträgliches Brennen und
      die Unruhe liess ein wenig nach, dafür schien mein Körper seine gesamte heute
      aufgenommene Flüssigkeit in Tränen auszuscheiden. Ungefähr eine Stunde lag ich
      heulend an Mama geklammert im Bett und liess meiner Trauer, wenn es denn wirklich
465   Trauer war, freien Lauf. Irgendwann schlief ich dann doch ein und erwachte morgens völlig
      gerädert. Der Weg in die Küche kam mir länger als sonst vor. Immerhin stand bereits eine
      Tasse Tee und ein Toast für mich bereit. Mama, die in der Zeitung blätterte, lächelte mich
      an und wünschte mir einen guten Morgen. Ich setzte mich hin und schaute lustlos auf den
      Toast. Auch der Tee machte mich nicht sonderlich an, ein Kaffee wäre mir lieber gewesen.
470   Doch nach meiner gestrigen Wanderung durch die Wohnung blieb ich vorsichtshalber bei
      Tee. Mama streichelte mir über den Kopf und fragte, wie ich mich fühlte. Wie ein
      ausgespuckter Kaugummi, wollte ich wahrheitsgetreu antworten. Entschied mich dann
      aber für ein höflicheres „nicht so gut“. Um mich aufzuheitern, erzählte sie mir, dass sie um
      14:00 Uhr einen Termin für mich mit Frau Dr. Kunze, bei welcher sie selber mal in
475   Behandlung gewesen sei, vereinbaren konnte. Ich lächelte müde und biss in den Toast.

      Frau Dr. Kunze machte auf mich einen sehr sympathischen und aufgeweckten Eindruck.
      Ihr Lächeln strahlte sowohl Freundlichkeit wie auch Professionalität aus. Ich erzählte ihr
      von meinen Erlebnissen. Dabei betonte ich meine Nervenzusammenbrüche, meine stetige
480   Unkonzentriertheit und dass ich morgens kaum noch in die Gänge kam. Auch über das
      ständige Grübeln und die wiederkehrenden Gedanken aus meiner Vergangenheit erzählte

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      ich ihr. Kraft dazu gab mir Mama, die neben mir sass und fest meine Hand drückte. Frau
      Kunze hörte dabei aufmerksam zu, stellte ab und zu eine Frage. Als sie danach das Wort
      Depression in den Mund nahm, zuckte ich zusammen. „Wie bitte?“, rutschte es mir heraus.
485   Frau Kunze sah mich mit einem beruhigend sanftmütigen Lächeln an und begann den
      Satz nochmals von vorne. „Nun, Ihre Symptome sprechen für eine depressive Episode
      oder eine depressive Verstimmung, wobei ich das zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht
      definitiv sagen kann. Es ist möglich, dass Ihnen aufgrund einer belastenden Umstellung
      oder einer Überbelastung sozusagen der Boden unter den Füssen weggezogen wurde.“
490   Ich hatte sie wahrscheinlich weiterhin völlig verwirrt angeschaut, denn sie holte zu einem
      zweiten Erklärungsversuch aus. „Wir alle stützen uns auf Eckpfeiler, die unser soziales Ich
      tragen. Diese Eckpfeiler sind Familie, Liebe, Wohnung, Beruf und Freunde. Sind diese
      Eckpfeiler nun instabil oder vielleicht gar nicht vorhanden, brechen die anderen ebenfalls
      zusammen und uns fällt förmlich das Dach auf den Kopf.“ Das leuchtete mir ein, also war
495   ich Opfer meines unausgeglichenen Lebens. So einfach war das nun auch wieder nicht
      antwortete Frau Kunze. Natürlich könnten auch gewisse ungelöste Probleme aus der
      Vergangenheit an meiner jetzigen Situation mitschuldig sein. Darum sei es wichtig,
      weiterhin zur Therapie zu gehen, damit man das Übel bei der Wurzel packen könne. Auch
      das schien mir einleuchtend. Meine letzte Frage an Frau Kunze war. „Wie lange dauert
500   denn so eine „normale“ Depression ungefähr?“ „Nun, eine depressive Erkrankung ist ein
      sehr individueller Prozess, dessen Zeitdauer man nur schwer bestimmen kann.“ Diese
      Antwort befriedigte mich schon weniger. Sie verschrieb mir ein leichtes Antidepressivum
      und vereinbarte mit mir einen weiteren Termin. Geknickt trat ich aus dem
      Behandlungszimmer heraus. Nun war es offiziell. Ich hatte eine Depression. Mir war schon
505   wieder nach Heulen zumute, doch Mama fing mich auf. „Weisst du was Schatz? Du ziehst
      bei mir ein und nimmst dir soviel Zeit, wie du brauchst, um wieder auf die Beine zu
      kommen.“ Ich nickte lächelnd. Mit Mama an meiner Seite konnte ich vielleicht tatsächlich
      diese lebensaussaugende Depression besiegen.

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510   Max Hildebrand

      „Das ist nicht fair.“ Ich ballte die Faust und liess sie auf den Tisch knallen. Der Blick
      meines Vaters war gesenkt. „Das ist nicht fair“, schrie ich und konnte meine Tränen nicht
      zurückhalten. Ich sackte auf die Knie und krallte meine Finger in den Teppich. Mein Vater
515   legte mir die Hand auf den Rücken und begann ruhig und langsam zu sprechen, ab und an
      stockte er, als müsste er die Worte herauswürgen. „Die Ärzte sagten, sie konnten nichts
      mehr für sie tun. Sie war bereits tot, als Sie aus dem Wagen geborgen wurde.“ Als er das
      Wort tot in den Mund nahm, japste ich nach Luft. Ich hielt das Ganze für einen schlechten
      Scherz. Solche Szenen sah man doch immer nur im Fernsehen oder las man in Bücher.
520   Nie und nimmer konnte einem so was im realen Leben wiederfahren. Nein, ich musste
      träumen, aber warum wachte ich nicht auf, warum fühlte sich der Schmerz so real an,
      warum tat es nur so weh? Ich wollte raus, raus aus diesem Haus, raus aus dieser Stadt
      irgendwo hin, wo diese Realität nicht zutraf. In ein fernes Land oder eine andere Welt.
      Doch da nahm mich mein Vater schon in den Arm. Ich weinte bitterlich. Nachdem wir
525   ungefähr zehn Minuten so dasassen, lösten wir uns aus der Umarmung und ich fragte ihn,
      ob er mir den Hergang des Unfalls erzählen könnte. „Die Polizei sagte mir, dass Laras
      Auto heute Mittag gegen 1 Uhr quer in einer kleinen Schlucht etwas abseits der Strasse
      von einem anderen Autofahrer entdeckt wurde. Als sie am Ort eintrafen, war es bereits zu
      spät. Den Bremsspuren nach zufolge war sie wahrscheinlich vom Glatteis überrascht
530   worden. Als sie dann von der Strasse abkam und den Zaun seitig durchbrach, überschlug
      sich ihr Auto und wurde weiter unten von den Bäumen gebremst.“ Seine Schilderung
      formulierte er mit einer monotonen Stimme. Anscheinend gab er die Erzählung des
      Polizisten Wort für Wort wieder. „Ich gehe schlafen“, sagte ich abrupt nach fünfminütigem
      Schweigen. „Warte noch ein bisschen! Es kommen nachher noch ein paar Freunde vorbei,
535   die mit uns gemeinsam zu Abend essen.“ Ich murmelte ein „Okay“ und verkroch mich in
      meinem Zimmer. Ich sank auf mein Bett nieder und vergrub mein Kopf ins Kissen. So lag
      ich da, nichts denkend, nichts wollend, einfach nur daliegend, ohne zu schlafen.

      Auf einmal schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass ich noch mit Linda gegen 9 Uhr
540   verabredet war. Ich fischte mein Handy aus der Hose und suchte ihre Nummer. Es dauerte
      eine Ewigkeit, bis ich sie fand. „Hey Max“, ertönte es fröhliche aus dem Lautsprecher
      meines Handys. „Ich habe den Film bereits reserviert und im Internet ein paar Kritiken
      überflogen. Er soll wirklich spannend, abwechslungsreich und ein Augenschmaus an
      spektakulärer Action sein“, sagte sie kichernd. Es dauerte eine Weile bis ich ein, „Hallo
545   Linda“, rausquetschen konnte. Dabei erschrak ich an meiner eigenen Stimme. Sie hörte
      sich heiser und zittrig an. „Mir ist heute nicht nach Kino.“ „Max ist alles in Ordnung? Bist du
      krank?“ Keine Ahnung zählt ein totaler Zusammenbruch der Gefühlswelt als eine
      Krankheit. „Nein, ....weißt du...., es ist etwas passiert...., etwas Schlimmes.“ Mit einem
      sorgevollen Unterton in der Stimme fragte sie mich, was denn los war? Es folgte eine
550   lange Pause. Ich wollte ihr ja sagen, was los war. Linda konnte ich doch sonst auch alles
      sagen. Wir kannten uns von Kindesbein an. Wir spielten bereits gemeinsam im
      Sandkasten, spielten einander Streiche, tauschten uns über unsere Liebesgeschichten
      aus, gingen zusammen aus und vertrauten einander unsere innigsten Geheimnisse an.
      Warum also war es mir nicht möglich Linda mitzuteilen, was passiert war. Ich setzte bereits
555   zum dritten Mal an und wieder kam nur ein Krächzen heraus. Ich schaffte es nicht. Ich
      schaffte es nicht, das Geschehene in Worte zu fassen, ohne dabei wieder in Tränen
      auszubrechen. Es schien unmöglich. Sie besänftigte und ermutigte mich mir Zeit zu
      lassen. Beim vierten Mal schaffte ich es den Vorfall in einen Satz zu packen. „Linda, meine
      Mutter ist tot.“ Darauf hörte ich eine Weile nichts mehr. Ich war schon fast verleitet, sie zu
560   einer Antwort zu ermutigen, doch dann sagte sie: „Max... ich weiss nicht, was ich sagen
      soll... ich... es tut mir so unendlich Leid. Meine Güte... wie...“, ich begriff, dass auch sie
      Mühe hatte nicht in Tränen auszubrechen. „Soll ich vorbeikommen, Max?“ Ich überlegte
      kurz und sagte dann: „Es kommen gleich noch ein paar Leute vorbei, aber könntest du dir

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