PSYCHE IM FOKUS Das Magazin der DGPPN - Politik Es wird gewählt S. 20 Leitlinien Es wird digital S. 40

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PSYCHE IM FOKUS Das Magazin der DGPPN - Politik Es wird gewählt S. 20 Leitlinien Es wird digital S. 40
PSYCHE
               IM FOKUS
               Das Magazin der DGPPN

               Politik                     Leitlinien                  Generation PSY
               Es wird gewählt   → S. 20   Es wird digital   → S. 40   Es wird bunt   → S. 42
NR. 1 | 2021
PSYCHE IM FOKUS Das Magazin der DGPPN - Politik Es wird gewählt S. 20 Leitlinien Es wird digital S. 40
Vielfach finden sich im Text männliche personenbezogene Hauptwörter,
die für alle Geschlechter gelten sollen (z. B. Patienten). Dies dient der
besseren Lesbarkeit und wir bitten freundlich darum, hieran keinen An-
stoß zu nehmen. Wir arbeiten derzeit an einer besseren Lösung.

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Digitale
                                                            Transformation
                                                            und psychische
                                                            ­Gesundheit
INHALT                                                      24.–27.11.2021

                                                                                     digilog
                                                                                                       Der DGPPN Kongress findet
                                                                                                       Ende November als hybride
                                                                                                       Veranstaltung in Berlin statt.

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                                                                                                       → S. 30
     EDITORIAL

4    GESUNDHEITSPOLITIK

     INSIDE DGPPN
10   Drei neue Vorstandsmitglieder

     BIBLIOTHEK
13   Lesestoff

     GESELLSCHAFT
14   DGPPN-Medienpreis 2020

     GESELLSCHAFT                                                            Das Vier-Augen-Gespräch hat per Videotelefonie
18   Erste Hilfe für die Seele
                                                                             stattgefunden.
                                                                             → S. 24

     BUNDESTAGSWAHL
20   Was jetzt nötig ist

     UNTER VIER AUGEN
                                                       30   DGPPN KONGRESS 2021
                                                            Analog trifft digital
24   Thomas Pollmächer und
     Klaus Reinhardt im Gespräch
                                                       34   WISSENSCHAFT
                                                            Neue Sucht-Leitlinien

                                                       38   WISSENSCHAFT
                                                            Merk-würdige Studienergebnisse

                                                       40   WISSENSCHAFT
                                                            Leitlinien digital

                                                       42   NACHWUCHS
                                                            Frühling der Gefühle

                                                       44   STANDPUNKT
                                                            Psychotherapie als Grundpfeiler der Psychiatrie

                                                       48   IMPRESSUM

                                 Die Pandemie bleibt
                                 weiter Thema.
                                 → S. 4

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EDITORIAL

            Liebe Leserinnen
            und Leser,
            20 Gesetze in 20 Monaten, so lautete die Halbzeitbilanz unseres Bundesgesund-
            heitsministers und in diesem Tempo ging es weiter. Datenschutz, Digitali­sierung,
            ärztliche Suizidbeihilfe, Impfen: Etliche neue Gesetze und Gesetzesvorhaben
            betreffen unmittelbar die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung.

            Corona zeigt: Es kommt auf eine vorausschauende Gesundheitspolitik an, die
            dauerhaft körperliche und seelische Gesundheit fördert. Nicht nur in Krisen-
            zeiten müssen alle Menschen erreicht werden, die Hilfe benötigen, auch jene,
            die aus sich heraus nicht in der Lage sind, Angebote in Anspruch zu nehmen.
            Psychische Gesundheit braucht politische Priorität und zwar gerade jetzt – das
            ist unsere Forderung fürs Superwahljahr. Was andere sich von der kommenden
            Regierung versprechen, lesen Sie ebenfalls im Wahl-Special ab Seite 20.

            Über politischen Reformstau, die Rolle der Ärzteschaft und die Zukunft der
            Psychiatrie habe ich mich mit dem Präsidenten der Bundesärztekammer, Klaus
            Reinhardt, unterhalten. Als Hausarzt, ausgebildet in der Psychiatrie, ist er nah
            dran an unserem Fach, und wenn er Wissenschaft und Rationalität als ihre
            wichtigsten Grundpfeiler bezeichnet, so kann ich das nur unterstreichen.

            Von entscheidender Bedeutung für unser ärztliches Handeln sind außerdem die
            medizinethischen Prinzipien: Autonomie, Schadensvermeidung, Fürsorge und
            Gerechtigkeit. Als Präsident der DGPPN möchte ich daran anknüpfen und den
            Themen Selbstbestimmung, Partizipation, assistierte Entscheidungsfindung
            sowie Vermeidung von Zwang einen besonderen Stellenwert einräumen. Dane-
            ben liegt mir aber auch die Zukunft unseres Fachs am Herzen sowie der große
            Themenkomplex der digitalen Transformation, dem wir in diesem Jahr unseren
            „digilogen“ DGPPN Kongress widmen. Mit dem neu formierten Vorstand heißt
            es deshalb: volle Kraft voraus für neue Themen!

            Ihr Thomas Pollmächer – für den Vorstand der DGPPN

            Präsident

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EDITORIAL

        „Wenn ich nicht Hausarzt
        geworden wäre, wäre ich
          mit sehr großer Wahr-
         scheinlichkeit Psychiater
                geworden.“
                       Klaus Reinhardt*

* Der Präsident der Bundes­ärztekammer im Interview ab Seite 24

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Gesundheitspolitik

Informieren, motivieren, impfen
                                                                 eine Einschätzung zur Festlegung der Priorisierung abgab.
                                                                 Es schlug vor, Personengruppen zu priorisieren, die „auf-
                                                                 grund ihres Alters oder vorbelasteten G
                                                                                                       ­ esundheitszustands
                                                                 ein signifikant erhöhtes Risiko für einen schweren oder
                                                                 tödlichen Krankheitsverlauf haben“. Auf Basis der inter-
                                                                 nationalen Evidenzlage brachte die STIKO daraufhin eine
                                                                 entsprechende Impfempfehlung heraus und definierte die
                                                                 entsprechenden Risiko- und Prioritätsgruppen.

                                                                 Neben Menschen mit bestimmten somatischen Begleiter-
                                                                 krankungen wie Diabetes mellitus, COPD oder Herz-Kreis-
                                                                 lauf-Erkrankungen haben auch Menschen mit schweren
                                                                 psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie, bipolare
                                                                 Störung oder schwere Depression einen im Vergleich zur
                                                                 Allgemeinbevölkerung oftmals schwereren COVID-19-­
                                                                 Verlauf. Zudem infizieren sie sich häufiger mit dem Virus.
                                                                 Dieses Risiko erhöht sich in Kombination mit anderen
                                                                 Faktoren, darunter Übergewicht, niedriger sozio-ökonomi-
                                                                 scher Status oder somatische Komorbiditäten. Sie gelten
                                                                 als Risikofaktoren für COVID-19-Infektionen und betreffen
                                                                 Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen eben-
                                                                 falls öfter. Stigmatisierung, Diskriminierung und Unwissen
                                                                 tragen außerdem dazu bei, dass somatische Erkrankungen
                                                                 bei ihnen oft unerkannt bleiben und erst spät behandelt
                                                                 werden. Auch fällt es Betroffenen nicht selten schwerer, die
In Hinblick auf die Vergabe des COVID-19-Impfstoffs              komplexen Kontaktbeschränkungen zu befolgen bzw. um-
haben Menschen mit schweren psychischen Erkran-                  zusetzen. Diese Erkenntnisse sind insbesondere vor dem
kungen als Risikogruppe Vorrang. Sie infizieren sich             Hintergrund, dass Menschen mit schweren psychischen Er-
häufiger und sind öfter von schweren Verläufen be-               krankungen auch ohne Corona eine um zehn Jahre vermin-
troffen. Die DGPPN hat sich bei der Ständigen Impf-              derte Lebenserwartung haben, besorgniserregend.
kommission (STIKO) und dem Gesundheitsministeri-
um (BMG) erfolgreich dafür eingesetzt, dass sie ihren            Mit einem Policy Brief konnte die DGPPN die STIKO Ende
Anspruch auf die Impfung geltend machen können.                  2020 davon überzeugen, Menschen mit schweren psychi-
Nun geht es für die Betroffenen um ausreichend In-               schen Erkrankungen aufgrund ihres erhöhten Hospitali-
formation und den sicheren Zugang zur Impfung.                   sierungs- und Mortalitätsrisikos bei COVID-19 in die finale
                                                                 Impfempfehlung aufzunehmen. In der ersten Version der
Schon Ende 2020 begannen in Deutschland die Impfungen            Coronavirus-Impfverordnung des BMG fand diese Perso-
gegen COVID-19. Alle Menschen, die eine Impfung wün-             nengruppe zwar noch keine Berücksichtigung, aber letzt-
schen, sollen diese auch erhalten. Doch nicht von Anfang         endlich wurden Menschen mit schweren psychischen Er-
an stand ausreichend Impfstoff für alle zur Verfügung. Auf       krankungen in der zweiten Prioritätsgruppe berücksichtigt.
Anfrage des BMG entwickelten STIKO, Nationale Akademie           Die Argumente, mit denen sich die DGPPN an den Bundes-
der Wissenschaften Leopoldina und Deutscher Ethikrat             gesundheitsminister gewandt und sich für Menschen mit
ein gemeinsames Positionspapier, das unter Berücksich-           psychischen Erkrankungen bei der Vergabe des Impfstoffs
tigung medizinischer, ethischer und rechtlicher Aspekte          stark gemacht hatte, konnten überzeugen.

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GESUNDHEITSPOLITIK

Aus Sicht der DGPPN müssen Menschen mit schweren psy-
chischen Erkrankungen aber nicht nur Anspruch auf eine             Ärztlicher
                                                                   ­Pandemierat ist
frühe Impfung erhalten. Sie sind auch auf adäquate Auf-
klärung und Information angewiesen, denn sie nehmen
grundsätzlich Vorsorge-, Diagnostik- und Behandlungsan-

                                                                    gestartet
gebote für somatische Erkrankungen seltener in Anspruch
als nicht psychisch Erkrankte. Es liegt also nahe, dass sich
für diese Personengruppe auch Barrieren bei der Inan-
spruchnahme der COVID-19-Schutzimpfung auftun. Sie zu
beseitigen und dafür Unterstützung anzubieten, sollte Ziel         Ende 2020 hat der ärztliche Pandemierat der Bun-
einer umfassenden Impfstrategie sein.                              desärztekammer seine Arbeit aufgenommen und
                                                                   befasst sich mit prioritären Handlungsfeldern der
Politik, Fach- und Selbsthilfeverbände sind deshalb aufge-         Corona-Bekämpfung. Die Mitglieder kommen aus
rufen, Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen              verschiedenen medizinischen Bereichen.
als wichtige Zielgruppe für Information und Aufklärung
über COVID-19, Schutzmaßnahmen und die Möglichkeit                 Die DGPPN bringt ihre Expertise ebenfalls ein und betont
der Impfung zu erkennen und anzusprechen. Patienten                dabei den besonderen Bedarf von Menschen mit psychi-
sollten in psychiatrischen Kliniken über die Risiken infor-        schen Erkrankungen und die psychosozialen Auswirkun-
miert und zu einer Impfung motiviert werden. Außerdem              gen der Pandemie. Die Bundesärztekammer hat jeweils
sollten Schutzimpfungen direkt vor Ort angeboten werden            einen Vertreter ausgewählter wissenschaftlich-medizini-
können, um die Impfbereitschaft der Betroffenen zu er-             scher Fachgesellschaften und des Öffentlichen Gesundheits-
höhen. Wieder zu Hause ist es deutlich schwieriger, diese          dienstes zu einem ärztlichen Pandemierat eingeladen. Die
Gruppe zu erreichen.                                               ­DGPPN beteiligt sich an diesem fachlichen Austausch zur
                                                                    pandemischen Situation, um Handlungsnotwendigkeiten
Menschen, die aufgrund einer psychischen Erkrankung                 für eine Eindämmung der Corona-Pandemie sowie nach-
zeitweise oder dauerhaft nicht selbstbestimmungsfähig               haltige Präventionsmaßnahmen zu entwickeln.
sind, stellen eine besondere Gruppe dar. Sie sollten eine
Impfung im Rahmen der üblichen rechtlichen Vorgaben                Aktuell definiert eine Arbeitsgruppe Eckpunkte, mit denen
erhalten können. Maßgeblich ist der mutmaßliche oder               eine Balance zwischen notwendigem Gesundheitsschutz
vorausverfügte Wille des Patienten. Stellen Betreuer oder          und einer schrittweisen „Normalisierung“ des gesellschaft-
Bevollmächtigte fest, dass eine Impfung diesem nicht ent-          lichen Lebens hergestellt werden könnte. Die DGPPN be-
gegensteht und auch der Betroffene widerspricht ihr nicht,         tont in diesem Kontext die vielschichtigen Zusammenhän-
kann die Impfung verabreicht werden. Für eine Impfung              ge zwischen Kontaktbeschränkungen, Coronavirus und
gegen den natürlichen Willen (im Sinne einer Zwangsbe-             psychischen Erkrankungen und formuliert daraus resultie-
handlung) des Betreffenden gibt es hingegen keine Rechts-          rende Implikationen für die zukünftige Entwicklung des
grundlage. Sie bleibt aus ethischer Sicht nicht vertretbar.        Gesundheitssystems. Hierbei sind eine stärkere Orientie-
                                                                   rung des Gesundheitswesens am Element der Daseinsvor-
                                                                   sorge, eine intensivere ganzheitliche Betrachtungsweise
   Menschen mit schweren psychischen Erkrankun-                    und neue medizinethische Überlegungen von besonderer
   gen, die sich gegen COVID-19 impfen lassen möchten              Wichtigkeit.
   oder Fragen zur Impfung haben, finden Hilfe und
   Rat bei ihrem behandelnden Arzt. Empfohlen wird
   außerdem, dass Ärzte, Fachpersonal und Angehörige
   Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen
   auf das erhöhte Risiko eines schweren COVID-19-­
   Verlaufs und die Impfmöglichkeit hinweisen.

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GESUNDHEITSPOLITIK

Oberstes Ziel: Suizide vermeiden
Anfang 2020 hatte das Bundesverfassungsgericht                       als Aufgabe des Arztes festgelegt. Voraussetzung für die Be-
(BVerfG) den § 217 StGB zum Verbot der geschäftsmä-                  messung des freien Willens ist für den Arzt die Fähigkeit
ßigen Förderung des Suizids für nichtig erklärt und                  des Betroffenen, seinen Willen unbeeinflusst von einer aku-
dem Gesetzgeber Möglichkeiten für eine Neuregelung                   ten psychischen Störung und in Kenntnis aller relevanten
eingeräumt. Zwei Gesetzentwürfe von Bundestagsab-                    Gesichtspunkte sowie ohne Druck durch Dritte gebildet zu
geordneten liegen nun vor. Die DGPPN stellt erneut                   haben und danach handeln zu können. Von einer ausrei-
klar, dass Menschen bei einem nicht selbstbestimmt                   chenden Dauerhaftigkeit und Festigkeit des Suizidwunschs
gefassten Suizidwunsch vor diesem irreversiblen                      geht der Entwurf aus, wenn mindestens zehn Tage zwischen
Schritt geschützt werden müssen und Suizidassistenz                  der Beratung und der Verschreibung liegen.
keine ärztliche Aufgabe ist.
                                                                     Einen zweiten Gesetzentwurf haben die Grünen-Abgeord-
Das BVerfG betonte in seiner Entscheidung zum einen das              neten Renate Künast und Katja Keul formuliert. Dieser teilt
Recht des Gesetzgebers, Suizidassistenz im vorgegebenen              ­Suizidwillige in zwei Gruppen auf. So sollen Menschen, die
Rahmen des Urteils zu regulieren, aber zum anderen auch               einen Suizid aufgrund einer schweren Erkrankung anstre-
dessen Pflicht, Gefahren entgegenzutreten, die eine Suizid­           ben und sich bereits in medizinischer Behandlung befinden,
entscheidung beeinflussen könnten – es räumte ihm die                 eine Verschreibung für ein todbringendes Mittel von einem
Möglichkeit eines sogenannten „legislativen Schutzkon-                Arzt erhalten, sofern er dazu bereit ist und die Vorausset-
zepts“ ein. Zwei Gruppen von Parlamentariern haben sich              zungen des autonom gebildeten, festen und dauerhaften
bereits zusammengeschlossen und Gesetzentwürfe ver-                  Suizidwunschs erfüllt sieht. Bei geringen Zweifeln daran
fasst, über die der Bundestag bis Redaktionsschluss zwar             ist ein entsprechendes Gutachten einzuholen. Die Beurtei-
noch nicht beraten hat, die in der Öffentlichkeit aber bereits
diskutiert werden.

Ein interfraktioneller Entwurf stammt von den Abgeordne-
ten Katrin Helling-Plahr (FDP), Karl Lauterbach (SPD) und
Petra Sitte (DIE LINKE). Vorgeschlagen wird ein zweistu-
figer Prozess, wonach sich Suizidwillige zunächst an eine
Beratungsstelle wenden müssen, die weitere Informationen
vermittelt. Diese sollen dazu befähigen, das Für und Wider
der Entscheidung realitätsgerecht abzuwägen. An dieser
Stelle macht der Entwurf klar, dass die Beratung „ergeb-
nisoffen“ zu führen ist und „nicht bevormunden“ soll. Daher
können, wenn der Betroffene bereit ist, genauere Angaben
zu seinem Gesundheitszustand zu machen, in der Beratung
Alternativen zum Suizid aufgezeigt werden. Zur Beratung
können auch spezifische Fachkräfte wie Ärzte, Juristen oder
Sozialarbeiter hinzugezogen werden – sofern der Suizidwil-
lige dies wünscht. Nachdem die Beratung in Anspruch ge-
nommen wurde, wird eine Bescheinigung zur Vorlage beim
Arzt ausgestellt. Sollte die Person nicht vom Wunsch nach
einem Suizid abgerückt sein, kann ein todbringendes Mittel
verschrieben werden – vorausgesetzt der Arzt ist dazu be-
reit und der Suizidwunsch ist „vom freien Willen getragen,
dauerhaft und fest“. Dies zu prüfen, ist in diesem Entwurf

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lung muss von einem zweiten Arzt bestätigt werden. Dieser           todbringenden Mittels überprüft werden. Anschließend
Entwurf operationalisiert die Dauerhaftigkeit und Festig-           muss der Suizidwillige einen Antrag auf Erhalt eines tod­
keit des Wunschs ebenfalls anhand einer Frist – in diesem           bringenden Mittels bei einer Behörde stellen. Hier wird die
Falle von 14 Tagen zwischen ärztlicher Bescheinigung und            Schlüssigkeit der Bekundung geprüft und über die Berech-
Verschreibung.                                                      tigung zum Erhalt entschieden. Bei dieser Gruppe ist ins-
                                                                    gesamt keine herausgehobene Rolle für Ärzte vorgesehen,
Die zweite Gruppe betrifft Menschen, die unabhängig                 weder bei der Beratung, noch bei der Beurteilung der Frei-
von einer konkreten medizinischen Notlage einen Suizid-             verantwortlichkeit des Suizidwunschs. Beide Gesetzent-
wunsch haben. Die Betroffenen müssen ihren Wunsch ge-               würfe sehen eine Evaluation der Regelung in regelmäßigen
genüber einer Behörde schriftlich bekunden und schlüssig            Abständen vor.
die Ursachen, die Dauerhaftigkeit, das Freisein von Druck
durch Dritte sowie die Frage, warum Hilfsangebote unge-             Die DGPPN wird sich bei diesem Thema weiterhin aktiv
eignet sind, erläutern. Zudem werden sie verpflichtet, min-         in die Diskussion einbringen. Ihre klare Position: Suizid­
destens zwei Mal im Verlauf von mindestens einem Jahr               assistenz ist keine ärztliche Aufgabe. Vielmehr muss alles
eine Beratungsstelle aufzusuchen. Dort sollen dem Suizid-           dafür getan werden, dass Menschen mit eingeschränkter
willigen Informationen an die Hand gegeben, Alternativen            oder fehlender Selbstbestimmungsfähigkeit vor einem irre-
aufgezeigt sowie die Voraussetzungen für den Erhalt eines           versiblen Schritt wie dem Suizid geschützt werden.

Bessere Bedingungen für
sucht­kranke Straftäter
Angesichts dramatisch steigender Unterbringungs-                    Regelung steht in der Kritik, weil zu viele Patienten zuge-
zahlen in Entziehungsanstalten bei unverändert ho-                  wiesen werden, das Angebot oftmals die falschen Personen
her Abbruchquote besteht weitgehend Einigkeit über                  erreicht, zu viele Ressourcen gebunden werden und die Be-
den Reformbedarf des § 64 StGB. In einem aktuellen                  handlung häufig nicht erfolgreich beendet wird.
Positionspapier macht die DGPPN einen konkreten
Vorschlag für eine Neuregelung, welche die Behand-                  Aus Sicht der DGPPN muss eine Reform der Unterbrin-
lungsbereitschaft und Selbstbestimmungsfähigkeit                    gung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) den medizin­
der Patienten zur Voraussetzung der Unterbringung                   ethischen Prinzipien, insbesondere dem Respekt vor der
macht und damit die dringend notwendige Entlas-                     Autonomie des Patienten und dem Prinzip der Verteilungs-
tung des Maßregelvollzugs intendiert.                               gerechtigkeit, gerecht werden und Rahmenbedingungen
                                                                    herstellen, die ärztliches Handeln im Sinne der ärztlichen
In Deutschland geschieht jedes zweite Körperverletzungs-            Berufsordnung sicherstellen. Die Unterbringung nach § 64
delikt und etwa jedes vierte Sexualdelikt unter Alkohol-            StGB muss auf die Behandlung von Menschen mit klinisch
oder Drogeneinfluss. Unbehandelte Substanzkonsumstö-                relevanten Substanzkonsumstörungen beschränkt werden.
rungen sind ein Risikofaktor für weitere Straftaten. Der § 64
StGB regelt die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt           Die vorgeschlagene Reform soll zu einer Entlastung des
für eben diese Straftäter, die in Folge eines Hangs berau-          Maßregelvollzugs beitragen, in welchem die vorhandenen
schende Substanzen im Übermaß einnehmen. Durch eine                 Ressourcen zielgerichteter und effizienter eingesetzt wer-
erfolgreiche Suchtbehandlung des Untergebrachten soll der           den können und denen zugutekommen, die von einer quali-
Schutz der Allgemeinheit erreicht werden. Die bisherige             fizierten Suchtbehandlung auch wirklich profitieren.

                                                                7
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GESUNDHEITSPOLITIK

Digital, geregelt – aber auch sicher?
Die Digitalisierung des Gesundheitswesens wird seit
einigen Jahren politisch vorangetrieben. Das Bundes-
gesundheitsministerium (BMG) hatte im April 2019
eigens eine neue Ideenfabrik zur Erarbeitung digi-
taler Lösungen ins Leben gerufen. Im sogenannten
Health Innovation Hub soll ein Team von Experten
bis 2025 neue Möglichkeiten digitaler Gesundheits-
lösungen ergründen. Auch im Bereich Psychiatrie
und Psychotherapie findet eine rasante Entwicklung
statt, eng begleitet von der DGPPN.

Mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG)
von 2019 wurden die Krankenkassen verpflichtet, ab 2021
ihren Versicherten eine elektronische Patientenakte (ePA)
zur Verfügung zu stellen. Zudem erhielten Patienten auf
Grundlage des Patientendaten-Schutz-Gesetzes (PDSG) da-
rauf Anspruch, dass ihr Arzt ihre Gesundheitsdaten in die
ePA einträgt.

Ab 2022 sollen Versicherte auch darüber entscheiden kön-
nen, wer außer ihnen Zugriff auf ihre ePA und die dort ge-
speicherten Daten erhält.

Das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) bildet die Rechts-
grundlage für den Anspruch der Versicherten auf die Ver-
sorgung mit digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA),             ­ rprobungsphase von DiGA und DiPA innerhalb der Regel-
                                                                 E
sogenannte „Apps auf Rezept“. Welche sich für die Auf-           versorgung von 12 auf 24 Monate steigt zudem das Risiko
nahme in das zentrale DiGA-Verzeichnis eignen, prüft das         für die Patienten, gegebenenfalls unwirksame oder sogar
Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte              schädliche Anwendungen zu nutzen.
(BfArM). Aktuell sind in diesem Verzeichnis zehn Produkte
gelistet, von denen vier psychische Erkrankungen betref-         Zwei Ansätze des DVPMG sind ferner hervorzuheben: Die
fen. Mit dem DVG wurde außerdem der weitere Ausbau der           Abrechnung von Gruppenpsychotherapien über Video­
Telematik-Infrastruktur (TI), der „Datenautobahn für das         sprechstunden soll zukünftig geregelt und die ­Obergrenze
Gesundheitswesen“, beschlossen. Sie sorgt für die sichere        für ärztliche und psychotherapeutische Leistungen via
Vernetzung aller beteiligten Ärzte, Psychotherapeuten,           ­Videosprechstunde von 20 % auf 30 % im Quartal angeho-
Krankenhäuser, Apotheken und Krankenkassen.                      ben werden. Auch das geplante Instant-Messaging, von den
                                                                 Funktionen ähnlich wie WhatsApp und Co, ist vielverspre-
Der Anfang 2021 von der Bundesregierung vorgestell-              chend. Mit dieser Anwendung sollen sichere Sofortnach-
te ­Gesetzentwurf eines Digitale-Versorgung-und-Pflege-­         richten sowohl unter Beschäftigten im Gesundheitswesen
Modernisierungs-Gesetzes (DVPMG) reiht sich hier nahtlos         als auch zwischen Beschäftigten im Gesundheitswesen und
ein. Zu den DiGA sollen nun auch Digitale Pflegeanwen-           Versicherten bzw. Patienten möglich werden. Auf diesem
dungen (DiPA) hinzukommen. Die Anforderungen an die              Weg könnte die kurzfristige ­Abstimmung „aller patienten-
Evidenz dieser Anwendungen werden von der DGPPN                   und versorgungsbezogenen Belange verbessert werden“, so
kritisch bewertet. Durch die geplante Verlängerung der            der Gesetzentwurf.

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GESUNDHEITSPOLITIK

Zuschuss für Plattform-Modell
Ausreichend Personal ist das A und O einer guten sta-                                                einer Machbarkeitsstudie bereits erfolgreich getestet. Nun
tionären Versorgung. Die DGPPN hat mit zahlreichen                                                   hat der Innovationsfonds beim Gemeinsamen Bundesaus-
Fachverbänden das sogenannte „Plattform-Modell“                                                      schuss beschlossen, ein umfangreiches Forschungsvorha-
entwickelt, das die Bemessung der Personalausstat-                                                   ben zur „Überprüfung der Eignung des Plattform-Modells
tung unmittelbar am Bedarf des Patienten und an den                                                  als Instrument zur Personalbemessung in psychiatrischen
Leitlinien orientiert. Nach einer erfolgreichen Mach-                                                und psychosomatischen Kliniken“ (EPIKK) für drei Jahre
barkeitsstudie wird das Modell nun mit Mitteln des                                                   mit insgesamt etwa zwei Millionen Euro zu fördern. Kon-
Innovationsfonds auf Herz und Nieren geprüft. Erste                                                  kret wird die Reliabilität der Zuordnungen von Patienten zu
Ergebnisse werden für 2023/2024 erwartet.                                                            Behandlungsclustern geprüft, und es werden leitlinienba-
                                                                                                     siert prototypische Behandlungsverläufe zur Abschätzung
Die aktuelle Richtlinie für die Personalausstattung in der                                           des Soll-Personalbedarfs entwickelt. Basierend auf den
Psychiatrie (PPP-RL) wird der Komplexität der stationären                                            Ergebnissen erfolgt die Sollschätzung der Personalausstat-
Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen                                                 tung für alle Berufsgruppen in der Psychiatrie.
nicht gerecht. Aus diesem Grund hat die DGPPN gemeinsam
mit vielen Fachverbänden ein richtungsweisendes Instru-                                              Im Erfolgsfall werden mit dem Projekt Prototypen für die
ment zur Personalbemessung erarbeitet, welches unmittel-                                             Bedarfscluster entwickelt, die eine strukturierte, evidenz-
bar am Bedarf des Patienten und an den Empfehlungen der                                              und expertenbasierte Einschätzung des Personalbedarfs
Leitlinien orientiert ist. Das Modell soll langfristig die Perso-                                    erlauben. Diese kann dann als Grundlage für die Weiterent-
nalbemessung in der Psychiatrie verbessern und wurde in                                              wicklung der PPP-RL genutzt werden.

         Gesundheitspolitik im Wahljahr
                                                                                  In diesem Jahr werden die Weichen neu gestellt. Was folgt nach der
                                                                                  ­Großen Koalition? Wer kommt ins Kanzleramt? Wer wird die Geschicke
                                                                                   im Bundesgesundheitsministerium leiten?
                    Forderungen zur
                    Bundestagswahl                                                Fest steht: Die DGPPN macht sich kontinuierlich auf vielen Ebenen für

         2021
                                                                                  eine optimale Versorgung der Patienten mit psychischen Erkrankungen
                                                                                  stark und setzt sich aktiv für ihre gesellschaftliche Teilhabe und gegen
                                                                                  deren Stigmatisierung ein. Sie entwickelt wissenschaftliche Leitlinien
                                                                                  und engagiert sich in der ­Erforschung psychischer Erkrankungen zur
                                                                                  Weiterentwicklung von D  ­ iagnostik und Therapie. Anlässlich der anste-
                                                                                  henden Bundestags­wahlen geht die Fachgesellschaft in diesem Jahr in
                                                                                  die Offensive und hat konkrete Forderungen an eine zukünftige Bundes-
                       Psychische Gesundheit: Priorität jetzt!
                                                                                  regierung zusammengestellt.

                                                                                  Mehr dazu im Wahl-Special auf Seite 20.
   20201007_Forderungen_BTW.indd 1                               07.10.20 16:49

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Inside DGPPN

       Drei auf einen
          Streich
                Im vergangenen Jahr wurde der neue ­Vorstand aufgrund der
                Coronasituation erstmals per Briefwahl gewählt. Gleich drei
               neue, aber keineswegs unbekannte kluge Köpfe sitzen nun mit
              im Cockpit der DGPPN und bilden mit den 16 anderen Vorstands-
               mitgliedern eins der wichtigsten ­Gremien der Fachgesellschaft.
                V.l.n.r.: Bettina Wilms, Katharina Domschke und Julia-­Maleen
                  Kronsbein, die die neugeschaffene ­Position als ­Vertreterin
                  der jungen Psychiatergeneration bekleidet, stellen sich im
                                      ­Triple-Interview vor.

Shortcuts

Frühaufsteher oder nachtaktiv?   nachtaktiv             Frühaufsteher              Frühaufsteher
Sport oder Sofa?                 Geländewagen           bedarfsgerecht             beides :)
Exotisch oder gutbürgerlich?     beides                 von badisch bis indisch    von jedem etwas
Strand oder Schnee?              Strand                 Schnee                     Strand
Buch oder Film?                  Buch                   Buch                       abwechselnd beides
Schreiben oder Sprechen?         Schreiben              auch Vertreter der spre-   Sprechen
                                                        chenden Medizin können
                                                        schreiben

                                                   10
INSIDE DGPPN

Welchen Berufswunsch hatten                 Würden Sie wieder Psychiaterin            beihilfe, den Herausforderungen der
Sie als Kind?                               werden?                                   Digitalisierung und der Nachwuchsför-
BW: Ich wollte zur Zeitung gehen.           BW: Jederzeit.                            derung.
JMK: Als Kind wollte ich einen Beruf        KD: Jederzeit und mit Begeisterung!       JMK: Ich freue mich darauf, in einem
ergreifen, der etwas mit Pferden zu tun     JMK: Ja, inhaltlich würde ich wieder      Gremium zu sein und damit tatsächlich
hat, weil mir der Umgang mit diesen         Psychiaterin und Psychotherapeutin        etwas zu bewegen. Und ich freue mich
wundervollen Tieren so viel Freude          werden wollen, allerdings würde ich       auf den vielfältigen fachlichen Diskurs
bereitete. Etwas später als Jugendliche     mir dafür verbesserte Weiterbildungs-     mit den unterschiedlichen Perspekti-
wollte ich dann schon Ärztin oder auch      und Arbeitsbedingungen sowie eine         ven auf unser Fachgebiet.
„Erforscherin der menschlichen Seele“       bessere Entlohnung wünschen – all
werden.                                     das, wofür ich mich heute einsetze.       Angenommen, Sie ­haben einen
                                                                                      Wunsch beim Gesund­heits­
Erzählen Sie von Ihrer ersten               Was hat Sie dazu bewogen,                 minister frei …
­Begegnung mit der Psychiatrie              sich ehrenamtlich in der DGPPN            BW: Ihn einen Monat in unserem
 und Psychotherapie                         zu engagieren?                            Team hospitieren zu lassen, davon zwei
 BW: Meine Freundin Agnes, 44 Jahre         BW: Es gab Kollegen, die sehr beharr-     Tage am Wochenende und zweimal bis
 älter als ich, war Tochter eines Psych-    lich daran gearbeitet haben, mich zu      24 Uhr.
 iaters und Chefarztes mit einer alles      überzeugen, das zu wollen – am Ende       KD: Er möge im Interesse unserer Pa-
 andere als einfachen Geschichte in         waren sie erfolgreich.                    tienten mit psychischen Erkrankungen
 Weimarer Republik, Naziregime und          KD: Über die tägliche klinische Arbeit    immer ein offenes Ohr für die Anliegen
 Nachkriegszeit. Sie organisierte eine      mit unseren Patientinnen und Patien-      des DGPPN-Vorstands haben.
 sehr unorthodoxe gemischte Angehöri-       ten und die universitären Aufgaben
 gen- und Betroffenengruppe für Sucht-      in Forschung und Lehre hinaus war es      Welches sind die größten
 kranke in dem kleinen Ort, in dem ich      mir zum jetzigen Zeitpunkt auf mei-       ­Herausforderungen im Gesund­
 aufwuchs. Dort war es üblich „Schnaps      nem Weg in der Psychiatrie und Psy-        heitswesen?
 vertragen zu können“ und Besuch ei-        chotherapie ein großes Anliegen, auch      BW: Die Eingrenzung ökonomischer
 nen „Schluck“ anzubieten und natür-        auf einer übergeordneten, d. h. gesamt-    Anreize und bürokratisch-kontrollie-
 lich einen zweiten, da man „auf einem      gesellschaftlichen, gesundheitspoliti-     render Überbordung hin zu einem Sys-
 Bein ja nicht stehen könne“ … Ich lernte   schen und ethischen Ebene etwas zur        tem, das Bedarf und Bedürfnisse von
 von ihr seit ich etwa 14 Jahre alt war,    Ausgestaltung und Weiterentwicklung        Patienten und ihren Bezugspersonen
 was Stigma insbesondere in engen Ge-       unseres Fachs beizutragen.                 in den Mittelpunkt stellt.
 meinschaften heißt, wie schwer Verän-      JMK: Es ist mir ein besonderes Anlie-      JMK: Ausreichend fachlich qualifizier-
 derung sein kann und was mit Beharr-       gen, über diesen vielgestaltigen und       tes Personal anzuziehen. Dafür muss
 lichkeit zu erreichen ist.                 sehr interessanten und menschlichen        unbedingt etwas an den Arbeitsbedin-
 KD: Meine erste Famulatur am               Beruf aufzuklären und darauf neugie-       gungen, den gesetzlichen Anforderun-
 Max-Planck-Institut für Psychiatrie in     rig zu machen.                             gen, die wenig mit ärztlichem Handeln
 München hat mich nachhaltig positiv                                                   zu tun haben, und der Entlohnung der
 geprägt.                                   Worauf freuen Sie sich im Hin­             im Gesundheitswesen Tätigen verbes-
 JMK: Mein Kontakt mit dem ärztli-          blick auf Ihre neue Aufgabe?               sert werden, um das Interesse für diese
 chen Beruf fand schon sehr früh statt,     BW: Das, was ich kann, einzubringen.       Berufe aufrechtzuerhalten!
 da meine Eltern Ärzte sind, mein Vater     KD: Auf den noch engeren Austausch
 auch Psychiater und Psychoanalytiker       mit Kollegen aus allen Bereichen der      Für welchen Durchbruch in der
 ist. Insofern war mir der Umgang mit       Versorgung psychisch erkrankter Men-      Wissenschaft würden Sie einen
 diesem Berufsbild auch schon früh          schen, mit Betroffenen und deren An-      Nobelpreis für Medizin verleihen?
 vertraut. Leider auch die sonderbaren      gehörigen und auf die gezielte Bearbei-   BW: Entwicklung von Resilienz bei
 Vorstellungen, die Menschen mit die-       tung von drängenden Fragestellungen       früher psychischer Traumatisierung.
 sem Beruf und den darin Arbeitenden        wie z. B. zur Personalbemessung, der      KD: Für die erfolgreiche Prävention
 verbinden.                                 gesetzlichen Neuregelung der Suizid-      bzw. Therapie von Demenzen.

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INSIDE DGPPN

Welche Erkenntnisse hoffen                  nicht offensiv genug vermitteln, wie      Ärztin, aber immer auch im Grenzge-
Sie, in Ihrer ­Forschungsarbeit             faszinierend, beeindruckend und be-       biet zwischen Biologie und Biographie,
zu erreichen?                               rührend dieses Fach ist und nicht ein-    zwischen Körper und Seele, zwischen
BW: Zurzeit befasse ich mich nur noch       deutig genug einladen und ermutigen,      der inneren und äußeren Welt, zwi-
wenig mit Forschung. Mein Interesse         ein Berufsleben als Psychiater anzu-      schen Natur- und Geisteswissenschaft,
gilt dabei der Versorgungsforschung         streben.                                  zwischen Medizin und Soziologie ar-
und der Verbesserung von kontextori-        KD: Womöglich wünschen sich an-           beiten – und damit sicher den ganzheit-
entierten Versorgungskonzepten nach         gehende Ärzte zunächst den Kontakt        lichsten Zugang zu unseren Patienten
dem Prinzip der regionalen Verant-          mit der interventionellen Medizin,        haben und in der Therapie auch leben
wortung.                                    der somatische Fächer auf den ersten      dürfen.
KD: Uns interessiert die Schnittstelle      Blick näherstehen. Allerdings darf die    JMK: Dieses Fachgebiet ist nicht nur
zwischen Biologie und Biographie bei        interventionelle Wirksamkeit des ge-      ein sehr interessantes und umfangrei-
der Entstehung psychischer Erkran-          sprochenen Worts keinesfalls unter-       ches Fachgebiet mit vielerlei Vertie-
kungen. Die epigenetische Forschung         schätzt werden. Außerdem stehen die       fungsgebieten, es besteht ein ex­trem
könnte Mechanismen aufklären, über          psychiatrische Pharmakotherapie, die      hoher Bedarf an psychiatrischem
die Traumata oder negative Lebenser-        EKT, die TMS oder die Ketamin-Appli-      Nachwuchs. Aufgrund unserer gesell-
eignisse im Zusammenspiel mit einer         kation, um nur einige interventionelle    schaftlichen Anforderungen können
biologischen Disposition zu einer psy-      Aspekte unseres Fachs zu nennen, den      wir davon ausgehen, dass dies sich in
chischen Erkrankung führen. Und: Wir        somatischen Disziplinen nicht unbe-       Zukunft eher mehren als vermindern
wollen klären, ob eine Psycho- oder         dingt nach. Ein weiterer Punkt, der an-   wird, es bietet grundsätzlich auch die
Pharmakotherapie diese epigeneti-           gehende Ärzte zunächst nicht in Rich-     Möglichkeiten für eine ausgewogene
schen „Narben“ von Umwelteindrü-            tung Psychiatrie denken lassen könnte,    Lebensgestaltung. Es befasst sich mit
cken wieder heilen bzw. präventive          sind vielleicht auch Berührungsängste     einem Themengebiet, das auch in der
Maßnahmen sie womöglich sogar von           mit psychisch erkrankten Menschen         Weiterentwicklung unserer Gesell-
vornherein verhindern können.               – hier müssen wir sicher noch mehr        schaft eine wichtige Rolle spielt mit
                                            Wert auf die persönliche Begegnung        einem zunehmenden Bewusstsein
Was fasziniert Sie an der                   mit unseren Patienten legen, um Stig-     für unsere seelischen und geistigen
­Erforschung der Psyche?                    matisierung, Vorurteile und Klischees     ­Vorgänge und ihrer Bedeutung für
 BW: Wie es gelingen kann, Resilienz        abzubauen. An dieser Stelle ein großes     das individuelle und gesellschaftliche
 zu aktivieren und zu verbessern.           Kompliment an die DGPPN-Initiative         Leben.
 KD: Ihr sicher in Teilen im Gehirn sub-    „Generation PSY“ für ihr in dieser Hin-
 stantiiertes, aber dennoch weit über die   sicht unschätzbar wichtiges Engage-       Würden Sie Freunden empfehlen,
 Biologie hinausreichendes Wesen.           ment!                                     Ihren Beruf zu ergreifen?
 JMK: Mich fasziniert ungemein die          JMK: Das liegt wahrscheinlich an der      BW: Wenn sie Lust auf Menschen ha-
 Komplexität der Psyche selbst intra-       weiterhin hohen Voreingenommenheit        ben und sich vorstellen können, neu-
 und interpersonell und in Interaktion      in der Allgemeinbevölkerung und Stig-     gierig auf deren Lösungen in Ausnah-
 mit dem Körper sowie ihre Bedeutung        matisierung des Fachgebiets und aller     mesituationen zu bleiben, ja.
 für unsere Lebensgestaltung. Insofern      darin Beteiligten (Psychische Erkran-     JMK: Ich würde es grundsätzlich Men-
 finde ich es extrem spannend, mehr         kungen an sich, Patienten, Ärzte und      schen empfehlen, die sich einerseits
 über diese Gesetzmäßigkeiten und die       medizinisches Fachpersonal).              für seelisch-emotionales Geschehen in-
 interaktionelle Dynamik zu verstehen.                                                teressieren, eine neugierige und unvor-
                                            Warum sollten sich junge Ärzte            eingenommene Haltung der Vielfältig-
Psychiatrie ist für angehende               für die Psychiatrie und Psycho­           keit im psychischen Sein und Erleben
 Ärzte oftmals nicht die ­Wunsch-           therapie entscheiden?                     entgegenbringen, die andererseits auch
disziplin – warum nicht?                    KD: Aus meiner Sicht ist das Fachge-      eine Begabung oder eine Fähigkeit mit-
BW: Ich kann nicht sagen, was ande-         biet der Psychiatrie und Psychothera-     bringen, sich auf diese unterschiedli-
re Menschen bewegt. Ich selbst denke,       pie insofern das spannendste Fach, als    chen Erlebensweisen einzulassen und
dass wir als erfahrene Fachkollegen         wir zwar unabdingbar als Arzt oder        sich einzufühlen.

                                                              12
BIBLIOTHEK

                               Alle Seiten der
                                   Psyche
                  Für alle, die hinschauen, hinterfragen, vorausschauen und nach ­neuen
                     Impulsen suchen: Psyche im Fokus hat ­Empfehlungen zusammen­
                                      gestellt, die alles andere als einseitig sind.

Wie wollen wir leben?                         Gute Nacht!                                 Alle irre?
Wie stark sind Denken, Fühlen und Ver-        Schlaf ist für alle höheren Lebewesen le-   Donald Trump in den USA, Kim Jong Un
halten durch Gene und Biologie be-            bensnotwendig, und die wohl ­wichtigste     in Nordkorea, Jair Bolsonaro in Brasilien,
stimmt? Können Computeralgorithmen            Aufgabe ist es, uns wachzuhalten. Ist       weltweit scheint der Irrsinn zuzunehmen.
das Wesen des Menschen erfassen?              der Schlaf gestört, wirkt sich das auf      Kann man etwas dagegen tun und sind
Glück entsteht nicht im individuellen Ge-     alle Körperfunktionen negativ aus. Ob es    die überhaupt wirklich verrückt? Was vor
hirn, sondern in der sozialen Interaktion.    um Insomnien, schlafbezogene Atmungs­       zehn Jahren noch eher Promis aus der
Und wie wir diese aktiv und bewusst ge-       störungen, Hypersomnien, neurologische      zweiten Reihe betraf, hat es in die Chef-
stalten, wird über unsere Zukunft ent-        oder psychische Erkrankungen geht – von     sessel dieser Welt geschafft. Da war eine
scheiden. Für alle, die sich für die Grund-   den möglichen Ursachen, über Diagnos-       komplette Aktualisierung des Buchs un-
lagen von Hirnforschung, Psychologie und      tik bis zu diversen Behandlungsmöglich-     vermeidlich. Der Irrsinn hat die Macht
Psychiatrie interessieren und sich Gedan-     keiten: Dieses Standardwerk enthält ge-     übernommen, so Manfred Lütz.
ken über das Wesen des Menschen und           bündeltes Wissen.
dessen Zukunft machen.                                                                    Manfred Lütz
                                              Thomas Pollmächer et al. (Hrsg)             Neue Irre. Wir behandeln die Falschen
Gerhard Gründer                               Handbuch Schlafmedizin                      Kösel-Verlag, 2020
Wie wollen wir leben?                         Elsevier Urban & Fischer Verlag, 2020
Springer-Verlag, 2020

                                                                  13
Gesellschaft

MONSTER
 IM KOPF

 DGPPN-
          is
Medienpre
  2020

                    14
GESELLSCHAFT

Ein Mann hat Vergewaltigungsfantasien und fürchtet, zum
Täter zu werden. Seine Therapeutin will ihn davor bewahren.
Björn Stephan, Gewinner des DGPPN-Medienpreises 2020,
hat beide neun Monate lang begleitet.*

Sven Wiemann: Wenn ich Bahn fahre, spazieren gehe oder                  sie, anonym und kostenlos, Männer, die freiwillig aus ganz
im Supermarkt an der Kasse stehe und eine Frau sehe, die                Deutschland zu ihr kommen, sie sind 20 bis 70 Jahre alt,
mir gefällt, dann starre ich sie an. Dann male ich mir aus,             Topmanager oder Bauarbeiter. Es sind Männer, die sich vor
was ich mit ihr anstellen könnte. Das macht mir Angst.                  Frauen selbst befriedigt haben, ohne dass diese das wollten,
Mein Kopf übernimmt die Kontrolle über meinen Körper,                   Männer mit Vergewaltigungsfantasien oder Männer, die be-
und ich denke: Ich schnappe sie mir, egal, ob sie es auch will          reits eine Frau vergewaltigt haben, aber dafür nie verurteilt
oder nicht. Da legt sich in meinem Kopf ein Schalter um.                wurden. Gibbels will versuchen, das nächste Verbrechen zu
                                                                        verhindern, und gleichzeitig will sie ergründen, wie sexu-
Charlotte Gibbels: Viele meiner Patienten reden davon,                  alisierte Gewalt überhaupt entsteht. Im vergangenen Jahr
dass da etwas Dunkles in ihnen ist, ein Dämon oder ein                  wurden der Polizei in Deutschland 9324 Vergewaltigungen,
Monster.                                                                sexuelle Nötigungen oder Übergriffe gemeldet. Doch das ist
                                                                        nur ein kleiner Ausschnitt der Wirklichkeit. […]
Wiemann: Einmal begegnete mir eine Joggerin im Wald.
Sie hatte einen Pferdeschwanz und kam auf mich zugelau-                 Sven Wiemann heißt eigentlich anders, die ZEIT kennt
fen. Da kam sofort ein Gefühl in mir hoch, wie eine Hitze-              seinen richtigen Namen nicht. Er hat dunkles Haar und
wallung. Als würde jemand in mir drin ein Feuer entfachen.              einen dunklen Bart, ist 1,88 Meter groß, 125 Kilo schwer
Sprinte ihr hinterher, dachte ich, zack, krall sie dir und zerre        und besitzt die Selbstsicherheit eines Mannes, der weiß,
sie in den Wald.                                                        dass er den meisten körperlich überlegen ist. Er hat schon
                                                                        vieles versucht in seinem Leben, aber kaum etwas zu Ende
Sven Wiemann sei ihr nicht hinterhergerannt, erzählt er.                gebracht: eine Ausbildung zum Diät-Assistenten, ein Jura-
Weil er wisse, dass man so etwas nicht tue. Er und Charlotte            studium, eine Ausbildung zum Physiotherapeuten. Wenn
­Gibbels sitzen sich in einem kleinen Büro gegenüber, zwi-              er spricht, hört man, dass das nicht seine erste Therapie
 schen ihnen ein Glastisch mit Taschentüchern. Beide sind               ist, er benutzt Wörter wie „Trigger“, aber manchmal auch
 27 Jahre alt. Er ist ein großer und einschüchternd kräftiger           vulgäre, obszöne Ausdrücke. Die sind hier, in Gibbels’ Büro,
 Mann, breite Schultern, breite Brust, der Angst davor hat,             ausdrücklich erlaubt. Es soll ein geschützter Raum sein, aus
 zum Sexualstraftäter zu werden. Sie ist seine Therapeutin              dem gewöhnlich nichts nach außen dringt. Gibbels ist zum
 und soll ihm helfen, zu verhindern, dass er eine Straftat be-          Schweigen verpflichtet. Nur wenn einer ihrer Patienten im
 geht.                                                                  Begriff ist, eine Straftat zu begehen oder sich selbst etwas
                                                                        anzutun, darf sie einschreiten und könnte denjenigen im
„I can change“ nennt sich das Pilotprojekt an der Medizini-             Notfall nach einem richterlichen Beschluss in eine Psychiat-
schen Hochschule Hannover, ein Angebot zur Prävention                   rie einweisen lassen. Bislang ist das noch nie passiert.
von sexualisierter Gewalt. Gibbels, eine kluge, kontrollierte
Frau mit rotblondem Haar, die nie die Fassung zu verlieren              Sven Wiemann suchte Charlotte Gibbels das erste Mal am
scheint, Psychologin und Therapeutin in Ausbildung, hatte               16. Mai 2018 auf. Eine andere Therapeutin hatte ihm das
früher in einem Gefängnis bereits mit Mördern, Serientä-                Projekt empfohlen. Seitdem haben sie sich einmal die Wo-
tern und Vergewaltigern gearbeitet. Das Problem war: Sie                che getroffen. Für jeweils 50 Minuten. Außerhalb der Sit-
kam in gewisser Weise jedes Mal zu spät. Nun behandelt                  zungen konnte der Reporter der ZEIT mit ihnen über die

                                                                   15
GESELLSCHAFT

Therapie sprechen. Über einen Zeitraum von neun Mona-                  war wichtig für mich. Im Laufe der Therapie hat sie immer
ten fanden vier solcher Gespräche statt. Gibbels saß dabei             wieder gesagt, dass sie glaubt, ich würde so etwas nie tun.
stets auf ihrem Platz nahe der Tür, die Beine übereinander-
geschlagen, meist mit unbewegtem Gesichtsausdruck, ihre                Gibbels: Ich könnte keine Therapie machen mit Patienten,
Worte bedächtig wählend. Wiemann hingegen hatte seinen                 wenn ich nicht daran glauben würde, dass es eine Verände-
großen, schweren Körper in den Stuhl gegenüber gefaltet,               rungsbereitschaft gibt. Bei Herrn Wiemann hatte ich von
manchmal schwitzte er vor Aufregung, manchmal raufte er                Anfang an das Gefühl, dass er zugänglich ist, dass ich ihn
sich die Haare, manchmal sagte er: „Ich kann nicht mehr,               greifen kann.
ich brauche eine Pause.“ Es sei bei der zweiten Therapie-
sitzung gewesen, erzählen die beiden, als Wiemann gesagt               Wiemann: Sie hat mir zu Beginn mehr vertraut als ich mir
habe: „Frau Gibbels, ich würde gern mit Ihnen schlafen.“               selbst. Irgendwann aber habe ich gemerkt, die Frau hat
                                                                       recht.
Gibbels: Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, ich hätte
nie Angst. Angst ist wichtig. Aber ich habe auch eine pro-             Gibbels: Das ist ganz typisch. Viele unserer Patienten
fessionelle Identität. Und bei einem Projekt, in dem es um             brauchen eine Weile, um an die Beziehung zu glauben. Sie
Fantasien geht, ist es nicht ungewöhnlich, wenn ein Pati-              können sich nicht vorstellen, dass jemand sie wertschätzt.
ent sein Verlangen auf mich überträgt. Ich laufe dann nicht            Dass man nicht sagt: Sie sind so verrückt! Dass man nicht
schreiend weg oder sitze als zitternder Haufen in der Ecke.            wegrennt, wenn sie ihre Seele öffnen. Dabei heile ich ihn ja
                                                                       nicht, sondern helfe ihm, sich selbst zu heilen. Das ist wie
Wiemann: Ich fand schon bemerkenswert, dass ich es hier                beim Bergsteigen, ich weiß, welche Wege die besten sind,
ausgerechnet mit einer Frau zu tun hatte. Vor allem, weil              aber er muss sie gehen. Die öffentliche Wahrnehmung von
es mir total schwerfällt, mich Frauen unterzuordnen. Aber              Sexualstraftätern ist von vielen Mythen geprägt. Oft wer-
Frau Gibbels hat mich nicht rausgeworfen. Sie hatte keine              den sie als psychisch krank beschrieben, als Triebtäter oder
Angst vor mir.                                                         Monster.

Gibbels: Ich will verstehen, warum sagt er so etwas? Kann              Charlotte Gibbels weiß, dass die Wirklichkeit komplizierter
der Patient sich vielleicht nicht vorstellen, wie er auf andere        ist. Dass es das Ungeheuer, das im Wald aus dem Unterholz
wirkt? Oder fühlt er sich unterlegen und will mir Angst ein-           bricht, so wie es in vielen Filmen oder Büchern beschrie-
flößen, damit er sich stärker fühlt? Deshalb habe ich Herrn            ben wird, nur sehr selten gibt. Dass die sexualisierte Gewalt
Wiemann gefragt: „Was hält Sie davon ab, es zu tun?“                   meistens in Partnerschaften passiert. Dass es oft gar nicht
                                                                       um Sex geht, sondern um Macht oder Dominanz. Sie ver-
Wiemann: Ich habe gesagt, dass ich nicht in den Knast                  sucht, ihren Blick nicht von der Abscheulichkeit der Taten
möchte, dass ich kein Straftäter sein will, und das will ich           trüben zu lassen. Sie sagt: „Ich verurteile die Tat, aber nicht
wirklich nicht.                                                        den Täter.“ Wenn sie vom Verhältnis zu ihren Patienten
                                                                       spricht, redet sie oft von der therapeutischen Allianz. Laut
Gibbels: Ich habe dann einen Stift genommen, und wir ha-               Professor Uwe Hartmann, der das „I can change“-Projekt
ben eine Kurve seiner Erregung auf einen Flipchart gemalt.             ins Leben gerufen hat, ist es diese Allianz, die vor allem
Am Anfang war die Kurve sehr weit oben, aber im Laufe                  zum Erfolg beiträgt. Sie müsse innerhalb der ersten fünf
der Sitzung nahm sie ab. Sie stieg nur dann erneut an, wenn            Stunden aufgebaut werden und sei fünf- bis siebenmal so
Herr Wiemann von den Bildern erzählte, die er im Kopf hat-             wichtig wie angewandte Techniken oder das Therapiemo-
te. Doch am Ende der Sitzung war die Kurve ganz unten.                 dell, schreibt er in einem seiner Bücher. Dafür müsse der
Herr Wiemann konnte so sehen, was seine Erregung beein-                Therapeut seinem Patienten Wärme, Wertschätzung und
flusst und dass sie von allein wieder abnimmt.                         Verständnis entgegenbringen.

Wiemann: Es war ein innerer Kampf, aber Frau Gibbels hat               Gibbels: Es gibt Dinge, die kann ich an jedem Patienten
mir das Gefühl gegeben, dass ich die Erregung kontrollieren            authentisch wertschätzen. Herr Wiemann zum Beispiel ist
kann. Dass ich nicht aufstehe, komplett austicke, sie gegen            sehr wissbegierig und emphatisch. Er ist ein Fan von Game
die Wand drücke und ihr die Klamotten vom Leib reiße. Das              of Thrones und Herr der Ringe. So wie ich.

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GESELLSCHAFT

Am Anfang der Therapie litt Wiemann unter Depressionen                Wiemann: Ich dachte, ich bin nichts wert, ich kann nichts,
und Panikattacken, bei ihm war eine Borderline-Persön-                ich bin nichts. Und auch wenn es doof klingt, aber der Ge-
lichkeitsstörung diagnostiziert worden. Er konsumierte                danke an eine Vergewaltigung hat mir ein Gefühl von Macht
bis zu acht Stunden Pornografie am Tag. Er hatte Tausende             gegeben.
Euro für Spiele auf dem iPad verzockt. Seit einigen Mona-
ten hatte er eine Freundin, seine fünfte Beziehung. Zuvor             Gibbels: Nichts fühlt sich so gut an wie ein Orgasmus, den
hatte er mit rund 30 Frauen geschlafen. Er habe noch nie              Satz können wir alle unterschreiben. Viele meiner Patien-
eine Frau vergewaltigt, sagte er Gibbels. Auch seine Freun-           ten benutzen daher ihre Sexualität, um ihre Emotionen zu
din nicht. Aber er hatte schon brutalen Sex mit Frauen ge-            regulieren und mit Stress umzugehen. Sie belohnen sich
habt, deren Körper danach mit blauen Flecken übersät wa-              durch Masturbation, sie entwickeln Fantasien. Es gibt Pati-
ren. Wiemann sagt, es gab Momente, in denen er gedacht                enten, die sagen, meine sexuellen Fantasien sind das beste
habe: „Wenn du jetzt weitergehst, könnten sie dich wegen              Antidepressivum, das ich je hatte. Aber die Emotionen hö-
Vergewaltigung drankriegen.“ Charlotte Gibbels hörte sich             ren nicht auf, sie werden nicht weniger, wenn du vor ihnen
das alles an, machte sich Notizen. Sie ist eine Frau, die auch        wegrennst. Die Wissenschaft hat verschiedene Theorien
die Stille zwischen zwei Sätzen ertragen kann. Wiemann                aufgestellt, warum Menschen zu Sexualstraftätern werden.
erzählte ihr von seiner Kindheit in einer Doppelhaushälfte            Die Theorien beschäftigen sich mit Auffälligkeiten im Fron-
und von seiner Schwester, zu der er keinen Zugang findet.             tal- und im rechten Schläfenlappen des Gehirns, mit einem
Er erzählte ihr von seinen Eltern, die beide Akademiker und           Überschuss an Sexualhormonen wie Testosteron oder Lut-
beruflich erfolgreich sind. Von ihren Erwartungen, die ihn            ropin, mit Neurotransmittern wie Serotonin. Sie drehen
unter Druck setzen. Davon, dass sie nicht verstünden, wa­             sich um Gewalterfahrungen in der Kindheit oder Vernach-
rum ihm sein Leben so entglitten sei. Manchmal weinte er,             lässigung durch die Eltern. Sie handeln von Misogynie, feh-
manchmal schrie er und war ganz außer sich.                           lendem Empathievermögen, mangelnder Impulskontrolle
                                                                      oder geringem Selbstwertgefühl. Klar ist, dass viele dieser
Er erzählte Gibbels, dass er mit elf Jahren seinen ersten Por-        Faktoren die Wahrscheinlichkeit erhöhen, sexualisierte Ge-
no geschaut hat, dass er mit 13 in der Schule gemobbt wur-            walt zu verüben. Doch sie führen nicht zwangsläufig dazu.
de, dass er sich vorstellte, wie er die Mobber in eine Müll-          Es gibt nicht die eine Erklärung.
presse wirft. Er erzählte ihr, dass er mit 14 das erste Mal
wegen einer Depression behandelt wurde. Dass er mit 16                Das weiß auch Gibbels. Sie behandelt ihre Patienten mit Me-
jeden Tag Pornos schaute, erst auf YouPorn, später auf Porn-          thoden aus der kognitiven Verhaltenstherapie. Das heißt:
Hub. Er erzählte ihr, dass er mit 17 das erste Mal Sex mit            Sie leuchtet die Vergangenheit ihrer Patienten nicht bis in
einem Mädchen hatte und dass er danach rasch eine Fixie-              den letzten Winkel aus, sondern sie will ihnen helfen, wie
rung auf Analsex entwickelte. Dass er mit 19 seine erste Pa-          sie in der Gegenwart mit ihren Gefühlen umgehen können.
nikattacke erlebte, die Depressionen stärker wurden, er Su-           Gibbels kann verstehen, dass das Kritik hervorruft: Wäh-
izidgedanken hatte, dass er noch mehr Pornos schaute und              rend Vergewaltigungsopfer mitunter monatelang auf einen
zu viel trank, dass er oft ausging, viele Frauen kennenlernte,        Therapieplatz warten müssen, bekommen ihre Patienten
ihnen sagte, er sei Produzent von Pornofilmen. Er erzähl-             eine Behandlung, die bis zu zwei Jahre dauern kann, kosten-
te ihr, dass er erotische Gedichte schreibt und am liebsten           los und finanziert vom Land Niedersachsen, das das Projekt
kleine, blonde Frauen mit Pferdeschwanz mag, auch wenn                unterstützt. Aber jede Tat, die sie verhindern kann, ist es
seine Freundin diesem Bild gar nicht entspricht, und dass er          wert, findet sie. […]
irgendwann, er muss Mitte 20 gewesen sein, zum ersten Mal
Vergewaltigungsfantasien entwickelte.                                 *Der gesamte Artikel ist auf ZEIT ONLINE zu finden.

Gibbels: Es ist bei vielen Patienten so, dass sie mit ihren
Emotionen nicht gut umgehen können. Sie wissen nicht,
                                                                      Autor
wohin mit ihrer Wut, ihrer Traurigkeit, ihrer Angst oder
                                                                      Björn Stephan
Scham. Sie denken, sie sind nie genug.                                ist freier Journalist und Autor.
                                                                      Gekürzter Nachdruck aus DIE ZEIT Nr. 41/2019, 2. Oktober 2019
                                                                      Mit freundlicher Genehmigung von DIE ZEIT

                                                                 17
GESELLSCHAFT

        Erste Hilfe für
          die Seele
             Wie kann ich Mitmenschen in einer psychischen Notlage helfen?
        Was kann ich tun, wenn bei meinem Gegenüber eine psychische Krise droht?
         Die passende Reaktion zu zeigen, wenn jemand neben einem verzweifelt
         oder apathisch wirkt, ist für viele nicht einfach. Das richtige Verhalten in
        psychischen Krisen kann seit letztem Jahr am Zentralinstitut für Seelische
                       Gesundheit (ZI) in Mannheim erlernt werden.

Mental Health First Aid heißen die Kurse – kurz MHFA –               psychischen Erkrankung, sondern auch um die wirkungsvol-
und basieren auf einem Non-Profit-Projekt, das im Jahr               le Unterstützung, wenn ein Freund oder Familienmitglied
2000 in Australien entwickelt und bisher erfolgreich in              durch Verlust oder Trennung in tiefe Trauer oder in akute
24 Ländern etabliert wurde. Zahlreiche Studien belegen den           seelische Not gerät. Vergleichbar mit Erste-Hilfe-Kursen für
positiven Nutzen dieser Kurse, die Wissen und Fertigkei-             lebens- und gesundheitsbedrohliche Situationen lernen die
ten vermitteln, um Menschen mit psychischen Problemen                Kursteilnehmer erst einmal alles, was für die Einordnung
kompetent zu helfen. Eine Anschubfinanzierung der Diet-              und das Verständnis einer psychischen Ausnahmesituation
mar-Hopp-Stiftung machte es möglich, das Projekt nach                grundlegend ist. Woran erkennt man eine Depression, eine
Deutschland ans ZI zu holen, derzeit wird es in Partnerschaft        Angststörung, Panikattacke oder Psychose? Was sind Anzei-
mit der Beisheim Stiftung durchgeführt. Die Ersthelfer-Kur-          chen für Sucht oder gar Suizidabsichten?
se für psychische Krisen und Probleme im Alltag werden
derzeit bundesweit etabliert.                                        Bestandteil der Kursinhalte sind Handbücher, Übungshefte
                                                                     und Rollenspiele, die auf den sensiblen Umgang mit Betrof-
Das ZI machte den Anfang und bildet unter Leitung von Mi-            fenen vorbereiten. Sich dem Betroffenen zunächst zuzuwen-
chael Deuschle, Tabea Send und Simona Maltese seit letztem           den und sein Problem zu erkennen, klingt einfacher als es
Jahr Mediziner, Psychologen, Fachpfleger und andere Berufs-          ist. Denn das bedeutet, die eigene emotionale Hürde zu über-
gruppen mit psychologischen Kenntnissen und klinischer               winden und sich seinem Gegenüber vorurteilsfrei zu öffnen.
Erfahrung zu Kursleitern aus. Ersthelfer kann grundsätz-             Zuzuhören und sich auf sein Gegenüber einzulassen, jedoch
lich jeder werden. Oft sind es auch Angehörige oder Men-             ohne zu urteilen und vorschnell Ratschläge zu erteilen, ist
schen, die einen Betroffenen in ihrem engen Umfeld haben.            eine der schwierigsten Übungen. Denn Trauma, Ängste und
Die Grundidee folgt dem Prinzip Train the Trainer und zielt          Sorgen des anderen auszuhalten, ohne sie nach eigenen
darauf ab, Laien zu vermitteln, wie Mitmenschen in psychi-           Maßstäben zu bewerten, erfordert Geduld und Zurückhal-
schen Krisen schnell und sinnvoll geholfen werden kann.              tung. Schließlich werden die Kursteilnehmer auch darin
Dabei geht es nicht nur um Beistand für Menschen mit einer           geschult, den Betroffenen zu ermutigen, sich im Ernstfall

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