PSYCHE IM FOKUS Das Magazin der DGPPN - Politik Es wird gewählt S. 20 Leitlinien Es wird digital S. 40
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PSYCHE IM FOKUS Das Magazin der DGPPN Politik Leitlinien Generation PSY Es wird gewählt → S. 20 Es wird digital → S. 40 Es wird bunt → S. 42 NR. 1 | 2021
Vielfach finden sich im Text männliche personenbezogene Hauptwörter, die für alle Geschlechter gelten sollen (z. B. Patienten). Dies dient der besseren Lesbarkeit und wir bitten freundlich darum, hieran keinen An- stoß zu nehmen. Wir arbeiten derzeit an einer besseren Lösung. 2
Digitale Transformation und psychische Gesundheit INHALT 24.–27.11.2021 digilog Der DGPPN Kongress findet Ende November als hybride Veranstaltung in Berlin statt. 2 → S. 30 EDITORIAL 4 GESUNDHEITSPOLITIK INSIDE DGPPN 10 Drei neue Vorstandsmitglieder BIBLIOTHEK 13 Lesestoff GESELLSCHAFT 14 DGPPN-Medienpreis 2020 GESELLSCHAFT Das Vier-Augen-Gespräch hat per Videotelefonie 18 Erste Hilfe für die Seele stattgefunden. → S. 24 BUNDESTAGSWAHL 20 Was jetzt nötig ist UNTER VIER AUGEN 30 DGPPN KONGRESS 2021 Analog trifft digital 24 Thomas Pollmächer und Klaus Reinhardt im Gespräch 34 WISSENSCHAFT Neue Sucht-Leitlinien 38 WISSENSCHAFT Merk-würdige Studienergebnisse 40 WISSENSCHAFT Leitlinien digital 42 NACHWUCHS Frühling der Gefühle 44 STANDPUNKT Psychotherapie als Grundpfeiler der Psychiatrie 48 IMPRESSUM Die Pandemie bleibt weiter Thema. → S. 4 1
EDITORIAL Liebe Leserinnen und Leser, 20 Gesetze in 20 Monaten, so lautete die Halbzeitbilanz unseres Bundesgesund- heitsministers und in diesem Tempo ging es weiter. Datenschutz, Digitalisierung, ärztliche Suizidbeihilfe, Impfen: Etliche neue Gesetze und Gesetzesvorhaben betreffen unmittelbar die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung. Corona zeigt: Es kommt auf eine vorausschauende Gesundheitspolitik an, die dauerhaft körperliche und seelische Gesundheit fördert. Nicht nur in Krisen- zeiten müssen alle Menschen erreicht werden, die Hilfe benötigen, auch jene, die aus sich heraus nicht in der Lage sind, Angebote in Anspruch zu nehmen. Psychische Gesundheit braucht politische Priorität und zwar gerade jetzt – das ist unsere Forderung fürs Superwahljahr. Was andere sich von der kommenden Regierung versprechen, lesen Sie ebenfalls im Wahl-Special ab Seite 20. Über politischen Reformstau, die Rolle der Ärzteschaft und die Zukunft der Psychiatrie habe ich mich mit dem Präsidenten der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, unterhalten. Als Hausarzt, ausgebildet in der Psychiatrie, ist er nah dran an unserem Fach, und wenn er Wissenschaft und Rationalität als ihre wichtigsten Grundpfeiler bezeichnet, so kann ich das nur unterstreichen. Von entscheidender Bedeutung für unser ärztliches Handeln sind außerdem die medizinethischen Prinzipien: Autonomie, Schadensvermeidung, Fürsorge und Gerechtigkeit. Als Präsident der DGPPN möchte ich daran anknüpfen und den Themen Selbstbestimmung, Partizipation, assistierte Entscheidungsfindung sowie Vermeidung von Zwang einen besonderen Stellenwert einräumen. Dane- ben liegt mir aber auch die Zukunft unseres Fachs am Herzen sowie der große Themenkomplex der digitalen Transformation, dem wir in diesem Jahr unseren „digilogen“ DGPPN Kongress widmen. Mit dem neu formierten Vorstand heißt es deshalb: volle Kraft voraus für neue Themen! Ihr Thomas Pollmächer – für den Vorstand der DGPPN Präsident 2
EDITORIAL „Wenn ich nicht Hausarzt geworden wäre, wäre ich mit sehr großer Wahr- scheinlichkeit Psychiater geworden.“ Klaus Reinhardt* * Der Präsident der Bundesärztekammer im Interview ab Seite 24 3
Gesundheitspolitik Informieren, motivieren, impfen eine Einschätzung zur Festlegung der Priorisierung abgab. Es schlug vor, Personengruppen zu priorisieren, die „auf- grund ihres Alters oder vorbelasteten G esundheitszustands ein signifikant erhöhtes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf haben“. Auf Basis der inter- nationalen Evidenzlage brachte die STIKO daraufhin eine entsprechende Impfempfehlung heraus und definierte die entsprechenden Risiko- und Prioritätsgruppen. Neben Menschen mit bestimmten somatischen Begleiter- krankungen wie Diabetes mellitus, COPD oder Herz-Kreis- lauf-Erkrankungen haben auch Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie, bipolare Störung oder schwere Depression einen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung oftmals schwereren COVID-19- Verlauf. Zudem infizieren sie sich häufiger mit dem Virus. Dieses Risiko erhöht sich in Kombination mit anderen Faktoren, darunter Übergewicht, niedriger sozio-ökonomi- scher Status oder somatische Komorbiditäten. Sie gelten als Risikofaktoren für COVID-19-Infektionen und betreffen Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen eben- falls öfter. Stigmatisierung, Diskriminierung und Unwissen tragen außerdem dazu bei, dass somatische Erkrankungen bei ihnen oft unerkannt bleiben und erst spät behandelt werden. Auch fällt es Betroffenen nicht selten schwerer, die In Hinblick auf die Vergabe des COVID-19-Impfstoffs komplexen Kontaktbeschränkungen zu befolgen bzw. um- haben Menschen mit schweren psychischen Erkran- zusetzen. Diese Erkenntnisse sind insbesondere vor dem kungen als Risikogruppe Vorrang. Sie infizieren sich Hintergrund, dass Menschen mit schweren psychischen Er- häufiger und sind öfter von schweren Verläufen be- krankungen auch ohne Corona eine um zehn Jahre vermin- troffen. Die DGPPN hat sich bei der Ständigen Impf- derte Lebenserwartung haben, besorgniserregend. kommission (STIKO) und dem Gesundheitsministeri- um (BMG) erfolgreich dafür eingesetzt, dass sie ihren Mit einem Policy Brief konnte die DGPPN die STIKO Ende Anspruch auf die Impfung geltend machen können. 2020 davon überzeugen, Menschen mit schweren psychi- Nun geht es für die Betroffenen um ausreichend In- schen Erkrankungen aufgrund ihres erhöhten Hospitali- formation und den sicheren Zugang zur Impfung. sierungs- und Mortalitätsrisikos bei COVID-19 in die finale Impfempfehlung aufzunehmen. In der ersten Version der Schon Ende 2020 begannen in Deutschland die Impfungen Coronavirus-Impfverordnung des BMG fand diese Perso- gegen COVID-19. Alle Menschen, die eine Impfung wün- nengruppe zwar noch keine Berücksichtigung, aber letzt- schen, sollen diese auch erhalten. Doch nicht von Anfang endlich wurden Menschen mit schweren psychischen Er- an stand ausreichend Impfstoff für alle zur Verfügung. Auf krankungen in der zweiten Prioritätsgruppe berücksichtigt. Anfrage des BMG entwickelten STIKO, Nationale Akademie Die Argumente, mit denen sich die DGPPN an den Bundes- der Wissenschaften Leopoldina und Deutscher Ethikrat gesundheitsminister gewandt und sich für Menschen mit ein gemeinsames Positionspapier, das unter Berücksich- psychischen Erkrankungen bei der Vergabe des Impfstoffs tigung medizinischer, ethischer und rechtlicher Aspekte stark gemacht hatte, konnten überzeugen. 4
GESUNDHEITSPOLITIK Aus Sicht der DGPPN müssen Menschen mit schweren psy- chischen Erkrankungen aber nicht nur Anspruch auf eine Ärztlicher Pandemierat ist frühe Impfung erhalten. Sie sind auch auf adäquate Auf- klärung und Information angewiesen, denn sie nehmen grundsätzlich Vorsorge-, Diagnostik- und Behandlungsan- gestartet gebote für somatische Erkrankungen seltener in Anspruch als nicht psychisch Erkrankte. Es liegt also nahe, dass sich für diese Personengruppe auch Barrieren bei der Inan- spruchnahme der COVID-19-Schutzimpfung auftun. Sie zu beseitigen und dafür Unterstützung anzubieten, sollte Ziel Ende 2020 hat der ärztliche Pandemierat der Bun- einer umfassenden Impfstrategie sein. desärztekammer seine Arbeit aufgenommen und befasst sich mit prioritären Handlungsfeldern der Politik, Fach- und Selbsthilfeverbände sind deshalb aufge- Corona-Bekämpfung. Die Mitglieder kommen aus rufen, Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen verschiedenen medizinischen Bereichen. als wichtige Zielgruppe für Information und Aufklärung über COVID-19, Schutzmaßnahmen und die Möglichkeit Die DGPPN bringt ihre Expertise ebenfalls ein und betont der Impfung zu erkennen und anzusprechen. Patienten dabei den besonderen Bedarf von Menschen mit psychi- sollten in psychiatrischen Kliniken über die Risiken infor- schen Erkrankungen und die psychosozialen Auswirkun- miert und zu einer Impfung motiviert werden. Außerdem gen der Pandemie. Die Bundesärztekammer hat jeweils sollten Schutzimpfungen direkt vor Ort angeboten werden einen Vertreter ausgewählter wissenschaftlich-medizini- können, um die Impfbereitschaft der Betroffenen zu er- scher Fachgesellschaften und des Öffentlichen Gesundheits- höhen. Wieder zu Hause ist es deutlich schwieriger, diese dienstes zu einem ärztlichen Pandemierat eingeladen. Die Gruppe zu erreichen. DGPPN beteiligt sich an diesem fachlichen Austausch zur pandemischen Situation, um Handlungsnotwendigkeiten Menschen, die aufgrund einer psychischen Erkrankung für eine Eindämmung der Corona-Pandemie sowie nach- zeitweise oder dauerhaft nicht selbstbestimmungsfähig haltige Präventionsmaßnahmen zu entwickeln. sind, stellen eine besondere Gruppe dar. Sie sollten eine Impfung im Rahmen der üblichen rechtlichen Vorgaben Aktuell definiert eine Arbeitsgruppe Eckpunkte, mit denen erhalten können. Maßgeblich ist der mutmaßliche oder eine Balance zwischen notwendigem Gesundheitsschutz vorausverfügte Wille des Patienten. Stellen Betreuer oder und einer schrittweisen „Normalisierung“ des gesellschaft- Bevollmächtigte fest, dass eine Impfung diesem nicht ent- lichen Lebens hergestellt werden könnte. Die DGPPN be- gegensteht und auch der Betroffene widerspricht ihr nicht, tont in diesem Kontext die vielschichtigen Zusammenhän- kann die Impfung verabreicht werden. Für eine Impfung ge zwischen Kontaktbeschränkungen, Coronavirus und gegen den natürlichen Willen (im Sinne einer Zwangsbe- psychischen Erkrankungen und formuliert daraus resultie- handlung) des Betreffenden gibt es hingegen keine Rechts- rende Implikationen für die zukünftige Entwicklung des grundlage. Sie bleibt aus ethischer Sicht nicht vertretbar. Gesundheitssystems. Hierbei sind eine stärkere Orientie- rung des Gesundheitswesens am Element der Daseinsvor- sorge, eine intensivere ganzheitliche Betrachtungsweise Menschen mit schweren psychischen Erkrankun- und neue medizinethische Überlegungen von besonderer gen, die sich gegen COVID-19 impfen lassen möchten Wichtigkeit. oder Fragen zur Impfung haben, finden Hilfe und Rat bei ihrem behandelnden Arzt. Empfohlen wird außerdem, dass Ärzte, Fachpersonal und Angehörige Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen auf das erhöhte Risiko eines schweren COVID-19- Verlaufs und die Impfmöglichkeit hinweisen. 5
GESUNDHEITSPOLITIK Oberstes Ziel: Suizide vermeiden Anfang 2020 hatte das Bundesverfassungsgericht als Aufgabe des Arztes festgelegt. Voraussetzung für die Be- (BVerfG) den § 217 StGB zum Verbot der geschäftsmä- messung des freien Willens ist für den Arzt die Fähigkeit ßigen Förderung des Suizids für nichtig erklärt und des Betroffenen, seinen Willen unbeeinflusst von einer aku- dem Gesetzgeber Möglichkeiten für eine Neuregelung ten psychischen Störung und in Kenntnis aller relevanten eingeräumt. Zwei Gesetzentwürfe von Bundestagsab- Gesichtspunkte sowie ohne Druck durch Dritte gebildet zu geordneten liegen nun vor. Die DGPPN stellt erneut haben und danach handeln zu können. Von einer ausrei- klar, dass Menschen bei einem nicht selbstbestimmt chenden Dauerhaftigkeit und Festigkeit des Suizidwunschs gefassten Suizidwunsch vor diesem irreversiblen geht der Entwurf aus, wenn mindestens zehn Tage zwischen Schritt geschützt werden müssen und Suizidassistenz der Beratung und der Verschreibung liegen. keine ärztliche Aufgabe ist. Einen zweiten Gesetzentwurf haben die Grünen-Abgeord- Das BVerfG betonte in seiner Entscheidung zum einen das neten Renate Künast und Katja Keul formuliert. Dieser teilt Recht des Gesetzgebers, Suizidassistenz im vorgegebenen Suizidwillige in zwei Gruppen auf. So sollen Menschen, die Rahmen des Urteils zu regulieren, aber zum anderen auch einen Suizid aufgrund einer schweren Erkrankung anstre- dessen Pflicht, Gefahren entgegenzutreten, die eine Suizid ben und sich bereits in medizinischer Behandlung befinden, entscheidung beeinflussen könnten – es räumte ihm die eine Verschreibung für ein todbringendes Mittel von einem Möglichkeit eines sogenannten „legislativen Schutzkon- Arzt erhalten, sofern er dazu bereit ist und die Vorausset- zepts“ ein. Zwei Gruppen von Parlamentariern haben sich zungen des autonom gebildeten, festen und dauerhaften bereits zusammengeschlossen und Gesetzentwürfe ver- Suizidwunschs erfüllt sieht. Bei geringen Zweifeln daran fasst, über die der Bundestag bis Redaktionsschluss zwar ist ein entsprechendes Gutachten einzuholen. Die Beurtei- noch nicht beraten hat, die in der Öffentlichkeit aber bereits diskutiert werden. Ein interfraktioneller Entwurf stammt von den Abgeordne- ten Katrin Helling-Plahr (FDP), Karl Lauterbach (SPD) und Petra Sitte (DIE LINKE). Vorgeschlagen wird ein zweistu- figer Prozess, wonach sich Suizidwillige zunächst an eine Beratungsstelle wenden müssen, die weitere Informationen vermittelt. Diese sollen dazu befähigen, das Für und Wider der Entscheidung realitätsgerecht abzuwägen. An dieser Stelle macht der Entwurf klar, dass die Beratung „ergeb- nisoffen“ zu führen ist und „nicht bevormunden“ soll. Daher können, wenn der Betroffene bereit ist, genauere Angaben zu seinem Gesundheitszustand zu machen, in der Beratung Alternativen zum Suizid aufgezeigt werden. Zur Beratung können auch spezifische Fachkräfte wie Ärzte, Juristen oder Sozialarbeiter hinzugezogen werden – sofern der Suizidwil- lige dies wünscht. Nachdem die Beratung in Anspruch ge- nommen wurde, wird eine Bescheinigung zur Vorlage beim Arzt ausgestellt. Sollte die Person nicht vom Wunsch nach einem Suizid abgerückt sein, kann ein todbringendes Mittel verschrieben werden – vorausgesetzt der Arzt ist dazu be- reit und der Suizidwunsch ist „vom freien Willen getragen, dauerhaft und fest“. Dies zu prüfen, ist in diesem Entwurf 6
GESUNDHEITSPOLITIK lung muss von einem zweiten Arzt bestätigt werden. Dieser todbringenden Mittels überprüft werden. Anschließend Entwurf operationalisiert die Dauerhaftigkeit und Festig- muss der Suizidwillige einen Antrag auf Erhalt eines tod keit des Wunschs ebenfalls anhand einer Frist – in diesem bringenden Mittels bei einer Behörde stellen. Hier wird die Falle von 14 Tagen zwischen ärztlicher Bescheinigung und Schlüssigkeit der Bekundung geprüft und über die Berech- Verschreibung. tigung zum Erhalt entschieden. Bei dieser Gruppe ist ins- gesamt keine herausgehobene Rolle für Ärzte vorgesehen, Die zweite Gruppe betrifft Menschen, die unabhängig weder bei der Beratung, noch bei der Beurteilung der Frei- von einer konkreten medizinischen Notlage einen Suizid- verantwortlichkeit des Suizidwunschs. Beide Gesetzent- wunsch haben. Die Betroffenen müssen ihren Wunsch ge- würfe sehen eine Evaluation der Regelung in regelmäßigen genüber einer Behörde schriftlich bekunden und schlüssig Abständen vor. die Ursachen, die Dauerhaftigkeit, das Freisein von Druck durch Dritte sowie die Frage, warum Hilfsangebote unge- Die DGPPN wird sich bei diesem Thema weiterhin aktiv eignet sind, erläutern. Zudem werden sie verpflichtet, min- in die Diskussion einbringen. Ihre klare Position: Suizid destens zwei Mal im Verlauf von mindestens einem Jahr assistenz ist keine ärztliche Aufgabe. Vielmehr muss alles eine Beratungsstelle aufzusuchen. Dort sollen dem Suizid- dafür getan werden, dass Menschen mit eingeschränkter willigen Informationen an die Hand gegeben, Alternativen oder fehlender Selbstbestimmungsfähigkeit vor einem irre- aufgezeigt sowie die Voraussetzungen für den Erhalt eines versiblen Schritt wie dem Suizid geschützt werden. Bessere Bedingungen für suchtkranke Straftäter Angesichts dramatisch steigender Unterbringungs- Regelung steht in der Kritik, weil zu viele Patienten zuge- zahlen in Entziehungsanstalten bei unverändert ho- wiesen werden, das Angebot oftmals die falschen Personen her Abbruchquote besteht weitgehend Einigkeit über erreicht, zu viele Ressourcen gebunden werden und die Be- den Reformbedarf des § 64 StGB. In einem aktuellen handlung häufig nicht erfolgreich beendet wird. Positionspapier macht die DGPPN einen konkreten Vorschlag für eine Neuregelung, welche die Behand- Aus Sicht der DGPPN muss eine Reform der Unterbrin- lungsbereitschaft und Selbstbestimmungsfähigkeit gung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) den medizin der Patienten zur Voraussetzung der Unterbringung ethischen Prinzipien, insbesondere dem Respekt vor der macht und damit die dringend notwendige Entlas- Autonomie des Patienten und dem Prinzip der Verteilungs- tung des Maßregelvollzugs intendiert. gerechtigkeit, gerecht werden und Rahmenbedingungen herstellen, die ärztliches Handeln im Sinne der ärztlichen In Deutschland geschieht jedes zweite Körperverletzungs- Berufsordnung sicherstellen. Die Unterbringung nach § 64 delikt und etwa jedes vierte Sexualdelikt unter Alkohol- StGB muss auf die Behandlung von Menschen mit klinisch oder Drogeneinfluss. Unbehandelte Substanzkonsumstö- relevanten Substanzkonsumstörungen beschränkt werden. rungen sind ein Risikofaktor für weitere Straftaten. Der § 64 StGB regelt die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt Die vorgeschlagene Reform soll zu einer Entlastung des für eben diese Straftäter, die in Folge eines Hangs berau- Maßregelvollzugs beitragen, in welchem die vorhandenen schende Substanzen im Übermaß einnehmen. Durch eine Ressourcen zielgerichteter und effizienter eingesetzt wer- erfolgreiche Suchtbehandlung des Untergebrachten soll der den können und denen zugutekommen, die von einer quali- Schutz der Allgemeinheit erreicht werden. Die bisherige fizierten Suchtbehandlung auch wirklich profitieren. 7
GESUNDHEITSPOLITIK Digital, geregelt – aber auch sicher? Die Digitalisierung des Gesundheitswesens wird seit einigen Jahren politisch vorangetrieben. Das Bundes- gesundheitsministerium (BMG) hatte im April 2019 eigens eine neue Ideenfabrik zur Erarbeitung digi- taler Lösungen ins Leben gerufen. Im sogenannten Health Innovation Hub soll ein Team von Experten bis 2025 neue Möglichkeiten digitaler Gesundheits- lösungen ergründen. Auch im Bereich Psychiatrie und Psychotherapie findet eine rasante Entwicklung statt, eng begleitet von der DGPPN. Mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) von 2019 wurden die Krankenkassen verpflichtet, ab 2021 ihren Versicherten eine elektronische Patientenakte (ePA) zur Verfügung zu stellen. Zudem erhielten Patienten auf Grundlage des Patientendaten-Schutz-Gesetzes (PDSG) da- rauf Anspruch, dass ihr Arzt ihre Gesundheitsdaten in die ePA einträgt. Ab 2022 sollen Versicherte auch darüber entscheiden kön- nen, wer außer ihnen Zugriff auf ihre ePA und die dort ge- speicherten Daten erhält. Das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) bildet die Rechts- grundlage für den Anspruch der Versicherten auf die Ver- sorgung mit digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA), rprobungsphase von DiGA und DiPA innerhalb der Regel- E sogenannte „Apps auf Rezept“. Welche sich für die Auf- versorgung von 12 auf 24 Monate steigt zudem das Risiko nahme in das zentrale DiGA-Verzeichnis eignen, prüft das für die Patienten, gegebenenfalls unwirksame oder sogar Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte schädliche Anwendungen zu nutzen. (BfArM). Aktuell sind in diesem Verzeichnis zehn Produkte gelistet, von denen vier psychische Erkrankungen betref- Zwei Ansätze des DVPMG sind ferner hervorzuheben: Die fen. Mit dem DVG wurde außerdem der weitere Ausbau der Abrechnung von Gruppenpsychotherapien über Video Telematik-Infrastruktur (TI), der „Datenautobahn für das sprechstunden soll zukünftig geregelt und die Obergrenze Gesundheitswesen“, beschlossen. Sie sorgt für die sichere für ärztliche und psychotherapeutische Leistungen via Vernetzung aller beteiligten Ärzte, Psychotherapeuten, Videosprechstunde von 20 % auf 30 % im Quartal angeho- Krankenhäuser, Apotheken und Krankenkassen. ben werden. Auch das geplante Instant-Messaging, von den Funktionen ähnlich wie WhatsApp und Co, ist vielverspre- Der Anfang 2021 von der Bundesregierung vorgestell- chend. Mit dieser Anwendung sollen sichere Sofortnach- te Gesetzentwurf eines Digitale-Versorgung-und-Pflege- richten sowohl unter Beschäftigten im Gesundheitswesen Modernisierungs-Gesetzes (DVPMG) reiht sich hier nahtlos als auch zwischen Beschäftigten im Gesundheitswesen und ein. Zu den DiGA sollen nun auch Digitale Pflegeanwen- Versicherten bzw. Patienten möglich werden. Auf diesem dungen (DiPA) hinzukommen. Die Anforderungen an die Weg könnte die kurzfristige Abstimmung „aller patienten- Evidenz dieser Anwendungen werden von der DGPPN und versorgungsbezogenen Belange verbessert werden“, so kritisch bewertet. Durch die geplante Verlängerung der der Gesetzentwurf. 8
GESUNDHEITSPOLITIK Zuschuss für Plattform-Modell Ausreichend Personal ist das A und O einer guten sta- einer Machbarkeitsstudie bereits erfolgreich getestet. Nun tionären Versorgung. Die DGPPN hat mit zahlreichen hat der Innovationsfonds beim Gemeinsamen Bundesaus- Fachverbänden das sogenannte „Plattform-Modell“ schuss beschlossen, ein umfangreiches Forschungsvorha- entwickelt, das die Bemessung der Personalausstat- ben zur „Überprüfung der Eignung des Plattform-Modells tung unmittelbar am Bedarf des Patienten und an den als Instrument zur Personalbemessung in psychiatrischen Leitlinien orientiert. Nach einer erfolgreichen Mach- und psychosomatischen Kliniken“ (EPIKK) für drei Jahre barkeitsstudie wird das Modell nun mit Mitteln des mit insgesamt etwa zwei Millionen Euro zu fördern. Kon- Innovationsfonds auf Herz und Nieren geprüft. Erste kret wird die Reliabilität der Zuordnungen von Patienten zu Ergebnisse werden für 2023/2024 erwartet. Behandlungsclustern geprüft, und es werden leitlinienba- siert prototypische Behandlungsverläufe zur Abschätzung Die aktuelle Richtlinie für die Personalausstattung in der des Soll-Personalbedarfs entwickelt. Basierend auf den Psychiatrie (PPP-RL) wird der Komplexität der stationären Ergebnissen erfolgt die Sollschätzung der Personalausstat- Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen tung für alle Berufsgruppen in der Psychiatrie. nicht gerecht. Aus diesem Grund hat die DGPPN gemeinsam mit vielen Fachverbänden ein richtungsweisendes Instru- Im Erfolgsfall werden mit dem Projekt Prototypen für die ment zur Personalbemessung erarbeitet, welches unmittel- Bedarfscluster entwickelt, die eine strukturierte, evidenz- bar am Bedarf des Patienten und an den Empfehlungen der und expertenbasierte Einschätzung des Personalbedarfs Leitlinien orientiert ist. Das Modell soll langfristig die Perso- erlauben. Diese kann dann als Grundlage für die Weiterent- nalbemessung in der Psychiatrie verbessern und wurde in wicklung der PPP-RL genutzt werden. Gesundheitspolitik im Wahljahr In diesem Jahr werden die Weichen neu gestellt. Was folgt nach der Großen Koalition? Wer kommt ins Kanzleramt? Wer wird die Geschicke im Bundesgesundheitsministerium leiten? Forderungen zur Bundestagswahl Fest steht: Die DGPPN macht sich kontinuierlich auf vielen Ebenen für 2021 eine optimale Versorgung der Patienten mit psychischen Erkrankungen stark und setzt sich aktiv für ihre gesellschaftliche Teilhabe und gegen deren Stigmatisierung ein. Sie entwickelt wissenschaftliche Leitlinien und engagiert sich in der Erforschung psychischer Erkrankungen zur Weiterentwicklung von D iagnostik und Therapie. Anlässlich der anste- henden Bundestagswahlen geht die Fachgesellschaft in diesem Jahr in die Offensive und hat konkrete Forderungen an eine zukünftige Bundes- Psychische Gesundheit: Priorität jetzt! regierung zusammengestellt. Mehr dazu im Wahl-Special auf Seite 20. 20201007_Forderungen_BTW.indd 1 07.10.20 16:49 9
Inside DGPPN Drei auf einen Streich Im vergangenen Jahr wurde der neue Vorstand aufgrund der Coronasituation erstmals per Briefwahl gewählt. Gleich drei neue, aber keineswegs unbekannte kluge Köpfe sitzen nun mit im Cockpit der DGPPN und bilden mit den 16 anderen Vorstands- mitgliedern eins der wichtigsten Gremien der Fachgesellschaft. V.l.n.r.: Bettina Wilms, Katharina Domschke und Julia-Maleen Kronsbein, die die neugeschaffene Position als Vertreterin der jungen Psychiatergeneration bekleidet, stellen sich im Triple-Interview vor. Shortcuts Frühaufsteher oder nachtaktiv? nachtaktiv Frühaufsteher Frühaufsteher Sport oder Sofa? Geländewagen bedarfsgerecht beides :) Exotisch oder gutbürgerlich? beides von badisch bis indisch von jedem etwas Strand oder Schnee? Strand Schnee Strand Buch oder Film? Buch Buch abwechselnd beides Schreiben oder Sprechen? Schreiben auch Vertreter der spre- Sprechen chenden Medizin können schreiben 10
INSIDE DGPPN Welchen Berufswunsch hatten Würden Sie wieder Psychiaterin beihilfe, den Herausforderungen der Sie als Kind? werden? Digitalisierung und der Nachwuchsför- BW: Ich wollte zur Zeitung gehen. BW: Jederzeit. derung. JMK: Als Kind wollte ich einen Beruf KD: Jederzeit und mit Begeisterung! JMK: Ich freue mich darauf, in einem ergreifen, der etwas mit Pferden zu tun JMK: Ja, inhaltlich würde ich wieder Gremium zu sein und damit tatsächlich hat, weil mir der Umgang mit diesen Psychiaterin und Psychotherapeutin etwas zu bewegen. Und ich freue mich wundervollen Tieren so viel Freude werden wollen, allerdings würde ich auf den vielfältigen fachlichen Diskurs bereitete. Etwas später als Jugendliche mir dafür verbesserte Weiterbildungs- mit den unterschiedlichen Perspekti- wollte ich dann schon Ärztin oder auch und Arbeitsbedingungen sowie eine ven auf unser Fachgebiet. „Erforscherin der menschlichen Seele“ bessere Entlohnung wünschen – all werden. das, wofür ich mich heute einsetze. Angenommen, Sie haben einen Wunsch beim Gesundheits Erzählen Sie von Ihrer ersten Was hat Sie dazu bewogen, minister frei … Begegnung mit der Psychiatrie sich ehrenamtlich in der DGPPN BW: Ihn einen Monat in unserem und Psychotherapie zu engagieren? Team hospitieren zu lassen, davon zwei BW: Meine Freundin Agnes, 44 Jahre BW: Es gab Kollegen, die sehr beharr- Tage am Wochenende und zweimal bis älter als ich, war Tochter eines Psych- lich daran gearbeitet haben, mich zu 24 Uhr. iaters und Chefarztes mit einer alles überzeugen, das zu wollen – am Ende KD: Er möge im Interesse unserer Pa- andere als einfachen Geschichte in waren sie erfolgreich. tienten mit psychischen Erkrankungen Weimarer Republik, Naziregime und KD: Über die tägliche klinische Arbeit immer ein offenes Ohr für die Anliegen Nachkriegszeit. Sie organisierte eine mit unseren Patientinnen und Patien- des DGPPN-Vorstands haben. sehr unorthodoxe gemischte Angehöri- ten und die universitären Aufgaben gen- und Betroffenengruppe für Sucht- in Forschung und Lehre hinaus war es Welches sind die größten kranke in dem kleinen Ort, in dem ich mir zum jetzigen Zeitpunkt auf mei- Herausforderungen im Gesund aufwuchs. Dort war es üblich „Schnaps nem Weg in der Psychiatrie und Psy- heitswesen? vertragen zu können“ und Besuch ei- chotherapie ein großes Anliegen, auch BW: Die Eingrenzung ökonomischer nen „Schluck“ anzubieten und natür- auf einer übergeordneten, d. h. gesamt- Anreize und bürokratisch-kontrollie- lich einen zweiten, da man „auf einem gesellschaftlichen, gesundheitspoliti- render Überbordung hin zu einem Sys- Bein ja nicht stehen könne“ … Ich lernte schen und ethischen Ebene etwas zur tem, das Bedarf und Bedürfnisse von von ihr seit ich etwa 14 Jahre alt war, Ausgestaltung und Weiterentwicklung Patienten und ihren Bezugspersonen was Stigma insbesondere in engen Ge- unseres Fachs beizutragen. in den Mittelpunkt stellt. meinschaften heißt, wie schwer Verän- JMK: Es ist mir ein besonderes Anlie- JMK: Ausreichend fachlich qualifizier- derung sein kann und was mit Beharr- gen, über diesen vielgestaltigen und tes Personal anzuziehen. Dafür muss lichkeit zu erreichen ist. sehr interessanten und menschlichen unbedingt etwas an den Arbeitsbedin- KD: Meine erste Famulatur am Beruf aufzuklären und darauf neugie- gungen, den gesetzlichen Anforderun- Max-Planck-Institut für Psychiatrie in rig zu machen. gen, die wenig mit ärztlichem Handeln München hat mich nachhaltig positiv zu tun haben, und der Entlohnung der geprägt. Worauf freuen Sie sich im Hin im Gesundheitswesen Tätigen verbes- JMK: Mein Kontakt mit dem ärztli- blick auf Ihre neue Aufgabe? sert werden, um das Interesse für diese chen Beruf fand schon sehr früh statt, BW: Das, was ich kann, einzubringen. Berufe aufrechtzuerhalten! da meine Eltern Ärzte sind, mein Vater KD: Auf den noch engeren Austausch auch Psychiater und Psychoanalytiker mit Kollegen aus allen Bereichen der Für welchen Durchbruch in der ist. Insofern war mir der Umgang mit Versorgung psychisch erkrankter Men- Wissenschaft würden Sie einen diesem Berufsbild auch schon früh schen, mit Betroffenen und deren An- Nobelpreis für Medizin verleihen? vertraut. Leider auch die sonderbaren gehörigen und auf die gezielte Bearbei- BW: Entwicklung von Resilienz bei Vorstellungen, die Menschen mit die- tung von drängenden Fragestellungen früher psychischer Traumatisierung. sem Beruf und den darin Arbeitenden wie z. B. zur Personalbemessung, der KD: Für die erfolgreiche Prävention verbinden. gesetzlichen Neuregelung der Suizid- bzw. Therapie von Demenzen. 11
INSIDE DGPPN Welche Erkenntnisse hoffen nicht offensiv genug vermitteln, wie Ärztin, aber immer auch im Grenzge- Sie, in Ihrer Forschungsarbeit faszinierend, beeindruckend und be- biet zwischen Biologie und Biographie, zu erreichen? rührend dieses Fach ist und nicht ein- zwischen Körper und Seele, zwischen BW: Zurzeit befasse ich mich nur noch deutig genug einladen und ermutigen, der inneren und äußeren Welt, zwi- wenig mit Forschung. Mein Interesse ein Berufsleben als Psychiater anzu- schen Natur- und Geisteswissenschaft, gilt dabei der Versorgungsforschung streben. zwischen Medizin und Soziologie ar- und der Verbesserung von kontextori- KD: Womöglich wünschen sich an- beiten – und damit sicher den ganzheit- entierten Versorgungskonzepten nach gehende Ärzte zunächst den Kontakt lichsten Zugang zu unseren Patienten dem Prinzip der regionalen Verant- mit der interventionellen Medizin, haben und in der Therapie auch leben wortung. der somatische Fächer auf den ersten dürfen. KD: Uns interessiert die Schnittstelle Blick näherstehen. Allerdings darf die JMK: Dieses Fachgebiet ist nicht nur zwischen Biologie und Biographie bei interventionelle Wirksamkeit des ge- ein sehr interessantes und umfangrei- der Entstehung psychischer Erkran- sprochenen Worts keinesfalls unter- ches Fachgebiet mit vielerlei Vertie- kungen. Die epigenetische Forschung schätzt werden. Außerdem stehen die fungsgebieten, es besteht ein extrem könnte Mechanismen aufklären, über psychiatrische Pharmakotherapie, die hoher Bedarf an psychiatrischem die Traumata oder negative Lebenser- EKT, die TMS oder die Ketamin-Appli- Nachwuchs. Aufgrund unserer gesell- eignisse im Zusammenspiel mit einer kation, um nur einige interventionelle schaftlichen Anforderungen können biologischen Disposition zu einer psy- Aspekte unseres Fachs zu nennen, den wir davon ausgehen, dass dies sich in chischen Erkrankung führen. Und: Wir somatischen Disziplinen nicht unbe- Zukunft eher mehren als vermindern wollen klären, ob eine Psycho- oder dingt nach. Ein weiterer Punkt, der an- wird, es bietet grundsätzlich auch die Pharmakotherapie diese epigeneti- gehende Ärzte zunächst nicht in Rich- Möglichkeiten für eine ausgewogene schen „Narben“ von Umwelteindrü- tung Psychiatrie denken lassen könnte, Lebensgestaltung. Es befasst sich mit cken wieder heilen bzw. präventive sind vielleicht auch Berührungsängste einem Themengebiet, das auch in der Maßnahmen sie womöglich sogar von mit psychisch erkrankten Menschen Weiterentwicklung unserer Gesell- vornherein verhindern können. – hier müssen wir sicher noch mehr schaft eine wichtige Rolle spielt mit Wert auf die persönliche Begegnung einem zunehmenden Bewusstsein Was fasziniert Sie an der mit unseren Patienten legen, um Stig- für unsere seelischen und geistigen Erforschung der Psyche? matisierung, Vorurteile und Klischees Vorgänge und ihrer Bedeutung für BW: Wie es gelingen kann, Resilienz abzubauen. An dieser Stelle ein großes das individuelle und gesellschaftliche zu aktivieren und zu verbessern. Kompliment an die DGPPN-Initiative Leben. KD: Ihr sicher in Teilen im Gehirn sub- „Generation PSY“ für ihr in dieser Hin- stantiiertes, aber dennoch weit über die sicht unschätzbar wichtiges Engage- Würden Sie Freunden empfehlen, Biologie hinausreichendes Wesen. ment! Ihren Beruf zu ergreifen? JMK: Mich fasziniert ungemein die JMK: Das liegt wahrscheinlich an der BW: Wenn sie Lust auf Menschen ha- Komplexität der Psyche selbst intra- weiterhin hohen Voreingenommenheit ben und sich vorstellen können, neu- und interpersonell und in Interaktion in der Allgemeinbevölkerung und Stig- gierig auf deren Lösungen in Ausnah- mit dem Körper sowie ihre Bedeutung matisierung des Fachgebiets und aller mesituationen zu bleiben, ja. für unsere Lebensgestaltung. Insofern darin Beteiligten (Psychische Erkran- JMK: Ich würde es grundsätzlich Men- finde ich es extrem spannend, mehr kungen an sich, Patienten, Ärzte und schen empfehlen, die sich einerseits über diese Gesetzmäßigkeiten und die medizinisches Fachpersonal). für seelisch-emotionales Geschehen in- interaktionelle Dynamik zu verstehen. teressieren, eine neugierige und unvor- Warum sollten sich junge Ärzte eingenommene Haltung der Vielfältig- Psychiatrie ist für angehende für die Psychiatrie und Psycho keit im psychischen Sein und Erleben Ärzte oftmals nicht die Wunsch- therapie entscheiden? entgegenbringen, die andererseits auch disziplin – warum nicht? KD: Aus meiner Sicht ist das Fachge- eine Begabung oder eine Fähigkeit mit- BW: Ich kann nicht sagen, was ande- biet der Psychiatrie und Psychothera- bringen, sich auf diese unterschiedli- re Menschen bewegt. Ich selbst denke, pie insofern das spannendste Fach, als chen Erlebensweisen einzulassen und dass wir als erfahrene Fachkollegen wir zwar unabdingbar als Arzt oder sich einzufühlen. 12
BIBLIOTHEK Alle Seiten der Psyche Für alle, die hinschauen, hinterfragen, vorausschauen und nach neuen Impulsen suchen: Psyche im Fokus hat Empfehlungen zusammen gestellt, die alles andere als einseitig sind. Wie wollen wir leben? Gute Nacht! Alle irre? Wie stark sind Denken, Fühlen und Ver- Schlaf ist für alle höheren Lebewesen le- Donald Trump in den USA, Kim Jong Un halten durch Gene und Biologie be- bensnotwendig, und die wohl wichtigste in Nordkorea, Jair Bolsonaro in Brasilien, stimmt? Können Computeralgorithmen Aufgabe ist es, uns wachzuhalten. Ist weltweit scheint der Irrsinn zuzunehmen. das Wesen des Menschen erfassen? der Schlaf gestört, wirkt sich das auf Kann man etwas dagegen tun und sind Glück entsteht nicht im individuellen Ge- alle Körperfunktionen negativ aus. Ob es die überhaupt wirklich verrückt? Was vor hirn, sondern in der sozialen Interaktion. um Insomnien, schlafbezogene Atmungs zehn Jahren noch eher Promis aus der Und wie wir diese aktiv und bewusst ge- störungen, Hypersomnien, neurologische zweiten Reihe betraf, hat es in die Chef- stalten, wird über unsere Zukunft ent- oder psychische Erkrankungen geht – von sessel dieser Welt geschafft. Da war eine scheiden. Für alle, die sich für die Grund- den möglichen Ursachen, über Diagnos- komplette Aktualisierung des Buchs un- lagen von Hirnforschung, Psychologie und tik bis zu diversen Behandlungsmöglich- vermeidlich. Der Irrsinn hat die Macht Psychiatrie interessieren und sich Gedan- keiten: Dieses Standardwerk enthält ge- übernommen, so Manfred Lütz. ken über das Wesen des Menschen und bündeltes Wissen. dessen Zukunft machen. Manfred Lütz Thomas Pollmächer et al. (Hrsg) Neue Irre. Wir behandeln die Falschen Gerhard Gründer Handbuch Schlafmedizin Kösel-Verlag, 2020 Wie wollen wir leben? Elsevier Urban & Fischer Verlag, 2020 Springer-Verlag, 2020 13
Gesellschaft MONSTER IM KOPF DGPPN- is Medienpre 2020 14
GESELLSCHAFT Ein Mann hat Vergewaltigungsfantasien und fürchtet, zum Täter zu werden. Seine Therapeutin will ihn davor bewahren. Björn Stephan, Gewinner des DGPPN-Medienpreises 2020, hat beide neun Monate lang begleitet.* Sven Wiemann: Wenn ich Bahn fahre, spazieren gehe oder sie, anonym und kostenlos, Männer, die freiwillig aus ganz im Supermarkt an der Kasse stehe und eine Frau sehe, die Deutschland zu ihr kommen, sie sind 20 bis 70 Jahre alt, mir gefällt, dann starre ich sie an. Dann male ich mir aus, Topmanager oder Bauarbeiter. Es sind Männer, die sich vor was ich mit ihr anstellen könnte. Das macht mir Angst. Frauen selbst befriedigt haben, ohne dass diese das wollten, Mein Kopf übernimmt die Kontrolle über meinen Körper, Männer mit Vergewaltigungsfantasien oder Männer, die be- und ich denke: Ich schnappe sie mir, egal, ob sie es auch will reits eine Frau vergewaltigt haben, aber dafür nie verurteilt oder nicht. Da legt sich in meinem Kopf ein Schalter um. wurden. Gibbels will versuchen, das nächste Verbrechen zu verhindern, und gleichzeitig will sie ergründen, wie sexu- Charlotte Gibbels: Viele meiner Patienten reden davon, alisierte Gewalt überhaupt entsteht. Im vergangenen Jahr dass da etwas Dunkles in ihnen ist, ein Dämon oder ein wurden der Polizei in Deutschland 9324 Vergewaltigungen, Monster. sexuelle Nötigungen oder Übergriffe gemeldet. Doch das ist nur ein kleiner Ausschnitt der Wirklichkeit. […] Wiemann: Einmal begegnete mir eine Joggerin im Wald. Sie hatte einen Pferdeschwanz und kam auf mich zugelau- Sven Wiemann heißt eigentlich anders, die ZEIT kennt fen. Da kam sofort ein Gefühl in mir hoch, wie eine Hitze- seinen richtigen Namen nicht. Er hat dunkles Haar und wallung. Als würde jemand in mir drin ein Feuer entfachen. einen dunklen Bart, ist 1,88 Meter groß, 125 Kilo schwer Sprinte ihr hinterher, dachte ich, zack, krall sie dir und zerre und besitzt die Selbstsicherheit eines Mannes, der weiß, sie in den Wald. dass er den meisten körperlich überlegen ist. Er hat schon vieles versucht in seinem Leben, aber kaum etwas zu Ende Sven Wiemann sei ihr nicht hinterhergerannt, erzählt er. gebracht: eine Ausbildung zum Diät-Assistenten, ein Jura- Weil er wisse, dass man so etwas nicht tue. Er und Charlotte studium, eine Ausbildung zum Physiotherapeuten. Wenn Gibbels sitzen sich in einem kleinen Büro gegenüber, zwi- er spricht, hört man, dass das nicht seine erste Therapie schen ihnen ein Glastisch mit Taschentüchern. Beide sind ist, er benutzt Wörter wie „Trigger“, aber manchmal auch 27 Jahre alt. Er ist ein großer und einschüchternd kräftiger vulgäre, obszöne Ausdrücke. Die sind hier, in Gibbels’ Büro, Mann, breite Schultern, breite Brust, der Angst davor hat, ausdrücklich erlaubt. Es soll ein geschützter Raum sein, aus zum Sexualstraftäter zu werden. Sie ist seine Therapeutin dem gewöhnlich nichts nach außen dringt. Gibbels ist zum und soll ihm helfen, zu verhindern, dass er eine Straftat be- Schweigen verpflichtet. Nur wenn einer ihrer Patienten im geht. Begriff ist, eine Straftat zu begehen oder sich selbst etwas anzutun, darf sie einschreiten und könnte denjenigen im „I can change“ nennt sich das Pilotprojekt an der Medizini- Notfall nach einem richterlichen Beschluss in eine Psychiat- schen Hochschule Hannover, ein Angebot zur Prävention rie einweisen lassen. Bislang ist das noch nie passiert. von sexualisierter Gewalt. Gibbels, eine kluge, kontrollierte Frau mit rotblondem Haar, die nie die Fassung zu verlieren Sven Wiemann suchte Charlotte Gibbels das erste Mal am scheint, Psychologin und Therapeutin in Ausbildung, hatte 16. Mai 2018 auf. Eine andere Therapeutin hatte ihm das früher in einem Gefängnis bereits mit Mördern, Serientä- Projekt empfohlen. Seitdem haben sie sich einmal die Wo- tern und Vergewaltigern gearbeitet. Das Problem war: Sie che getroffen. Für jeweils 50 Minuten. Außerhalb der Sit- kam in gewisser Weise jedes Mal zu spät. Nun behandelt zungen konnte der Reporter der ZEIT mit ihnen über die 15
GESELLSCHAFT Therapie sprechen. Über einen Zeitraum von neun Mona- war wichtig für mich. Im Laufe der Therapie hat sie immer ten fanden vier solcher Gespräche statt. Gibbels saß dabei wieder gesagt, dass sie glaubt, ich würde so etwas nie tun. stets auf ihrem Platz nahe der Tür, die Beine übereinander- geschlagen, meist mit unbewegtem Gesichtsausdruck, ihre Gibbels: Ich könnte keine Therapie machen mit Patienten, Worte bedächtig wählend. Wiemann hingegen hatte seinen wenn ich nicht daran glauben würde, dass es eine Verände- großen, schweren Körper in den Stuhl gegenüber gefaltet, rungsbereitschaft gibt. Bei Herrn Wiemann hatte ich von manchmal schwitzte er vor Aufregung, manchmal raufte er Anfang an das Gefühl, dass er zugänglich ist, dass ich ihn sich die Haare, manchmal sagte er: „Ich kann nicht mehr, greifen kann. ich brauche eine Pause.“ Es sei bei der zweiten Therapie- sitzung gewesen, erzählen die beiden, als Wiemann gesagt Wiemann: Sie hat mir zu Beginn mehr vertraut als ich mir habe: „Frau Gibbels, ich würde gern mit Ihnen schlafen.“ selbst. Irgendwann aber habe ich gemerkt, die Frau hat recht. Gibbels: Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, ich hätte nie Angst. Angst ist wichtig. Aber ich habe auch eine pro- Gibbels: Das ist ganz typisch. Viele unserer Patienten fessionelle Identität. Und bei einem Projekt, in dem es um brauchen eine Weile, um an die Beziehung zu glauben. Sie Fantasien geht, ist es nicht ungewöhnlich, wenn ein Pati- können sich nicht vorstellen, dass jemand sie wertschätzt. ent sein Verlangen auf mich überträgt. Ich laufe dann nicht Dass man nicht sagt: Sie sind so verrückt! Dass man nicht schreiend weg oder sitze als zitternder Haufen in der Ecke. wegrennt, wenn sie ihre Seele öffnen. Dabei heile ich ihn ja nicht, sondern helfe ihm, sich selbst zu heilen. Das ist wie Wiemann: Ich fand schon bemerkenswert, dass ich es hier beim Bergsteigen, ich weiß, welche Wege die besten sind, ausgerechnet mit einer Frau zu tun hatte. Vor allem, weil aber er muss sie gehen. Die öffentliche Wahrnehmung von es mir total schwerfällt, mich Frauen unterzuordnen. Aber Sexualstraftätern ist von vielen Mythen geprägt. Oft wer- Frau Gibbels hat mich nicht rausgeworfen. Sie hatte keine den sie als psychisch krank beschrieben, als Triebtäter oder Angst vor mir. Monster. Gibbels: Ich will verstehen, warum sagt er so etwas? Kann Charlotte Gibbels weiß, dass die Wirklichkeit komplizierter der Patient sich vielleicht nicht vorstellen, wie er auf andere ist. Dass es das Ungeheuer, das im Wald aus dem Unterholz wirkt? Oder fühlt er sich unterlegen und will mir Angst ein- bricht, so wie es in vielen Filmen oder Büchern beschrie- flößen, damit er sich stärker fühlt? Deshalb habe ich Herrn ben wird, nur sehr selten gibt. Dass die sexualisierte Gewalt Wiemann gefragt: „Was hält Sie davon ab, es zu tun?“ meistens in Partnerschaften passiert. Dass es oft gar nicht um Sex geht, sondern um Macht oder Dominanz. Sie ver- Wiemann: Ich habe gesagt, dass ich nicht in den Knast sucht, ihren Blick nicht von der Abscheulichkeit der Taten möchte, dass ich kein Straftäter sein will, und das will ich trüben zu lassen. Sie sagt: „Ich verurteile die Tat, aber nicht wirklich nicht. den Täter.“ Wenn sie vom Verhältnis zu ihren Patienten spricht, redet sie oft von der therapeutischen Allianz. Laut Gibbels: Ich habe dann einen Stift genommen, und wir ha- Professor Uwe Hartmann, der das „I can change“-Projekt ben eine Kurve seiner Erregung auf einen Flipchart gemalt. ins Leben gerufen hat, ist es diese Allianz, die vor allem Am Anfang war die Kurve sehr weit oben, aber im Laufe zum Erfolg beiträgt. Sie müsse innerhalb der ersten fünf der Sitzung nahm sie ab. Sie stieg nur dann erneut an, wenn Stunden aufgebaut werden und sei fünf- bis siebenmal so Herr Wiemann von den Bildern erzählte, die er im Kopf hat- wichtig wie angewandte Techniken oder das Therapiemo- te. Doch am Ende der Sitzung war die Kurve ganz unten. dell, schreibt er in einem seiner Bücher. Dafür müsse der Herr Wiemann konnte so sehen, was seine Erregung beein- Therapeut seinem Patienten Wärme, Wertschätzung und flusst und dass sie von allein wieder abnimmt. Verständnis entgegenbringen. Wiemann: Es war ein innerer Kampf, aber Frau Gibbels hat Gibbels: Es gibt Dinge, die kann ich an jedem Patienten mir das Gefühl gegeben, dass ich die Erregung kontrollieren authentisch wertschätzen. Herr Wiemann zum Beispiel ist kann. Dass ich nicht aufstehe, komplett austicke, sie gegen sehr wissbegierig und emphatisch. Er ist ein Fan von Game die Wand drücke und ihr die Klamotten vom Leib reiße. Das of Thrones und Herr der Ringe. So wie ich. 16
GESELLSCHAFT Am Anfang der Therapie litt Wiemann unter Depressionen Wiemann: Ich dachte, ich bin nichts wert, ich kann nichts, und Panikattacken, bei ihm war eine Borderline-Persön- ich bin nichts. Und auch wenn es doof klingt, aber der Ge- lichkeitsstörung diagnostiziert worden. Er konsumierte danke an eine Vergewaltigung hat mir ein Gefühl von Macht bis zu acht Stunden Pornografie am Tag. Er hatte Tausende gegeben. Euro für Spiele auf dem iPad verzockt. Seit einigen Mona- ten hatte er eine Freundin, seine fünfte Beziehung. Zuvor Gibbels: Nichts fühlt sich so gut an wie ein Orgasmus, den hatte er mit rund 30 Frauen geschlafen. Er habe noch nie Satz können wir alle unterschreiben. Viele meiner Patien- eine Frau vergewaltigt, sagte er Gibbels. Auch seine Freun- ten benutzen daher ihre Sexualität, um ihre Emotionen zu din nicht. Aber er hatte schon brutalen Sex mit Frauen ge- regulieren und mit Stress umzugehen. Sie belohnen sich habt, deren Körper danach mit blauen Flecken übersät wa- durch Masturbation, sie entwickeln Fantasien. Es gibt Pati- ren. Wiemann sagt, es gab Momente, in denen er gedacht enten, die sagen, meine sexuellen Fantasien sind das beste habe: „Wenn du jetzt weitergehst, könnten sie dich wegen Antidepressivum, das ich je hatte. Aber die Emotionen hö- Vergewaltigung drankriegen.“ Charlotte Gibbels hörte sich ren nicht auf, sie werden nicht weniger, wenn du vor ihnen das alles an, machte sich Notizen. Sie ist eine Frau, die auch wegrennst. Die Wissenschaft hat verschiedene Theorien die Stille zwischen zwei Sätzen ertragen kann. Wiemann aufgestellt, warum Menschen zu Sexualstraftätern werden. erzählte ihr von seiner Kindheit in einer Doppelhaushälfte Die Theorien beschäftigen sich mit Auffälligkeiten im Fron- und von seiner Schwester, zu der er keinen Zugang findet. tal- und im rechten Schläfenlappen des Gehirns, mit einem Er erzählte ihr von seinen Eltern, die beide Akademiker und Überschuss an Sexualhormonen wie Testosteron oder Lut- beruflich erfolgreich sind. Von ihren Erwartungen, die ihn ropin, mit Neurotransmittern wie Serotonin. Sie drehen unter Druck setzen. Davon, dass sie nicht verstünden, wa sich um Gewalterfahrungen in der Kindheit oder Vernach- rum ihm sein Leben so entglitten sei. Manchmal weinte er, lässigung durch die Eltern. Sie handeln von Misogynie, feh- manchmal schrie er und war ganz außer sich. lendem Empathievermögen, mangelnder Impulskontrolle oder geringem Selbstwertgefühl. Klar ist, dass viele dieser Er erzählte Gibbels, dass er mit elf Jahren seinen ersten Por- Faktoren die Wahrscheinlichkeit erhöhen, sexualisierte Ge- no geschaut hat, dass er mit 13 in der Schule gemobbt wur- walt zu verüben. Doch sie führen nicht zwangsläufig dazu. de, dass er sich vorstellte, wie er die Mobber in eine Müll- Es gibt nicht die eine Erklärung. presse wirft. Er erzählte ihr, dass er mit 14 das erste Mal wegen einer Depression behandelt wurde. Dass er mit 16 Das weiß auch Gibbels. Sie behandelt ihre Patienten mit Me- jeden Tag Pornos schaute, erst auf YouPorn, später auf Porn- thoden aus der kognitiven Verhaltenstherapie. Das heißt: Hub. Er erzählte ihr, dass er mit 17 das erste Mal Sex mit Sie leuchtet die Vergangenheit ihrer Patienten nicht bis in einem Mädchen hatte und dass er danach rasch eine Fixie- den letzten Winkel aus, sondern sie will ihnen helfen, wie rung auf Analsex entwickelte. Dass er mit 19 seine erste Pa- sie in der Gegenwart mit ihren Gefühlen umgehen können. nikattacke erlebte, die Depressionen stärker wurden, er Su- Gibbels kann verstehen, dass das Kritik hervorruft: Wäh- izidgedanken hatte, dass er noch mehr Pornos schaute und rend Vergewaltigungsopfer mitunter monatelang auf einen zu viel trank, dass er oft ausging, viele Frauen kennenlernte, Therapieplatz warten müssen, bekommen ihre Patienten ihnen sagte, er sei Produzent von Pornofilmen. Er erzähl- eine Behandlung, die bis zu zwei Jahre dauern kann, kosten- te ihr, dass er erotische Gedichte schreibt und am liebsten los und finanziert vom Land Niedersachsen, das das Projekt kleine, blonde Frauen mit Pferdeschwanz mag, auch wenn unterstützt. Aber jede Tat, die sie verhindern kann, ist es seine Freundin diesem Bild gar nicht entspricht, und dass er wert, findet sie. […] irgendwann, er muss Mitte 20 gewesen sein, zum ersten Mal Vergewaltigungsfantasien entwickelte. *Der gesamte Artikel ist auf ZEIT ONLINE zu finden. Gibbels: Es ist bei vielen Patienten so, dass sie mit ihren Emotionen nicht gut umgehen können. Sie wissen nicht, Autor wohin mit ihrer Wut, ihrer Traurigkeit, ihrer Angst oder Björn Stephan Scham. Sie denken, sie sind nie genug. ist freier Journalist und Autor. Gekürzter Nachdruck aus DIE ZEIT Nr. 41/2019, 2. Oktober 2019 Mit freundlicher Genehmigung von DIE ZEIT 17
GESELLSCHAFT Erste Hilfe für die Seele Wie kann ich Mitmenschen in einer psychischen Notlage helfen? Was kann ich tun, wenn bei meinem Gegenüber eine psychische Krise droht? Die passende Reaktion zu zeigen, wenn jemand neben einem verzweifelt oder apathisch wirkt, ist für viele nicht einfach. Das richtige Verhalten in psychischen Krisen kann seit letztem Jahr am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim erlernt werden. Mental Health First Aid heißen die Kurse – kurz MHFA – psychischen Erkrankung, sondern auch um die wirkungsvol- und basieren auf einem Non-Profit-Projekt, das im Jahr le Unterstützung, wenn ein Freund oder Familienmitglied 2000 in Australien entwickelt und bisher erfolgreich in durch Verlust oder Trennung in tiefe Trauer oder in akute 24 Ländern etabliert wurde. Zahlreiche Studien belegen den seelische Not gerät. Vergleichbar mit Erste-Hilfe-Kursen für positiven Nutzen dieser Kurse, die Wissen und Fertigkei- lebens- und gesundheitsbedrohliche Situationen lernen die ten vermitteln, um Menschen mit psychischen Problemen Kursteilnehmer erst einmal alles, was für die Einordnung kompetent zu helfen. Eine Anschubfinanzierung der Diet- und das Verständnis einer psychischen Ausnahmesituation mar-Hopp-Stiftung machte es möglich, das Projekt nach grundlegend ist. Woran erkennt man eine Depression, eine Deutschland ans ZI zu holen, derzeit wird es in Partnerschaft Angststörung, Panikattacke oder Psychose? Was sind Anzei- mit der Beisheim Stiftung durchgeführt. Die Ersthelfer-Kur- chen für Sucht oder gar Suizidabsichten? se für psychische Krisen und Probleme im Alltag werden derzeit bundesweit etabliert. Bestandteil der Kursinhalte sind Handbücher, Übungshefte und Rollenspiele, die auf den sensiblen Umgang mit Betrof- Das ZI machte den Anfang und bildet unter Leitung von Mi- fenen vorbereiten. Sich dem Betroffenen zunächst zuzuwen- chael Deuschle, Tabea Send und Simona Maltese seit letztem den und sein Problem zu erkennen, klingt einfacher als es Jahr Mediziner, Psychologen, Fachpfleger und andere Berufs- ist. Denn das bedeutet, die eigene emotionale Hürde zu über- gruppen mit psychologischen Kenntnissen und klinischer winden und sich seinem Gegenüber vorurteilsfrei zu öffnen. Erfahrung zu Kursleitern aus. Ersthelfer kann grundsätz- Zuzuhören und sich auf sein Gegenüber einzulassen, jedoch lich jeder werden. Oft sind es auch Angehörige oder Men- ohne zu urteilen und vorschnell Ratschläge zu erteilen, ist schen, die einen Betroffenen in ihrem engen Umfeld haben. eine der schwierigsten Übungen. Denn Trauma, Ängste und Die Grundidee folgt dem Prinzip Train the Trainer und zielt Sorgen des anderen auszuhalten, ohne sie nach eigenen darauf ab, Laien zu vermitteln, wie Mitmenschen in psychi- Maßstäben zu bewerten, erfordert Geduld und Zurückhal- schen Krisen schnell und sinnvoll geholfen werden kann. tung. Schließlich werden die Kursteilnehmer auch darin Dabei geht es nicht nur um Beistand für Menschen mit einer geschult, den Betroffenen zu ermutigen, sich im Ernstfall 18
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