3 Evangelische Akademie Bad Boll

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3 Evangelische Akademie Bad Boll
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September 2016
                                          3

                 Der Dialog zwischen Christen und Muslimen muss auf allen Ebenen
                 stattfinden. Jugendliche Dschihadisten in Deutschland ● Ein Koran,
                 der zum Kontext hier passt ● Grundlagen für einen Dialog von Christen
                 und Muslimen ● Gut gemeint? Partnerschaftsarbeit ist mehr
3 Evangelische Akademie Bad Boll
Editorial

		                       Liebe Leserin, lieber Leser,

eine betagte Frau aus Isny erzählte mir einmal, dass ihr als       Es gibt auch positive Entwicklungen. Dazu zählen die Isla-
junger Katholikin verboten worden war, einen Hausratswa-           mischen Theologischen Zentren in Deutschland, die musli-
renladen zu betreten, der einem Protestanten gehörte. Bei          mische Religionslehrer ausbilden – eine wesentliche Voraus-
einem Verstoß, so die Drohung, würde sie sofort der himmli-        setzung dafür, dass muslimische Schülerinnen und Schüler
sche Blitz treffen. Schließlich siegte bei der Jugendlichen die    den Islam im deutschen Kontext erklärt bekommen. Laut Dr.
Neugier – und nichts passierte. Das kann man sich heute nicht      Abdelmalek Hibaoui (S. 12f.) ist dies ein wichtiger Aspekt für
mehr vorstellen. Auch wenn es das gemeinsame Abendmahl             die Integration. Ferner bekommen sie dadurch auch viel ȟber
noch nicht gibt, sind die Differenzen zwischen Katholiken          den Rechtsstaat, Menschenrechte, Demokratie und den inter-
und Protestanten im Alltag – gefördert durch langjährige           religiösen Dialog vermittelt.« Hibaoui gehört zum Beirat der
Dialoge auf allen Ebenen – verschwunden. Das Thema liegt           Evangelischen Akademie im Themenbereich Kultur, Bildung,
nicht oben auf. Mit den vielen nun in Deutschland lebenden         Religion. (siehe Interview S. 12f.)
Muslimen wird ein Dialog dagegen immer wichtiger.
                                                                   Tshamala Schweizer, Geschäftsführender Vorstand von Afro-
Wolfgang Wagner, ehemaliger Studienleiter, schrieb 2003:           kids erzählt bei einer Tagung zu erfolgreichen Partnerschafts-
»Zum interreligiösen Dialog gibt es keine Alternative. Hätte       reisen (s. S. 16-17) folgende Geschichte: »Ein Affe geht zum
man ihn vor 100 Jahren schon mit den Juden betrieben, wie es       Teich zum Trinken. Da sieht er einen Fisch nach Luft schnap-
heute gängige Praxis ist, wäre der Holocaust wohl nicht mög-       pen. Der Affe denkt, der arme Fisch – ich muss ihn retten. Er
lich gewesen.« (s. S. 6) Diese Überlegung unterstreicht die        nimmt den Fisch aus dem Wasser. Der Fisch beginnt zu zap-
Dringlichkeit für den Dialog – vor allem jetzt, da islamistische   peln – da streichelt der Affe ihn: Ich helfe Dir doch! Schließ-
Anschläge auch in Europa verübt werden. Die Themen, die            lich stirbt der Fisch. Da kommt ein anderer Affe vorbei und
dabei regelmäßig aufkommen, sind »Gewalt im Koran«, der            meint: »Du hast nicht gewusst, dass ein Fisch nur im Wasser
IS und die Frage, wie Jugendliche in Deutschland zu Dschiha-       überleben kann.« Dass wir Westler die Affen sind, ist klar. Die
disten werden. Die Expertin Claudia Dantschke hat darüber im       Geschichte macht einen schmunzeln und doch nachdenklich.
Mai in der Akademie referiert. Ein Interview mit ihr finden Sie    Schweizer berichtet von seinen Erfahrungen und die Beispiele
auf S. 8ff. Dabei ging es auch um Moscheen, deren Prediger         zeigen, dass es diese Arroganz immer noch gibt, dass bei uns
teilweise eindeutig terroristisches Gedankengut verbreiten.        ein Unistudium mehr zählt als das Wissen, das durch Erfah-
                                                                   rung gewonnen wird. Dialog ist eben nicht alles – es kommt
In diesem Zusammenhang lässt ein Beitrag in der ZEIT von           auf die Haltung und den Respekt an. So beschreibt es Karl-
Mitte Juli über die Unkenntnis des deutschen Staats über die       Josef Kuschel in seinem Beitrag zu den Grundlagen des Dia-
Moscheen in Deutschland – ihre Anzahl, Ausrichtung, Finan-         logs von Christen und Muslimen (s. S. 14f.): »Besserwisserei
zierung etc. aufhorchen. Die Autorinnen recherchierten vier        und Rechthaberei aber ist das Gegenteil von Dialog. Sie ersti-
Wochen und kamen schließlich auf die Zahl von 2750 Mo-             cken die Kommunikation, bevor sie richtig begonnen hat.«
scheen. Diese Unwissenheit erstaunt, da die Bundesregierung
über die Deutsche Islam Konferenz (DIK) und viele andere           Ich wünsche Ihnen eine interessante Lektüre!
Gremien informiert sein sollte. Laut Mariam Lau ist die Islam-     Mit herzlichen Grüßen
debatte im DIK inzwischen allerdings »völlig verkarstet. Die
Verbände haben sich angesichts der Islamfeindschaft der AfD,
aber auch aus Sturheit in der Opferrolle verschanzt.« (S. 30)

2                                                                                                                      SYM 3/2016
3 Evangelische Akademie Bad Boll
Inhalt

4                                                                                            20
Aktuell ...                                                                                  Vorschau
▪ Küchle, Curry und                                                                          Tagungen vom 7. September
  Carpaccio                                                                                  bis 31. Dezember 2016
▪ Flyer mit Tagungen zum
  Thema Reformation
▪ Neues Projekt im treffpunkt
  50plus: KommmiT
                                                                                             25
▪ Rüdiger Sachau zur Zukunft                                                                 Aus der Akademie
  der Akademien                                                                              ▪ Rezept
                                                                                             ▪ Neu in der Akademie:
                                                                                               Dr. Albert Decker
6                                                                                            ▪ Neu in der Akademie:

                                8
                                                                                               Thomas Reusch-Frey
Akademiegeschichte                                                                           ▪ Abschied von
Anmerkung zum interreli-                                                                       Dr. Karlheinz Bartel
giösen Dialog in den Akade-
mien (2003) von Wolfgang        Thema:
Wagner                          Der Dialog zwischen Christen und Musli-                      27
                                men sollte auf allen Ebenen stattfinden                      Publikationen
7                               Jugendliche Dschihadisten. Islam-Expertin Claudia            ▪ Buchtipp, Filmtipp
                                                                                             ▪ Weitere Hinweise
Kunst                           Dantschke hilft Familien und Kommunen. Interview
                                                                                             ▪ Verlosung
                                von Anke Schipp und Annemarie Diehr, S. 8
Boller Bußtag der Künste
mit Ausstellungseröffnung.      Kaleidoskop, S. 11
»ANVERWANDELN, AUS-
SCHWEIFEN« – kontext-bezo-      Ein Koran, der zum Kontext passt. Interview mit
                                                                                             29
gene Malerei und Handlungen     Dr. Abdelmalek Hibaoui von Martina Waiblinger, S. 12         Impressum
von Kerstin Schäfer
                                Grundlagen für einen Dialog mit Christen und Muslimen.
                                Von Prof. Dr. Karl-Josef Kuschel, S. 14                      30
18                              Gut gemeint? Partnerschaftsarbeit ist mehr, S. 16
                                                                                             Kommentar
Extra:                                                                                       Islamdebatte im Stuhlkreis.
Menschenrechte                                                                               Zur Deutschen Islam Kon-
Kinder in Militärgewahrsam.                                                                  ferenz von Mariam Lau
Israelische Siedlungen in der
Westbank sind illegal und       Titelbild                                                    31
Auslöser für Gewalt
                                Noman spielt mit Julie Klavier. Er ist ein muslimischer
                                Deutscher mit pakistanisch-tanzanischen Wurzeln und          Meditation
                                Julie ist eine christliche Französin mit libanesisch-fran-   Theologie mitten im Leben.
                                zösischen Wurzeln. Foto Martina Waiblinger                   Zur Erinnerung an Dr. Elisa-
                                                                                             beth Moltmann (1926-2016)
                                                                                             von Carmen Rivuzumwami

SYM 3/2016                                                                                                                  3
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Aktuell

                          Küchle, Curry und Carpaccio                             bekannt. Aber auch für ihre nachhaltige Küche.
                          Neues Akademiekochbuch erscheint                        Schon seit den Achtzigerjahren lässt die Akademie
                                                                                  die Küche im Dorf und kauft die meisten Produkte
                          im September
                                                                                  in der Region. Das Küchenteam verarbeitet ernte-
Marianne Becker/                                                                  frische und saisonale Produkte, die Gäste freuen
Claudia Mocek/Martina                                                             sich über köstlich-raffinierte Gerichte, die sie mit
Waiblinger: Küchle,                                                               einem guten ökologischen Gewissen genießen.
Curry und Carpaccio.                                                              Das Akademie-Kochbuch bietet den Lesern rund
Nachhaltig leckere Re-
                                                                                  80 Rezepte, mit denen sie die leckeren Gerich-
zepte aus der Akademie
Bad Boll. Mit Foto-
                                                                                  te aus Bad Boll einfach nachkochen können.
grafien von Valentin                                                              Kohlrabi-Carpaccio, Rinderschmorbraten und
Marquardt, 160 Seiten,                                                            Rhabarbermousse: Die Vor-, Haupt- und Nachspei-
120 Farbfotos, 19,90,                                                             sen sind nach Jahreszeiten geordnet und anspre-
Silberburg-Verlag, ISBN                                                           chend bebildert. Die Rezepte eignen sich sowohl
978-3-8425-2000-4                                                                 für Anfänger als auch für Kochprofis. Tipps für
                                                                                  vegetarische Varianten und Infos über Quinoa, lila
                                                                                  Reis und andere eher exotische Zutaten ergänzen
                                                                                  die Rezepte. Porträts der regionalen Zulieferer und
                                                                                  Texte, die zum Nachdenken über Essen und Geld,
                                                                                  Umweltschutz und Landwirtschaft einladen, run-
                                                                                  den das Buch ab.« Unser Dank gilt ganz besonders
                                                                                  Marianne Becker mit dem gesamten Küchenteam,
                                                                                  Claudia Mocek und Martina Waiblinger für das
                          Es war ein Projekt, das unseren Mitarbeitenden          Engagement bei diesem Projekt und natürlich dem
                          erkennbar Freude bereitet hat, und dem Fotografen       Fotografen Valentin Marquardt.
                          auch: das neue Kochbuch der Akademie mit dem                                                   Dr. Günter Renz
                          Titel »Küchle, Curry und Carpaccio. Nachhaltig le-
                          ckere Rezepte aus der Akademie Bad Boll«. Schon
                          die bisherigen schmalen Kochbüchlein der Akade-         Flyer mit Tagungen zum
                          mie waren äußerst gefragt, bis sie restlos vergriffen   Thema Reformation
                          waren. Nun also ein repräsentatives Buch, das im
                          September im traditionsreichen Silberburg-Verlag        Ab Mitte September liegt ein Flyer der Evangeli-
                          erscheint mit 160 Seiten und 120 Farbfotos. Da ist      schen Akademie Bad Boll mit einem Angebot von
                          der Preis von 19,90 € angemessen.                       acht Tagungen zum Thema Reformation vor. Sie-
                                                                                  ben Tagungen finden zwischen Oktober 2016 und
                          Es war die Küche, mit der das Nachhaltigkeits-          Juli 2017 statt, ein Angebot für Kirchengemeinde-
                          konzept der Akademie 1983 einen ersten Anfang           räte ist zeitlich offen und kann angefordert werden.
                          nahm, und es ist wunderbar, dass unsere Küche           Es geht dabei um die Aktualität der Reformation
                          bis heute mit Beharrlichkeit und Kreativität das        und die Frage: Was hat das mit uns heute zu tun?
                          Konzept weiterentwickelt. Gut, dass viele andere        Studienleiter Wolfgang Mayer-Ernst: »Wir wollen
                          Wirtschaftsbereiche dank Jobst Kraus und unserer        Martin Luther kennenlernen als Kind seiner Zeit.
                          Nachhaltigkeitsbeauftragten Carmen Ketterl in die-      Und seine Theologie als eine Theologie, die aus
                          ses Nachhaltigkeitskonzept einbezogen wurden.           existentiellen Fragen von damals entstanden ist
                          Gut aber auch, dass wir die Bedeutung einer nach-       und uns auch heute noch Spannendes zu sagen
                          haltigen Ernährung für die Zukunft unseres (Über-)      hat.«
                          Lebens auf diesem Planeten auch in Tagungen             Eine Tagesveranstaltung befasst sich mit der
                          verstärkt thematisieren, so z.B. in einer Tagung        nachhaltigen Transformation unserer Gesellschaft
                          im Oktober mit dem Titel »Gutes Essen, gesunde          – dazu ist auch Landesbischof Frank Otfried July
                          Landwirtschaft und achtsame Menschen«.                  eingeladen. In einer weiteren Tagesveranstaltung
                                                                                  geht es um die ökonomische Verantwortung kleine-
                          Der Verlag kündigt das Buch mit folgenden Worten        rer und mittelständischer Betriebe.
                          an: »Saisonal, regional, bio und fair: Die Evangeli-    Im Dezember findet immer die Lesbentagung in
                          sche Akademie Bad Boll am Fuß der Schwäbischen          Bad Boll statt. In diesem Jahr thematisieren Frauen
                          Alb ist für ihre Aufsehen erregenden Tagungen           die Frage, was die Reformation vor 500 Jahren für

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3 Evangelische Akademie Bad Boll
Aktuell

die Lebensformen und die Spiritualität von Frauen      schläge für die richtige Handhabung technischer
bedeutet. Es geht um die Möglichkeiten weiblicher      Geräte einholen können. Das Serviceangebot
Lebensentwürfe in der Reformationszeit und de-         der Kontaktstelle basiert dabei auf zwei Säulen:
ren widersprüchliche Folgen.                           einer digitalen App und einem lokalen Service-
Die Ausstellung »Kirche ordnen – Welt gestalten«       Büro. Während die App Informationen zu Wohn-,
mit einem Vortrag zur Eröffnung dokumentiert           Mobilitäts- und Pflegedienstleistungen bündelt
die Bedeutung evangelischer Kirchenordnungen           und Texte bei Bedarf auch mehrsprachig über ein
des 16. Jahrhunderts für die Entwicklung der           Smartphone oder einen Tablet-Computer vorlesen
Rechtskultur bis in unsere Gegenwart hinein. 20        kann, dient das Service-Büro als persönliche Koor-
Schautafeln veranschaulichen die gesellschaftliche,    dinierungs- und Anlaufstelle.
politische und religiöse Situation des deutschen       Neben regelmäßigen Schulungen, mit denen die
Südwestens in jener Zeit. Parallel zur Ausstellung     Medien- und Technikkompetenz älterer Menschen
findet die Tagung »Die Reformation, das Recht und      unterstützt werden soll, bietet das Büro zusätzlich
unser Rechtsstaat – zu den Wirkungen der Refor-        Gelegenheit, neue Assistenzsysteme für den Haus-
mation in Kirchenrecht und staatlicher Rechtsset-      halt auszuprobieren.
zung« statt.
Luthers Blick auf den Islam, das Bild vom Islam in
der Reformationszeit und seine Folgen stehen bei       Rüdiger Sachau zur Zukunft
einer weiteren Tagung im Mittelpunkt – es geht um      der Akademien
eine Zeit, in der Muslime noch nicht zu Deutsch-
land gehörten und nur wenige Menschen Musli-           Rüdiger Sachau ist Akademiedirektor der Evange-
men begegnet waren.                                    lischen Akademie zu Berlin und Vorsitzender des
Die Tagung »Wortgewaltig – bilderfrei? – Freiheit      Dachverbands der 17 Evangelischen Akademien in
und die Macht des Visuellen!« findet in Kooperati-     Deutschland (EAD), die an 18 Standorten mit rund
on mit der Evangelischen Akademie in Wittenberg        140 Studienleitenden arbeiten (www.evangelische –
statt. Fragen nach dem Verhältnis von Wort und         akademien.de). In einem Interview, das der Website
Bild, nach der Zukunft des christlichen Glaubens       der Evangelischen Akademie zu Berlin zu lesen ist
angesichts einer im Zeichen des Digitalen stehen-      (www.eaberlin.de), äußert sich Sachau zu der Ent-
den Medienwende sollen am historischen Ort im          wicklung der Beziehungen zwischen den evangeli-
Kontext von Reformation und Weltausstellung            schen Akademien in den letzten 15 Jahren. Früher
erörtert werden. Vorträge, Besichtigungen und          habe es mehr Konkurrenz unter den Akademien
Diskussion runden das Programm ab.                     gegeben, mittlerweile habe sich die Zusammenar-
Bestellungen ab Mitte September bei reinhard.          beit stärker in Richtung Kooperation entwickelt.
becker@ev-akademie-boll.de, 07164 79-305               Er macht dies insbesondere an den regelmäßig
                                                       stattfindenden Netzwerkprojekten fest, an denen
                                                       immer mehrere Akademien teilnehmen, z.B. bei
Neues Projekt im treffpunkt 50plus:                    dem aktuellen Projekt »… dem Frieden der Welt
                                                                                                             Rüdiger Sachau ist
                                                       dienen …«. Ferner geht Sachau auf die veränderten
KommmiT                                                Formate ein, die in den Akademien genutzt werden.
                                                                                                             Direktor der Evange-
                                                                                                             lischen Akademie zu
KommmiT bedeutet Kommunikation mit intel-              Bezüglich der in Zukunft bei den Akademien zu be-     Berlin.
ligenter Technik. Über fünf Jahre finanziert das       handelnden Diskurse meint er: »Der gesellschaft-
Bundesministerium für Bildung und Forschung            liche Zusammenhalt wird das Thema der nächsten
(BMBF) dieses Angebot, das der treffpunkt 50plus       Jahre. Wie gelingt unser Zusammenleben in einer
zusammen mit zehn weiteren Organisationen              Gesellschaft mit sehr unterschiedlichen kulturellen
durchführt. Der treffpunkt 50plus ist dafür ver-       und religiösen Prägungen? Wie gelingt Integration,
antwortlich, ehrenamtliche Alltags- und Techni-        wie gestalten wir die sozialen Systeme besonders
kassistentinnen zu gewinnen, zu schulen, sie in        im Gesundheitsbereich weiter? Haben wir etwas
private Haushalte zu vermitteln und zu begleiten.      aus der Bankenkrise gelernt?« Ferner geht er auf
Interessentinnen und Interessenten können sich         die Herausforderung der weiteren Digitalisierung
schon jetzt im Sekretariat des treffpunkt 50plus zur   und der Konsequenzen, die die Akademien ziehen
Mitarbeit melden. Eine detaillierte Ausschreibung      müssen, ein und fragt, warum es kaum Studienlei-
ist ebenfalls dort erhältlich.                         tende mit Migrationshintergrund gibt und nur zwei
Das Projekt »KommmiT« entwickelt einen Service-        Direktorinnen. Das ganze Interview kann gelesen
point, über den ältere Menschen Tipps und Rat-         werden unter: http://bit.ly/2aL1gn0

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3 Evangelische Akademie Bad Boll
Akademiegeschichte

Weder blind noch blauäugig
Anmerkungen zu interreligiösen                                                                speziellen Frauentagungen kommen
Dialogen in der Akademie (2003)                                                               auch die zu Wort, die aufgrund ihrer
                                                                                              Tradition nicht gewöhnt sind, vor Män-
Der Dialog mit Angehörigen anderer                                                            nern zu sprechen. Gern erinnere ich
Religionen ist umstritten. Er muss                                                            mich an eine Kopftuch tragende Studen-
gerechtfertigt werden hinsichtlich einer                                                      tin, die ihre türkische Mutter zu einem
innerkirchlichen Opposition, aber auch                                                        interreligiösen Kabarett in die Akademie
gegenüber einer skeptischen Öffent-                                                           brachte. Sie wollte ihr zeigen, dass es
lichkeit. Die folgenden Bemerkungen                                                           sich hier nicht um eine »Höhle christli-
verstehen sich als kleine Antwort auf                                                         cher Löwen« handle, die ihr Töchterlein
die Vorwürfe, die Dr. Johannes Kundel                                                         verspeisen wollen. Noch spannender ist
von der Friedrich-Ebert-Stiftung unter                                                        es natürlich, wenn sich islamische Theo-
dem Titel »Lieber blauäugig als blind?«                                                       loginnen einem christlichen Konvent an-
im Materialdienst der Evangelischen                                                           schließen nach dem Motto: »Wir Frauen
Zentralstelle für Weltanschauungsfragen                                                       sind in jeder Religion benachteiligt.«
(Heft 5/03, S. 176 ff.) veröffentlicht hat.
Auf der letzten EKD-Synode forderten                                                          3. Koran und seine Auslegung.
einige das Ende des »Höflichkeitsdia-                                                         Es ist überaus spannend, einmal islami-
logs mit den Muslimen«. Es entsteht                                                           sche Koraninterpretationen zu hören.
der Eindruck, man habe bisher fleißig         Dr. Nadeem Elyas, Zentralrat der Muslime, mit   Tatsächlich erinnert vieles an christliche
                                              Wolfgang Wagner während der Sommeruniversität
Freundlichkeiten ausgetauscht und müs-        2002 in Bad Boll.
                                                                                              Scholastik. Wenn man bedenkt, dass
se nun endlich zur Auseinandersetzung                                                         historisch-kritische Bibelauslegung
übergehen. Tatsächlich haben jedoch                                                           bis in unsere Gegenwart umstritten ist
die meisten noch gar nicht begonnen,          Missionskreisen, aggressiv vortragen.           und von christlichen Fundamentalisten
ja viele Pfarrer bekennen ihre Ratlosig-      Dr. Nadeem Elyas vom Zentralrat der             bekämpft wird, dann wundert man sich
keit, wie man denn das anstellen solle.       Muslime meinte auf einer Podiumsdis-            wenig, dass kritische Außenseiter es
Deswegen fordere ich seit einiger Zeit        kussion gar, dass er beleidigt wäre, wenn       im Islam schwer haben. Sie kommen
eine(n) »Beauftragte(n) für den Dialog«.      Christen ihm vorenthielten, was ihnen           übrigens bevorzugt in Dialogen zu Wort.
Islam-Experten, die wie ein Scholl-           im Glauben wertvoll sei. Natürlich kann         Überhaupt erleben sie bei uns in der Aka-
Latour ständige Bedrohungen ausmalen,         man im Detail viele Fragen stellen. Wenn        demie eine »innerislamische Ökumene«,
gibt es schon reichlich. Keine Frage, dass    man allerdings Antworten bekommen               wenn Vertreter verschiedener Traditio-
man sich mit den Argumenten ausei-            will, muss man sich schon mit Muslimen          nen bei uns zusammenkommen.
nandersetzen muss, aber es ist ebenso         zusammensetzen.
wichtig, den Islam ernst zu nehmen, den                                                       Fazit: Zum interreligiösen Dialog gibt es
mein jeweiliger Partner lebt. Darum la-       Als unerledigte Themen werden ge-               keine Alternative, wenn wir nicht wieder
den wir ja auch immer andere Referenten       nannt:                                          Ghettos einrichten wollen. Hätte man
ein. Eine Akademie ist an Erkenntnissen       1. Menschenrechte, Demokratie und               ihn vor 100 Jahren schon so mit Juden
interessiert und nicht diplomatischer         säkularer Staat: Das sind sozusagen die         betrieben, wie es heute gängige Praxis
Kirchenpolitik verpflichtet.                  Dauerbrenner bei Akademietagungen.              ist, wäre der Holocaust wohl nicht mög-
                                              Wer sich erinnert, dass die Kirchen in          lich gewesen. Damals hat man jedoch
Es ist wahr: Nur etwa 10 Prozent der          Deutschland bis 1945 Demokratie abge-           gegen Juden ähnliche theologische
Muslime sind durch Verbandsfunktio-           lehnt und teilweise bekämpft haben, der         Argumente bemüht, wie heute gegen
näre repräsentiert. Die anderen lernen        hat vielleicht mit Einwanderern etwas           Muslime ins Feld geführt werden.
wir kennen, wenn wir Fachleute zu             mehr Geduld. Ja, er verstärkt sogar den
bestimmten nichtreligiösen Themen             Dialog. Denn ohne die Begegnung mit                 Wolfgang Wagner, Studienleiter von 1998 bis
                                                                                                   2012, in aktuelle gespräche 2/2003, gekürzt
einladen. Geht es beispielsweise um           Demokraten kommt man wohl kaum
Aids-Prävention oder Sterbehilfe, ist es      weiter.
sehr aufschlussreich, wie ein islamischer
Arzt argumentiert. Es ist nicht wahr, dass    2. Frauen im Islam: Es gibt wohl keine
wir Christen unseren Glauben verleug-         Tagung, in der nicht wenigstens eine
nen, wenn wir ihn nicht, wie in gewissen      Arbeitsgruppe sich damit befasst. In

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3 Evangelische Akademie Bad Boll
Kunst in der Akademie

Boller Bußtag der Künste mit Ausstellungseröffnung
»ANVERWANDELN, AUSSCHWEIFEN« - kontextbezogene Malerei und Handlungen von Kerstin Schaefer
                                                          Statement
                                                                                                             Kerstin Schaefer
                                                          Kerstin Schaefer ist eine Malerin, Zeichnerin
                                                          (ad-hoc-Kalligrafien) und Performerin mit          1972 geboren in Lörrach,
                                                          Arbeitsmittelpunkt in Stuttgart, ist Absolven-     Baden-Württemberg; lebt
                                                          tin der HfBK Dresden, war dort nach ihrem          und arbeitet in Stuttgart
                                                          Diplom in Freier Kunst Meisterschülerin für
                                                          »Übergreifendes künstlerisches Arbeiten«.          1998–2004 Studium Freie
                                                          Themenkreise: Freiheit, Wunsch, Vision,            Kunst, Malerei/Grafik an
                                                          Schöpfung, Raum & Haus.                            der HfBK Dresden

                                                                                                             2006 sechsmonatiges Ate-
                                                          Oft arbeitet sie mit vorgefundenen Dingen,         lier-Stipendium beim ISCP
                                                          die sie remodelliert, übermalt, zerstört und       International Studio and
                                                          überarbeitet und so in ihre Vorstellung von        Curatorial Program New
                                                          Gegenwärtigkeit versetzt, was oft übergriffig,     York, Aufenthaltsstipendi-
                                                          krude, manchmal zurichtend, manchmal               um der Kulturstiftung des
                                                          humorvoll daherkommt, letztlich aber immer         Freistaates Sachsen
                                                          skulptural-malerisch konsistent ist. Sie geht
                                                          von der Gefülltheit des Unscheinbaren,             2004–2006 Meisterschü-
                                                          Harmlosen aus und schält das Authentische          lerin bei Prof. Ulrike
                                                          aus einem Ding, Raum, Setting heraus. Sie          Grossarth
                                                          sammelt und konstruiert Atmosphären. In
                                                          ihrer Malerei, die immer auch in ihren Instal-     2008 Stipendiatin der
                                                          lationen und performativen Settings – neben        Kunststiftung Baden-
                                                          Stoffen, Sound und weiteren synästhetischen        Württemberg
                                                          Komponenten – eine wichtige Rolle spielt,
                                                                                                             2009-2010 dreimonatiges
                                                          gestaltet sie die Kernaussagen additiv.
                                                                                                             Atelierstipendium beim
                                                                                                             CEAAC, Straßburg
                                                          Sie arbeitet als Malerin gern spezifisch mit
                                                          Räumen und mit Publikum im öffentlichen            2011 Gründungsmitglied
                                                          und halböffentlichen Raum; sie baut Räume          der Künstlerinitiative
                                                          und involviert Besucher und Passanten in           FUKS, Stuttgart
                                                          künstlerische Handlungen und Prozesse.
                                                                                                             2012 Teilnahme und
                                                          Kerstin Schaefer beschäftigt sich malerisch,       Hervorhebung beim Ersten
                                                          zeichnerisch und raumgreifend mit dem              Kunstpreis der Evange-
                                                          Zauber des Zufalls, der Magie in und hinter        lischen Landeskirche
Boller Bußtag der Künste in Kooperation mit dem Verein    den Dingen, mit Unstimmigkeiten vis-à-             Württemberg »Bilder?
für Kirche und Kunst, 16. November 2016, 16:00 Uhr.       vis Stimmigkeiten, im Dialog von Hell mit          Bilder!«
Der Vortrag zum diesjährigen Boller Bußtag befasst sich   Dunkel, mit Zwischentönen und im Erfor-
mit dem Thema der Vermittlung von Kunst. Referentin                                                          Seit 2013 Tätigkeit als
ist Susanne Jakob, Kunstwissenschaftlerin M.A. und        schen von Kraftquellen, liefert Atmosphären
                                                          und Gefüge, die Botschaften enthüllen, die         Kulturagentin, aktives
Leiterin des Kunstvereins Neuhausen e.V. Zum Abschluss
spielt die Akademische Betriebskapelle der Staatlichen    unser Unbewusstes versteht und mit denen es        Mitglied in zahlreichen
Akademie der Bildenden Künste, Stuttgart.                 unmittelbar kommunizieren kann.                    Künstlerverbänden

Leitung: Prof. Dr. Hans-Ulrich Gehring                                                                       Seit 2015 Dozentin für Ma-
                                                          Quelle: www.kerstinschaefer.com.                   lerei an der Kunstakademie
Information und Anmeldung: Andrea Titzmann, Tel.
07164 79-307, andrea.titzmann@ev-akademie-boll.de
                                                                                                             Esslingen

Dauer der Ausstellung: Mittwoch, 16. November 2016
bis Sonntag, 29. Januar 2017

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3 Evangelische Akademie Bad Boll
Dschihadisten

Jugendliche Dschihadisten
Islamismus-Expertin Claudia Dantschke hilft Familien und Kommunen

Propaganda-Foto der IS-Kämpfer in Raqqa, Syrien, 2015

Interview mit Claudia Dantschke von                Und was macht den Pop-Dschihadismus       Also hätten sie sich theoretisch auch
Anke Schipp und Annemarie Diehr                    so verführerisch?                         einer anderen Jugendbewegung an-
                                                   Dass du der Held sein kannst, dass du     schließen können, um zu rebellieren?
Sie sprechen von einem »Pop-Dschiha-               zur auserwählten Gruppe gehörst, und      Ja, der Zufall spielt da eine große Rolle.
dismus«. Was verstehen Sie darunter?               selbst wenn du dann stirbst, wirst du     Erfolg hat der Pop-Dschihadismus auch
Ungefähr seit drei, vier Jahren hat sich in        dafür mit dem perfekten, glücklichen      dadurch, dass er die jugendkulturellen
Deutschland wie zuvor schon in England             Leben im Paradies belohnt. Und da diese   Medien ganz stark nutzt. Die dschiha-
und in anderen westeuropäischen Län-               Jugendlichen in ihrem bisherigen Leben,   distischen Gruppen werben für sich
dern eine radikale salafistische Jugend-           sozusagen im Diesseits, nur Misserfolge   anders, als es früher Al Qaida getan hat.
kultur entwickelt. Das ist eine hippe              und Frust hatten, sich nicht wahrge-      Es gab damals schon dschihadistische
Jugendkultur, und sie können dort vieles           nommen fühlten, haben sie endlich das     Internetforen, auf die man aber nicht
finden, was Jugendkulturen ausmacht:               Gefühl, dazuzugehören. Die meisten        zufällig stieß. Jetzt gibt es Facebook-
Abgrenzung von den Eltern, Aufmerk-                haben auch nicht gelernt, für irgend-     Seiten und einzelne Dschihadisten aus
samkeit, Gruppengefühl, vermeintlich               welche Misserfolge die Verantwortung      Syrien mit eigenen Twitter-Accounts.
starke Männlichkeitsbilder. Auch wenn              zu übernehmen oder sich nach einem        Das heißt, sie sprechen die Jugendli-
diese Jugendlichen nicht auf der Suche             Misserfolg wieder aufzurappeln und ihn    chen genau dort an, wo sie sich schon
nach Religion sind, werden die Begrün-             zu verkraften.                            befinden.
dungsmuster aus der Religion entlehnt
und zugespitzt.

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3 Evangelische Akademie Bad Boll
Dschihadisten

Spielt es auch eine Rolle, dass der sogenannte    Probleme, die es in vielen Familien gibt.
»Islamische Staat« (IS) mit Logos und Uni-        Wir haben jetzt zum Beispiel den Fall eines
formen arbeitet und so hohe Identifikations-      Jugendlichen, der lange krank war und im
merkmale schafft?                                 Gymnasium den Anschluss verpasste. Darun-
Das haben diese Gruppen immer schon               ter litt sein Selbstwertgefühl. Er wechselte die
gemacht. Für eine Jugendkultur ist es wichtig,    Schule und fand neue Freunde aus der radika-       Claudia Dantschke vom Zent-
sich abzugrenzen von anderen Jugendkul-           len Szene. Die strahlen etwas von Überlegen-       rum Demokratische Kultur in
turen, denn es ist ja eine Gemeinschaft, zu       heit aus, von Kraft, und das wird bewundert.       Berlin war Referentin auf der
der man gehört, und da ist das Outfit, die                                                           Tagung »Junge Muslime zwi-
Markierung ganz wichtig. Die Dschihadisten        Was raten Sie in diesem Fall den Eltern?           schen Extremismus und Dialog.
laufen nicht wie traditionell fromme Muslime      Wir versuchen, den Eltern zu erklären, aus         Herausforderung Dschihadis-
herum, sondern tragen Military-Look. Das          welchen Gründen der Jugendliche die ande-          mus«, die am 9./10. Mai in Bad
hat auch schon Al Qaida gemacht, aber der IS      ren bewundert und warum es ihm selbst an           Boll stattgefunden hat. Über
hat über die letzten Jahre eine Art westliches    Selbstwertgefühl fehlt. Es geht erst einmal        ihre Arbeit und ihre Erkennt-
Pop-Outfit entwickelt, so eine Art Streetwear     darum, dass die Eltern zuhören, dass sie           nisse hat sie letztes Jahr der
mit eigenen Fanshops. Im Internet kann            herausfinden, was den Sohn eigentlich be-          FAZ ein Interview gegeben, das
man von der Basecap über das T-Shirt alles        schäftigt, was er vielleicht im Leben vermisst.    wir im Folgenden veröffent-
Mögliche bestellen, und das ähnelt dann eben                                                         lichen. Das Interview ist am
genau diesem dschihadistischen Outfit.            »Immer eine Tür offen lassen«, »zuhören«,          18.1.2015 in der FAZ erschie-
                                                  »reden«: das klingt nach Pubertätsratgeber.        nen. Die Fragen stellten Anke
Sie sagen, dass es viel um Emotionen geht,        Reicht das aus?                                    Schipp und Annemarie Diehr.
um Siegerposen, die Kraft des Stärkeren, um       Der nächste Schritt ist, dass wir versuchen zu     © Alle Rechte vorbehalten.
das Paradies. Was setzen Sie in Ihrer Arbeit      schauen, wie wir das Selbstwertgefühl des Ju-      Frankfurter Allgemeine Zeitung
dem konkret entgegen? Eine Ausbildung zum         gendlichen stärken. Es müssen Perspektiven         GmbH, Frankfurt. Zur Verfü-
Einzelhandelskaufmann?                            her. Wir bauen um ihn herum ein Hilfsnetz-         gung gestellt vom Frankfurter
Die Radikalisierung hat drei verschiedene         werk auf, das kann aus Pädagogen oder Psy-         Allgemeine Archiv.
Ebenen. Die erste ist die affirmative Ebene,      chologen bestehen. Manchmal hilft es auch,         Siehe auch PM vom 8.5.2016:
die betrifft die ganz individuellen Bedürfnisse   eine Lehrstelle zu finden. Neulich hat uns         http://bit.ly/10gSb5f
der einzelnen Person. Da geht es sehr stark       ein Vater angerufen und geklagt, dass seine
um Emotionen. Die zweite ist die pragma-          ziemlich junge Tochter zum Islam konvertie-
tische Ebene, also die Einbindung in Grup-        ren will. Zunächst hat er gesagt, dass er das
penprozesse, das Vertrauen in bestimmte           niemals akzeptieren werde. Im Gespräch
Akteure dieser Gruppe. Und die dritte ist die     mit uns hat sich das gewandelt, und er hat
Ideologie, die Begründungsmuster. Bevor           sich mit seiner Tochter darauf verständigt,
wir also mit diesen Jugendlichen über ihre        dass sie sich erst mal informieren soll. Beide
Ideologie sprechen und sie vielleicht dahin       haben vereinbart, dass sie ein Jahr wartet und
bringen, diese auch in Frage zu stellen, müs-     dieses Jahr nutzt, um sich zu orientieren.
sen wir zuerst diese affirmative Ebene, das       Vielleicht ebbt in dieser Zeit das Interesse ab,
Emotionale, betrachten. Dieser Ansatz läuft       oder sie lernt den Islam von seiner friedlichen
über Angehörige und nahe Bezugspersonen.          Seite kennen, den zu praktizieren auch den
Dort ist die emotionale Beziehung zwar da,        Vater nicht mehr ängstigen muss. Wichtig
aber erfahrungsgemäß durch den Radika-            war in diesem Fall, Zeit zu gewinnen, weil die
lisierungsprozess gestört. Vielleicht ist sie     Gefahr bestand, dass das Mädchen bei einer
auch Mitauslöser dafür, dass der Jugendliche      totalen Ablehnung erst recht in eine radikale
diesen Weg beschritten hat. Und deshalb           Gruppe abdriftet.
versuchen wir erst mal herauszubekommen,
welche Konflikte es vielleicht in der Familie     Was bringt Mädchen eigentlich dazu, dem
oder dem sozialen Umfeld gibt.                    radikalen Islam zu folgen?
                                                  Die Attraktivität des politischen Salafismus
Welche können das sein?                           oder des Dschihadismus, wie Anerkennung,
Das können autoritäre Erziehungsmethoden          Identität, Orientierung oder Aufmerksamkeit,
sein oder einfach eine Nichtkommunika-            betrifft sowohl Jungs als auch Mädchen. Bei
tion. Es können Verlusterfahrungen sein,          Mädchen kommt hinzu, dass oft eine Liebes-
Scheidungen, der Tod des Vaters. Eigentlich       geschichte dahintersteckt. Eltern sprechen

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Dschihadisten

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                                                                                                           verschwinden ganz, ohne was zu sagen.

                                                                                                           Sind Sie dann am Ende mit Ihrer
                                                                                                           Beratung?
                                                                                                           Nein. Wir können ihnen zumindest
                                                                                                           sagen, dass sich nach unserer Erfah-
                                                                                                           rung fast alle Jugendlichen wieder bei
                                                                                                           den Eltern melden. Das kann nach vier
                                                                                                           Wochen sein, das kann nach sechs
                                                                                                           Wochen sein, das kann auch nach drei
                                                                                                           Monaten sein. Wenn er sich meldet,
                                                                                                           geht es darum: Wie hält man den Faden?
                                                                                                           Diese Jugendlichen, so radikal sie sind,
                                                                                                           haben ihre Eltern in dem Wissen verlas-
                                                                                                           sen: Wenn ich jetzt im Dschihad sterbe,
                                                                                                           komme ich ins Paradies, dann werde ich
                                                                                                           meine Eltern nie wiedersehen, weil sie ja
                                                                                                           nach meiner ideologischen Vorstellung
                                                                                                           alle in die Hölle kommen. Und deshalb
Bei einer christlich-muslimischen Trauerfeier für einen IS-Anhänger im Mai 2016 in der St. Pauli Kirche:   versuchen sie, sich wenigstens von den
Imam Abu Ahmed, die Mutter des Getöteten, Florence C. und Pastor Sieghard Wilm                             Eltern zu verabschieden oder sie noch
                                                                                                           mal davon zu überzeugen, endlich auf
dann von »dubiosen Freunden«. Ich sage                Der Vater war begeistert und sagte mir:              den richtigen Weg zu kommen, damit
dann: Lernen Sie die kennen. Gucken                   »Am Anfang habe ich der Moschee sogar                man sich im Paradies wiedersieht.
Sie: Wer ist das eigentlich, mit dem                  gedankt: Ihr habt mehr für meinen Sohn
sich Ihre Tochter trifft? Oder gehen Sie              getan, als ich es konnte.«                           Gibt es nicht auch Jugendliche, die mit
mit in die Moschee, in der sie freitags                                                                    falschen Vorstellungen in die Schlacht
betet. Jugendliche, die nur eine Affinität            Dann kam das dicke Ende?                             ziehen?
zu dem Thema zeigen und noch nicht                    Ja, dann kamen die Diskussionen, der                 Genau, das ist die große Chance, die
radikalisiert sind, freuen sich oft riesig            Sohn wurde immer dogmatischer und                    wir haben. Die Realität ist anders als
darüber. Andere wehren das ab. An                     stellte das Muslimsein des Vaters in                 zu Hause vorm Bildschirm, wo man im
diesen Reaktionsmustern kann man oft                  Frage, er kritisierte, wie die Mutter das            Computerspiel sieht, wie ein Mensch
schon ablesen, wie weit sie radikalisiert             Kopftuch trug. Da wurde der Vater ner-               stirbt. Wenn man plötzlich real erlebt,
sind.                                                 vös und erkannte den Ernst der Lage.                 dass der Körper des eigenen Kumpels
                                                                                                           zerfetzt wird, sieht die Sache schon
Oft sind es männliche Jugendliche, die                Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit,                 anders aus. Manche sind dann traumati-
vorher »Scheiße gebaut« haben. Mit der                jemanden zurückzugewinnen, der                       siert oder vielleicht sogar desillusioniert.
Islamisierung haben sie plötzlich einen               schon radikalisiert ist?                             Aber es bringt nichts, dem Jugendlichen
geregelten Alltag, beten regelmäßig,                  Die Chance sinkt natürlich extrem.                   zu sagen: Wenn du nach Hause kommst,
trinken keinen Alkohol. Gibt es nicht                 Wenn sich die Eltern bei uns gleich am               wird alles gut. Man muss schon von
auch muslimische Eltern, die das erst                 Anfang melden, ist die Erfolgsquote                  Strafe und Gefängnis reden, aber man
mal gut finden?                                       sehr hoch. Bei schon nach Syrien ausge-              kann sagen: Das ist zeitlich begrenzt,
Das ist das große Problem. Ich habe                   reisten Jugendlichen rutscht die Quote               und du lebst, und wir werden dich auch
einen Fall, da hat mir der Vater gesagt,              erheblich nach unten. Meistens machen                dann unterstützen.
dass sein Sohn immer aggressiv war,                   die Eltern erst mal eine Vermisstenan-
unruhig und anfing, zu kiffen. Er war                 zeige bei der Polizei, dann kommt der
überhaupt nicht mehr mit ihm klarge-                  Staatsschutz, dann wird irgendwann
kommen. Dann besuchte er regelmäßig                   den Eltern signalisiert, dass der Sohn
eine dogmatisch-salafistische Moschee                 oder die Tochter vermutlich nach Syrien
und wurde plötzlich ausgeglichen,                     gegangen ist. Die Eltern hören meistens
strahlte Stärke und Überlegenheit aus.                erst mal nichts, die Kinder verabschie-
                                                      den sich ja nicht. Sie geben an, dass sie
                                                      zum Onkel in die Türkei fahren oder auf

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Kaleidoskop

Projekt »House of One« – ein gemeinsames Bethaus für
Christen, Juden und Muslime in Berlin
»Ein Lieblingsprojekt der Politik ist das geplante House of One auf
dem Petriplatz in der Mitte Berlins: Christen, Juden und Muslime
wollen dort unter einem Dach beten. Das gibt es so noch nicht in
Deutschland. Das Projekt passt perfekt in die Dialog-Konjunktur, der
Entwurf des Architekturbüros Kuehn-Malvezzi für den Neubau ist
spektakulär. Die Erwartungen sind riesig, der Zeitplan ist eng. 2018
soll der Grundstein gelegt werden. Bis dahin müssen zehn Millio-
nen Euro zusammenkommen, insgesamt werden 43 Millionen Euro
benötigt. Doch die Bilanz der Spendenkampagne ist bislang ernüch-
ternd: Im ersten Jahr wurden 177 000 Euro gesammelt.« Claudia
Keller betrachtet im Tagesspiegel vom 27.7.2015 das Projekt kritisch
und spricht von »Folklore und Symbolpolitik«, während »in allen drei großen Religionen die fundamentalistischen Ränder«
wachsen. Den ganzen Beitrag finden Sie unter: http://bit.ly/2aYXSTU, die Website zum Projekt hier: https://house-of-one.org/de

                                 Jüdisch-muslimischer Dialog
                                 Während der christlich-islamische Dialog eine lange Tradition hat, steckt der jüdisch-islami-
                                 sche noch in den Anfängen. Neue Wege geht die islamische Theologin Hamideh Mohagheghi
                                 in Hannover. Sie liest in einer Veranstaltungsreihe mit dem Rabbiner der liberalen jüdischen
                                 Gemeinde Gabor Lengyel gemeinsam aus Koran und Thora. In einer Sendung des NDR vom
                                 15.4.2016 meint sie: »Dialog auf allen Ebenen ist dringend notwendig, um extremen Ideolo-
                                 gien einen Riegel vorschieben zu können. Aktuell steht natürlich das Thema Geflüchtete an
                                 erster Stelle. Konflikte, die im Nahen Osten entstanden sind, werden nun verstärkt auch nach
                                 Deutschland transportiert. Dazu gehört der Hass mancher arabischer Muslime auf Juden. Es
                                 ist notwendig, diesen Aspekt in der Begegnung mit den Geflüchteten nicht auszublenden,
                                 sondern sich mit ihm auseinanderzusetzen.« Die Veranstaltungsreihe umfasst sieben Abende
                                 in diesem Jahr zu unterschiedlichen Themen und wird im Haus der Religionen in Hannover
                                 durchgeführt. S. a. Buchtipps, S. 28

Mohamedou Ould Slahi wurde freigesprochen
In Heft 2/2015 haben wir eine Rezension des Buches »Das Guantanamo-Tagebuch« von Mohamedou Ould Slahi veröffentlicht –
der berührende und erschütternde Bericht des Guantanamo-Gefangenen Mohamedou Ould Slahi. Nun haben wir von dem
Verlag Klett-Cotta die Nachricht erhalten, dass das Periodic Review Board des US-amerikanischen Pentagon den seit 14 Jahren
inhaftierten Slahi als Folge einer Anhörung am 2. Juni 2016 freigesprochen hat. Somit steht einer Freilassung Slahis rechtlich
nichts mehr entgegen. Leider ist über den Termin der Freilassung noch nichts bekannt geworden.

Kinder in israelischer Militärhaft
Am 13. April 2015 wurde im Evangelischen Informationszentrum an der Domsheide in Bremen die Ausstellung »Kinder in israe-
lischer Militärhaft« gezeigt. Organisiert hatte die Ausstellung das EAPPI-Netzwerk Deutschland. Hildegard Lenz und Dr. Andreas
Grüneisen waren »Ökumenische Begleiter« in Israel/Palästina gewesen und haben mit vielen Fotos und Schautafeln über das, was
die Besatzung mit Kindern in Palästina anrichtet, berichtet. Die zweiteilige Präsentation von Dr. Andreas Grüneisen kann hier
angeschaut werden: http://nahost-forum-bremen.de/?p=1971. Siehe auch den Beitrag des britisch/australischen Anwalts Gerard
Horton auf S. 18-19. Gerard Horton und die palästinensische Anwältin Salwa haben im Frühsommer in Jerusalem einen Vor-
mittag mit dem Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa verbracht, der eine Informationsreise zu den Palästinensern machte. Über
seine Erkenntnisse schreibt Llosa am 1. und 5. Juli 2016 in El Pais, der größten und bekanntesten spanischen Tageszeitung zwei
längere Beiträge, die hier auf Englisch gelesen werden können: http://bit.ly/2aHhWcc und http://bit.ly/2aRrPFb

SYM 3/2016                                                                                                                  11
Islam in Deutschland

Ein Koran, der zum Kontext passt
Interview mit Dr. Abdelmalek Hibaoui von Martina Waiblinger

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                                                                                         im Zentrum für Islamische
                                                                                         Theologie in Tübingen

                                                                                         diese Vorurteile bestätigt. Dadurch
                                                                                         sind rechtspopulistische, islamfeind-
                                                                                         liche Bewegungen entstanden wie die
                                                                                         PEGIDA und die AfD. Und viele jugend-
                                                                                         liche Muslime in Deutschland fragen
                                                                                         sich, ob sie überhaupt ein Teil dieser
                                                                                         Gesellschaft sind. Ihnen geht es um
                                                                                         Gleichberechtigung bei der beruflichen
                                                                                         Ausbildung und bei der Arbeitsplatzsu-
                                                                                         che. Ferner ist der politische Salafismus
                                                                                         in Deutschland sehr stark geworden. Er
                                                                                         schürt Angst und Misstrauen zwischen
                                                                                         den Religionen. Extremismus und Radi-
                                                                                         kalisierung sind die größten Herausfor-
                                                                                         derungen des interreligiösen Dialogs.

Wo sehen Sie in der Beziehung zwischen      Wichtig sind auch die gemeinsamen            Bietet der interreligiöse Dialog hier eine
Christen und Muslimen in Deutschland        Veranstaltungen im Sinne von Friedens-       Chance zur Entschärfung der Situation?
positive und wo negative Entwicklungen?     gebeten, Tagungen, gemeinsamen Fort-         Natürlich bietet der Dialog eine Chan-
Die Anschläge vom 11. September 2001        bildungen von Priestern und Imamen,          ce zur Entschärfung, und das spiegelt
in Amerika haben den christlich-islami-     aber auch Begegnungen in Gemeinden           sich in den Begegnungen zwischen
schen Dialog sehr stark beeinflusst – auf   und Kirchen, in denen religiöse Feste        Muslimen und Christen bei verschie-
positive und negative Weise. Positiv ist    gemeinsam gefeiert werden. Auch in           denen Anlässen – zum Beispiel wenn
anzumerken, dass durch die Anschläge        den Schulen gibt es intensive religiöse      Muslime Christen zum Fastenbrechen
Christen und Muslime entdeckt haben,        Begegnungen.                                 einladen. Das ist eine Gelegenheit, sich
dass sie sich wenig kennen. Dadurch hat     Zu den negativen Aspekten gehört auf         zu begegnen, miteinander zu reden,
der Dialog eine neue Bedeutung gewon-       einer Seite eine gewisse Angst vor dem       nach Gemeinsamkeiten zu suchen und
nen. Dies hat zur Gründung christlicher     Islam und den Muslimen in der deut-          dadurch Vorurteile abzubauen. Ein
und muslimischer Initiativen geführt,       schen Gesellschaft, die zu Vorurteilen       anderer Aspekt sind gemeinsame Veran-
die nach Gemeinsamkeiten zwischen           gegenüber Muslimen geführt hat. Statis-      staltungen an öffentlichen Orten, zum
Muslimen und Christen suchen und sich       tiken zufolge sehen über 50 Prozent der      Beispiel Friedensgebete von Muslimen
für den interreligiösen Dialog und ein      Deutschen den Islam als eine Bedro-          und Christen.
gutes Zusammenleben engagieren. Ein         hung für Deutschland und mehr als 60
gemeinsames Thema war – aufgrund            Prozent meinen, dass Islam und Demo-
der Ethik im Christentum und Islam          kratie nicht vereinbart sind. Es war nicht   In Tübingen und in anderen Orten
– die Nächstenliebe, die Barmherzig-        zu unterscheiden zwischen der Religion       werden Lehrer für islamischen Reli-
keit, eine Botschaft des Friedens. Ein      als Botschaft von Frieden und Nächsten-      gionsunterricht ausgebildet. Warum
anderer Aspekt ist die Deutsche Islam       liebe und dem Missbrauch der Religi-         ist es wichtig, dass sie in Deutschland
Konferenz: 2006 hat der deutsche Staat      on für politische und wirtschaftliche        ausgebildet werden?
die Initiative ergriffen, den Dialog mit    Interessen. Die Anschläge von 2001 in        Nach der Studie »Muslimisches Leben
den in Deutschland lebenden Muslimen        den USA und Europa (aktuell in Frank-        in Deutschland«, die im Jahr 2008 im
auf verschiedenen Ebenen zu führen.         reich, Belgien und Deutschland) haben        Auftrag der deutschen Islam Konferenz

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Islam in Deutschland

(DIK) durchgeführt wurde, leben in Deutsch-      zwischen Theorie und Praxis, sowohl für die
land mehr als 4,2 Millionen Muslime. Darun-      Seelsorge als auch für die Sozialarbeit. Uns ist
ter sind über 700.000 muslimische Schülerin-     es wichtig, in diesem Bereich sowohl mit der             Dr. Abdelmalek Hibaoui
nen und Schüler. In der deutschen Verfassung     evangelischen als auch mit der katholischen
steht, dass Religionsfreiheit und -ausübung      praktischen Theologie in Tübingen zusam-                 ist geboren in Marokko, hat
ein Recht des Individuums sind – also ist es     menzuarbeiten.                                           Islamwissenschaften, Theo-
eine Selbstverständlichkeit, dass an öffent-                                                              logie und Arabistik an den
lichen Schulen Islamunterricht erteilt wird.                                                              Universitäten Meknes, Fes und
Aufgrund dieses Rechts muss man muslimi-         Es heißt, dass im Zentrum für Islamische                 Rabat/Marokko studiert und
sche Religionslehrer ausbilden. Außerdem:        Theologie Verbände wie der Ditib mehr Ein-               über Annemarie Schimmels
Wenn muslimische Schüler Religionsun-            fluss gewinnen und sich dadurch ein konser-              Wirken und das Islambild in
terricht bekommen, lernen sie die Religion       vativerer Islam durchsetzen könnte. Haben                Deutschland promoviert. Er
auf einer anderen Ebene kennen als in der        auch Sie diese Befürchtung?                              ist Imam in Reutlingen und
Moschee. Islamischer Religionsunterricht         Der Beirat unseres Zentrums besteht nicht                seit 2012 Wissenschaftlicher
an öffentlichen Schulen gibt muslimischen        nur aus Vertretern des Ditib, sondern auch               Mitarbeiter am Zentrum für
Schülerinnen und Schülern die Gelegenheit,       des VIKZ (Verband der islamischen Kultur-                Islamische Theologie (ZITH),
sich mit ihrem Glauben auseinanderzusetzen       zentren) und der Bosnijaken. Wir sehen hier              Universität Tübingen, For-
und über religiöse Themen auch in deutscher      keine Dominanz von Ditib. Wir sind frei,                 schungsthema: »Seelsorge im
Sprache nachzudenken. Außerdem ist der           was die Lehre und Forschung angeht. Wenn                 Islam – Herausforderungen für
Islamunterricht in den Schulen ein wichtiger     gesagt wird, dass Ditib hier einen konservati-           die praktische Theologie im
Aspekt für die Integration. Durch ihn werden     ven Islam vorantreiben, dann frage ich mich,             Kontext pluraler Gesellschaft«.
Werte gelehrt, man spricht über den Rechts-      was ist konservativ und was ist liberal im               2008 – 2012 Mitarbeiter bei
staat, über Menschenrechte, Demokratie und       Islam? Ich sehe einen Islam, der sich an die             der Stadt Stuttgart Abtei-
den religiösen Dialog. Ein Bestandteil des       Muslime hier anpasst. Ich möchte keine Ein-              lung Integration. 2007–2012
christlichen und muslimischen Religions-         teilung in konservative und liberale Muslime.            Lehrbeauftragter für islamische
unterrichts sind Fragen nach den Gemein-         Ich bin für einen Islam, der die Fragen der              Theologie an der PH Ludwigs-
samkeiten: »Woran glauben Muslime und            muslimischen Jugendlichen und ihrer Eltern               burg. Vorstandsmitglied der
Christen, welche ethische Botschaft haben        hier in Deutschland beantworten kann, der                International Association of
andere Religionen?« Das sollte die Schule        zu dem Kontext hier passt, wo Muslime mit                Spiritual Care (IASC) Univer-
vermitteln.                                      Nichtmuslimen in einer pluralen Gesellschaft             sität Bern/Schweiz. Beirats-
                                                 zusammenleben und wo die Verhältnisse z.B.               mitglied des Themenbereichs
                                                 in der Türkei oder in Marokko keine Rolle                Kultur, Bildung, Religion der
Ab Herbst 2016 gibt es in Tübingen den Stu-      spielen. Darin liegt die Herausforderung. Mir            Evangelischen Akademie Bad
diengang: »Praktische islamische Theologie       geht es darum: Wie verstehe ich den alten                Boll. 2010–2014 Mitglied der
für Seelsorge und soziale Arbeit«. Was ist das   Text in dem Kontext? Wir müssen als Theo-                Deutschen Islam Konferenz
Ziel dieses Studiengangs?                        logen eine Theologie entwickeln, die diese               (DIK).
Der Studiengang ist ein Novum in Deutsch-        Frage aufnimmt.
land, ein facettenreiches, praxisorientiertes
Master-Studium. Er ist interdisziplinär und          Die Langfassung des Interviews können Sie auf der
                                                        Internetseite der Evangelischen Akademie lesen:
interreligiös ausgerichtet und zielt auf die     www.ev-akademie-boll.de/service/online-dokumente.html
Ausbildung muslimischer Seelsorgerinnen
und Seelsorger und die Vermittlung von
Handlungskompetenzen in der Sozialarbeit.
Studierende erhalten in diesem Masterstudi-
engang die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten in
der Krankenhaus- und Gefängnisseelsorge,
in Altenheimen, in der Schulseelsorge, in
den Gemeinden, aber auch im Militär und
in der Flüchtlingsarbeit zu reflektieren. Hier
gibt es einen großen Bedarf. Viele Muslime
haben auch großes Interesse daran, sich in
dieser Richtung ausbilden zu lassen, weil dies
für sie eine gute Perspektive bietet. Dieser
Studiengang ist eine tolle Kombination

SYM 3/2016                                                                                                                            13
Dialog mit dem Islam

Grundlagen für einen Dialog
von Christen und Muslimen
                                    Von Prof. Dr. Karl-Josef Kuschel                   Muslime, Christen und Juden teilen Über-
Es war kein Geringerer als unser                                                       lieferungen miteinander, die sie mit An-
früherer Bundeskanzler Helmut       In der Tat zeigt ein Blick in die Geschichte,      gehörigen anderer Religionen nicht teilen
Schmidt, der in zahlreichen Ver-    dass man die Heiligen Schriften Jahrhunderte       – nicht mit Hindus und Buddhisten, nicht
öffentlichungen immer wieder        lang nicht miteinander, sondern gegenein-          mit Konfuzianern und Taoisten. Das ist keine
für einen konstruktiven interre-    ander gelesen hat. Mit Selbstprofilierungs-        Wertung, sondern eine Feststellung, aus der
ligiösen Dialog geworben hat.       interessen auf Kosten der je Anderen, mit          folgt: Juden, Christen und Muslime bilden
Ausgangspunkt war für ihn die-      Übertrumpfungsgelüsten- und strategien: Du         eine besondere Glaubensgemeinschaft von
se Erfahrung: »Viele Rabbiner,      glaubst an Deine Religion, ich an die wahre.       Monotheisten nahöstlichen Ursprungs und
Priester und Pastoren, Mullahs      Das darf man weder verharmlosen noch gar           prophetischen Charakters. Machen wir uns
und Ayatollahs und Bischöfe         ignorieren. Die Dämonen der Vergangenheit          das an einem kleinen Gedankenexperiment
verschweigen ihren Gläubigen        leben noch. Immer noch werden die Heiligen         klar: Einem Muslim muss ich als Christ nicht
die gemeinsame Botschaft.           Schriften und die normativen Traditionen so        lange erklären, wer Noach, Abraham oder
Viele lehren im Gegenteil, über     ausgelegt, dass man die Welt spaltet in die        Mose war. Denn der Koran erzählt von Nuh,
andere Religionen abfällig und      eine wahre Religion und die vielen irrigen,        Ibrahim und Musa genauso in seiner eigenen
ablehnend zu denken. Wer            falschen Religionen. Exklusivitätsanspruch         Deutung selbstverständlich. Einem Muslim
dagegen ernsthaft Frieden zwi-      ist eine Konstante auf allen Seiten. Dagegen       muss ich auch nicht erklären, wer Joseph war,
schen den Religionen will, muss     gilt es ein anderes Narrativ aufzumachen.          denn eine der schönsten Suren des Koran,
religiöse Toleranz und Respekt                                                         Sure 12, erzählt seine Geschichte rund um
predigen. Ob die Zuhörer in         Der Prophet Mohammed hat keine geschicht-          Vater Jakob und seine Brüder: die Geschichte
einer Synagoge, in einer Kirche     lich einzigartige Offenbarung verkündet,           des Yusuf – in koranischer Auslegung natür-
oder in einer Moschee versam-       sondern eine, die sich selber einbettet in eine    lich. Einem Muslim muss ich nicht erklären,
melt sind: Sie sollten begreifen,   geschichtliche Abfolge von Offenbarungen           wer Hiob, David, Salomo und Jonas waren,
dass die Menschen, die einer        und Offenbarungsschriften, die Gott bereits        denn Ayub, Daud, Sulaiman und Yunus kom-
anderen Religion anhängen,          Juden und Christen anvertraut hat. Dass            men im Koran häufig vor – in koranischer
ähnlich gläubig sind wie sie sel-   dies welt- und religionsgeschichtlich von          Lesart, wie sonst? Buddhisten und Hindus,
ber; sie sind Gott so nah und so    größter Bedeutung ist, wo Christen national        Konfuzianern und Taoisten müsste ich das
fern wie sie selbst. Auch wenn      wie global immer mehr Lebensräume mit              alles erklären. Sie teilen mit Juden, Christen
ihre Gebete, ihre Traditionen,      Muslimen teilen und wirtschaftlich mit vom         und Muslimen diese Überlieferungen nicht.
Gebräuche und Sitten sich von       Islam geprägten Ländern in hohem Grade             Umso stärker könnten Brücken über die Reli-
den unsrigen noch so stark un-      verflochten sind, haben viele noch nicht ge-       gionsgrenzen hinweg geschlagen werden!
terscheiden, haben sie Anspruch     nügend begriffen. Helmut Schmidts Erkennt-
auf den gleichen Respekt, den       nisse haben Ungezählte auf allen Seiten,           In der Vergangenheit aber hat das oft genug
wir für uns selbst wünschen«        einschließlich der religiösen und politischen      zu polemischer Abgrenzung und gegensei-
(Vorwort zu: J. Sadat, Meine        Eliten, noch vor sich: Die drei Heiligen Schrif-   tiger Rechthaberei geführt. Besserwisserei
Hoffnung auf Frieden, 2009, 13      ten, der Tanach, das Neue Testament und der        und Rechthaberei aber ist das Gegenteil von
von Prof. Dr. Karl-Josef Kuschel)   Koran, sind engstens miteinander verfloch-         Dialog. Sie ersticken die Kommunikation,
                                    ten. Gerade der Koran als der zeitlich dritten     bevor sie richtig begonnen hat. Grundvo-
                                    Offenbarungsschrift stößt Überlieferungen          raussetzung für den Dialog ist deshalb die
                                    von Juden und Christen nicht ab, sondern tritt     Respektierung des Selbstverständnisses des
                                    mit ihnen in einen neuen, kreativen, d.h. von      jeweiligen Partners sowie die Bereitschaft
                                    der eigenen Axiomatik gesteuerten Ausle-           und die Fähigkeit, sich durch das andere
                                    gungsprozess. Wer also die drei Heiligen           Glaubenszeugnis in der Gotteserkenntnis
                                    Schriften nebeneinander legt, dem wird bei         bereichern, im Glauben vertiefen oder durch
                                    allen Unterschieden deren innere Verwandt-         Gegenerkenntnisse in Frage stellen zu lassen.
                                    schaft bleibend bewusst. Daraus folgt:             Nur so hört Glauben auf, Besitz zu sein. Nur

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Dialog mit dem Islam

so bleibt »Glauben« Glauben: ein auf        man nicht gleichzeitig an die Botschaft              der Koran von biblischen und außerbi-
Vertrauen gegründetes »Auf-dem-Weg-         von Bibel oder Koran glauben, dazu hat               blischen Überlieferungen vornimmt. In
Sein« vor Gott, der der Unverfügbare        jede Schrift ihre eigene unverwechsel-               der Tat: Schon der Prophet selber hatte
bleibt. Diese Grundhaltung der Demut        bare Mitte. Sowohl der Tanach wie das                sich sagen lassen müssen: »Wenn du
vor Gott erst schafft das nötige Vertrau-   Neue Testament und der Koran fordern                 über das, was wir zu dir hinabgesandt
en im dialogischen Gegenüber, nicht         eine verantwortliche Glaubensentschei-               haben, in Zweifel bist, dann frage die,
einer missionierenden Propagandaver-        dung, sich auf die jeweilige Kern-Bot-               die schon vor dir die Schrift vorgetragen
anstaltung ausgesetzt und aufgesessen       schaft einzulassen.                                  haben!« (Sure 10, 94). Und an anderer
zu sein.                                                                                         Stelle ähnlich: »Wir sandten schon vor
                                                                                                 dir nur Männer, denen wir offenbarten
Zu einem gelingenden Dialog gehört                                                               - / So fragt die Leute der erinnernden
somit auch die Dankbarkeit den anderen                                                           Mahnung, wenn ihr es nicht wisst« (Sure
Glaubensgeschwistern gegenüber.                                                                  16, 43). Was wir folglich künftig brau-
Dankbarkeit von jüdischer Seite, dass                                                            chen ist eine Bibelwissenschaft, die im
die Hebräische Bibel der Mutterboden                                                             Koran eine relecture der Bibel erkennt
zweier anderer großer Geschwisterre-                                                             und ihn entsprechend in ihre Ausle-
ligionen werden konnte. Dankbarkeit                                                              gungsgeschichte einbezieht, aber wir
von christlicher Seite Juden gegenüber                                                           brauchen auch eine Koranwissenschaft,
für die Überlieferungen der Hebräischen                                                          welche die Bibel und ihre Auslegungs-
Bibel, ohne welche weder die Person                                                              geschichte als integralen Bestandteil der
Jesu noch die Selbstbehauptung der                                                               koranischen Überlieferungsgeschichte
urchristlichen Gemeinde noch die Ver-                                                            begreift und so gerade auch für den dia-
kündigung an die Völkerwelt denkbar                                                              logischen Austausch fruchtbar macht.
gewesen wäre. Dankbar aber auch Mus-
limen gegenüber, welche die Botschaft       Das Vermeiden bildlicher Darstellungen hat im
vom Gott Abrahams, Moses' und Jesus'        Islam zu einer überragenden Rolle von Schrift        Am 13. Februar 2017 wird beim Patmos
                                            (Kalligraphie) und Ornament in der islamischen
an andere Völker weitergegeben und so       Kunst geführt. Die Abbildung zeigt das Vaterunser,
                                                                                                 Verlag das neue Buch von Karl-Josef
buchstäblich bis an die Enden der Erde      dargestellt als Kalligraphie.                        Kuschel erscheinen: Die Bibel im Koran
getragen haben. Dankbarkeit schließ-                                                             – Grundlagen für das interreligiöse
lich von muslimischer Seite für die         Wer das alles beachtet, dem/der kann                 Gespräch. In diesem Band sind die zwei
Tatsache, dass im Koran an die Schriften    gelingen, in Begegnung und Austausch                 Jahrzehnte währenden Studien zum
angeknüpft wird, die Juden und Chris-       das zu verwirklichen, was der Koran                  Thema Bibel und Koran zusammenge-
ten von Gott zuvor anvertraut worden        selber gefordert hat: einen Streit unter             fasst: Neu bearbeitet und um die Erträge
waren. Haben doch Muslime mit dem           Juden, Christen und Muslimen um das                  der neuesten Forschungen zum Koran-
Koran ein Buch vor sich, das sie den        Verstehen der Wahrheit Gottes, aber                  verständnis erweitert.
»Leuten der Schrift« mitverdanken. Aus      auf die »beste Art«, will sagen: nicht
diesem Geist respektvoller Dankbarkeit      in Überheblichkeit und Rechthaberei,
kann ein fruchtbarer interreligiöser Aus-   sondern im Wettstreit um das je bessere,
tausch über Bibel und Koran entstehen,      tiefere Verständnis der Botschaft des
über ihre Asymmetrien genauso wie           einen Gottes, dem alle drei sich »erge-
über ihre inneren Verbindungen.             ben«, will sagen: ihr Leben und Sterben
                                            anvertraut haben: »Streitet mit dem Volk
Zur Respektierung des Selbstverständ-       der Schrift nur auf die beste Art – außer
nisses des je Anderen gehört auch die       mit denen, die Unrecht tun – und sagt:
Bereitschaft zur Selbstkritik und zum       ›Wir glauben an das, was zu uns und zu
Hören auf die Grundbotschaft des je         euch herabgesandt worden ist. Unser
                                                                                                                        Prof. Dr. Karl-Josef
Anderen. So wie der Koran nicht von der     Gott und euer ist einer.‹ Wir sind ihm er-                                  Kuschel, Universität
Bibel, so ist auch die Bibel nicht vom      geben«, heißt es im Koran (Sure 29, 46).                                    Tübingen, ist Referent
Koran her zu bewerten. Jede Heilige         Dabei sind bei Studium und Auslegung                                        der Tagung »Einfüh-
Schrift hat den Anspruch, aus sich selbst   von Bibel und Koran Juden, Christen                                         rung in den interreli-
                                                                                                                        giösen Dialog mit dem
heraus verstanden zu werden. Die Bibel      und Muslime auf wechselseitige Verste-                                      Islam«, die vom 7.-8.
ist nicht für den Koran, und der Koran      henshilfe angewiesen. Ohne Bibelkennt-                                      September 2016 in
ist nicht für die Bibel Maßstab der Aus-    nisse kein Koranverständnis und kein                                        Bad Boll stattfindet.
legung. In letzter Konsequenz aber kann     Koranverständnis ohne die relecture, die

SYM 3/2016                                                                                                                                15
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