3 Evangelische Akademie Bad Boll
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www.ev-akademie-boll.de September 2016 3 Der Dialog zwischen Christen und Muslimen muss auf allen Ebenen stattfinden. Jugendliche Dschihadisten in Deutschland ● Ein Koran, der zum Kontext hier passt ● Grundlagen für einen Dialog von Christen und Muslimen ● Gut gemeint? Partnerschaftsarbeit ist mehr
Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, eine betagte Frau aus Isny erzählte mir einmal, dass ihr als Es gibt auch positive Entwicklungen. Dazu zählen die Isla- junger Katholikin verboten worden war, einen Hausratswa- mischen Theologischen Zentren in Deutschland, die musli- renladen zu betreten, der einem Protestanten gehörte. Bei mische Religionslehrer ausbilden – eine wesentliche Voraus- einem Verstoß, so die Drohung, würde sie sofort der himmli- setzung dafür, dass muslimische Schülerinnen und Schüler sche Blitz treffen. Schließlich siegte bei der Jugendlichen die den Islam im deutschen Kontext erklärt bekommen. Laut Dr. Neugier – und nichts passierte. Das kann man sich heute nicht Abdelmalek Hibaoui (S. 12f.) ist dies ein wichtiger Aspekt für mehr vorstellen. Auch wenn es das gemeinsame Abendmahl die Integration. Ferner bekommen sie dadurch auch viel »über noch nicht gibt, sind die Differenzen zwischen Katholiken den Rechtsstaat, Menschenrechte, Demokratie und den inter- und Protestanten im Alltag – gefördert durch langjährige religiösen Dialog vermittelt.« Hibaoui gehört zum Beirat der Dialoge auf allen Ebenen – verschwunden. Das Thema liegt Evangelischen Akademie im Themenbereich Kultur, Bildung, nicht oben auf. Mit den vielen nun in Deutschland lebenden Religion. (siehe Interview S. 12f.) Muslimen wird ein Dialog dagegen immer wichtiger. Tshamala Schweizer, Geschäftsführender Vorstand von Afro- Wolfgang Wagner, ehemaliger Studienleiter, schrieb 2003: kids erzählt bei einer Tagung zu erfolgreichen Partnerschafts- »Zum interreligiösen Dialog gibt es keine Alternative. Hätte reisen (s. S. 16-17) folgende Geschichte: »Ein Affe geht zum man ihn vor 100 Jahren schon mit den Juden betrieben, wie es Teich zum Trinken. Da sieht er einen Fisch nach Luft schnap- heute gängige Praxis ist, wäre der Holocaust wohl nicht mög- pen. Der Affe denkt, der arme Fisch – ich muss ihn retten. Er lich gewesen.« (s. S. 6) Diese Überlegung unterstreicht die nimmt den Fisch aus dem Wasser. Der Fisch beginnt zu zap- Dringlichkeit für den Dialog – vor allem jetzt, da islamistische peln – da streichelt der Affe ihn: Ich helfe Dir doch! Schließ- Anschläge auch in Europa verübt werden. Die Themen, die lich stirbt der Fisch. Da kommt ein anderer Affe vorbei und dabei regelmäßig aufkommen, sind »Gewalt im Koran«, der meint: »Du hast nicht gewusst, dass ein Fisch nur im Wasser IS und die Frage, wie Jugendliche in Deutschland zu Dschiha- überleben kann.« Dass wir Westler die Affen sind, ist klar. Die disten werden. Die Expertin Claudia Dantschke hat darüber im Geschichte macht einen schmunzeln und doch nachdenklich. Mai in der Akademie referiert. Ein Interview mit ihr finden Sie Schweizer berichtet von seinen Erfahrungen und die Beispiele auf S. 8ff. Dabei ging es auch um Moscheen, deren Prediger zeigen, dass es diese Arroganz immer noch gibt, dass bei uns teilweise eindeutig terroristisches Gedankengut verbreiten. ein Unistudium mehr zählt als das Wissen, das durch Erfah- rung gewonnen wird. Dialog ist eben nicht alles – es kommt In diesem Zusammenhang lässt ein Beitrag in der ZEIT von auf die Haltung und den Respekt an. So beschreibt es Karl- Mitte Juli über die Unkenntnis des deutschen Staats über die Josef Kuschel in seinem Beitrag zu den Grundlagen des Dia- Moscheen in Deutschland – ihre Anzahl, Ausrichtung, Finan- logs von Christen und Muslimen (s. S. 14f.): »Besserwisserei zierung etc. aufhorchen. Die Autorinnen recherchierten vier und Rechthaberei aber ist das Gegenteil von Dialog. Sie ersti- Wochen und kamen schließlich auf die Zahl von 2750 Mo- cken die Kommunikation, bevor sie richtig begonnen hat.« scheen. Diese Unwissenheit erstaunt, da die Bundesregierung über die Deutsche Islam Konferenz (DIK) und viele andere Ich wünsche Ihnen eine interessante Lektüre! Gremien informiert sein sollte. Laut Mariam Lau ist die Islam- Mit herzlichen Grüßen debatte im DIK inzwischen allerdings »völlig verkarstet. Die Verbände haben sich angesichts der Islamfeindschaft der AfD, aber auch aus Sturheit in der Opferrolle verschanzt.« (S. 30) 2 SYM 3/2016
Inhalt 4 20 Aktuell ... Vorschau ▪ Küchle, Curry und Tagungen vom 7. September Carpaccio bis 31. Dezember 2016 ▪ Flyer mit Tagungen zum Thema Reformation ▪ Neues Projekt im treffpunkt 50plus: KommmiT 25 ▪ Rüdiger Sachau zur Zukunft Aus der Akademie der Akademien ▪ Rezept ▪ Neu in der Akademie: Dr. Albert Decker 6 ▪ Neu in der Akademie: 8 Thomas Reusch-Frey Akademiegeschichte ▪ Abschied von Anmerkung zum interreli- Dr. Karlheinz Bartel giösen Dialog in den Akade- mien (2003) von Wolfgang Thema: Wagner Der Dialog zwischen Christen und Musli- 27 men sollte auf allen Ebenen stattfinden Publikationen 7 Jugendliche Dschihadisten. Islam-Expertin Claudia ▪ Buchtipp, Filmtipp ▪ Weitere Hinweise Kunst Dantschke hilft Familien und Kommunen. Interview ▪ Verlosung von Anke Schipp und Annemarie Diehr, S. 8 Boller Bußtag der Künste mit Ausstellungseröffnung. Kaleidoskop, S. 11 »ANVERWANDELN, AUS- SCHWEIFEN« – kontext-bezo- Ein Koran, der zum Kontext passt. Interview mit 29 gene Malerei und Handlungen Dr. Abdelmalek Hibaoui von Martina Waiblinger, S. 12 Impressum von Kerstin Schäfer Grundlagen für einen Dialog mit Christen und Muslimen. Von Prof. Dr. Karl-Josef Kuschel, S. 14 30 18 Gut gemeint? Partnerschaftsarbeit ist mehr, S. 16 Kommentar Extra: Islamdebatte im Stuhlkreis. Menschenrechte Zur Deutschen Islam Kon- Kinder in Militärgewahrsam. ferenz von Mariam Lau Israelische Siedlungen in der Westbank sind illegal und Titelbild 31 Auslöser für Gewalt Noman spielt mit Julie Klavier. Er ist ein muslimischer Deutscher mit pakistanisch-tanzanischen Wurzeln und Meditation Julie ist eine christliche Französin mit libanesisch-fran- Theologie mitten im Leben. zösischen Wurzeln. Foto Martina Waiblinger Zur Erinnerung an Dr. Elisa- beth Moltmann (1926-2016) von Carmen Rivuzumwami SYM 3/2016 3
Aktuell Küchle, Curry und Carpaccio bekannt. Aber auch für ihre nachhaltige Küche. Neues Akademiekochbuch erscheint Schon seit den Achtzigerjahren lässt die Akademie die Küche im Dorf und kauft die meisten Produkte im September in der Region. Das Küchenteam verarbeitet ernte- Marianne Becker/ frische und saisonale Produkte, die Gäste freuen Claudia Mocek/Martina sich über köstlich-raffinierte Gerichte, die sie mit Waiblinger: Küchle, einem guten ökologischen Gewissen genießen. Curry und Carpaccio. Das Akademie-Kochbuch bietet den Lesern rund Nachhaltig leckere Re- 80 Rezepte, mit denen sie die leckeren Gerich- zepte aus der Akademie Bad Boll. Mit Foto- te aus Bad Boll einfach nachkochen können. grafien von Valentin Kohlrabi-Carpaccio, Rinderschmorbraten und Marquardt, 160 Seiten, Rhabarbermousse: Die Vor-, Haupt- und Nachspei- 120 Farbfotos, 19,90, sen sind nach Jahreszeiten geordnet und anspre- Silberburg-Verlag, ISBN chend bebildert. Die Rezepte eignen sich sowohl 978-3-8425-2000-4 für Anfänger als auch für Kochprofis. Tipps für vegetarische Varianten und Infos über Quinoa, lila Reis und andere eher exotische Zutaten ergänzen die Rezepte. Porträts der regionalen Zulieferer und Texte, die zum Nachdenken über Essen und Geld, Umweltschutz und Landwirtschaft einladen, run- den das Buch ab.« Unser Dank gilt ganz besonders Marianne Becker mit dem gesamten Küchenteam, Claudia Mocek und Martina Waiblinger für das Es war ein Projekt, das unseren Mitarbeitenden Engagement bei diesem Projekt und natürlich dem erkennbar Freude bereitet hat, und dem Fotografen Fotografen Valentin Marquardt. auch: das neue Kochbuch der Akademie mit dem Dr. Günter Renz Titel »Küchle, Curry und Carpaccio. Nachhaltig le- ckere Rezepte aus der Akademie Bad Boll«. Schon die bisherigen schmalen Kochbüchlein der Akade- Flyer mit Tagungen zum mie waren äußerst gefragt, bis sie restlos vergriffen Thema Reformation waren. Nun also ein repräsentatives Buch, das im September im traditionsreichen Silberburg-Verlag Ab Mitte September liegt ein Flyer der Evangeli- erscheint mit 160 Seiten und 120 Farbfotos. Da ist schen Akademie Bad Boll mit einem Angebot von der Preis von 19,90 € angemessen. acht Tagungen zum Thema Reformation vor. Sie- ben Tagungen finden zwischen Oktober 2016 und Es war die Küche, mit der das Nachhaltigkeits- Juli 2017 statt, ein Angebot für Kirchengemeinde- konzept der Akademie 1983 einen ersten Anfang räte ist zeitlich offen und kann angefordert werden. nahm, und es ist wunderbar, dass unsere Küche Es geht dabei um die Aktualität der Reformation bis heute mit Beharrlichkeit und Kreativität das und die Frage: Was hat das mit uns heute zu tun? Konzept weiterentwickelt. Gut, dass viele andere Studienleiter Wolfgang Mayer-Ernst: »Wir wollen Wirtschaftsbereiche dank Jobst Kraus und unserer Martin Luther kennenlernen als Kind seiner Zeit. Nachhaltigkeitsbeauftragten Carmen Ketterl in die- Und seine Theologie als eine Theologie, die aus ses Nachhaltigkeitskonzept einbezogen wurden. existentiellen Fragen von damals entstanden ist Gut aber auch, dass wir die Bedeutung einer nach- und uns auch heute noch Spannendes zu sagen haltigen Ernährung für die Zukunft unseres (Über-) hat.« Lebens auf diesem Planeten auch in Tagungen Eine Tagesveranstaltung befasst sich mit der verstärkt thematisieren, so z.B. in einer Tagung nachhaltigen Transformation unserer Gesellschaft im Oktober mit dem Titel »Gutes Essen, gesunde – dazu ist auch Landesbischof Frank Otfried July Landwirtschaft und achtsame Menschen«. eingeladen. In einer weiteren Tagesveranstaltung geht es um die ökonomische Verantwortung kleine- Der Verlag kündigt das Buch mit folgenden Worten rer und mittelständischer Betriebe. an: »Saisonal, regional, bio und fair: Die Evangeli- Im Dezember findet immer die Lesbentagung in sche Akademie Bad Boll am Fuß der Schwäbischen Bad Boll statt. In diesem Jahr thematisieren Frauen Alb ist für ihre Aufsehen erregenden Tagungen die Frage, was die Reformation vor 500 Jahren für 4 SYM 3/2016
Aktuell die Lebensformen und die Spiritualität von Frauen schläge für die richtige Handhabung technischer bedeutet. Es geht um die Möglichkeiten weiblicher Geräte einholen können. Das Serviceangebot Lebensentwürfe in der Reformationszeit und de- der Kontaktstelle basiert dabei auf zwei Säulen: ren widersprüchliche Folgen. einer digitalen App und einem lokalen Service- Die Ausstellung »Kirche ordnen – Welt gestalten« Büro. Während die App Informationen zu Wohn-, mit einem Vortrag zur Eröffnung dokumentiert Mobilitäts- und Pflegedienstleistungen bündelt die Bedeutung evangelischer Kirchenordnungen und Texte bei Bedarf auch mehrsprachig über ein des 16. Jahrhunderts für die Entwicklung der Smartphone oder einen Tablet-Computer vorlesen Rechtskultur bis in unsere Gegenwart hinein. 20 kann, dient das Service-Büro als persönliche Koor- Schautafeln veranschaulichen die gesellschaftliche, dinierungs- und Anlaufstelle. politische und religiöse Situation des deutschen Neben regelmäßigen Schulungen, mit denen die Südwestens in jener Zeit. Parallel zur Ausstellung Medien- und Technikkompetenz älterer Menschen findet die Tagung »Die Reformation, das Recht und unterstützt werden soll, bietet das Büro zusätzlich unser Rechtsstaat – zu den Wirkungen der Refor- Gelegenheit, neue Assistenzsysteme für den Haus- mation in Kirchenrecht und staatlicher Rechtsset- halt auszuprobieren. zung« statt. Luthers Blick auf den Islam, das Bild vom Islam in der Reformationszeit und seine Folgen stehen bei Rüdiger Sachau zur Zukunft einer weiteren Tagung im Mittelpunkt – es geht um der Akademien eine Zeit, in der Muslime noch nicht zu Deutsch- land gehörten und nur wenige Menschen Musli- Rüdiger Sachau ist Akademiedirektor der Evange- men begegnet waren. lischen Akademie zu Berlin und Vorsitzender des Die Tagung »Wortgewaltig – bilderfrei? – Freiheit Dachverbands der 17 Evangelischen Akademien in und die Macht des Visuellen!« findet in Kooperati- Deutschland (EAD), die an 18 Standorten mit rund on mit der Evangelischen Akademie in Wittenberg 140 Studienleitenden arbeiten (www.evangelische – statt. Fragen nach dem Verhältnis von Wort und akademien.de). In einem Interview, das der Website Bild, nach der Zukunft des christlichen Glaubens der Evangelischen Akademie zu Berlin zu lesen ist angesichts einer im Zeichen des Digitalen stehen- (www.eaberlin.de), äußert sich Sachau zu der Ent- den Medienwende sollen am historischen Ort im wicklung der Beziehungen zwischen den evangeli- Kontext von Reformation und Weltausstellung schen Akademien in den letzten 15 Jahren. Früher erörtert werden. Vorträge, Besichtigungen und habe es mehr Konkurrenz unter den Akademien Diskussion runden das Programm ab. gegeben, mittlerweile habe sich die Zusammenar- Bestellungen ab Mitte September bei reinhard. beit stärker in Richtung Kooperation entwickelt. becker@ev-akademie-boll.de, 07164 79-305 Er macht dies insbesondere an den regelmäßig stattfindenden Netzwerkprojekten fest, an denen immer mehrere Akademien teilnehmen, z.B. bei Neues Projekt im treffpunkt 50plus: dem aktuellen Projekt »… dem Frieden der Welt Rüdiger Sachau ist dienen …«. Ferner geht Sachau auf die veränderten KommmiT Formate ein, die in den Akademien genutzt werden. Direktor der Evange- lischen Akademie zu KommmiT bedeutet Kommunikation mit intel- Bezüglich der in Zukunft bei den Akademien zu be- Berlin. ligenter Technik. Über fünf Jahre finanziert das handelnden Diskurse meint er: »Der gesellschaft- Bundesministerium für Bildung und Forschung liche Zusammenhalt wird das Thema der nächsten (BMBF) dieses Angebot, das der treffpunkt 50plus Jahre. Wie gelingt unser Zusammenleben in einer zusammen mit zehn weiteren Organisationen Gesellschaft mit sehr unterschiedlichen kulturellen durchführt. Der treffpunkt 50plus ist dafür ver- und religiösen Prägungen? Wie gelingt Integration, antwortlich, ehrenamtliche Alltags- und Techni- wie gestalten wir die sozialen Systeme besonders kassistentinnen zu gewinnen, zu schulen, sie in im Gesundheitsbereich weiter? Haben wir etwas private Haushalte zu vermitteln und zu begleiten. aus der Bankenkrise gelernt?« Ferner geht er auf Interessentinnen und Interessenten können sich die Herausforderung der weiteren Digitalisierung schon jetzt im Sekretariat des treffpunkt 50plus zur und der Konsequenzen, die die Akademien ziehen Mitarbeit melden. Eine detaillierte Ausschreibung müssen, ein und fragt, warum es kaum Studienlei- ist ebenfalls dort erhältlich. tende mit Migrationshintergrund gibt und nur zwei Das Projekt »KommmiT« entwickelt einen Service- Direktorinnen. Das ganze Interview kann gelesen point, über den ältere Menschen Tipps und Rat- werden unter: http://bit.ly/2aL1gn0 SYM 3/2016 5
Akademiegeschichte Weder blind noch blauäugig Anmerkungen zu interreligiösen speziellen Frauentagungen kommen Dialogen in der Akademie (2003) auch die zu Wort, die aufgrund ihrer Tradition nicht gewöhnt sind, vor Män- Der Dialog mit Angehörigen anderer nern zu sprechen. Gern erinnere ich Religionen ist umstritten. Er muss mich an eine Kopftuch tragende Studen- gerechtfertigt werden hinsichtlich einer tin, die ihre türkische Mutter zu einem innerkirchlichen Opposition, aber auch interreligiösen Kabarett in die Akademie gegenüber einer skeptischen Öffent- brachte. Sie wollte ihr zeigen, dass es lichkeit. Die folgenden Bemerkungen sich hier nicht um eine »Höhle christli- verstehen sich als kleine Antwort auf cher Löwen« handle, die ihr Töchterlein die Vorwürfe, die Dr. Johannes Kundel verspeisen wollen. Noch spannender ist von der Friedrich-Ebert-Stiftung unter es natürlich, wenn sich islamische Theo- dem Titel »Lieber blauäugig als blind?« loginnen einem christlichen Konvent an- im Materialdienst der Evangelischen schließen nach dem Motto: »Wir Frauen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen sind in jeder Religion benachteiligt.« (Heft 5/03, S. 176 ff.) veröffentlicht hat. Auf der letzten EKD-Synode forderten 3. Koran und seine Auslegung. einige das Ende des »Höflichkeitsdia- Es ist überaus spannend, einmal islami- logs mit den Muslimen«. Es entsteht sche Koraninterpretationen zu hören. der Eindruck, man habe bisher fleißig Dr. Nadeem Elyas, Zentralrat der Muslime, mit Tatsächlich erinnert vieles an christliche Wolfgang Wagner während der Sommeruniversität Freundlichkeiten ausgetauscht und müs- 2002 in Bad Boll. Scholastik. Wenn man bedenkt, dass se nun endlich zur Auseinandersetzung historisch-kritische Bibelauslegung übergehen. Tatsächlich haben jedoch bis in unsere Gegenwart umstritten ist die meisten noch gar nicht begonnen, Missionskreisen, aggressiv vortragen. und von christlichen Fundamentalisten ja viele Pfarrer bekennen ihre Ratlosig- Dr. Nadeem Elyas vom Zentralrat der bekämpft wird, dann wundert man sich keit, wie man denn das anstellen solle. Muslime meinte auf einer Podiumsdis- wenig, dass kritische Außenseiter es Deswegen fordere ich seit einiger Zeit kussion gar, dass er beleidigt wäre, wenn im Islam schwer haben. Sie kommen eine(n) »Beauftragte(n) für den Dialog«. Christen ihm vorenthielten, was ihnen übrigens bevorzugt in Dialogen zu Wort. Islam-Experten, die wie ein Scholl- im Glauben wertvoll sei. Natürlich kann Überhaupt erleben sie bei uns in der Aka- Latour ständige Bedrohungen ausmalen, man im Detail viele Fragen stellen. Wenn demie eine »innerislamische Ökumene«, gibt es schon reichlich. Keine Frage, dass man allerdings Antworten bekommen wenn Vertreter verschiedener Traditio- man sich mit den Argumenten ausei- will, muss man sich schon mit Muslimen nen bei uns zusammenkommen. nandersetzen muss, aber es ist ebenso zusammensetzen. wichtig, den Islam ernst zu nehmen, den Fazit: Zum interreligiösen Dialog gibt es mein jeweiliger Partner lebt. Darum la- Als unerledigte Themen werden ge- keine Alternative, wenn wir nicht wieder den wir ja auch immer andere Referenten nannt: Ghettos einrichten wollen. Hätte man ein. Eine Akademie ist an Erkenntnissen 1. Menschenrechte, Demokratie und ihn vor 100 Jahren schon so mit Juden interessiert und nicht diplomatischer säkularer Staat: Das sind sozusagen die betrieben, wie es heute gängige Praxis Kirchenpolitik verpflichtet. Dauerbrenner bei Akademietagungen. ist, wäre der Holocaust wohl nicht mög- Wer sich erinnert, dass die Kirchen in lich gewesen. Damals hat man jedoch Es ist wahr: Nur etwa 10 Prozent der Deutschland bis 1945 Demokratie abge- gegen Juden ähnliche theologische Muslime sind durch Verbandsfunktio- lehnt und teilweise bekämpft haben, der Argumente bemüht, wie heute gegen näre repräsentiert. Die anderen lernen hat vielleicht mit Einwanderern etwas Muslime ins Feld geführt werden. wir kennen, wenn wir Fachleute zu mehr Geduld. Ja, er verstärkt sogar den bestimmten nichtreligiösen Themen Dialog. Denn ohne die Begegnung mit Wolfgang Wagner, Studienleiter von 1998 bis 2012, in aktuelle gespräche 2/2003, gekürzt einladen. Geht es beispielsweise um Demokraten kommt man wohl kaum Aids-Prävention oder Sterbehilfe, ist es weiter. sehr aufschlussreich, wie ein islamischer Arzt argumentiert. Es ist nicht wahr, dass 2. Frauen im Islam: Es gibt wohl keine wir Christen unseren Glauben verleug- Tagung, in der nicht wenigstens eine nen, wenn wir ihn nicht, wie in gewissen Arbeitsgruppe sich damit befasst. In 6 SYM 3/2016
Kunst in der Akademie Boller Bußtag der Künste mit Ausstellungseröffnung »ANVERWANDELN, AUSSCHWEIFEN« - kontextbezogene Malerei und Handlungen von Kerstin Schaefer Statement Kerstin Schaefer Kerstin Schaefer ist eine Malerin, Zeichnerin (ad-hoc-Kalligrafien) und Performerin mit 1972 geboren in Lörrach, Arbeitsmittelpunkt in Stuttgart, ist Absolven- Baden-Württemberg; lebt tin der HfBK Dresden, war dort nach ihrem und arbeitet in Stuttgart Diplom in Freier Kunst Meisterschülerin für »Übergreifendes künstlerisches Arbeiten«. 1998–2004 Studium Freie Themenkreise: Freiheit, Wunsch, Vision, Kunst, Malerei/Grafik an Schöpfung, Raum & Haus. der HfBK Dresden 2006 sechsmonatiges Ate- Oft arbeitet sie mit vorgefundenen Dingen, lier-Stipendium beim ISCP die sie remodelliert, übermalt, zerstört und International Studio and überarbeitet und so in ihre Vorstellung von Curatorial Program New Gegenwärtigkeit versetzt, was oft übergriffig, York, Aufenthaltsstipendi- krude, manchmal zurichtend, manchmal um der Kulturstiftung des humorvoll daherkommt, letztlich aber immer Freistaates Sachsen skulptural-malerisch konsistent ist. Sie geht von der Gefülltheit des Unscheinbaren, 2004–2006 Meisterschü- Harmlosen aus und schält das Authentische lerin bei Prof. Ulrike aus einem Ding, Raum, Setting heraus. Sie Grossarth sammelt und konstruiert Atmosphären. In ihrer Malerei, die immer auch in ihren Instal- 2008 Stipendiatin der lationen und performativen Settings – neben Kunststiftung Baden- Stoffen, Sound und weiteren synästhetischen Württemberg Komponenten – eine wichtige Rolle spielt, 2009-2010 dreimonatiges gestaltet sie die Kernaussagen additiv. Atelierstipendium beim CEAAC, Straßburg Sie arbeitet als Malerin gern spezifisch mit Räumen und mit Publikum im öffentlichen 2011 Gründungsmitglied und halböffentlichen Raum; sie baut Räume der Künstlerinitiative und involviert Besucher und Passanten in FUKS, Stuttgart künstlerische Handlungen und Prozesse. 2012 Teilnahme und Kerstin Schaefer beschäftigt sich malerisch, Hervorhebung beim Ersten zeichnerisch und raumgreifend mit dem Kunstpreis der Evange- Zauber des Zufalls, der Magie in und hinter lischen Landeskirche Boller Bußtag der Künste in Kooperation mit dem Verein den Dingen, mit Unstimmigkeiten vis-à- Württemberg »Bilder? für Kirche und Kunst, 16. November 2016, 16:00 Uhr. vis Stimmigkeiten, im Dialog von Hell mit Bilder!« Der Vortrag zum diesjährigen Boller Bußtag befasst sich Dunkel, mit Zwischentönen und im Erfor- mit dem Thema der Vermittlung von Kunst. Referentin Seit 2013 Tätigkeit als ist Susanne Jakob, Kunstwissenschaftlerin M.A. und schen von Kraftquellen, liefert Atmosphären und Gefüge, die Botschaften enthüllen, die Kulturagentin, aktives Leiterin des Kunstvereins Neuhausen e.V. Zum Abschluss spielt die Akademische Betriebskapelle der Staatlichen unser Unbewusstes versteht und mit denen es Mitglied in zahlreichen Akademie der Bildenden Künste, Stuttgart. unmittelbar kommunizieren kann. Künstlerverbänden Leitung: Prof. Dr. Hans-Ulrich Gehring Seit 2015 Dozentin für Ma- Quelle: www.kerstinschaefer.com. lerei an der Kunstakademie Information und Anmeldung: Andrea Titzmann, Tel. 07164 79-307, andrea.titzmann@ev-akademie-boll.de Esslingen Dauer der Ausstellung: Mittwoch, 16. November 2016 bis Sonntag, 29. Januar 2017 SYM 3/2016 7
Dschihadisten Jugendliche Dschihadisten Islamismus-Expertin Claudia Dantschke hilft Familien und Kommunen Propaganda-Foto der IS-Kämpfer in Raqqa, Syrien, 2015 Interview mit Claudia Dantschke von Und was macht den Pop-Dschihadismus Also hätten sie sich theoretisch auch Anke Schipp und Annemarie Diehr so verführerisch? einer anderen Jugendbewegung an- Dass du der Held sein kannst, dass du schließen können, um zu rebellieren? Sie sprechen von einem »Pop-Dschiha- zur auserwählten Gruppe gehörst, und Ja, der Zufall spielt da eine große Rolle. dismus«. Was verstehen Sie darunter? selbst wenn du dann stirbst, wirst du Erfolg hat der Pop-Dschihadismus auch Ungefähr seit drei, vier Jahren hat sich in dafür mit dem perfekten, glücklichen dadurch, dass er die jugendkulturellen Deutschland wie zuvor schon in England Leben im Paradies belohnt. Und da diese Medien ganz stark nutzt. Die dschiha- und in anderen westeuropäischen Län- Jugendlichen in ihrem bisherigen Leben, distischen Gruppen werben für sich dern eine radikale salafistische Jugend- sozusagen im Diesseits, nur Misserfolge anders, als es früher Al Qaida getan hat. kultur entwickelt. Das ist eine hippe und Frust hatten, sich nicht wahrge- Es gab damals schon dschihadistische Jugendkultur, und sie können dort vieles nommen fühlten, haben sie endlich das Internetforen, auf die man aber nicht finden, was Jugendkulturen ausmacht: Gefühl, dazuzugehören. Die meisten zufällig stieß. Jetzt gibt es Facebook- Abgrenzung von den Eltern, Aufmerk- haben auch nicht gelernt, für irgend- Seiten und einzelne Dschihadisten aus samkeit, Gruppengefühl, vermeintlich welche Misserfolge die Verantwortung Syrien mit eigenen Twitter-Accounts. starke Männlichkeitsbilder. Auch wenn zu übernehmen oder sich nach einem Das heißt, sie sprechen die Jugendli- diese Jugendlichen nicht auf der Suche Misserfolg wieder aufzurappeln und ihn chen genau dort an, wo sie sich schon nach Religion sind, werden die Begrün- zu verkraften. befinden. dungsmuster aus der Religion entlehnt und zugespitzt. 8 SYM 3/2016
Dschihadisten Spielt es auch eine Rolle, dass der sogenannte Probleme, die es in vielen Familien gibt. »Islamische Staat« (IS) mit Logos und Uni- Wir haben jetzt zum Beispiel den Fall eines formen arbeitet und so hohe Identifikations- Jugendlichen, der lange krank war und im merkmale schafft? Gymnasium den Anschluss verpasste. Darun- Das haben diese Gruppen immer schon ter litt sein Selbstwertgefühl. Er wechselte die gemacht. Für eine Jugendkultur ist es wichtig, Schule und fand neue Freunde aus der radika- Claudia Dantschke vom Zent- sich abzugrenzen von anderen Jugendkul- len Szene. Die strahlen etwas von Überlegen- rum Demokratische Kultur in turen, denn es ist ja eine Gemeinschaft, zu heit aus, von Kraft, und das wird bewundert. Berlin war Referentin auf der der man gehört, und da ist das Outfit, die Tagung »Junge Muslime zwi- Markierung ganz wichtig. Die Dschihadisten Was raten Sie in diesem Fall den Eltern? schen Extremismus und Dialog. laufen nicht wie traditionell fromme Muslime Wir versuchen, den Eltern zu erklären, aus Herausforderung Dschihadis- herum, sondern tragen Military-Look. Das welchen Gründen der Jugendliche die ande- mus«, die am 9./10. Mai in Bad hat auch schon Al Qaida gemacht, aber der IS ren bewundert und warum es ihm selbst an Boll stattgefunden hat. Über hat über die letzten Jahre eine Art westliches Selbstwertgefühl fehlt. Es geht erst einmal ihre Arbeit und ihre Erkennt- Pop-Outfit entwickelt, so eine Art Streetwear darum, dass die Eltern zuhören, dass sie nisse hat sie letztes Jahr der mit eigenen Fanshops. Im Internet kann herausfinden, was den Sohn eigentlich be- FAZ ein Interview gegeben, das man von der Basecap über das T-Shirt alles schäftigt, was er vielleicht im Leben vermisst. wir im Folgenden veröffent- Mögliche bestellen, und das ähnelt dann eben lichen. Das Interview ist am genau diesem dschihadistischen Outfit. »Immer eine Tür offen lassen«, »zuhören«, 18.1.2015 in der FAZ erschie- »reden«: das klingt nach Pubertätsratgeber. nen. Die Fragen stellten Anke Sie sagen, dass es viel um Emotionen geht, Reicht das aus? Schipp und Annemarie Diehr. um Siegerposen, die Kraft des Stärkeren, um Der nächste Schritt ist, dass wir versuchen zu © Alle Rechte vorbehalten. das Paradies. Was setzen Sie in Ihrer Arbeit schauen, wie wir das Selbstwertgefühl des Ju- Frankfurter Allgemeine Zeitung dem konkret entgegen? Eine Ausbildung zum gendlichen stärken. Es müssen Perspektiven GmbH, Frankfurt. Zur Verfü- Einzelhandelskaufmann? her. Wir bauen um ihn herum ein Hilfsnetz- gung gestellt vom Frankfurter Die Radikalisierung hat drei verschiedene werk auf, das kann aus Pädagogen oder Psy- Allgemeine Archiv. Ebenen. Die erste ist die affirmative Ebene, chologen bestehen. Manchmal hilft es auch, Siehe auch PM vom 8.5.2016: die betrifft die ganz individuellen Bedürfnisse eine Lehrstelle zu finden. Neulich hat uns http://bit.ly/10gSb5f der einzelnen Person. Da geht es sehr stark ein Vater angerufen und geklagt, dass seine um Emotionen. Die zweite ist die pragma- ziemlich junge Tochter zum Islam konvertie- tische Ebene, also die Einbindung in Grup- ren will. Zunächst hat er gesagt, dass er das penprozesse, das Vertrauen in bestimmte niemals akzeptieren werde. Im Gespräch Akteure dieser Gruppe. Und die dritte ist die mit uns hat sich das gewandelt, und er hat Ideologie, die Begründungsmuster. Bevor sich mit seiner Tochter darauf verständigt, wir also mit diesen Jugendlichen über ihre dass sie sich erst mal informieren soll. Beide Ideologie sprechen und sie vielleicht dahin haben vereinbart, dass sie ein Jahr wartet und bringen, diese auch in Frage zu stellen, müs- dieses Jahr nutzt, um sich zu orientieren. sen wir zuerst diese affirmative Ebene, das Vielleicht ebbt in dieser Zeit das Interesse ab, Emotionale, betrachten. Dieser Ansatz läuft oder sie lernt den Islam von seiner friedlichen über Angehörige und nahe Bezugspersonen. Seite kennen, den zu praktizieren auch den Dort ist die emotionale Beziehung zwar da, Vater nicht mehr ängstigen muss. Wichtig aber erfahrungsgemäß durch den Radika- war in diesem Fall, Zeit zu gewinnen, weil die lisierungsprozess gestört. Vielleicht ist sie Gefahr bestand, dass das Mädchen bei einer auch Mitauslöser dafür, dass der Jugendliche totalen Ablehnung erst recht in eine radikale diesen Weg beschritten hat. Und deshalb Gruppe abdriftet. versuchen wir erst mal herauszubekommen, welche Konflikte es vielleicht in der Familie Was bringt Mädchen eigentlich dazu, dem oder dem sozialen Umfeld gibt. radikalen Islam zu folgen? Die Attraktivität des politischen Salafismus Welche können das sein? oder des Dschihadismus, wie Anerkennung, Das können autoritäre Erziehungsmethoden Identität, Orientierung oder Aufmerksamkeit, sein oder einfach eine Nichtkommunika- betrifft sowohl Jungs als auch Mädchen. Bei tion. Es können Verlusterfahrungen sein, Mädchen kommt hinzu, dass oft eine Liebes- Scheidungen, der Tod des Vaters. Eigentlich geschichte dahintersteckt. Eltern sprechen SYM 3/2016 9
Dschihadisten einem Klassenausflug sind. Oder sie verschwinden ganz, ohne was zu sagen. Sind Sie dann am Ende mit Ihrer Beratung? Nein. Wir können ihnen zumindest sagen, dass sich nach unserer Erfah- rung fast alle Jugendlichen wieder bei den Eltern melden. Das kann nach vier Wochen sein, das kann nach sechs Wochen sein, das kann auch nach drei Monaten sein. Wenn er sich meldet, geht es darum: Wie hält man den Faden? Diese Jugendlichen, so radikal sie sind, haben ihre Eltern in dem Wissen verlas- sen: Wenn ich jetzt im Dschihad sterbe, komme ich ins Paradies, dann werde ich meine Eltern nie wiedersehen, weil sie ja nach meiner ideologischen Vorstellung alle in die Hölle kommen. Und deshalb Bei einer christlich-muslimischen Trauerfeier für einen IS-Anhänger im Mai 2016 in der St. Pauli Kirche: versuchen sie, sich wenigstens von den Imam Abu Ahmed, die Mutter des Getöteten, Florence C. und Pastor Sieghard Wilm Eltern zu verabschieden oder sie noch mal davon zu überzeugen, endlich auf dann von »dubiosen Freunden«. Ich sage Der Vater war begeistert und sagte mir: den richtigen Weg zu kommen, damit dann: Lernen Sie die kennen. Gucken »Am Anfang habe ich der Moschee sogar man sich im Paradies wiedersieht. Sie: Wer ist das eigentlich, mit dem gedankt: Ihr habt mehr für meinen Sohn sich Ihre Tochter trifft? Oder gehen Sie getan, als ich es konnte.« Gibt es nicht auch Jugendliche, die mit mit in die Moschee, in der sie freitags falschen Vorstellungen in die Schlacht betet. Jugendliche, die nur eine Affinität Dann kam das dicke Ende? ziehen? zu dem Thema zeigen und noch nicht Ja, dann kamen die Diskussionen, der Genau, das ist die große Chance, die radikalisiert sind, freuen sich oft riesig Sohn wurde immer dogmatischer und wir haben. Die Realität ist anders als darüber. Andere wehren das ab. An stellte das Muslimsein des Vaters in zu Hause vorm Bildschirm, wo man im diesen Reaktionsmustern kann man oft Frage, er kritisierte, wie die Mutter das Computerspiel sieht, wie ein Mensch schon ablesen, wie weit sie radikalisiert Kopftuch trug. Da wurde der Vater ner- stirbt. Wenn man plötzlich real erlebt, sind. vös und erkannte den Ernst der Lage. dass der Körper des eigenen Kumpels zerfetzt wird, sieht die Sache schon Oft sind es männliche Jugendliche, die Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, anders aus. Manche sind dann traumati- vorher »Scheiße gebaut« haben. Mit der jemanden zurückzugewinnen, der siert oder vielleicht sogar desillusioniert. Islamisierung haben sie plötzlich einen schon radikalisiert ist? Aber es bringt nichts, dem Jugendlichen geregelten Alltag, beten regelmäßig, Die Chance sinkt natürlich extrem. zu sagen: Wenn du nach Hause kommst, trinken keinen Alkohol. Gibt es nicht Wenn sich die Eltern bei uns gleich am wird alles gut. Man muss schon von auch muslimische Eltern, die das erst Anfang melden, ist die Erfolgsquote Strafe und Gefängnis reden, aber man mal gut finden? sehr hoch. Bei schon nach Syrien ausge- kann sagen: Das ist zeitlich begrenzt, Das ist das große Problem. Ich habe reisten Jugendlichen rutscht die Quote und du lebst, und wir werden dich auch einen Fall, da hat mir der Vater gesagt, erheblich nach unten. Meistens machen dann unterstützen. dass sein Sohn immer aggressiv war, die Eltern erst mal eine Vermisstenan- unruhig und anfing, zu kiffen. Er war zeige bei der Polizei, dann kommt der überhaupt nicht mehr mit ihm klarge- Staatsschutz, dann wird irgendwann kommen. Dann besuchte er regelmäßig den Eltern signalisiert, dass der Sohn eine dogmatisch-salafistische Moschee oder die Tochter vermutlich nach Syrien und wurde plötzlich ausgeglichen, gegangen ist. Die Eltern hören meistens strahlte Stärke und Überlegenheit aus. erst mal nichts, die Kinder verabschie- den sich ja nicht. Sie geben an, dass sie zum Onkel in die Türkei fahren oder auf 10 SYM 3/2016
Kaleidoskop Projekt »House of One« – ein gemeinsames Bethaus für Christen, Juden und Muslime in Berlin »Ein Lieblingsprojekt der Politik ist das geplante House of One auf dem Petriplatz in der Mitte Berlins: Christen, Juden und Muslime wollen dort unter einem Dach beten. Das gibt es so noch nicht in Deutschland. Das Projekt passt perfekt in die Dialog-Konjunktur, der Entwurf des Architekturbüros Kuehn-Malvezzi für den Neubau ist spektakulär. Die Erwartungen sind riesig, der Zeitplan ist eng. 2018 soll der Grundstein gelegt werden. Bis dahin müssen zehn Millio- nen Euro zusammenkommen, insgesamt werden 43 Millionen Euro benötigt. Doch die Bilanz der Spendenkampagne ist bislang ernüch- ternd: Im ersten Jahr wurden 177 000 Euro gesammelt.« Claudia Keller betrachtet im Tagesspiegel vom 27.7.2015 das Projekt kritisch und spricht von »Folklore und Symbolpolitik«, während »in allen drei großen Religionen die fundamentalistischen Ränder« wachsen. Den ganzen Beitrag finden Sie unter: http://bit.ly/2aYXSTU, die Website zum Projekt hier: https://house-of-one.org/de Jüdisch-muslimischer Dialog Während der christlich-islamische Dialog eine lange Tradition hat, steckt der jüdisch-islami- sche noch in den Anfängen. Neue Wege geht die islamische Theologin Hamideh Mohagheghi in Hannover. Sie liest in einer Veranstaltungsreihe mit dem Rabbiner der liberalen jüdischen Gemeinde Gabor Lengyel gemeinsam aus Koran und Thora. In einer Sendung des NDR vom 15.4.2016 meint sie: »Dialog auf allen Ebenen ist dringend notwendig, um extremen Ideolo- gien einen Riegel vorschieben zu können. Aktuell steht natürlich das Thema Geflüchtete an erster Stelle. Konflikte, die im Nahen Osten entstanden sind, werden nun verstärkt auch nach Deutschland transportiert. Dazu gehört der Hass mancher arabischer Muslime auf Juden. Es ist notwendig, diesen Aspekt in der Begegnung mit den Geflüchteten nicht auszublenden, sondern sich mit ihm auseinanderzusetzen.« Die Veranstaltungsreihe umfasst sieben Abende in diesem Jahr zu unterschiedlichen Themen und wird im Haus der Religionen in Hannover durchgeführt. S. a. Buchtipps, S. 28 Mohamedou Ould Slahi wurde freigesprochen In Heft 2/2015 haben wir eine Rezension des Buches »Das Guantanamo-Tagebuch« von Mohamedou Ould Slahi veröffentlicht – der berührende und erschütternde Bericht des Guantanamo-Gefangenen Mohamedou Ould Slahi. Nun haben wir von dem Verlag Klett-Cotta die Nachricht erhalten, dass das Periodic Review Board des US-amerikanischen Pentagon den seit 14 Jahren inhaftierten Slahi als Folge einer Anhörung am 2. Juni 2016 freigesprochen hat. Somit steht einer Freilassung Slahis rechtlich nichts mehr entgegen. Leider ist über den Termin der Freilassung noch nichts bekannt geworden. Kinder in israelischer Militärhaft Am 13. April 2015 wurde im Evangelischen Informationszentrum an der Domsheide in Bremen die Ausstellung »Kinder in israe- lischer Militärhaft« gezeigt. Organisiert hatte die Ausstellung das EAPPI-Netzwerk Deutschland. Hildegard Lenz und Dr. Andreas Grüneisen waren »Ökumenische Begleiter« in Israel/Palästina gewesen und haben mit vielen Fotos und Schautafeln über das, was die Besatzung mit Kindern in Palästina anrichtet, berichtet. Die zweiteilige Präsentation von Dr. Andreas Grüneisen kann hier angeschaut werden: http://nahost-forum-bremen.de/?p=1971. Siehe auch den Beitrag des britisch/australischen Anwalts Gerard Horton auf S. 18-19. Gerard Horton und die palästinensische Anwältin Salwa haben im Frühsommer in Jerusalem einen Vor- mittag mit dem Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa verbracht, der eine Informationsreise zu den Palästinensern machte. Über seine Erkenntnisse schreibt Llosa am 1. und 5. Juli 2016 in El Pais, der größten und bekanntesten spanischen Tageszeitung zwei längere Beiträge, die hier auf Englisch gelesen werden können: http://bit.ly/2aHhWcc und http://bit.ly/2aRrPFb SYM 3/2016 11
Islam in Deutschland Ein Koran, der zum Kontext passt Interview mit Dr. Abdelmalek Hibaoui von Martina Waiblinger Studentinnen und Studenten im Zentrum für Islamische Theologie in Tübingen diese Vorurteile bestätigt. Dadurch sind rechtspopulistische, islamfeind- liche Bewegungen entstanden wie die PEGIDA und die AfD. Und viele jugend- liche Muslime in Deutschland fragen sich, ob sie überhaupt ein Teil dieser Gesellschaft sind. Ihnen geht es um Gleichberechtigung bei der beruflichen Ausbildung und bei der Arbeitsplatzsu- che. Ferner ist der politische Salafismus in Deutschland sehr stark geworden. Er schürt Angst und Misstrauen zwischen den Religionen. Extremismus und Radi- kalisierung sind die größten Herausfor- derungen des interreligiösen Dialogs. Wo sehen Sie in der Beziehung zwischen Wichtig sind auch die gemeinsamen Bietet der interreligiöse Dialog hier eine Christen und Muslimen in Deutschland Veranstaltungen im Sinne von Friedens- Chance zur Entschärfung der Situation? positive und wo negative Entwicklungen? gebeten, Tagungen, gemeinsamen Fort- Natürlich bietet der Dialog eine Chan- Die Anschläge vom 11. September 2001 bildungen von Priestern und Imamen, ce zur Entschärfung, und das spiegelt in Amerika haben den christlich-islami- aber auch Begegnungen in Gemeinden sich in den Begegnungen zwischen schen Dialog sehr stark beeinflusst – auf und Kirchen, in denen religiöse Feste Muslimen und Christen bei verschie- positive und negative Weise. Positiv ist gemeinsam gefeiert werden. Auch in denen Anlässen – zum Beispiel wenn anzumerken, dass durch die Anschläge den Schulen gibt es intensive religiöse Muslime Christen zum Fastenbrechen Christen und Muslime entdeckt haben, Begegnungen. einladen. Das ist eine Gelegenheit, sich dass sie sich wenig kennen. Dadurch hat Zu den negativen Aspekten gehört auf zu begegnen, miteinander zu reden, der Dialog eine neue Bedeutung gewon- einer Seite eine gewisse Angst vor dem nach Gemeinsamkeiten zu suchen und nen. Dies hat zur Gründung christlicher Islam und den Muslimen in der deut- dadurch Vorurteile abzubauen. Ein und muslimischer Initiativen geführt, schen Gesellschaft, die zu Vorurteilen anderer Aspekt sind gemeinsame Veran- die nach Gemeinsamkeiten zwischen gegenüber Muslimen geführt hat. Statis- staltungen an öffentlichen Orten, zum Muslimen und Christen suchen und sich tiken zufolge sehen über 50 Prozent der Beispiel Friedensgebete von Muslimen für den interreligiösen Dialog und ein Deutschen den Islam als eine Bedro- und Christen. gutes Zusammenleben engagieren. Ein hung für Deutschland und mehr als 60 gemeinsames Thema war – aufgrund Prozent meinen, dass Islam und Demo- der Ethik im Christentum und Islam kratie nicht vereinbart sind. Es war nicht In Tübingen und in anderen Orten – die Nächstenliebe, die Barmherzig- zu unterscheiden zwischen der Religion werden Lehrer für islamischen Reli- keit, eine Botschaft des Friedens. Ein als Botschaft von Frieden und Nächsten- gionsunterricht ausgebildet. Warum anderer Aspekt ist die Deutsche Islam liebe und dem Missbrauch der Religi- ist es wichtig, dass sie in Deutschland Konferenz: 2006 hat der deutsche Staat on für politische und wirtschaftliche ausgebildet werden? die Initiative ergriffen, den Dialog mit Interessen. Die Anschläge von 2001 in Nach der Studie »Muslimisches Leben den in Deutschland lebenden Muslimen den USA und Europa (aktuell in Frank- in Deutschland«, die im Jahr 2008 im auf verschiedenen Ebenen zu führen. reich, Belgien und Deutschland) haben Auftrag der deutschen Islam Konferenz 12 SYM 3/2016
Islam in Deutschland (DIK) durchgeführt wurde, leben in Deutsch- zwischen Theorie und Praxis, sowohl für die land mehr als 4,2 Millionen Muslime. Darun- Seelsorge als auch für die Sozialarbeit. Uns ist ter sind über 700.000 muslimische Schülerin- es wichtig, in diesem Bereich sowohl mit der Dr. Abdelmalek Hibaoui nen und Schüler. In der deutschen Verfassung evangelischen als auch mit der katholischen steht, dass Religionsfreiheit und -ausübung praktischen Theologie in Tübingen zusam- ist geboren in Marokko, hat ein Recht des Individuums sind – also ist es menzuarbeiten. Islamwissenschaften, Theo- eine Selbstverständlichkeit, dass an öffent- logie und Arabistik an den lichen Schulen Islamunterricht erteilt wird. Universitäten Meknes, Fes und Aufgrund dieses Rechts muss man muslimi- Es heißt, dass im Zentrum für Islamische Rabat/Marokko studiert und sche Religionslehrer ausbilden. Außerdem: Theologie Verbände wie der Ditib mehr Ein- über Annemarie Schimmels Wenn muslimische Schüler Religionsun- fluss gewinnen und sich dadurch ein konser- Wirken und das Islambild in terricht bekommen, lernen sie die Religion vativerer Islam durchsetzen könnte. Haben Deutschland promoviert. Er auf einer anderen Ebene kennen als in der auch Sie diese Befürchtung? ist Imam in Reutlingen und Moschee. Islamischer Religionsunterricht Der Beirat unseres Zentrums besteht nicht seit 2012 Wissenschaftlicher an öffentlichen Schulen gibt muslimischen nur aus Vertretern des Ditib, sondern auch Mitarbeiter am Zentrum für Schülerinnen und Schülern die Gelegenheit, des VIKZ (Verband der islamischen Kultur- Islamische Theologie (ZITH), sich mit ihrem Glauben auseinanderzusetzen zentren) und der Bosnijaken. Wir sehen hier Universität Tübingen, For- und über religiöse Themen auch in deutscher keine Dominanz von Ditib. Wir sind frei, schungsthema: »Seelsorge im Sprache nachzudenken. Außerdem ist der was die Lehre und Forschung angeht. Wenn Islam – Herausforderungen für Islamunterricht in den Schulen ein wichtiger gesagt wird, dass Ditib hier einen konservati- die praktische Theologie im Aspekt für die Integration. Durch ihn werden ven Islam vorantreiben, dann frage ich mich, Kontext pluraler Gesellschaft«. Werte gelehrt, man spricht über den Rechts- was ist konservativ und was ist liberal im 2008 – 2012 Mitarbeiter bei staat, über Menschenrechte, Demokratie und Islam? Ich sehe einen Islam, der sich an die der Stadt Stuttgart Abtei- den religiösen Dialog. Ein Bestandteil des Muslime hier anpasst. Ich möchte keine Ein- lung Integration. 2007–2012 christlichen und muslimischen Religions- teilung in konservative und liberale Muslime. Lehrbeauftragter für islamische unterrichts sind Fragen nach den Gemein- Ich bin für einen Islam, der die Fragen der Theologie an der PH Ludwigs- samkeiten: »Woran glauben Muslime und muslimischen Jugendlichen und ihrer Eltern burg. Vorstandsmitglied der Christen, welche ethische Botschaft haben hier in Deutschland beantworten kann, der International Association of andere Religionen?« Das sollte die Schule zu dem Kontext hier passt, wo Muslime mit Spiritual Care (IASC) Univer- vermitteln. Nichtmuslimen in einer pluralen Gesellschaft sität Bern/Schweiz. Beirats- zusammenleben und wo die Verhältnisse z.B. mitglied des Themenbereichs in der Türkei oder in Marokko keine Rolle Kultur, Bildung, Religion der Ab Herbst 2016 gibt es in Tübingen den Stu- spielen. Darin liegt die Herausforderung. Mir Evangelischen Akademie Bad diengang: »Praktische islamische Theologie geht es darum: Wie verstehe ich den alten Boll. 2010–2014 Mitglied der für Seelsorge und soziale Arbeit«. Was ist das Text in dem Kontext? Wir müssen als Theo- Deutschen Islam Konferenz Ziel dieses Studiengangs? logen eine Theologie entwickeln, die diese (DIK). Der Studiengang ist ein Novum in Deutsch- Frage aufnimmt. land, ein facettenreiches, praxisorientiertes Master-Studium. Er ist interdisziplinär und Die Langfassung des Interviews können Sie auf der Internetseite der Evangelischen Akademie lesen: interreligiös ausgerichtet und zielt auf die www.ev-akademie-boll.de/service/online-dokumente.html Ausbildung muslimischer Seelsorgerinnen und Seelsorger und die Vermittlung von Handlungskompetenzen in der Sozialarbeit. Studierende erhalten in diesem Masterstudi- engang die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten in der Krankenhaus- und Gefängnisseelsorge, in Altenheimen, in der Schulseelsorge, in den Gemeinden, aber auch im Militär und in der Flüchtlingsarbeit zu reflektieren. Hier gibt es einen großen Bedarf. Viele Muslime haben auch großes Interesse daran, sich in dieser Richtung ausbilden zu lassen, weil dies für sie eine gute Perspektive bietet. Dieser Studiengang ist eine tolle Kombination SYM 3/2016 13
Dialog mit dem Islam Grundlagen für einen Dialog von Christen und Muslimen Von Prof. Dr. Karl-Josef Kuschel Muslime, Christen und Juden teilen Über- Es war kein Geringerer als unser lieferungen miteinander, die sie mit An- früherer Bundeskanzler Helmut In der Tat zeigt ein Blick in die Geschichte, gehörigen anderer Religionen nicht teilen Schmidt, der in zahlreichen Ver- dass man die Heiligen Schriften Jahrhunderte – nicht mit Hindus und Buddhisten, nicht öffentlichungen immer wieder lang nicht miteinander, sondern gegenein- mit Konfuzianern und Taoisten. Das ist keine für einen konstruktiven interre- ander gelesen hat. Mit Selbstprofilierungs- Wertung, sondern eine Feststellung, aus der ligiösen Dialog geworben hat. interessen auf Kosten der je Anderen, mit folgt: Juden, Christen und Muslime bilden Ausgangspunkt war für ihn die- Übertrumpfungsgelüsten- und strategien: Du eine besondere Glaubensgemeinschaft von se Erfahrung: »Viele Rabbiner, glaubst an Deine Religion, ich an die wahre. Monotheisten nahöstlichen Ursprungs und Priester und Pastoren, Mullahs Das darf man weder verharmlosen noch gar prophetischen Charakters. Machen wir uns und Ayatollahs und Bischöfe ignorieren. Die Dämonen der Vergangenheit das an einem kleinen Gedankenexperiment verschweigen ihren Gläubigen leben noch. Immer noch werden die Heiligen klar: Einem Muslim muss ich als Christ nicht die gemeinsame Botschaft. Schriften und die normativen Traditionen so lange erklären, wer Noach, Abraham oder Viele lehren im Gegenteil, über ausgelegt, dass man die Welt spaltet in die Mose war. Denn der Koran erzählt von Nuh, andere Religionen abfällig und eine wahre Religion und die vielen irrigen, Ibrahim und Musa genauso in seiner eigenen ablehnend zu denken. Wer falschen Religionen. Exklusivitätsanspruch Deutung selbstverständlich. Einem Muslim dagegen ernsthaft Frieden zwi- ist eine Konstante auf allen Seiten. Dagegen muss ich auch nicht erklären, wer Joseph war, schen den Religionen will, muss gilt es ein anderes Narrativ aufzumachen. denn eine der schönsten Suren des Koran, religiöse Toleranz und Respekt Sure 12, erzählt seine Geschichte rund um predigen. Ob die Zuhörer in Der Prophet Mohammed hat keine geschicht- Vater Jakob und seine Brüder: die Geschichte einer Synagoge, in einer Kirche lich einzigartige Offenbarung verkündet, des Yusuf – in koranischer Auslegung natür- oder in einer Moschee versam- sondern eine, die sich selber einbettet in eine lich. Einem Muslim muss ich nicht erklären, melt sind: Sie sollten begreifen, geschichtliche Abfolge von Offenbarungen wer Hiob, David, Salomo und Jonas waren, dass die Menschen, die einer und Offenbarungsschriften, die Gott bereits denn Ayub, Daud, Sulaiman und Yunus kom- anderen Religion anhängen, Juden und Christen anvertraut hat. Dass men im Koran häufig vor – in koranischer ähnlich gläubig sind wie sie sel- dies welt- und religionsgeschichtlich von Lesart, wie sonst? Buddhisten und Hindus, ber; sie sind Gott so nah und so größter Bedeutung ist, wo Christen national Konfuzianern und Taoisten müsste ich das fern wie sie selbst. Auch wenn wie global immer mehr Lebensräume mit alles erklären. Sie teilen mit Juden, Christen ihre Gebete, ihre Traditionen, Muslimen teilen und wirtschaftlich mit vom und Muslimen diese Überlieferungen nicht. Gebräuche und Sitten sich von Islam geprägten Ländern in hohem Grade Umso stärker könnten Brücken über die Reli- den unsrigen noch so stark un- verflochten sind, haben viele noch nicht ge- gionsgrenzen hinweg geschlagen werden! terscheiden, haben sie Anspruch nügend begriffen. Helmut Schmidts Erkennt- auf den gleichen Respekt, den nisse haben Ungezählte auf allen Seiten, In der Vergangenheit aber hat das oft genug wir für uns selbst wünschen« einschließlich der religiösen und politischen zu polemischer Abgrenzung und gegensei- (Vorwort zu: J. Sadat, Meine Eliten, noch vor sich: Die drei Heiligen Schrif- tiger Rechthaberei geführt. Besserwisserei Hoffnung auf Frieden, 2009, 13 ten, der Tanach, das Neue Testament und der und Rechthaberei aber ist das Gegenteil von von Prof. Dr. Karl-Josef Kuschel) Koran, sind engstens miteinander verfloch- Dialog. Sie ersticken die Kommunikation, ten. Gerade der Koran als der zeitlich dritten bevor sie richtig begonnen hat. Grundvo- Offenbarungsschrift stößt Überlieferungen raussetzung für den Dialog ist deshalb die von Juden und Christen nicht ab, sondern tritt Respektierung des Selbstverständnisses des mit ihnen in einen neuen, kreativen, d.h. von jeweiligen Partners sowie die Bereitschaft der eigenen Axiomatik gesteuerten Ausle- und die Fähigkeit, sich durch das andere gungsprozess. Wer also die drei Heiligen Glaubenszeugnis in der Gotteserkenntnis Schriften nebeneinander legt, dem wird bei bereichern, im Glauben vertiefen oder durch allen Unterschieden deren innere Verwandt- Gegenerkenntnisse in Frage stellen zu lassen. schaft bleibend bewusst. Daraus folgt: Nur so hört Glauben auf, Besitz zu sein. Nur 14 SYM 3/2016
Dialog mit dem Islam so bleibt »Glauben« Glauben: ein auf man nicht gleichzeitig an die Botschaft der Koran von biblischen und außerbi- Vertrauen gegründetes »Auf-dem-Weg- von Bibel oder Koran glauben, dazu hat blischen Überlieferungen vornimmt. In Sein« vor Gott, der der Unverfügbare jede Schrift ihre eigene unverwechsel- der Tat: Schon der Prophet selber hatte bleibt. Diese Grundhaltung der Demut bare Mitte. Sowohl der Tanach wie das sich sagen lassen müssen: »Wenn du vor Gott erst schafft das nötige Vertrau- Neue Testament und der Koran fordern über das, was wir zu dir hinabgesandt en im dialogischen Gegenüber, nicht eine verantwortliche Glaubensentschei- haben, in Zweifel bist, dann frage die, einer missionierenden Propagandaver- dung, sich auf die jeweilige Kern-Bot- die schon vor dir die Schrift vorgetragen anstaltung ausgesetzt und aufgesessen schaft einzulassen. haben!« (Sure 10, 94). Und an anderer zu sein. Stelle ähnlich: »Wir sandten schon vor dir nur Männer, denen wir offenbarten Zu einem gelingenden Dialog gehört - / So fragt die Leute der erinnernden somit auch die Dankbarkeit den anderen Mahnung, wenn ihr es nicht wisst« (Sure Glaubensgeschwistern gegenüber. 16, 43). Was wir folglich künftig brau- Dankbarkeit von jüdischer Seite, dass chen ist eine Bibelwissenschaft, die im die Hebräische Bibel der Mutterboden Koran eine relecture der Bibel erkennt zweier anderer großer Geschwisterre- und ihn entsprechend in ihre Ausle- ligionen werden konnte. Dankbarkeit gungsgeschichte einbezieht, aber wir von christlicher Seite Juden gegenüber brauchen auch eine Koranwissenschaft, für die Überlieferungen der Hebräischen welche die Bibel und ihre Auslegungs- Bibel, ohne welche weder die Person geschichte als integralen Bestandteil der Jesu noch die Selbstbehauptung der koranischen Überlieferungsgeschichte urchristlichen Gemeinde noch die Ver- begreift und so gerade auch für den dia- kündigung an die Völkerwelt denkbar logischen Austausch fruchtbar macht. gewesen wäre. Dankbar aber auch Mus- limen gegenüber, welche die Botschaft Das Vermeiden bildlicher Darstellungen hat im vom Gott Abrahams, Moses' und Jesus' Islam zu einer überragenden Rolle von Schrift Am 13. Februar 2017 wird beim Patmos (Kalligraphie) und Ornament in der islamischen an andere Völker weitergegeben und so Kunst geführt. Die Abbildung zeigt das Vaterunser, Verlag das neue Buch von Karl-Josef buchstäblich bis an die Enden der Erde dargestellt als Kalligraphie. Kuschel erscheinen: Die Bibel im Koran getragen haben. Dankbarkeit schließ- – Grundlagen für das interreligiöse lich von muslimischer Seite für die Wer das alles beachtet, dem/der kann Gespräch. In diesem Band sind die zwei Tatsache, dass im Koran an die Schriften gelingen, in Begegnung und Austausch Jahrzehnte währenden Studien zum angeknüpft wird, die Juden und Chris- das zu verwirklichen, was der Koran Thema Bibel und Koran zusammenge- ten von Gott zuvor anvertraut worden selber gefordert hat: einen Streit unter fasst: Neu bearbeitet und um die Erträge waren. Haben doch Muslime mit dem Juden, Christen und Muslimen um das der neuesten Forschungen zum Koran- Koran ein Buch vor sich, das sie den Verstehen der Wahrheit Gottes, aber verständnis erweitert. »Leuten der Schrift« mitverdanken. Aus auf die »beste Art«, will sagen: nicht diesem Geist respektvoller Dankbarkeit in Überheblichkeit und Rechthaberei, kann ein fruchtbarer interreligiöser Aus- sondern im Wettstreit um das je bessere, tausch über Bibel und Koran entstehen, tiefere Verständnis der Botschaft des über ihre Asymmetrien genauso wie einen Gottes, dem alle drei sich »erge- über ihre inneren Verbindungen. ben«, will sagen: ihr Leben und Sterben anvertraut haben: »Streitet mit dem Volk Zur Respektierung des Selbstverständ- der Schrift nur auf die beste Art – außer nisses des je Anderen gehört auch die mit denen, die Unrecht tun – und sagt: Bereitschaft zur Selbstkritik und zum ›Wir glauben an das, was zu uns und zu Hören auf die Grundbotschaft des je euch herabgesandt worden ist. Unser Prof. Dr. Karl-Josef Anderen. So wie der Koran nicht von der Gott und euer ist einer.‹ Wir sind ihm er- Kuschel, Universität Bibel, so ist auch die Bibel nicht vom geben«, heißt es im Koran (Sure 29, 46). Tübingen, ist Referent Koran her zu bewerten. Jede Heilige Dabei sind bei Studium und Auslegung der Tagung »Einfüh- Schrift hat den Anspruch, aus sich selbst von Bibel und Koran Juden, Christen rung in den interreli- giösen Dialog mit dem heraus verstanden zu werden. Die Bibel und Muslime auf wechselseitige Verste- Islam«, die vom 7.-8. ist nicht für den Koran, und der Koran henshilfe angewiesen. Ohne Bibelkennt- September 2016 in ist nicht für die Bibel Maßstab der Aus- nisse kein Koranverständnis und kein Bad Boll stattfindet. legung. In letzter Konsequenz aber kann Koranverständnis ohne die relecture, die SYM 3/2016 15
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