SCHULE UND MIGRATION 6. EMPFEHLUNG DER BILDUNGSKOMMISSION DER HEINRICH-BÖLL-STIFTUNG - BRÜCKEN IN DIE ZUKUNFT
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SCHULE UND MIGRATION 6. EMPFEHLUNG DER BILDUNGSKOMMISSION DER HEINRICH-BÖLL-STIFTUNG BRÜCKEN IN DIE ZUKUNFT
AG INTERKULTURELLE BILDUNG Christiane Bainski Sabine Mannitz Dr. habil. Heike Solga Gül Yoksulabakan IMPRESSUM BILDUNGSKOMMISSION Heinrich-Böll-Stiftung DER HEINRICH-BÖLL-STIFTUNG in den Hackeschen Höfen Rosenthaler Str. 40/41 Prof. Dr. Wolfgang Edelstein 10178 Berlin Prof. Dr. Gerhard de Haan Reinhard Kahl Abteilung Inland Undine Kurth Programmteam: Bildung und Wissenschaft Dr. Andreas Poltermann Koordinator: Dr. Andreas Poltermann Dr. Anne Sliwka Fon 030-285 34 410, Fax 030 285 34 108 Dr. Simone Schwanitz Email poltermann@boell.de Cornelia Stern Volkmar Strauch Erstellt im Januar 2004 Sybille Volkholz (Koordinatorin)
6. EMPFEHLUNG DER BLDUNGSKOMMISSION DER HEINRICH-BÖLL-STIFTUNG SCHULE UND MIGRATION Inhalt Kurzfassung 4 Langfassung 8 VORBEMERKUNG 8 1. AUSGANGSLAGE 9 1. 1. Normative Grundlagen der Empfehlung – Der Wandel der öffentlichen Sozialisationsnormen 9 1. 2. Integrationskonzepte – Umgang mit Zuwanderung im Vergleich 9 1. 3. Population und Heterogenität der Kinder mit Migrationshintergrund 10 1. 4. Bildungssituation von Migrantenkindern 11 2. BILDUNGSEINRICHTUNGEN UND INTEGRATION: BESTANDSAUFNAHME, AUSEINANDERSETZUNG MIT UNTERSCHIEDLICHEN MODELLEN 14 2. 1. Vorschulische Bildung und Migration 14 2. 2. Curricula und Schulbuch-Gestaltung: Medien der Selbst- und Fremddarstellung 15 2. 3. Schulkultur, Diversität und Integration 16 2. 4. Die Schule als Community Center: Kommunikation und Kooperation mit Eltern und außerschulischen Partnern 20 2. 5. Spracherwerb 20 3. REFORMEMPFEHLUNGEN 23 3. 1. Umgang mit Heterogenität/Diversität 23 3. 2. Vorschulische Bildung und Migration 24 3. 3. Schulische Bildung und Migration 24 3. 4. Spracherwerb 26 3. 5.Personalentwicklung 28 4. SCHLUSSBEMERKUNG 28 Literaturverzeichnis 30 Schule und Migration / 3
SCHULE UND MIGRATION 1. 3. Population und Heterogenität der Kinder mit Migrationshintergrund Kurzfassung Insgesamt leben heute in Deutschland 7,3 Mio. Ausländer (8,9 Prozent der Bevölkerung) – der Anteil ethnischer Minderheiten dürfte eingedenk der Spät-/Aussiedler deutlich höher liegen. VORBEMERKUNG: Die Anzahl und die Vielfalt von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund wächst. Es gibt erhebliche Verbesser- Die Befunde der PISA-Studie weisen mit Bezug auf Kinder und ungen in der Bildungsbeteiligung, aber der Abstand zu Schüler- Jugendliche mit Migrationshintergrund auf ein immenses Ver- Innen mit deutschem Hintergrund ist nicht geringer geworden. säumnis deutscher Bildungspolitik und Schulen hin. Ihre defizi- tären schulischen Karrieren und Leistungen stellen eine dau- 1. 4. Bildungssituation von Migrantenkindern ernde Gefährdung aller Integrationsbemühungen dar. Die Un- fähigkeit deutscher Schulen, soziale Benachteiligungen auszu- Das Problem der Kinder mit Migrationshintergrund ist nicht gleichen oder abzumildern, schlägt hier besonders zu Buche. die quantitative Bildungsbeteiligung, sondern die Qualität ihrer Förderung. Sie sind auf Sonder- und Hauptschulen deutlich überrepräsentiert. Obgleich der Anteil an höheren Bildungsab- schlüssen auch bei ihnen deutlich zugenommen hat, ist der Ab- 1. AUSGANGSLAGE stand zu deutschen Jugendlichen unverändert groß. 1. 1. Normative Grundlagen der Empfehlung – Der Wandel der öffentlichen Sozialisationsnormen 2. BILDUNGSEINRICHTUNGEN UND Neben dem Kontext der Entwicklung zur Wissensgesellschaft INTEGRATION: und zur Stärkung der Zivilgesellschaft gewinnt die Wahrung BESTANDSAUFNAHME, von Menschenrechten durch Bildung an Bedeutung. Das Recht AUSEINANDERSETZUNG MIT auf Entwicklung der Persönlichkeit, der individuellen Ent- faltung, im Verhältnis zur sozialen Kohäsion bedarf einer Neu- UNTERSCHIEDLICHEN MODELLEN bestimmung. Bildungseinrichtungen werden sich mit dem Recht der Einzelnen, kulturelle Identitäten selbst – entgegen fremden 2. 1. Vorschulische Bildung und Migration Zuschreibungen und Gruppenzuweisungen – zu definieren, stär- ker befassen und SchülerInnen darin stärken müssen, dieses Zwischen Anspruch und Realität in den Tageseinrichtungen für Recht wahrzunehmen. Mit der zunehmenden Vielfalt im Zu- Kinder besteht eine große Diskrepanz. „Fördern und Fordern” sammenleben von Menschen mit unterschiedlichen Herkünften sind im Kindergarten oft tabuisierte Begriffe. Konzepte mehr- und Hintergründen werden neue Bestimmungen von individuel- sprachiger Bildung und Instrumente zur Diagnose von Sprach- ler Freiheit und Kollektivität notwendig. kompetenz in Erst- und Zweitsprachen gibt es bislang nur we- nige. Die Kooperation mit Eltern ist auch in Kindertagesstätten 1. 2. Integrationskonzepte – unterentwickelt. Die Ausbildung der ErzieherInnen sowie auch Umgang mit Zuwanderung im Vergleich die Forschungslandschaft in diesem Bereich sind defizitär. Wieweit Länder sich selbst als Einwanderungsland begreifen, 2. 2. Curricula und Schulbuch-Gestaltung: Medien hat eine hohe Bedeutung für die Umgang mit der Vielfalt/ der Selbst- und Fremddarstellung Diversität der Bevölkerung und bestimmt über die Akzeptanz. Die Antwort fällt in den Ländern unterschiedlich aus, z.B. lehnt Das langjährige offizielle Credo der Bundesrepublik, nicht als Frankreich eine multikulturelle Orientierung ab, während sie in Einwanderungsland verstanden werden zu wollen, hat eine den angelsächsischen und skandinavischen Ländern die meisten Mischung aus Konzeptionslosigkeit und bornierter Ignoranz Politikfelder leitet. Die Unklarheit der deutschen Haltung zur auf der einen Seite und, in Reaktion auf die kritische Diagnose Einwanderung bzw. die teils offensiven Widerstände sind von Versäumnissen, einen kaum weniger problematischen wohl- Haupthindernisse, positive pädagogische Konzepte für Kinder meinenden Kultur-Relativismus auf der anderen Seite beför- und Jugendliche aus Migrantenfamilien zu entwickeln. dert. Die grundsätzliche kulturelle Pluralität moderner Gesellschaften wird damit ausgeblendet. Migration wird in deutschen Schulbüchern überwiegend als ein Problem themati- siert, das auf den eurozentrischen Nenner der fremdartigen Kultur gebracht wird. Ansätze antidiskriminierender Pädagogik 4 / Schule und Migration
sind kaum erkennbar. Bezeichnend für den Umgang in nisse in der Gemeinde festgemacht sind und über die Arti- Schulbüchern ist eine Präsentation, die Fremdheit fokussiert. kulation gemeinsamer Anliegen gegen Apathie und Rassismus Mit größter Selbstverständlichkeit werden Gruppen entlang im gesellschaftlichen Zusammenleben wirken. Im nordamerika- nationaler Herkunft konstruiert, die in dieser Eindeutigkeit gar nischen Kontext ist inzwischen empirisch erwiesen, dass Ser- nicht existieren. vice-Learning dazu beiträgt, die stereotype Wahrnehmung von Menschen anderer Ethnien, Hautfarbe und sozialer Herkunft 2. 3. Schulkultur, Diversität und Integration abzubauen. Problematisch ist, dass an die Stelle der Subjektorientierung – 2. 5. Spracherwerb als elementarer Bestandteil des erklärten pädagogischen Ziels freier und selbstbewusster Persönlichkeiten – ein kollektives Dem Spracherwerb von Kindern und Jugendlichen mit Migra- Stereotyp „kultureller Andersartigkeit“ tritt. Während tionshintergrund kommt eine elementare Bedeutung zu, da die Auslandsaufenthalte als Horizont erweiternde Aktivitäten gel- Sprache der Schlüssel zur Erschließung aller weiteren Wissens- ten, wird die innergesellschaftliche Pluralisierung infolge Zu- bestände und zur Teilhabe an allen gesellschaftlichen Kommu- wanderung nicht in gleicher Weise als eine Chance, sondern in nikationsprozessen ist. Sie ist konstitutiver Bestandteil schuli- erster Linie als Zumutung und Problem begriffen. Eine positi- scher Kommunikation sowie schulischer Lehr- und Lernprozes- ve Wertschätzung von Einwanderung und Vielfalt lässt sich se. Das bedeutet auch, dass das sozialstaatliche und demokrati- nicht verordnen. Sehr wohl lassen sich aber die normativen sche Gebot der Chancengleichheit oder des Nachteilsausgleichs Konzepte zur Integration, Motivationsanreize und Rahmen- dem Erwerb der Verkehrsprache eine hohe Bedeutung zumes- bedingungen günstig gestalten. sen muss. Auf der anderen Seite gelten gleichwohl alle Forde- Zur Vermittlung von interkultureller Kompetenz gehört die rungen nach Anerkennung von Differenz und kultureller Iden- Fähigkeit, die gewohnten Strukturen des Denkens und Han- tität auch und insbesondere für den Sprachgebrauch, da das delns in Frage zu stellen, die Anerkennung von Vielfalt als ei- Sprachvermögen, die Fähigkeit zu kommunizieren, wie keine nem Wert und ein offener Umgang mit Unbekanntem. andere Kompetenz untrennbar mit der Persönlichkeit verbun- Vorbilder für ein erfolgreiches Zusammenspiel zwischen Schul- den ist. kultur und Integration bieten Länder mit einem multikulturel- Die Tatsache, dass die Zusammensetzung der SchülerInnen- len oder pluralistischen Gesellschaftsmodell wie beispielsweise schaft hinsichtlich der sprachlichen Voraussetzungen sehr hete- Schweden, Kanada und die Niederlande. Vielfalt wird in diesen rogen ist, tangiert die Unterrichtsarbeit und die Lernerfolge Ländern programmatisch als positives Kapital einer Gesell- zentral und lässt die Schwäche des deutschen Schulsystems, schaft vermittelt, als Pool an kulturellen Ressourcen, aus dem mit Heterogenität nur mangelhaft umgehen zu können, eine Nation schöpfen kann und das die Lebensqualität ihrer besonders deutlich hervortreten und zum Nachteil einer ganzen Bewohner eher bereichert als einschränkt. Positives Beispiel in Gruppe von Risikokindern und –jugendlichen werden. Deutschland ist das Projekt „Betzavta – Miteinander leben“. Konzepte der Mehrsprachigkeit müssen daher differenziert auf Evaluationsstudien zeigen, dass Programme des interkulturel- den unterschiedlichen Eingangsvoraussetzungen der Kinder len Lernens Prozesse der Reflexion bei SchülerInnen und aufbauen. Sie brauchen klare Standards hinsichtlich der LehrerInnen auslösen. Sowohl Verhaltensbereitschaften wie Kompetenzen, die erworben werden sollen. eigene Wertvorstellungen, Wahrnehmungsmuster und Inter- pretationen als auch das konkrete Verhalten von Lehrern und Schülern werden durch das Programm positiv beeinflusst. 3. REFORMEMPFEHLUNGEN 2. 4. Die Schule als Community Center: Kommunikation und Kooperation mit Eltern 3. 1. Umgang mit Heterogenität/Diversität und außerschulischen Partnern Es gilt, Vielfalt zu akzeptieren und kompetenten Umgang mit Die Öffnung von Schulen für ihr gesellschaftliches Umfeld und ihr zu entwickeln, statt mit Hilfe von Defizit- und Kultur- die Zusammenarbeit mit den Eltern wird erheblich durch neue konflikt-Hypothesen scheinbar unlösbare Probleme zu konstru- Organisationsformen von Unterricht gefördert. Projekte im ieren. Die politische Ignoranz gegenüber der Einwanderungs- Unterricht verbunden mit Kooperationen im Umfeld der Schule realität der vergangenen 40 Jahre hat bewirkt, dass hier vieles schaffen für Schülerinnen und Schüler Gelegenheitsstrukturen, versäumt wurde, das nun nachzuholen ist. in denen Selbstwirksamkeitserfahrungen, Erfolgserlebnisse und Anerkennung jenseits traditioneller Formen zum Tragen kommen. So fördern Projekte des Service-Learning (Verant- wortung Lernen) die Entstehung von zivilgesellschaftlichen Li- gaturen, die an sozialen, kulturellen oder ökologischen Bedürf- Schule und Migration / 5
3. 2. Vorschulische Bildung und Migration Ein differenziertes Unterrichtsangebot sollte auf die Vielfalt der möglichen Sprachentwicklungen und Voraussetzungen ein- Eine Verbesserung der pädagogischen Arbeit in Kindertages- gehen/angepasst werden. stätten – und zwar nicht nur für Kinder mit Migrationshinter- Die Vielfalt der vorhandenen sprachlichen Kompetenzen sollte grund – wird davon abhängen, inwieweit Kindertagesstätten als als Ressource genutzt werden. Bildungseinrichtungen ausgebaut werden. Eine frühzeitige kog- nitive und sprachliche Förderung setzt voraus, dass dies als Ziel ist die Mehrsprachigkeit für alle Kinder. Mit diesem Ziel Auftrag der Kita von den Beteiligten gesehen wird und die Ins- sollten auch die jeweiligen Familiensprachen weiterentwickelt trumente dafür beherrscht werden. Sprachförderung braucht werden. hier Einbindung in motivierende, spielerische Konzepte der interkulturellen Bildung und Erziehung im Elementarbereich. Die Familiensprache ist erforderlich, wie sie für die Identität In dieser Lernphase bieten sich Konzepte zweisprachiger von Kindern und Jugendlichen von diesen selbst gewünscht Sprachförderung an, die die Eltern – insbesondere die Mütter – wird. Ein Bruch in der Sprachentwicklung sollte vermieden einbeziehen und eine Zusammenwirken der Familien und der werden. Die Familiensprache ist gleichwohl nicht zwingende Regeleinrichtungen fördern. Voraussetzung für den Erwerb der Verkehrssprache Wir brauchen einen grundsätzlichen Perspektivenwechsel von 3. 3. Schulische Bildung und Migration einer monolingualen Orientierung hin zu einem Sprachenlernen auf der Grundlage von Zwei- und Mehrsprachigkeit, die als Po- Bildungsrichtlinien und die Schulbücher, die nach den curricu- tenzial und Ressource gewertet wird. laren Vorgaben entstehen, sind wirksame Instrumente und Me- dien, um kollektive Selbst- und Fremddarstellungen zu vermit- Daten über den Sprachstand und den Schulerfolg von Zuwan- teln. Dieses Potenzial muss verantwortlich im Sinne des offe- derern müssen regelmäßig erhoben und politische Entschei- nen demokratischen Gesellschaftsmodells eingesetzt werden. dungen auf der Grundlage dieser Daten neu überdacht werden. Wir brauchen also eine neue Bildungsberichterstattung und Wir brauchen eine Schulpädagogik der Anti-Diskriminierung und neue statistische Erhebungskriterien, die über Fragen der Qualitätsstandards zur Evaluation ihrer Umsetzung. Wir brau- Staatsangehörigkeit hinausgehen und brauchbare Informatio- chen Schulen mit Profil, die die Zusammensetzung der Schüler- nen für Bildungsplanung liefern. schaft programmatisch reflektieren. Dazu braucht es einen koop- erativen Umgang mit Eltern und außerschulischen Partnern. 3. 5. Personalentwicklung Damit auf nachteilige Bedingungen, die besonderes Engage- Damit die Realität der Einwanderungsgesellschaft auch im ment seitens der Schule fordern – sei es ein allgemein bildungs- schulischen Alltag repräsentiert ist, brauchen wir mehr Perso- fernes Milieu von ökonomisch und sozial benachteiligten Bevöl- nal mit Migrationshintergrund in vorschulischen Einrichtungen kerungsgruppen oder eine starke Präsenz von Zuwanderern mit und in den Schulen. Zusätzlich brauchen wir qualifizierte Er- sprachlichen Defiziten – mit verstärkten Bemühungen einge- zieherinnen und Erzieher sowie Lehrkräfte mit einer Zwei- gangen werden kann, braucht es schulische Ressourcen, um die sprachigkeit, die die Koordinierung des Unterrichts in den nötigen Leistungen zu erbringen. Familiensprachen mit dem Deutsch- und Fachunterricht sowie verbesserte Fremdsprachenangebote ermöglichen. 3. 4. Spracherwerb Sprache ist eine Persönlichkeitskompetenz wie keine andere. Der Erwerb der Verkehrssprache ist unabdingbar und zwar auf einem Niveau, das nicht nur die alltägliche Kommunikation ohne Probleme ermöglicht, sondern auch den Gebrauch von Fachsprachen, die für den beruflichen Erfolg erforderlich sind. Deutsch als Zweitsprache gehört zum Kerncurriculum für die gesamte Schulzeit, solange die Sprachkompetenz nicht den ge- setzten Standards entspricht. Zusätzlich bedarf es der Förder- angebote über die normale Unterrichtszeit hinaus an Sams- tagen und in den Schulferien (Sommerschule). Besondere Kon- zepte zur Förderung der Fachsprache (durch jeweils vorziehen- de curriculare Bearbeitung) sollten hierbei ebenfalls verwandt werden. Kinder und Jugendliche brauchen Kompetenzerfahrung als Lernmotivation. 6 / Schule und Migration
4. SCHLUSSBEMERKUNG Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind auf- grund der doppelten Benachteiligung ihres häufig bildungsfernen sozioökonomischen Hintergrunds wie der Sprachproblematik besonders von der selektiven Wirkung des deutschen Schul- systems betroffen. Die Empfehlung versucht auf Fördermöglich- keiten hinzuweisen, die auch ohne große Systemveränderungen möglich sind. Im Mittelpunkt steht dabei, den Umgang mit He- terogenität in den Schulen generell zu fördern. Hierauf sollten insbesondere alle strukturellen Rahmenbedingungen überprüft werden (siehe auch 2. Empfehlung der Bildungskommission). Die Bildungskommission will mit dieser Empfehlung vor allem auch die Forderung nach mehr systematischer Forschung zur Entwicklung und Evaluation von geeigneten Konzepten unter- stützen, die im Interesse aller in diesem Land lebenden Men- schen einen konstruktiven Umgang mit der gesellschaftlichen Heterogenität befördern. Die sogenannte empirische Wende in der Pädagogik und Bildungspolitik, die sich seit der Teilnahme Deutschlands an den internationalen Vergleichsstudien in den 90er Jahren abzeichnet, ist gerade im Bereich der Pädagogik für sozial benachteiligte Gruppen, und hier besonders von Kin- dern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, dringend geboten. Schule und Migration / 7
SCHULE UND MIGRATION in den Curricula sowie auf die Frage der Sprachentwicklung. Die Frage der Religion wird dabei als Bestandteil von Hetero- genität /Diversität aufgefasst, wird jedoch nicht besonders be- Langfassung handelt. An den hier verhandelten Feldern zeigt sich, wie Schu- len und die Bildungspolitik eines Landes mit der Veränderung VORBEMERKUNG ihrer Schülerschaft umgehen. Die Bildungskommission hat ihre bisherigen Empfehlungen in Es zeigt sich dabei, dass neben dem Kontext der Entwicklung den Kontext der gesellschaftlichen Entwicklungen zur Wissens- zur Wissensgesellschaft und zur Stärkung der Zivilgesellschaft gesellschaft und die Stärkung der Zivilgesellschaft gestellt. die Wahrung von Menschenrechten an Bedeutung gewinnt. Das Bildungsreformvorschläge wurden darauf bezogen, Menschen Recht auf Entwicklung der Persönlichkeit, der individuellen zu befähigen und darin zu stärken, für ihre eigene Lernbiogra- Entfaltung, im Verhältnis zur sozialen Kohäsion bedarf einer phie Verantwortung zu übernehmen, und sie zu motivieren, Ler- Neubestimmung. Bildungseinrichtungen werden sich mit dem nen als einen positiven gestaltbaren Prozess ihrer Persönlich- Recht der Einzelnen, kulturelle Identitäten selbst – entgegen keitsentwicklung zu begreifen. fremden Zuschreibungen und Gruppenzuweisungen – zu defi- nieren, stärker befassen und SchülerInnen darin stärken müs- In dieser 6. Empfehlung wird der Wandel zur Einwanderungs- sen, dieses Recht eigenverantwortlich wahrzunehmen. gesellschaft mit Blick auf die Lernprozesse und – umwelten von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ins Zent- rum gerückt. Die Befunde der PISA-Studie weisen für sie auf ein massives Versäumnis deutscher Bildungspolitik und Schulen hin. Die defizitären schulischen Karrieren und Leistungen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund stellen eine dau- ernde Gefährdung aller Integrationsbemühungen dar. Mit Blick auf die demokratische Verfasstheit unserer Gesellschaft ist dies nicht zu rechtfertigen. Zudem ist die eingewanderte Bevöl- kerung eine expandierende Bevölkerungsgruppe, so dass die Entwicklung ihrer Kompetenzen zu einer entscheidenden Größe der wirtschaftlichen Produktivität unseres Landes wird. All dies macht es außerordentlich dringlich, die bisherigen Kon- zepte auf den Prüfstand zu stellen und nach neuen Konzepten einer gleichberechtigten Teilhabe an Bildung für alle Kinder, unabhängig von ihrer ethnischen oder sozialen Herkunft, zu suchen. Die Entwicklung tragfähiger Konzepte stellt auch des- wegen eine besondere Herausforderung dar, weil die kulturelle oder ethnische Herkunft in hohem Maße mit der Zugehörigkeit zu benachteiligten sozialen Schichten einhergeht. Die Unfähig- keit deutscher Schulen, soziale Benachteiligungen und unglei- che Ausstattung an kulturellen und sozialen Ressourcen auszu- gleichen oder abzumildern, zeigt sich bei Kindern mit Migra- tionshintergrund besonders markant. Die Bildungskommission der Heinrich-Böll-Stiftung will sich an der Entwicklung tragfähiger Konzepte zur Verbesserung der Lernfähigkeit und Persönlichkeitsentwicklung der jungen Gene- ration beteiligen. Sie beansprucht dabei keine Vollständigkeit. Die berufliche Erst- und Weiterbildung wird nicht ausgeführt. Diese Empfehlung will Anregungen und Vorschläge zur Umge- staltung im vorschulischen und schulischen Bereich geben. Wir beziehen unsere Reformvorschläge vor allem auf den Umgang mit Heterogenität und Diversität im Schulalltag und 8 / Schule und Migration
1. AUSGANGSLAGE Ausländische und deutsche SchülerInnen sind zwar formal gleichgestellt, da das deutsche Schulsystem alle Kinder und 1. 1. Normative Grundlagen der Empfehlung – Jugendliche unabhängig von ihrem staatsbürgerlichen Status Der Wandel der öffentlichen „erfasst“. Dies wird häufig bereits als Integrationsleistung der Sozialisationsnormen Mehrheitsgesellschaft verstanden, die im Gegenzug eine erhöh- te de facto einseitige Assimilationsleistung der jüngeren Gene- Für das Selbstverständnis unserer Gesellschaft ist das Mensch- rationen ethnischer Minderheiten erwartet. Zuletzt haben die enbild der freien und gleichen Individuen grundlegend, das zu- Ergebnisse der PISA 2000-Studie gezeigt, dass der Erfolg im gleich eine zentrale Zielvorstellung des schulischen Sozialisa- deutschen Schulsystem primär von Sprachbeherrschung und tionsprozesses bestimmt. Moderne Vergesellschaftung ersetzt der Motivation sowie den habitualisierten Lerngewohnheiten jedoch nicht die Vernetzungspraktiken der kleinen sozialen abhängt. Ein Erfolg im deutschen Bildungssystem gelingt also Lebenswelten, sei es in lokal, kulturell, religiös, politisch, ver- vor allem denen, die hohe Assimilationsleistungen vorweisen wandtschaftlich oder anders definierten Gemeinschaften. Aus können, d.h. insbesondere eine gute Beherrrschung der deut- diesem Dilemma von individueller Freiheit der Einzelnen zur schen Sprache von zu Hause mitbringen. Zudem ist hinsichtlich Entfaltung der Person und der Aufgabe, zur gesellschaftlichen der sozialen Herkunft bekannt, dass Kinder bildungsferner Kohäsion beizutragen, ergeben sich komplexe Spannungsver- Schichten beim Zugang zu höherer Bildung in Deutschland hältnisse für den öffentlichen Bildungsauftrag. Dessen Sozia- stark benachteiligt sind. Mit der frühen Segregation der Kinder lisationsgrundsätze müssen aus unserer Sicht angesichts der so- wird wenig Zeit gelassen, soziale Ungleichheiten abzubauen zialen Veränderung infolge von Einwanderungsprozessen für die und eine am Individuum orientierte Lernorganisation und Schule neu justiert werden. Förderungsstruktur zu schaffen. Der sozialstrukturelle Tatbe- stand, dass Kinder mit Migrationshintergund häufig bildungs- Als Folge der Immigration vervielfachen sich die – häufig quer fernen Schichten entstammen, lässt daher die Formation einer zu Nationalität und Herkunft liegenden – Interessen, Glaubens- Unterklasse entlang ethnischer Grenzziehungen befürchten, bekenntnisse, Vorlieben oder Lebensstile. Sie bieten Anknüpf- wenn nicht bald Veränderungen in der deutschen Schule grei- ungspunkte für verschiedene sowohl Allianzen als auch fen, die dem entgegenwirken. Friktionen, die dem Selbstverständnis der aufnehmenden Gesellschaft teils widersprechen. Die staatlichen Schulsysteme Die Empfehlung der Bildungskommission orientiert sich klar bilden an dieser Stelle ein wichtiges Scharnier. Sie vermitteln am Ziel der Integration bei gleichzeitiger Offenheit für kultu- Kindern und Jugendlichen, was die Gesellschaft von ihnen relle Differenz. Deutlicher Auftrag für die Schule ist dabei, erwartet – und zwar unabhängig von der Herkunft. Im Hinblick soziale Nachteile stärker als bisher auszugleichen. auf Immigranten ist dies besonders relevant – und besonders prekär: Welcher Spielraum ist ihnen bei der sozialen Selbst- definition zuzugestehen und wird als Ausdruck gesellschaft- licher Pluralität akzeptiert? Endet die Anerkennung anderer 1. 2. Integrationskonzepte – Umgang mit Normen, sobald sie Werte der etablierten Mehrheit in Frage Zuwanderung im internationalen Vergleich stellen, oder zeigen solche Widersprüche, dass die heutige Vielfalt der Lebenswelten einen neuen Umgang im Verhältnis Deutschland weigert sich bis heute anzuerkennen, dass es ein von individueller Freiheit und Kollektivität fordert? Diese Einwanderungsland ist. Damit wurden Chancen verpasst, die Grundprobleme der modernen Gesellschaft kann unsere gewachsene Heterogenität der Bevölkerung – insbesondere der Empfehlung nur anreißen. Zu den Werteprämissen, die diesem nachwachsenden Generation – im Bildungssystem angemessen Diskussionsbeitrag zugrunde liegen, gehört die Überzeugung, zu berücksichtigen. Länder, die diese Notwendigkeit früher dass der Abbau von Diskriminierung und kollektiven Fremd- wahrgenommen und ihre Bildungskonzepte entsprechend über- zuschreibungen das Handeln in der Schule maßgeblich leiten arbeitet haben, konnten bereits Erfahrungen hinsichtlich der sollte. Diese Norm basiert auf verfassungsrechtlichen Prin- Integrationspotenziale unterschiedlicher Ansätze sammeln. Als zipien. Zwar gibt es kein Menschenrecht auf die Wahrung kul- Beispiele stellen wir schlaglichtartig Länder vor, die unter die- tureller Traditionen, und im Zentrum der freiheitlichen Ver- sem Gesichtspunkt lehrreich und von der Zusammensetzung fassungsidee steht der Würdeanspruch eines jeden Menschen der Migrationsbevölkerung in etwa vergleichbar sind. Überdies unabhängig von der Staatsangehörigkeit und der kulturellen haben diese Länder bei internationalen Leistungsvergleichen Herkunft oder Praxis. Das Grundrecht jedes Einzelnen darauf, von SchülerInnen deutlich besser abgeschnitten als die sich nach dem eigenen Entwurf zu bilden, bedeutet jedoch auch Bundesrepublik. eine prinzipielle Anerkennung von Differenz. Dem wird das deutsche Bildungssystem gegenwärtig unzureichend gerecht. In Kanada wurde zu Beginn der 1970er Jahre der Begriff der „multikulturellen Gesellschaft“ zur Leitlinie einer Politik der Anerkennung kultureller Eigenständigkeit von MigrantInnen Schule und Migration / 9
und Minderheiten. Die kanadische Einwanderungspolitik folgt und in der Grundschule. Die Eltern wurden seit den 1980er seither der Strategie, Multikulturalität durch die Stabilisierung Jahren verstärkt einbezogen, und die Familiensprache wird kultureller Identitäten zu unterstützen und nicht wie zuvor optional angeboten. Assimilation anzustreben. Diesem Anliegen dient eine mittler- weile langjährige Tradition im Angebot von Englisch als Zweit- Selbst das in Zuwanderungsangelegenheiten relativ unerfahre- sprache, aber auch muttersprachliche Angebote. Die Koopera- ne Norwegen bietet MigrantInnen in der akademischen Ausbil- tion mit Eltern wird in Parenting Centres gesucht. dung (Abitur, Fachhochschule, Hochschule) die Möglichkeit, zwischen Norwegisch und Englisch als Unterrichtssprache zu Von den europäischen Ländern verfolgen u.a. Großbritannien, wählen. Bis zum Abschluss ihres Studiums haben die neuen Schweden und die Niederlande inklusive Ansätze im Bildungs- BürgerInnen dann die Gelegenheit, die norwegische Sprache zu system. Die Differenz von Kindern und Jugendlichen mit je lernen und soweit zu beherrschen, dass sie sich leichter in die unterschiedlichen Förderbedarfen wird anerkannt und darauf Arbeitswelt integrieren können. abgestellte pädagogische Angebote wurden entwickelt. Alle hier genannten Länder haben gemeinsam, dass die politische Frankreichs Bildungssystem basiert auf dem republikanischen Teilhabe von MigrantInnen und Minderheiten durch erleichter- Ideal der prinzipiellen Gleichheit aller BürgerInnen. Das päda- te Einbürgerung (i.d.R. nach fünfjährigem Aufenthalt) fester gogische Konzept knüpft – ähnlich wie in Kanada und Großbri- Bestandteil ihrer Integrationspolitik ist. tannien – an vorhandene Antidiskriminierungsgesetze an. Multikulturelle Orientierungen werden aber abgelehnt, da sie In Großbritannien werden Elemente der staatsbürgerlich-politi- auf Differenzen verweisen, von denen im öffentlichen Raum schen Bildung mit einer reflektierten antirassistischen abstrahiert werden soll. Gleichwohl wird viel Wert darauf ge- Pädagogik verknüpft. Das britische Konzept verpflichtet die legt, Diskriminierung auf allen Ebenen zu bekämpfen. In Pro- Schulen, Strategien zur Auseinandersetzung mit Rassismus zu blemquartieren wird der Bildung eine klare Priorität einge- entwickeln. Die konsequente Einbindung von Minderheiten in räumt (Zone d’Éducation Prioritaire), mit dem Ziel, Benach- den Schuldienst gilt dabei als wichtiges Instrument. In den letz- teiligungen eines unterprivilegierten sozialen Umfeldes auszu- ten Jahren wurde zudem die frühe Förderung zum Ausgleich gleichen. Zusätzliche Ressourcen, zusätzliche Unterrichtsstun- von Benachteiligungen, auch bei Kindern mit Migrationshinter- den und finanzielle Anreize für Lehrkräfte sind die wesent- grund betont. Die Einbindung des Elternhauses, die Verklein- lichen Mittel. Alle Fördermaßnahmen finden vorrangig in fran- erung von Lerngruppen in den frühen Phasen und die Erpro- zösischer Sprache statt. bung von Zielvereinbarungen wurden wesentlich gefördert. Überdies wurde zusätzliche Lernzeit zur Verfügung gestellt. In Deutschland ist im Gegensatz zu den erwähnten Beispielen kein Konzept erkennbar – weder das Selbstverständnis einer In Schweden wird bereits in der Elementarerziehung und multikulturellen Gesellschaft (wie in Kanada, Großbritannien, Grundschule insbesondere der sprachlichen Förderung von Schweden) noch ein egalitär republikanisches Staatsethos (wie Kindern eingewanderter Familien – und zwar, sowohl in der in Frankreich). Diese Konzepte können Anregungen, nicht schwedischen als auch optional in der jeweiligen Familien- jedoch Patentlösungen für die deutsche Bildungspolitik geben. sprache große Aufmerksamkeit geschenkt. Insgesamt verfolgt Auch in den genannten Ländern bestehen, wie PISA-2000 Schweden damit eine Politik der Unterstützung von Ein gezeigt hat, weiterhin Unterschiede in den Leistungen von wanderern in ihren Integrationsbemühungen, ohne dass die Kindern mit und ohne Migrationshintergrund – sie sind jedoch Identifikation mit der kulturellen Herkunft aufgeben werden deutlich geringer als in Deutschland. Die Unklarheit der deut- müsste. schen Haltung zur Einwanderung bzw. die teils offensiven Widerstände sind Haupthindernisse, positive pädagogische In den Niederlanden werden Neuankömmlinge im Land relativ Konzepte für Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien zu frühzeitig mit einem verbindlichen Programm an Einglieder- entwickeln. Diese Hindernisse gilt es dringend zu beseitigen. ungs- und Sprachkursen konfrontiert, in dem die Anforder- ungen des Einwanderungslandes vermittelt und Anreize zu Inte- grationsleistungen gegeben werden. Ziel ist es, Zuwanderer nach erfolgreichem Abschluss der Kurse möglichst schnell ins 1. 3. Population und Heterogenität der Kinder mit Bildungssystem bzw. in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Eine Migrationshintergrund Evaluation dieser Integrationskurse durch das niederländische Innenministerium wie auf die Schwächen der zu stark standar- Zu den wichtigen ethnischen Minderheiten in Deutschland zäh- disierten Angebote hin, die häufig zuwenig die Bedürfnisse und len: die Arbeitsmigranten der 1960er Jahre aus den Anwerbe- Qualifikationen der EinwanderInnen berücksichtigen. Darüber ländern und ihre Kinder; die Übersiedler, Spätaussiedler und hinaus gibt es eine Förderung der Kinder mit Migrations- Sinti/Roma sowie Asylsuchende und (Bürger-)Kriegsflücht- hintergrund in der Frühphase der vorschulischen Einrichtungen linge. In gleicher Weise stellen die so genannten Vertragsarbei- 10 / Schule und Migration
ter (aus Vietnam, Polen, Kuba, Moçambique und Angola) der Prozent und darüber haben. In anderen deutschen Großstädten ehemaligen DDR ethnische Minderheiten in Deutschland dar. (wie z.B. Hamburg, Frankfurt, Bremen) ist es ähnlich. Inner- Die sektorale Arbeitsmarktkonzentration von Migranten paart halb der alten Bundesländer betrug der Anteil ausländischer sich mit einer hohen ethischen Konzentration in bestimmten SchülerInnen an der Gesamtzahl der Schüler an allgemeinbil- Wohnquartieren. Ursache dafür sind Barrieren auf dem denden Schulen 1999 11,3 Prozent, in den neuen Bundeslän- Wohnungsmarkt sowie (vor allem bei Immigranten aus südeu- dern dagegen lediglich 0,8 Prozent. ropäischen Ländern) eine familial-verwandtschaftliche Ketten- und Pendelmigration, durch die insbesondere Verwandtschafts- Die größte Schülerpopulation ohne deutschen Pass bilden Kin- beziehungen als Ressource im Migrationsprozess eingesetzt der und Jugendliche aus der Türkei (43,6%). 13,4% der aus- werden. Bis zum Anwerbestopp im Jahr 1973 kamen insge- ländischen SchülerInnen haben die Staatszugehörigkeit eines samt 14 Mio. Ausländer in die Bundesrepublik, davon kehrten Nachfolgestaates des ehemaligen Jugoslawiens. Insgesamt ca. 11 Mio. in ihre Heimatländer zurück. Die ‚Nichtrückkehrer’ 16,1% waren Staatsangehörige eines EU-Landes. Auch hier leben inzwischen seit über 20 Jahren in Deutschland, ihre überwogen die Staatsangehörigkeiten ehemaliger Anwerbe- Kinder sowie teilweise Enkelkinder wurden in Deutschland länder (13,3% der ausländischen SchülerInnen besaßen die geboren und besuch(t)en hier die Schule. italienische, spanische, portugiesische oder griechische Staats- angehörigkeit). Außereuropäischer Herkunft war nur ein Anteil Insgesamt leben heute in Deutschland 7,3 Mio. Ausländer (8,9 von 18,3% der ausländischen SchülerInnen (Hauptherkunfts- Prozent der Bevölkerung) – der Anteil ethnischer Minderheiten länder: Iran, Marokko, Afghanistan, Libanon und Vietnam). dürfte eingedenk der Spät-/Aussiedler deutlich höher liegen. Mit einem liberaleren Staatsangehörigkeitsrecht, gäbe es heute et- All dies zeigt, dass nicht nur der Anteil, sondern auch die Viel- wa 4 Mio. Ausländer und eine Ausländerquote von knapp 5%. falt von Kindern mit Migrationshintergrund an deutschen Schulen zugenommen hat. Kinder aus Migrantenfamilien weisen somit eine hohe Vielfalt hinsichtlich ihrer nationalen, ethnischen und kulturellen Die Komplexität und besondere Situation von Kindern und Ju- Herkunft sowie ihrer Zuwanderungsprozesse und –erfahrungen gendlichen mit Migrationshintergrund sind in ihrer Schärfe von auf. Manche wurden bereits hier geboren, manche haben ihre der deutschen Gesellschaft und ihrem Schulsystem erst sehr Schulbiographie im Herkunftsland begonnen, andere wurden spät erkannt worden. Dies war zunächst der weit verbreiteten mit Krieg und Vertreibung konfrontiert. Viele der verfügbaren Annahme geschuldet, dass nichtdeutsche Beschäftigte und ihre Statistiken verwenden nur das Kriterium der „Staatsange- Familien nur eine vorübergehende und damit zeitliche begrenz- hörigkeit“ und weisen zudem – die so definierten – ‚Ausländer’ te Phase in Deutschland bleiben würden (Stichwort: „Gast- häufig nur als eine Kategorie aus – Herkunftsland und Migra- arbeiter bzw. -arbeiterin“). Mit ihrem ‚Bleiben’ wurden auf- tionsgrund bleiben damit unberücksichtigt. Zudem sind so grund des zunehmenden Anteils junger Ausländer/innen, die in Probleme von Aus- und Spätaussiedlern sowie Angehörigen aus Deutschland geboren werden, auch bessere Voraussetzungen Migrantenfamilien mit deutschem Pass mit der amtlichen für deren Integration erwartet. In der Tat sind deutliche Ver- Statistik nicht identifizierbar. besserungen hinsichtlich ihrer Bildungsbeteiligung, ihrer erreichten Schul- und Ausbildungsabschlüsse eingetreten. Angesichts der Zuwanderung von Bürgerkriegsflüchtlingen und Dennoch ist der Abstand zu den deutschen SchülerInnen nicht der höheren Geburtenrate der ausländischen Bevölkerung ist geringer geworden. Zudem sind – wie die PISA-Ergebnisse ge- der Anteil unter den SchülerInnen höher als der Bevölker- zeigt haben – ihre Chancen eines ausreichenden Kompetenz- ungsanteil von 8,9 Prozent – und dürfte in Zukunft weiter zu- erwerbs im deutschen Schulsystems alles andere als zufrieden- nehmen. Im Jahr 1999 besuchten rund 10 Mio. SchülerInnen stellend. die allgemeinbildenden und beruflichen Schulen in Deutsch- land. Davon hatten insgesamt knapp 1,2 Mio. SchülerInnen einen ausländischen Pass. Von ihnen besuchten 946.300 (81,5%) eine allgemeinbildende Schule und 214.152 1. 4. Bildungssituation von Migrantenkindern (18,5%) eine berufliche Schule. Ende der 1990er Jahre besaß damit jedeR zehnte Schüler/in eine nichtdeutsche Staats- Vorschulische Bildung bürgerschaft. Seit Beginn der 1960er Jahre hat sich die Zahl Der „fehlende“ Besuch eines Kindergartens wird häufig als nichtdeutscher SchülerInnen an deutschen Schulen mehr als wesentliche Ursache für die zu geringen Sprachkompetenzen verzwanzigfacht. Zudem gibt es starke Variationen zwischen von Kindern nichtdeutscher Herkunft und ihre dadurch begrün- den Bundesländern. So liegt z.B. der Ausländeranteil an der deten Schwierigkeiten in der Schule genannt. Die Realität wi- Wohnbevölkerung in Berlin-Kreuzberg über 30 Prozent und bei derspricht jedoch dieser Ursachenzuschreibung. Ende des Jah- den SchülerInnen fast 50 Prozent – wobei manche Schulen res 2000 lebten 485.690 ausländische Kinder im Alter von bis dieses Berliner Bezirkes auch eine Migrantenquote von 70 zu 6 Jahren in der Bundesrepublik, davon wurden 88% in Schule und Migration / 11
Deutschland geboren. Die Kindergartenbesuchsquote der 3-4 schwierigkeiten und Sonderschulüberweisung führt. Resultat und 4-5-jährigen ausländischen Kinder ist nicht wesentlich ge- dieser Überweisungspraxis ist, dass von den Sonderschüler- ringer als die der deutschen und ausländischen Kinder insge- Innen mit ausländischem Pass ca. 70 Prozent eine Schule für samt (47% vs. 56% bzw. 76% vs. 83%). Besonders hoch ist Lernbehinderte besuchten, bei den deutschen Sonderschüler- die Beteiligung ausländischer Kinder an Vorschuleinrichtungen Innen betrug dieser Anteil vergleichsweise nur ca. 50%. Ob- in der Altersstufe der 5- bis 6-Jährigen (86% vs. 90% insge- gleich mangelnde deutsche Sprachkenntnisse häufig zu einer samt). Sonderschulüberweisung führen, kann faktisch jedoch kein Be- leg dafür gefunden werden, dass Sonderschulen besondere Eine Studie des Deutschen Jugendinstituts verweist darauf, Kompetenzen in der Vermittlung von Sprachen besitzen. dass insbesondere ausländische Familien vom Ausbau des Kindergartenplatzangebots nach der Einführung des Rechtsan- Im Gegenzug sind ausländische Kinder und Jugendliche insbe- spruchs im Jahr 1996 profitiert haben (vgl. § 24 SGB VIII). sondere an den Gymnasien deutlich unterrepräsentiert. Ein ebenfalls ausschlaggebender Faktor für die elterliche Ent- Während mehr als ein Drittel der deutschen SchülerInnen der scheidung hinsichtlich des Kindergartenbesuchs ist dessen Sekundarstufe I 1999 ein Gymnasium (39,5%) besuchte, war Kosten pflichtigkeit. So hat sich im Saarland nach Auskunft es bei den ausländischen SchülerInnen nur ein Fünftel des Kultusministeriums der Anteil der ausländischen Kinder, die (19,2%). Beim Besuch der Realschulen ist der Abstand zwi- einen Kindergarten besuchen, deutlich erhöht, seitdem hier das schen den deutschen und ausländischen SchülerInnen zwar letzte Kindergartenjahr kostenfrei angeboten wird. Die Bil- weniger stark ausgeprägt, aber dennoch vorhanden (21,7% der dungskommission hat in ihrer ersten Empfehlung zu „Bil- deutschen SchülerInnen zu 17,5% der ausländischen dungsfinanzierung in der Wissensgesellschaft“ u.a. Vorschläge SchülerInnen). Nur bei den Gesamtschulen, die im Gegensatz für den vorschulischen Bereich erarbeitet, die grundsätzlich von zu Realschulen und Gymnasien auch ohne Empfehlung der der Kostenfreiheit als Bildungseinrichtung ausgehen, aber eine Grundschule besucht werden können, zeigt sich ein umgekehr- Beteiligung an Betreuungskosten durchaus für vertretbar hält. tes Verhältnis. Hier ist der Anteil der ausländischen Schüler- Der Aspekt der Kostenfreiheit ist auch eine Erklärung für den Innen der Sekundarstufe I mit 13,5% höher als der Anteil bei sehr hohen Anteil ausländischer Kinder in den Vorklassen für den deutschen SchülerInnen (8,9%). 5-6jährige Kinder, da dieses Schulangebot im Gegensatz zu den Kindergärten grundsätzlich kostenfrei ist. Ein weiterer Grund Insbesondere für jene Kinder und Jugendliche nichtdeutscher für diese starke Frequentierung des Vorklassenangebots ist Herkunft, die nur eine Sonder- oder Hauptschule besuchen, hat jedoch auch die häufigere Zurückstellung ausländischer Kinder sich die Situation in den letzten Jahrzehnten drastisch ver- bei der Einschulung, die in der Regel mit Defiziten in der deut- schärft. Zum einen sind sie an diesen Schultypen häufig „unter schen Sprache und der kulturellen Fremdheit der Eltern sich“. Neben der abnehmenden sozialen Akzeptanz des begründet werden – und dies, obwohl dies in den meisten (Sonder- und) Hauptschulbesuches und der damit verbundenen Bundesländern laut Schulgesetzgebung kein Zugangshindernis Stigmatisierung ihrer SchülerInnen kam es zu einer „sozialen sein dürfte. Entmischung“ dieser Schultypen. Damit ist die Hauptschule weniger als früher ein Feld antizipatorischer Sozialisation, da Ganz offensichtlich ist weniger die Quantität des Kita-Besuchs die soziale Homogenität der Elternschaft mit einer weiteren das Problem, sondern eher der Mangel an Angeboten zur frü- Verringerung des Anspruchsniveaus, der Kompensations- hen Förderung dieser Kinder in deutschen Kindergärten. möglichkeiten der eigenen familiären Benachteiligung durch MitschülerInnen sowie der Möglichkeit von positiven Modell- Schulbesuch effekten in Hauptschulen verbunden ist. Trotz der Tatsache, dass die Mehrheit der ausländischen SchülerInnen in Deutschland geboren wurde und einen Kinder- Eine Veränderung des deutschen Schulsystems, die Hetero- garten bzw. die Vorschule besucht hat, sind die Unterschiede zu genität von SchülerInnen akzeptiert und die Förderung von deutschen SchülerInnen hinsichtlich der Art der besuchten Kindern vor die Segregation stellt, könnte hier deutlich verbes- Schule (ab der Sekundarstufe I) weiterhin groß. So besuchte sernd wirken. 1999 jedeR zweite ausländische Schüler/in eine Schule, die kei- nen weiterführenden Abschluss ermöglicht (41,7% besuchten Schulabschlüsse eine Hauptschule und 6,4% eine Sonderschule). Unter deut- Hinsichtlich der erreichten Schulabschlüsse zeigt sich ein schen SchülerInnen besuchten lediglich 17,1% eine Haupt- wachsender Bildungserfolg ausländischer Kinder. Der Anteil der und 3,9% eine Sonderschule. Durch die häufige Zurückstellung Schulabgänger/innen ohne Schulabschluss unter den auslän- von Migrantenkindern bei der Einschulung steigt das Risiko der dischen Jugendlichen sank von 33,1% im Jahr 1983 auf so genannten Überalterung von Kindern in der Grundschule, 19,9% im Jahr 1999. Seit Ende der 1980er Jahre hat er sich das dann im Zusammenhang mit fehlenden oder mangelnden jedoch kaum verändert. Dennoch ist dieser Anteil immer noch Deutschkenntnissen häufig zur Interpretation genereller Lern- ca. 2.5-mal so hoch wie bei den deutschen Jugendlichen. Dies 12 / Schule und Migration
ist um so bedeutsamer, da die Mehrzahl dieser ausländischen Arbeitsmarkt fortgeschrieben wird. Der Unterschied zwischen Jugendlichen – wie die PISA-Studie gezeigt hat – überwiegend Ausländern und Deutschen in der Ausbildungsbeteiligung ist oder ausschliesslich eine deutsche Schule besucht hat. 46% der immer noch sehr hoch. Bei ausländischen 18- bis unter 25- 15-Jährigen nichtdeutscher Herkunft wurden in Deutschland Jährigen liegt die Ausbildungsquote bei 24 Prozent (ca. 29 geboren, weitere 27% sind bereits vor ihrem Schulbeginn und Prozent bei Türken, Griechen und Italiener, 25 Prozent bei weitere 19% noch während ihrer Grundschulzeit zugewandert. Portugiesen und 34 Prozent bei Spaniern), bei den Deutschen beträgt sie hingegen fast 70 Prozent. Im Ergebnis können – Der Anteil ausländischer Schulabgänger mit höheren Bildungs- einer BIBB/EMNID-Umfrage von 1998 zufolge – 38% der abschlüssen (Realschulabschluss, Fach- und Abitur) hat sich 20- bis 29-jährigen ausländischen jungen Erwachsenen keine erhöht: von 19 Prozent im Jahr 1983 auf knapp 40 Prozent im abgeschlossene Berufsausbildung vorweisen. Der Anteil unter Jahr 1999 (beim Fach-/Abitur hat sich der Anteil innerhalb der denjenigen von ihnen, die in Deutschland geboren wurden, ist letzten 10 Jahre von knapp 4% auf rund 10% erhöht). Das zwar mit 24% deutlich geringer, aber im Vergleich zu den deut- bedeutet einen markanten intergenerationalen Bildungs- schen jungen Erwachsenen immer noch sehr hoch (8%). Dabei aufstieg. In der Elterngeneration hatten weit weniger Väter und gibt es große Unterschiede innerhalb der Migrantengruppe: bei Mütter einen höheren Sekundarschulabschluss. Trotzdem hat den türkischen jungen Erwachsenen betrug die ‚Ungelernten- sich der Bildungsabstand zwischen deutschen Jugendlichen und quote’ 40%, bei den Griechen 37%, den Ex-Jugoslawen 25%, Angehörigen ethnischer Minderheiten nicht wesentlich redu- den Italienern 22% und bei denen mit einer anderen ziert. Staatszugehörigkeit 24%. Mitverantwortlich dafür ist, dass soziale Herkunftsunter- Abschließend noch ein kurzer Blick auf die Spätaussiedler- schiede in der Schule nicht kompensiert werden und die Innen. Trotz ihrer deutschen Staatsangehörigkeit sind sie mit Beherrschung der Verkehrssprache Deutsch zu sehr als famili- ähnlichen Problemen konfrontiert wie Jugendliche ausländi- ale Verantwortung behandelt wird. scher Herkunft. SpätaussliedlerInnen, die noch im schulpflich- tigen Alter sind, werden häufig unter der Begründung mangeln- Zudem offenbarten beide LAU-Untersuchungen eine Ungleich- der Deutschkenntnisse auf die Hauptschule überwiesen. An behandlung von Kindern bildungsferner Familien bei der ihrem Schicksal wird deutlich, dass Quereinstiege ins deutsche Sekundarschulzuweisungspraxis. Zum einen mussten Kinder Bildungssystem in der Regel mit einem Statusverlust verbunden bildungsferner Familien deutlich bessere Schulleistungen zei- sind und die nichtdeutsche Familiensprache im deutschen gen als Kinder aus bildungsstarken Familien, um nach der Schul- und Ausbildungssystem zu einem „Sprachdefizit“ wird, Grundschule eine Gymnasialempfehlung zu erhalten. Auch das die Betreffenden häufig in eine defizitäre Bildungskarriere wenn die LAU-Untersuchung belegt, dass Kinder mit Migra- führt. Insofern haben junge Spätausliedler/innen, die bei der tionshintergrund im Verhältnis zum Lernstand bei der Beno- Einreise bereits einen Schul- oder Ausbildungsabschluss vor- tung und bei der Übergangsempfehlung bevorzugt werden, fin- weisen können, einen Vorteil gegenüber diesen jüngeren den sie sich aufgrund des Sozialschichtseffekts seltener an den SchülerInnen, da sie den überwiegenden Teil ihrer Schulzeit im weiterführenden Schulen. Heimatland – und damit ohne „Sprachdefizit“ – absolvieren konnten. Für diesen häuslichen Spracherwerb haben Kinder nichtdeut- scher Herkunft jedoch aufgrund einer sozial stratifizierten Heiratsmigration sehr ungleiche Gelegenheiten. Heiratsmigra- tion findet vor allem bei sozial schwachen Migranten statt. Dies hat Folgen für den Sozialisations- und Akkulturations- prozess dieser Kinder, da ihre Mütter als wichtigste Primär- sozialisationsinstanz zumeist kein (oder nur sehr schlecht) Deutsch sprechen. Das einfache Assimilationsmodell (threege- neration assimilation cycles), wonach die dritte Generation in der Aufnahmekultur angekommen ist, besitzt demnach keine Allgemeingültigkeit – sondern ist vom Bildungsniveau sowie dem sozialen wie beruflichen Integrationsgrad der ‚zweiten Generation’ abhängig. Ungleiche Ausbildungschancen Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund beim Übergang von der Schule in das Ausbildungssystem und in den Schule und Migration / 13
2. BILDUNGSEINRICHTUNGEN UND werden kann. Die Ressortgrenzen werden in den britischen INTEGRATION: ExzellenzZentren überwunden und die Eltern (vor allem in BESTANDSAUFNAHME, AUSEINAN- sozialen Brennpunkten) als Erziehungspartner ernst genom- DERSETZUNG MIT UNTERSCHIED- men sowie als Erziehende gefördert. LICHEN MODELLEN Mit dem achten Buch Sozialgesetzbuch SGB VIII von 1990 In diesem Kapitel soll der Frage nachgegangen werden, wie die haben Kindertageseinrichtungen neben Betreuung und Erzie- Institutionen, hier vor allem die Kindertagesstätte und die hung auch explizit einen Bildungsauftrag. In den neunziger Schule auf die zunehmende Heterogenität in der Zusammen- Jahren haben alle Bundesländer diesen Auftrag in Landes- setzung ihrer Kinder und Schüler reagieren. Die Einschätzung gesetzen verankert. Zehn Jahre später sind sie immer noch bildet die Grundlage für die dann folgenden Reformempfeh- dabei, den Bildungsauftrag näher zu bestimmen und zu klären, lungen unter 2I. in welcher Weise er in die Praxis umgesetzt werden soll. PISA hat zweifellos Bewegung in diese Bemühungen gebracht. Bil- dungsprogramme oder Grundsätze/Leitlinien sind in allen Bundesländern in Arbeit oder im Entwurf vorliegend und wer- 2. 1. Vorschulische Bildung und Migration den auf unterschiedliche Weise implementiert. Die Debatte um eine verstärkte frühe Sprachförderung von Immigranten- Wie bereits unter I.4. dargestellt ist die defizitäre schulische kindern vor der Einschulung hat insbesondere in den ehemali- Situation von Kindern mit Migrationshintergrund vor allem auf gen westlichen Bundesländern zu vielfältigen Maßnahmen und die Qualität der frühkindlichen und vorschulischen Angebote Aktivitäten geführt. Eine gründliche Sichtung und Bewertung zurückzuführen. Die auf Betreuung reduzierte Definition deut- dieser Maßnahmen steht aus. Ein Aspekt der Bewertung wird scher Kindergärten ist in der derzeitigen bildungspolitischen sein, inwieweit die vorhandenen Ansätze der sprachlichen und Debatte als Problem erkannt worden. Der 10. Kinder- und kulturellen Vielfalt in den Kindertageseinrichtungen gerecht Jugendbericht der Bundesregierung hält fest, dass in keinem werden und zu einer am Leitbild von sozialer, kultureller, religi- anderen Dienstleistungsbereich in Deutschland gegenwärtig öser und sprachlicher Diversität orientierten Kita-Kultur bei- eine derart große Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität tragen. Viele der unter hohem Handlungsdruck von den Kom- festzustellen sei wie in den Tageseinrichtungen für Kinder. munen und Trägern entwickelten Ansätze sind einsprachig und „Fördern und Fordern“ seien speziell im Kindergarten oft zielen ausschließlich auf die Erweiterung der Deutsch- tabuisierte Begriffe; Lernen und Leistung sollten, so fordert kompetenzen. der Bericht, eine neue Bewertung erfahren. Ein nach wie vor ungelöstes Problem ist die Ausbildung der Ganz offensichtlich hat dies für Kinder aus schwierigen sozia- ErzieherInnen – auch angesichts der oben genannten vielfälti- len Verhältnissen allgemein negative Konsequenzen. Ein gen Anforderungen und Kompetenzen. Während in nahezu Großteil der Kinder aus Einwandererfamilien ist von dieser allen anderen europäischen Ländern die Ausbildung auf Problematik betroffen, und pädagogische Defizite scheinen bei Fachhochschulebene stattfindet, gehört der Erzieherinnenberuf ihnen in besonderer Weise nachteilig zu wirken, denn ein in Deutschland immer noch zu den sozial und materiell wenig besonders defizitärer Bereich ist die Sprachförderung in der anerkannten Berufen, der auf einer nichtakademischen Ausbil- vorschulischen Bildung. Der Mangel an diagnostischen dung an einer Fachschule basiert. Ebenso defizitär ist die For- Instrumenten und gezielten Konzepten der Sprachförderung schungslandschaft der frühkindlichen Pädagogik. In der ge- tragen ganz gravierend zu den sprachlichen Problemen bei samten Republik gibt es derzeit fünf Lehrstühle. Offensichtlich Kindern aus sozial schwachen Familien sowie bei Kindern mit schlägt hier nach wie vor die Geringschätzung der Arbeit mit Migrationshintergrund bei bzw. beheben diese zu wenig. Kindern als entwicklungshemmende gesellschaftliche Menta- Erzieher/innen werden für eine sprachliche Förderung in ihrer lität voll durch. Ausbildung nicht hinreichend ausgebildet. Konzepte mehrspra- chiger Bildung und Instrumente zur Diagnose von Sprachkom- petenz in Erst- und Zweitsprachen gibt es bislang nur wenige. Die Kooperation mit Eltern ist auch in Kindertagesstätten generell unterentwickelt. Für die Entwicklung von konstrukti- ven Konzepten im Umgang mit kultureller und sprachlicher Diversität ist dies ein gravierender Mangel, der die pädagogi- sche Wirkung stark beeinträchtigt. Die britischen Einrichtun- gen an „centers of early excellence“ sind positive Beispiele dafür, in welcher Weise in diesem Bereich anders gearbeitet 14 / Schule und Migration
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