KED KurierWinter 2023 - KED in NRW Landesverband Elternmitwirkung von Anfang an

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KED KurierWinter 2023 - KED in NRW Landesverband Elternmitwirkung von Anfang an
KED Kurier                        Winter 2023

                Elternmitwirkung von Anfang an

KED in NRW
Landesverband

                4    Ästhetische Bildung!
                     Menschen – Musen
                     – Miteinander
                17   Große Kunst in Kinderaugen
                18   Das Who-is-Who der Krippe
                23   KED in NRW
                26   Aus den Bistümern
                29   Literaturempfehlungen
KED KurierWinter 2023 - KED in NRW Landesverband Elternmitwirkung von Anfang an
Liebe Eltern, sehr geehrte
                                                   Damen und Herren!
                                                   „Ist das Kunst, oder kann das weg?“ heißt es in
                                                   einem alten Kalauer, in dem anklingt, dass es
                                                   mitunter gar nicht so leicht ist, Kunst zu erken-
                                                   nen oder zu interpretieren. Aber leider könnte
                                                   man den Spruch in unseren Tagen, insbesonde-
                                                   re seit Beginn der Corona-Krise, so umformulie-
                                                   ren: „Es ist (nur) Kunst, also kann das weg“. Die
                                                   musischen Fächer sind die Stiefkinder des schu-
                                                   lischen Stundenplans, sie rangieren meist bei
                                                   Schüler*innen sowie bei ihren Eltern unter „fer-
                                                   ner liefen“ und werden allzu häufig fachfremd
             Andrea Honecker aus Köln ist
             Vorsitzende des Landesver­            unterrichtet. Das war bereits in früheren Jahren
             bandes der Katho­lischen
                                                   so, doch Corona hat diesen Trend bestärkt: In Fol-
             Eltern­­schaft Deutschlands in
             Nordrhein-Westfalen (KED              ge der festgestellten Defizite wurde vor einigen
             NRW)
                                                   Wochen seitens des Schulministeriums angekün-
                                                   digt, dass die sogenannten Hauptfächer Lesen,
                                                   Schreiben und Rechnen in der nächsten Zeit ver-
                                                   stärkt unterrichtet werden sollen. Es besteht kein
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                                         Zweifel daran, dass es sehr wichtig ist, dass unsere Kinder
                                         diese Fähigkeiten sorgfältig lernen und sicher einüben. Die
                                         Frage ist, auf Kosten welcher anderen Schulfächer oder
KED Kurier

                                         welcher pädagogischen Inhalte dies – zwangsläufig - ge-
                                         schehen wird, und wie sich dies wiederum auf das Lern-
                                         und Sozialverhalten unserer jungen Menschen auswirken
                                         wird.

                                         Die Begegnung mit Kunst und Musik darf schon aus
                                         Gründen der Chancengerechtigkeit nicht ausschließlich
                                         dem Elternhaus überlassen werden. Alle Kinder und Ju-
                                         gendlichen müssen ihre eigenen theoretischen und prak-
                                         tischen Erfahrungen mit Kunst und Musik machen dürfen
                                         und ihre Kreativität unter Anleitung und mit den Hilfestel-
                                         lungen von Lehrer*innen entwickeln können.

                                         Die ästhetische Bildung muss ihren festen Platz im Schul-
                                         alltag haben. Diese Meinung vertrat auch Frau Prof. Dr.
                                         Flöter-Fratesi bei unserem „NRW-Elternforum“ im Muse-
                                         um Folkwang im November 2022. Ihren interessanten Vor-
                                         trag können Sie in diesem Heft noch einmal nachlesen.

                                         Nur mit ästhetischer Bildung – die übrigens nicht nur im
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KED KurierWinter 2023 - KED in NRW Landesverband Elternmitwirkung von Anfang an
Kunstunterricht ihren Platz haben sollte – können Kinder

                                                                                                        KED Kurier
                                   und Jugendliche lernen, Kunst zu erkennen und zu inter-
                                   pretieren. Doch die Beschäftigung mit Kunst, da waren
                                   sich alle Teilnehmer*innen des Elternforums einig, trägt
                                   auch dazu bei, die Empathie zu stärken und ein gutes und

                                                                                                        1 | 2023
                                   differenziertes Sozialverhalten zu entwickeln, und dies sind
                                   ebenfalls unverzichtbare Fähigkeiten, die auch in der Schu-
                                   le nicht zu kurz kommen dürfen.

                                   Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre und freuen
                                   uns, immer wieder mit Ihnen ins Gespräch zu kom-
                                   men über die Frage, wie Erziehung und Bildung zu-
                                   hause und in den Bildungseinrichtungen gelingen
                                   können!

                                   Andrea Honecker
                                   Vorsitzende
Foto: iStockphoto

                    Ihr Kind kommt in die
                    Schule. Damit beginnt ein
                    neuer Lebensabschnitt.
                    Das gilt ganz sicher für Ihr Kind, möglicherweise aber
                    auch für Sie selbst – vor allem, wenn es Ihr erstes Kind
                    ist, das die Schule besuchen wird.

                    Die Schule lässt erfahrungsgemäß keine Familie un-
                    berührt, Erinnerungen an die eigene Schulzeit wer-
                    den wach. Für manchen bedeutet Schule: Der Ernst
                    des Lebens beginnt. Wichtig ist aber, dass damit die Kind-
                    heit nicht abgeschlossen ist. Kinder sollen sich ihre kindliche Neugier und Unbe-
                    fangenheit lange erhalten.

                    Eltern und Kinder wünschen sich einen guten Start in der Grundschule.

                    Der KED in NRW ist es ein Anliegen, zu erläutern, wie die katholischen Grundschu-
                    len Erziehung und Unterricht verstehen.
                                                                                                          3
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1 | 2023         Ästhetische Bildung

             Menschen – Musen
             – Miteinander
KED Kurier

             Ästhetische Bildung als Schlüssel zu
             ganzheitlicher Bildung (nicht nur) in der
             Schule
             „Das Leben ist der Kunst bester, der       ästhetischen – d.h. im Allgemeinver-
             Kunst einziger Schüler.“ So sagt es zu-    ständnis künstlerischen – Gestaltun-
             mindest Oscar Wilde, Lebemann, Lite-       gen auszudrücken und diese zu verste-
             rat und Intellektueller. Und er muss es    hen (vgl. MSB NRW 2014:11). Im breiten
             wissen, denn er gehört zu den am häu-      Spektrum des schulpolitischen Bil-
             figsten zitierten Leuten überhaupt –       dungsauftrags geht es also besonders
             vermutlich auch zu den am häufigsten       den musisch-künstlerischen Fächern
             falsch zitierten.                          um die Entwicklung persönlicher Aus-
                                                        drucksmöglichkeiten. Dieser Gedanke
             Vielleicht verstehe auch ich Oscar
                                                        macht uns die Tragweite von Ästheti-
             Wilde ganz falsch – aber ich möchte
                                                        scher Bildung bewusst: Es geht ihr um
             seine Worte als Vorzeichen für den
                                                        Mündigkeit, um Kommunikationsfä-
             heutigen Anlass verstehen: Nämlich
                                                        higkeit, um das Vertreten eines Stand-
             als den Hinweis auf eine unauflösbare
                                                        punkts. Eigenschaften, die wir Schüle-
             Verbindung von Kunst und Leben. Und
                                                        rinnen und Schülern mitgeben wollen
             diese Verbindung ist nicht nur unauf-
                                                        auf ihrem Weg hin zu verantwortlichen
             lösbar: Sie ist – für das Leben – auch
                                                        Mitgliedern unserer Gesellschaft.
             ausgesprochen förderlich.
                                                        Die reale unterrichtliche Situation aber
             Deshalb wünsche mir auch, die Schul-
                                                        kann diesen Anspruch leider nicht im-
             fächer, die mir besonders am Herzen
                                                        mer einlösen: „Der Mangel an Lehr-
             liegen, stärker im Fokus der Bildungs-
                                                        kräften hat ein dramatisches Ausmaß
             politik zu sehen. Und dies nicht allein
                                                        erreicht. Unterricht fällt aus, Stunden
             aus Gründen der persönlichen Sym-
                                                        werden ersatzlos gestrichen, Fächer
             pathie – es gibt auch aus Sicht der Bil-
                                                        in ihrem Umfang reduziert oder gar
             dungswissenschaften gute Gründe
                                                        nicht mehr erteilt, Förderkurse wer-
             dafür.
                                                        den eingestellt, Klassengrößen erhöht,
             So heißt es im Kernlehrplan für das        Grundschüler schon am Vormittag
             Fach Kunst, die musisch-ästhetische        nach Hause geschickt, weil kein Lehrer
             Fächergruppe leiste „wesentliche Bei-      mehr für sie da ist“, so schreibt Jean-
             träge zur ganzheitlichen Persönlich-       nette Otto in der Zeit online vom 10.
             keitsentwicklung, die die Wahrneh-         Oktober. Diese Darstellung deckt sich
             mung, Gestaltung und Reflexion der         mit meinen eigenen Erfahrungen – al-
             Vielgestaltigkeit von Kultur und Le-       lerdings mit denen von vor 10 Jahren:
             benswirklichkeit umfassen“ (MSB NRW        Meine erste Stelle trat ich 2013 an ei-
             2014:11). Der Schlüssel zu dieser ganz-    nem ländlich gelegenen Gymnasium
             heitlichen Entfaltung liege dabei in der   an – dort war ich die einzige Kunstleh-
             Entwicklung von Fähigkeiten, sich in       rerin mit Facultas, meine Kolleginnen
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KED KurierWinter 2023 - KED in NRW Landesverband Elternmitwirkung von Anfang an
und Kollegen in der Fachschaft waren        Die gekürzte Stundentafel ist aber fa-

                                                                                             KED Kurier
Quereinsteiger oder unterrichteten          tal gerade vor dem Hintergrund der
gänzlich fachfremd. Und so konnte den       Bedeutung, die wir den musischen Fä-
ministerialen Vorgaben nicht entspro-       chern zusprechen – nichts anderes ja
chen werden – Kunstunterricht wurde         als die ganzheitliche Entwicklung von
in der EF nur einstündig erteilt, entfiel   Persönlichkeit. Aber schauen wir zu-

                                                                                             1 | 2023
für die Mittelstufe ganz. Die Situation     nächst einmal, warum denn gerade
vor Ort hat sich bis heute kaum verbes-     diesen Fächern solche Potentiale zuge-
sert. Und auch von Kolleginnen, ehe-        schrieben werden. Ein kleiner Ausblick
maligen und gegenwärtigen, höre ich         vorweg: Ästhetische Bildung steht in
Ähnliches.                                  enger Beziehung zur Entwicklung von
                                            Identität.

I – Grundbegriffe Ästhetischer Bildung
Ästhetische Bildung zielt auf ästheti-      aktive, gestaltende Produktion eines
sche Prozesse – das ist, was im Kern-       ästhetischen Werks.
lehrplan gemeint ist mit dem Ver-
                                            Ein Thema muss also zunächst gut ver-
stehen von und dem Ausdruck durch
                                            standen worden sein, um daraus etwas
künstlerische Gestaltung.
                                            Künstlerisches entwickeln zu können
Der Begriff des Ästhetischen ist viel-      (vgl. Kirchner et al. 2006: 12–13). Ästhe-
schichtig und in der Handhabung auch        tisches Verhalten stellt sich dement-
nicht ganz einfach. Die Kunstpädago-        sprechend als Wechselspiel dieser bei-
gin Constanze Kirchner begreift das         den Prozesse dar. Sie bedingen sich ge-
Ästhetische zunächst ganz praktisch:        genseitig und nehmen immer wieder
Als eine Art, unserer Welt und ihren        aufeinander Bezug. Ästhetisches Ver-
Inhalten gegenüberzutreten – erst           halten lässt sich also als prozesshaft,
einmal geht es also gar nicht um kon-       aktiv und schöpferisch beschreiben.
krete Inhalte, sondern um eine Art des
                                            Dieses ‚praktisch-tätige‘ Verständnis
Wahrnehmens und des Denkens. Diese
                                            von Ästhetik mit seinen beiden Dimen-
ist anschaulich und emotional, nicht so
                                            sionen des Wahrnehmens und des Ge-
sehr begrifflich-rational (vgl. Kirchner
                                            staltens ist aus bildungswissenschaft-
et al. 2006: 11). Die sogenannten ästhe-
                                            licher Perspektive besonders vielver-
tischen Fähigkeiten sind also ein Zu-
                                            sprechend. Warum ist das so? Schauen
sammenspiel von Wahrnehmung und
                                            wir uns dazu diese beiden Dimensio-
Vorstellungsvermögen. Sie verbinden
                                            nen noch einmal genauer an, und auch
so ein bildhaftes Denken mit bewuss-
                                            das, worauf sie sich beziehen – nämlich
ter Reflexion. Die Grundlage ästhe-
                                            die ästhetischen Objekte.
tischen Verhaltens ist die bewusste
sinnliche Wahrnehmung, die sich mit         Eine Wahrnehmungserfahrung, eine
der Entfaltung einer differenzierten in-    ästhetische Rezeption, beruht auf einer
neren Vorstellungswelt verbindet. Und       intensiven Auseinandersetzung mit
diese wiederum äußert sich in einem         dem Wahrgenommenen; dabei ent-
ganz persönlichen Gestaltungsvermö-         steht Aufmerksamkeit auch für das,
gen (vgl. Kirchner et al. 2006: 9).         was diese Wahrnehmung begleitet
                                            – das Erleben von etwas Neuem, und
Ästhetische Tätigkeit spielt sich also in
                                            darin für das Empfinden von Überra-
zwei Dimensionen ab: Auf der einen
                                            schung, Möglichkeiten und Irritation.
Seite steht die (reflektierte) Wahrneh-
                                            Auch dies sind Erfahrungen im Sinne
mung, also die aktive, sinnschöpferi-
                                            der Ästhetik.
sche Rezeption, auf der anderen Seite
steht das Überführen dieses Wahrge-         Ein Gegenstand, der solche ästheti-
nommenen in eine Gestaltung, also die       schen Erfahrungen ermöglicht, ist ein        4
                                                                                                 5
KED KurierWinter 2023 - KED in NRW Landesverband Elternmitwirkung von Anfang an
1 | 2023
KED Kurier         Ästhetische Bildung

             4genuines ästhetisches Objekt – ein           schen Vorgängen gleichsam wieder-
               Stück Literatur, eine Tanzdarbietung        entdeckt werden.
               oder auch ein Element der Alltagsäs-
                                                           Denn die Empfindungen, die Assozi-
               thetik, vielleicht ein Werbeclip oder der
                                                           ationen, Gefühle und Gedanken, die
               Besuch eines Musikfestivals. Die ma-
                                                           ästhetische Objekte auslösen, sind kei-
               teriellen Aspekte ästhetischer Objekte,
                                                           nesfalls beliebig – sie sind individuell
               also die Farben, die Formen, Töne, die
                                                           bedeutsam und bereiten einem ver-
               Sprache, aber auch die künstlerischen,
                                                           tieften Verstehen oder überhaupt erst
               religiösen oder anderen kulturellen
                                                           Neu-Schaffen von Sinngehalten den
               Kontexte schaffen dabei die Bedingun-
                                                           Weg: So können Muster der Wahrneh-
               gen der ästhetischen Erfahrung.
                                                           mung und Deutung entstehen, und be-
               Ästhetische Objekte verhalten sich an-      reits bestehende können sich produk-
               ders als chemische Formeln, anders          tiv verändern (vgl. Kirchner et al. 2006:
               als geographische Daten und anders          12). Deshalb ist viel Wahres an dem
               als sozialwissenschaftliche Konzep-         Ausspruch, ein Bild sage uns mehr über
               te – ihr ‚Erkenntnis-Potential‘ ist in      uns selbst als über sich oder über die
               ihrer besonderen Struktur gebunden,         Künstler*in.
               und sie sind auch die einzige Klasse
                                                           Der Gegenpart genuin ästhetischer
               von Gegenständen überhaupt, die die-
                                                           Wahrnehmung, der Rezeption, ist nun
               se Eigentümlichkeiten aufweist. Die
                                                           die ästhetische Gestaltung, die Pro-
               Wirkungsweisen von Materialien, von
                                                           duktion. Sie zeigt sich beispielswei-
               Rhythmen und Klängen oder von Far-
                                                           se als kreatives Schreiben, im maleri-
               ben erwarten eine womöglich radikale
                                                           schen Umgang mit Material und Far-
               Offenheit, sie strapazieren die Toleranz,
                                                           be, als szenisches Spiel auf der Bühne
               mitunter entziehen sie sich zunächst
                                                           oder auch beim Filmen im Blick durch
               gänzlich jeder Annäherung und setzen
                                                           die Kamera. Ästhetisches Gestalten ist
               Beharrlichkeit und Unerschrockenheit
                                                           so ein Prozess des Suchens und Fin-
               voraus – und in dieser Haltung dem
                                                           dens von eigenen Ausdrucksweisen,
               Ungewohnten, Irritierenden gegen-
                                                           nämlich das Formulieren von Symbo-
               über, die für das Ästhetische so typisch
                                                           len, Chiffren und Metaphern durch das
               ist, zeigt sich zugleich eine Empfäng-
                                                           Arrangieren von Tönen, das Wählen
               lichkeit für das, was (bisher) nie aufge-
                                                           von Worten, eine Abfolge von Gesten
               fallen ist, was übersehen wurde, über-
                                                           und Bewegungen oder eine Kompo-
               hört oder auch verdrängt (vgl. Kirchner
                                                           sition aus Form und Farbe auf einer
               et al. 2006: 12). Dies kann in ästheti-
                                                           Leinwand. Diese Gestaltungen können
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KED KurierWinter 2023 - KED in NRW Landesverband Elternmitwirkung von Anfang an
Kooperation Suitbertus Gymnasium

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                                             und Kunstpalast Düsseldorf 2020;
                                             Foto: Hedwig Rogge

                                             halte. Das sind biographische Elemen-
                                             te wie Erinnerungen, Erlerntes, mediale
                                             Inhalte aus Filmen und Büchern, aber

                                                                                              1 | 2023
                                             auch Phantasien und Wünsche, also Er-
                                             fahrungen aller Art und Qualität. Hier
                                             gerinnen außerdem auch Befindlich-
                                             keiten und Stimmungen, gesellschaft-
                                             liche, kulturelle, individuelle oder grup-
                                             penspezifische Normen, zudem indivi-
                                             duelle Vorlieben und Interessen sowie
                                             persönliche Themen und Konflikte. All
                                             diese latenten psychischen Gehalte
                                             fließen in ästhetische Tätigkeiten ein
                                             und prägen sie auf ganz persönliche
                                             Weise. Mehr noch: Sie machen ästheti-
stark abstrakt sein oder sehr gegen-         sche Tätigkeiten in Form von Assoziati-
ständlich und konkret. Immer aber be-        onen als Ideenfindung überhaupt erst
ruhen sie auf persönlichen Wahrneh-          möglich. Ästhetische Tätigkeiten spei-
mungen und Empfindungen. Sie stel-           sen sich nicht nur aus diesen Gehalten
len somit zugleich eine Verarbeitung,        – sie ermöglichen auch, mit und an die-
ein Verstehen und eine Äußerung zu           sen zu arbeiten, sozusagen in eine Art
einer Lebenswirklichkeit dar (vgl. Kirch-    produktives Selbstgespräch zu treten
ner et al. 2006: 13).                        (vgl. Peez 2005 a: 39).

Die Individualität einer Person ist also     Diese psychischen Gehalte reichern
der Fixpunkt, der alles zueinander in        sich im Lauf des Lebens immer wei-
Beziehung setzt. In der ästhetischen         ter an und lassen sich als das ästheti-
Tätigkeit erweitert sich und entsteht        sche Reservoir einer Person bezeich-
zugleich ein persönliches Ausdrucks-         nen. Weil sie abgesunkene Gehalte in
repertoire. Im gleichen Zuge schärft         unseren tieferen Bewusstseinsschich-
sich die Wahrnehmung am ästheti-             ten sind, können wir nur indirekt auf
schen Gegenüber, was die Grundlage           sie zugreifen. Aber genau dies macht
schafft für zunehmendes Verständnis          das Ästhetische uns möglich: Die Rei-
und entsprechend kompetentes Urteil          ze, die von einem ästhetischen Objekt
(vgl. Kirchner et al. 2006: 12–14) – also    ausgehen, wecken Assoziationen (vgl.
das, was der Kernlehrplan unter einem        Peez 2005 a: 20) – und Assoziationen
Verständnis für ästhetische Gestaltun-       sind nichts anderes als unbewusste
gen versteht. Unbezweifelbar sind also       gedankliche Gehalte, die wieder ‚auf-
ästhetische Vorgänge komplexe intel-         geweckt‘ worden sind. Im ästhetischen
lektuelle Leistungen (vgl. Kirchner et al.   Tätigsein gelangen sie zurück in die
2006: 17), die nur in diesem individu-       höheren Bewusstseinsschichten – dort
ellen, schöpferischen Dialog zwischen        können sie dann ‚abgeschöpft‘ und
sinnlicher Wahrnehmung und gedank-           in einer Gestaltung gewissermaßen
lichen Vorstellungsbildern entwickelt        sichtbar gemacht werden. Insofern
werden können (vgl. Kirchner et al.          macht das ästhetische Reservoir ästhe-
2006: 14).                                   tisches Verhalten überhaupt erst mög-
                                             lich, weil es das ‚kognitive Rohmaterial‘
In ebenso großem Maße, wie ‚äußeres‘
                                             für unsere Ideen zur Verfügung stellt.
Material – Farben oder Worte – daran
beteiligt sind, fließt also auch ‚inneres‘   Ästhetische Produkte aller Art sind
Material in diesen Dialog ein: nämlich       also zu begreifen als Ausdruck unse-
die Summe unserer psychischen Ge-            rer ‚inneren Welt‘ mit den Mitteln der       4
                                                                                                  7
KED KurierWinter 2023 - KED in NRW Landesverband Elternmitwirkung von Anfang an
Ästhetische Bildung

             4Sprache, der Musik oder des Schreibens      te Materialien, Motive und kulturelle
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               (vgl. Lieberoth 2006: 69). Unsere inne-    Hintergründe – vor allem aber an die
               ren Vorstellungen werden so auch für       biographisch gesammelten Erfahrun-
               andere zugänglich, ihre ‚Naturgesetze‘     gen einer Person und ihre Art zu den-
KED Kurier

               auch für andere zumindest teilweise        ken (vgl. Kirchner et al. 2006: 13). Darin
               verständlich – und dies macht die Ver-     liegt seine Berechtigung.
               ständigung, den Austausch darüber
                                                          Ästhetische Tätigkeit ist ohne diese
               möglich (vgl. Kirchner et al. 2006: 14).
                                                          Subjektivität nicht möglich: kein Bild,
               Das persönliche Ausdrucksrepertoire        keine Spielszene, keine Melodie, kei-
               (vgl. Kirchner et al. 2006: 13–14), das    ne Empathie in ein Kunstwerk ohne
               sich in der Individualität der Wahrneh-    Subjektivität. Ein ästhetisches Produkt
               mungsweise, der aufkommenden As-           enthält somit sozusagen die Quint-
               soziationen und der Wahl der Gestal-       essenz einer Persönlichkeit – nämlich
               tung äußert, kann als das ästhetische      die biographischen Gehalte, verschlüs-
               Profil einer Person bezeichnet werden.     selt nach einem individuellen ‚Code’
               Es entwickelt sich ein Leben lang, in      gemäß ihrem ästhetischen Profil (vgl.
               Austausch mit kulturellen, sozialen        Kirchner et al. 2006: 13). Ästhetische
               und individuellen Bedingungen. Es be-      Tätigkeit wurzelt also in der Lebensge-
               schreibt und bedingt unsere Art wahr-      schichte, durch welche die Erfahrungs-
               zunehmen, zu empfinden und uns zu          und Verarbeitungsweisen einer Person
               verhalten und begründet Vorlieben für      entstanden sind – kurz: ihrer Identi-
               Tonfolgen, Farbkombinationen oder          tät (vgl. Kirchner et al. 2006: 26). Diese
               eine bestimmte Fernsehserie.               unmittelbare Betroffenheit begründet
                                                          die enorme Bedeutung Ästhetischer
               Ästhetisches Verhalten ist demgemäß
                                                          Bildung für die Entwicklung von Iden-
               höchst subjektiv – aber es ist nicht be-
                                                          tität (vgl. Kirchner et al. 2006: 17): Äs-
               liebig. Es ist geknüpft an die Bedin-
                                                          thetisches Arbeiten schafft persönliche
               gungen einer ästhetischen Situation,
                                                          Involviertheit und emotionale Beteili-
               an die äußeren Umstände, an konkre-

                                                              Suitbertus Gymnasium, Säulen­
                                                              malereikurs, Q1 Wedding 2022;
                                                              Foto: Hedwig Rogge
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KED KurierWinter 2023 - KED in NRW Landesverband Elternmitwirkung von Anfang an
gung. Und was emotional berührt, das          dennoch: Denn ästhetisches Verhalten

                                                                                          KED Kurier
ist immer auch bedeutsam (vgl. Hau-           lässt sich zumindest äußerlich zwei-
ßer 1995: 9).                                 felsfrei dokumentieren.

Damit ist ästhetisches Arbeiten immer         Die biographischen Gehalte, die in äs-
auch ein Stück Selbstoffenbarung. Al-         thetischem Verhalten wirksam und im

                                                                                          1 | 2023
lerdings ist diese ‚Codierung‘ für Au-        Falle von ästhetischen Produkten ge-
ßenstehende nicht unbedingt zugäng-           wissermaßen sogar sichtbar werden,
lich oder gar verständlich (vgl. Kirchner     verknüpfen das Ästhetische auf inhalt-
et al. 2006: 26) – tatsächlich ist sie dies   licher Ebene mit der Identität einer
womöglich nicht einmal für die Person         Person. Diese Verbindung besteht je-
selbst. Identitätsarbeit realisiert sich in   doch auch in struktureller Hinsicht: Tat-
weiten Teilen indirekt. Die kognitiven        sächlich ist ästhetische Arbeit die pro-
Prozesse, die sie tragen, ereignen sich       totypische Situation für die Arbeit an
innerlich und bestenfalls halbbewusst.        der eigenen Identität. Aber eins nach
Vorhanden – und wirksam – sind sie            dem anderen.

II – Ästhetische Bildung und Identität
Identität ist nun ein ausgesprochen           titätstheorie von Heiner Keupp und
komplexes Konzept. Je nach Perspekti-         seinen Mitautorinnen und -autoren
ve wird es soziologisch, philosophisch        bieten sich all diese an als Bausteine
oder psychologisch zum Teil sehr un-          für das Selbst (vgl. Keupp et al. 2006:
terschiedlich gefasst. Und die zuneh-         53) – Patchwork-Identität ist der Leitbe-
mende Komplexität und der struktu-            griff dieses Konzepts. Diese Vielfalt hat
relle Wandel unserer Lebensgegenwart          Folgen, die gravierend sein können: Ob
macht auch vor etablierten Begrif-            wir wollen oder nicht, wir müssen un-
fen nicht Halt. Das macht es nicht            ser Leben, unser Ich eigenständig ent-
einfacher.                                    werfen und aktiv verwirklichen. Das ist
                                              eine enorme Herausforderung. Denn
Verstehen wir Identität also als ein
                                              diese selbstverantwortliche Form der
Phänomen mit zahlreichen Aspek-
                                              Identitätsgestaltung setzt eine brei-
ten – darin tragen wir zumindest den
                                              te Palette an psychischen, physischen,
Erkenntnissen der Neurobiologie und
                                              materiellen und sozialen Ressourcen
der modernen Entwicklungspsycholo-
                                              voraus. Dies kann sehr belastend sein
gie Rechnung. Das (Lebens-)Alter, das
                                              (vgl. Keupp et al. 2006: 53), kann Ge-
Zusammenspiel von Selbstbild und
                                              fühle der Orientierungslosigkeit, des
Fremdwahrnehmung, aber auch der
                                              Kontrollverlustes und Furcht vor dem
Beruf, die Bedingungen der individuel-
                                              Scheitern wecken (vgl. Keupp et al.
len Sozialisation sowie physische und
                                              2006: 53-55) – schon bei Personen, die
psychische Eigenschaften spielen in
                                              gut ausgestattet sind. Wer schlechtere
diesem Zusammenhang eine Rolle.
                                              Umstände vorfindet, der kann sich ei-
Plausibel ist auch, dass Identität sich       ner, so nennt es Keupp, ontologischen
zumindest in unserer westlichen Le-           Bodenlosigkeit (Keupp et al. 2006: 53)
bensgegenwart im Rahmen des ge-               gegenübersehen, die schlicht nicht zu
sellschaftlichen Strukturwandels er-          bewältigen ist mit den Mitteln, die zur
eignet. Wir beobachten eine gewisse           Verfügung stehen. Der Zugang zu ei-
Auflösung von Traditionen und eine            nem Bildungssystem, das diesen Man-
Erosion herkömmlicher Verbindlich-            gel ausgleichen kann, ist für diese Per-
keiten – dem entgegen steht eine nie          sonen existenziell bedeutsam.
dagewesene Vielfalt an Lebensstilen,
                                              Das klingt nun ein wenig nach Apoka-
an moralischen Koordinaten, an Vor-
                                              lypse. Aber wie es so schön heißt, eine
stellungen und Normen. In der Iden-
                                              Krise ist immer auch eine Chance – und 4
                                                                                             9
KED KurierWinter 2023 - KED in NRW Landesverband Elternmitwirkung von Anfang an
Ästhetische Bildung

             4zumindest in Bezug auf die Entwick-          werden das Zusammenspiel von Form
1 | 2023

               lung von Identität im Zeichen dieser        und Farbe, die Zeilen eines Dialogs
               Vielheit stimmt das.                        oder die Wortform eines Romans ver-
                                                           stehbar, zum Sinnträger.
               Denn auf der anderen Seite birgt diese
KED Kurier

               Pluralität auch nie dagewesene Mög-         Hier wird nun ein genuin ästhetisches
               lichkeiten der Lebensgestaltung und         Konzept zum Schlüsselbegriff einer
               der Selbstbestimmung (vgl. Keupp et         modernen, sogenannten narrativen
               al. 2006: 46): Es ist an uns, aus unse-     Identitätstheorie. Sie nimmt an, dass
               rem tagtäglichen Erleben und Erfahren       wir uns nicht nur in der alltäglichen
               ein Identitätsgefühl zu schaffen – ein      Interaktion mit dem sozialen Gegen-
               Leben lang (vgl. Keupp et al. 2006: 83).    über in Geschichten und Erzählungen
               Identität wird so zum Ergebnis unse-        darstellen, sondern dass wir unser gan-
               rer schöpferischen Möglichkeiten (vgl.      zes Leben und unsere Beziehungen zur
               Keupp et al. 2006: 294). In diesem Ver-     Welt als Narrationen gestalten (vgl.
               ständnis ist sie als Prozess zu verste-     Keupp et al. 2006: 101). Der Entwurf
               hen (vgl. Keupp et al. 2006: 215), der      von Identität ist in diesem Paradigma
               unsere Selbsterfahrungen aus Vergan-        als Selbstnarration (vgl. Keupp et al.
               genheit, Gegenwart und Zukunft ver-         2006: 215) zu verstehen. Er gibt Ant-
               arbeitet, sie reflektiert und dann sinn-    wort auf die Elementarteilchen unse-
               voll zusammenführt (vgl. Keupp et al.       res Selbstverständnisses: Wer bin ich?
               2006: 207). Wesentlich ist dabei, dass      und Warum bin ich so, wie ich bin? (vgl.
               das Ergebnis – das Identitätsgefühl –       Keupp et al. 2006: 208).
               einheitlich und stimmig ist (vgl. Keupp
                                                           Diese Identitätserzählungen richten
               et al. 2006: 100).
                                                           sich dabei immer an ein soziales Ge-
               Diese Bedingung, die Einheitlichkeit,       genüber – wir möchten, dass andere
               die Stimmigkeit, verbindet die Identi-      uns verstehen können in unserer Art,
               tätsarbeit mit der ästhetischen Arbeit      wie wir sind (vgl. Keupp et al. 2006:
               – über den inhaltlichen Bezug hinaus.       101-102, 191).
               Betrachten wir dazu den Modus, nach
                                                           Identität entsteht also in der Wechsel-
               dem wir unsere Identität gestalten.
                                                           wirkung von Selbst- und Fremdwahr-
               Folgen wir der Theorie von Keupp et al.,    nehmung (vgl. Keupp et al. 2006: 99)
               dann ist die menschliche Sprache das        – und in Abgleich mit den Rückmel-
               Medium unserer Identitätsarbeit. Sie        dungen über die Glaubwürdigkeit, die
               bedient sich vor allem der verschiede-      Gelungenheit unserer Selbsterzäh-
               nen Strukturen des Erzählens (vgl. Keu-     lungen, die wir erhalten. Sie bedingen
               pp et al. 2006: 101) – und das Erzählen,    die Zustimmung, die wir mit unserem
               also die Narration, ist auch das gedank-    Identitätsentwurf finden (vgl. Keupp et
               liche Modell ästhetischer Phänomene         al. 2006: 232).
               (vgl. Kirchner et al. 2006: 22). Das Kon-
                                                           Das bedeutet: Unsere Identitätserzäh-
               zept der Narration bezeichnet einen
                                                           lungen sind im Wesentlichen ästheti-
               bestimmten Modus der Sinnstiftung,
                                                           schen Kriterien unterworfen. Für ge-
               eine Denkweise. Ästhetische Objekte
                                                           lungene, das heißt, vor allem als plau-
               – Bilder, Musik, Theaterstücke – formu-
                                                           sibel angesehene Selbstnarrationen,
               lieren Sinngehalte mit den ihnen ei-
                                                           existieren Konstruktionsregeln (vgl.
               genen ästhetischen Mitteln zu einem
                                                           Keupp et al. 2006: 103). Diese bezie-
               Sinnzusammenhang, den wir uns in
                                                           hen sich zunächst natürlich auf den
               der gedanklichen Auseinandersetzung
                                                           eigentlichen Inhalt, also Thema, Viel-
               erschließen können. Ihre Sinngehalte
                                                           schichtigkeit oder Detailreichtum, aber
               müssen nicht unbedingt von vornher-
                                                           auch auf die Menge der verbundenen
               ein sprachlich vorliegen wie z.B. in der
                                                           Erzähleinheiten und ihre Originalität
               Literatur, aber sie müssen Sinn erge-
                                                           oder Faszinationskraft (vgl. Keupp et
               ben, der sich in Worte fassen lässt. So
                                                           al. 2006: 209). Die Rolle des Akteurs,
  10
der Akteurin innerhalb der Lebensge-       Identitätsarbeit gelingt, wenn aus den

                                                                                           KED Kurier
schichte und die Bewertung und Re-         (Selbst)Erfahrungen, die wir bestän-
flexion der eigenen Situation darin ist    dig machen (vgl. Keupp et al. 2006:
ebenso von Bedeutung, und darüber          57), ein Gefühl der Stimmigkeit her-
hinaus zählt auch eine Art Dramatur-       gestellt werden kann, von Kohärenz
gie, also die Wahl eines sinnstiftenden    und Authentizität, das Gefühl also, wir

                                                                                           1 | 2023
Anfangs- und Endpunkts, die Fokus-         selbst zu sein (vgl. Keupp et al. 2006:
sierung auf relevante Ereignisse und       267). Dies macht uns überhaupt erst
deren nachvollziehbare (insbesondere       handlungsfähig (vgl. Keupp et al. 2006:
kausale) Anordnung (vgl. Keupp et al.      217). Nur in Abstimmung mit diesem
2006: 229).                                Authentizitätsgefühl können wir aus
                                           der Vielfalt möglicher Lebensentwürfe
Dieses Bündel an Strukturelementen
                                           wählen und sie in entsprechenden Pro-
verweist deutlich auf die Erkenntnis-
                                           jekten, Vorhaben und Tätigkeiten ver-
se der Erzählforschung in der Frage
                                           wirklichen (vgl. Keupp et al. 2006: 267).
nach dem Modell einer gelungenen
Geschichte. Das stützt ebenfalls die       Und die bewusste Auswahl eines Le-
These, dass die Narration als ein über-    bensentwurfs bedeutet nicht weniger
geordnetes Modell menschlichen Den-        als die Fähigkeit, ein gelingendes Leben
kens verstanden werden kann. Und           zu gestalten – also Zufriedenheit, Sinn-
hier entspringt auch die Brücke zur        orientierung und, ja, Glück zu erfahren.
Ästhetischen Bildung: Die Identitäts-
                                           Nehmen wir diese Erkenntnisse ernst,
wirksamkeit von ästhetischer Tätigkeit
                                           ist ihre Tragweite enorm: Ästhetische
leitet sich nicht nur aus ihrem Bezug
                                           Bildung leistet einen wesentlichen
zu lebensgeschichtlich erworbenen
                                           Beitrag zur Entwicklung von Persön-
kognitiven Inhalten her, sondern auch
                                           lichkeit. Sie eröffnet uns inhaltlich wie
aus ihrer Struktur, nämlich dem Wech-
                                           strukturell einen Raum, in dem Identi-
selspiel von persönlicher Imagination,
                                           tätsarbeit sich vollziehen kann. Darin
eigenem Ausdruck und der Wahrneh-
                                           legt sie das Fundament für ein selbst-
mung eines Gegenübers, also von der
                                           bestimmtes Leben.
Begegnung mit Alterität (Kirchner et
al. 2006: 18). Die notwendige Offen-       Dies ist aber nicht die einzige Hinsicht,
heit, das Aushalten von Irritation und     in der das Leben von der Kunst ler-
der Umgang mit Widersprüchen ist ein       nen kann – um zwischendurch einmal
Kennzeichen ästhetischen Arbeitens.        an Oscar Wilde zu erinnern. Über den
Es eröffnet darin einen reichhaltigen      Identitätsbezug hinaus lehrt uns das
Erfahrungsraum für die Begegnung           Ästhetische auch eine ganz bestimmte
mit Alterität – und so ist ästhetische     Art zu denken, eine Art, die im besten
Tätigkeit quasi prototypisch für Pro-      Sinne eigen-sinnig ist: das sogenannte
zesse der Persönlichkeitsbildung (vgl.     divergente Denken. Auch dieses unter-
Kirchner et al. 2006: 24).                 stützt uns sehr direkt bei der Gestal-
                                           tung unseres Lebens.
Dazu muss das eigene Ich gar nicht der
eigentliche Gegenstand schöpferischer      Schöpferisches Handeln bewegt sich
Auseinandersetzung sein. Es sind die       zwischen der Offenheit für Neues und
‚Brüche‘ in der gewohnten Denkwei-         dem, was bereits besteht. Es ist we-
se, die ästhetisches Verhalten provo-      sentlich geprägt von diesem divergen-
ziert – an diesen differenziert sich das   ten Denken: Dieses ermöglicht uns,
Identitätsgefüge aus. Die Auseinan-        neue Ausdrucksformen zu entwickeln,
dersetzung mit ästhetischen Objekten       und darin vom Bekannten und Vertrau-
ermöglicht neue Erkenntnisse und da-       ten, aber auch vom Üblichen abzuwei-
mit eine persönliche Veränderung (vgl.     chen, von Klischees und Traditionen
Fritzsche 2012: 153).                      (vgl. Bucher 2012: 276). Dem entge-
                                           gen steht das konvergente Denken:
                                           Es überführt Inhalte in Formen, die in      4
                                                                                              11
Ästhetische Bildung

             4Hinblick auf eine gestalterische Ab-        scheidung für das eine und gegen das
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               sicht funktionieren. Darin greifen wir     andere. Diese Fähigkeit, zu eigenen,
               auf Bekanntes zurück, auf Erfahrungs-      neuen Lösungen zu gelangen, sich am
               werte und Erlerntes.                       Bestehenden zwar zu orientieren, die-
KED Kurier

                                                          ses aber mehr als einen Gestaltungs-
               In ästhetisch-schöpferischen Prozessen
                                                          spielraum zu begreifen, den es auszu-
               gibt es natürlich keine ‚Patentrezepte‘
                                                          schöpfen gilt, denn als einen Katalog
               – im Gegenteil, oftmals sind verschie-
                                                          von Anweisungen, die befolgt werden
               dene, zum Teil sogar widersprüchliche
                                                          müssen, üben wir im Umgang mit dem
               Ansätze möglich. Ästhetische Prozesse
                                                          Ästhetischen.
               profitieren daher vom Wechselspiel der
               beiden Denkweisen (vgl. Bucher 2012:       Und diese Fähigkeit ist mit Blick auf die
               277). Sie sind beispielhaft für das Su-    Herausforderungen, die es im Leben zu
               chen und Finden neuer Lösungswege          meistern gilt, einem Leben zumal, das
               in produktivem Rückgriff auf das Be-       wir aktiv gemäß unseren Wünschen,
               kannte und Bewährte (vgl. Bucher 2012:     unseren Möglichkeiten und unserer
               276), und so zeichnen sich genuin äs-      Wesensart gestalten müssen und ge-
               thetische Produkte durch ihre Individu-    stalten wollen, ein wahrer Schatz, ein
               alität aus. Jede gefundene Lösung also     Schlüssel zu Authentizität, zu Deu-
               ist das Ergebnis von Aushandlung und       tungsfähigkeit und Selbstbestimmung.
               Reflexion und darin eine bewusste Ent-

               III – Ästhetische Bildung und Gesellschaft
               Die Rahmenbedingungen, die eine In-        aussehen, die wir uns für unsere Ge-
               stitution schafft, betreffen deshalb       sellschaft wünschen?
               nicht nur die Qualität von Bildungsge-
                                                          Ich möchte heute für ein humanistisch
               schehen sehr direkt. Im Fall der Ästhe-
                                                          geprägtes Verständnis von Bildung
               tischen Bildung betreffen sie die Frage
                                                          sprechen – und damit für einen Erzie-
               nach dem Entwurf einer Gesellschaft.
                                                          hungsbegriff, der auf die Stärken Äs-
               Und daraus ergibt sich für uns die
                                                          thetischer Bildung setzt.
               Frage nach dem Entwurf von Schule
               überhaupt.                                 Im humanistischen Ideal erkennen wir
                                                          den aktiven Part der Lernenden an. Bei
               Die Schule ist der thematische Rah-
                                                          Wilhelm von Humboldt meint dies ei-
               men, in dem wir uns heute treffen. Sie
                                                          nen aktiven Vorgang des Sich-Bildens,
               ist vor allem aber der Ort, an dem wir
                                                          der Selbstbildung (vgl. Koller 2008: 74).
               die Gesellschaft von morgen entste-
                                                          Dies passt zu Heiner Keupps Konzept
               hen sehen. Schule vermittelt Inhalte,
                                                          von Identität als Gegenstand unse-
               Formen und Werte und damit einer-
                                                          rer Gestaltung. Eine solche Bildungs-
               seits Orientierung. Andererseits ist sie
                                                          idee strebt nach dem Ausschöpfen von
               ein Raum für die Entwicklung von Per-
                                                          Potentialen: Der Mensch soll die Kräf-
               sönlichkeiten – erinnern wir uns an das
                                                          te seiner Natur entwickeln und darin
               Bekenntnis des Kernlehrplans für das
                                                          seinem eigentlichen Wesen gerecht
               Fach Kunst. Damit trägt sie eine ganz
                                                          werden – als Selbst-Verwirklichung
               wesentliche Verantwortung dafür,
                                                          im besten Sinne (vgl. Koller 2008: 76).
               mit welchen Ideen, Vorstellungen und
                                                          Dafür ist auch die Phantasietätigkeit
               Überzeugungen sich die kommende
                                                          wesentlich, die Vorstellungskraft und
               Generation in den gesellschaftlichen
                                                          nicht zuletzt die sinnliche Wahrneh-
               Diskurs einbringen wird – und wie sie
                                                          mung – die gedankliche Nähe huma-
               ihn dann gestaltet. Dies ist meiner
                                                          nistischer Bildungskonzepte zur Äs-
               Ansicht nach die vornehmste Aufga-
                                                          thetischen Bildung ist augenfällig (vgl.
               be von Schule. Wie also soll die Schule
                                                          Koller 2008: 77).
  12
Die Entwicklung der menschlichen Na-        menschliche Vielfalt (vgl. Koller 2008:

                                                                                             KED Kurier
tur – wir würden heute sagen: seiner        78) ausschöpfen, die Vielfalt mensch-
Persönlichkeit, seiner Identität – ist      lichen Erlebens und Empfindens und
eine Entfaltung von innen. Und diese        den gedanklichen Reichtum, der dar-
kann nur geschehen in der aktiven Er-       aus erwächst. Diesen Anspruch können
schließung und Aneignung des Außer-         wir mithilfe der Ästhetischen Bildung

                                                                                             1 | 2023
halb, als eine Beziehung zur Welt und       einlösen.
ihren Inhalten (vgl. Koller 2008: 83).
                                            Wollen wir ein solches Verständnis
Eine solche produktive Wechselwir-
                                            von Bildung ernst nehmen, dann dür-
kung lässt sich vergleichen mit der in-
                                            fen wir uns nicht vor allem an äußeren
dividuellen Haltung, die wir im ästhe-
                                            Vorgaben orientieren, sondern an den
tischen Handeln entwickeln. Und auch
                                            inneren Anlagen der Heranwachsen-
im Humboldt’schen Ideal ist wieder die
                                            den. Und ja, diese treten nicht selten
Sprache das Medium dieser persön-
                                            in Opposition zu gesellschaftlichen
lichkeitsbildenden Wechselwirkung
                                            Strukturen und ihren Anforderungen
von Welt, Sinnschöpfung und Individu-
                                            (vgl. Koller 2008: 88). Halten wir die-
um. Dabei ist Sprache aber nicht allein
                                            sen Konflikt aus! Eine vielgeübte Kritik
im Sinn von Wort und Schrift gemeint,
                                            an Humboldts Bildungsideal ist die ei-
sondern tatsächlich eher im Sinne des
                                            ner zu harmonischen Vorstellung von
Narrations-Konzepts (vgl. Koller 2008:
                                            menschlichem Zusammenleben. Diese
86): Sprache im Sinne von Sinnzusam-
                                            Kritik mag ihre Berechtigung haben.
menhängen, von Kommunikation an
                                            Verstehen wir dieses Ideal aber nicht
sich, von sozialen Codes – also von Klei-
                                            als Beschreibung oder gar als Erfor-
dermoden über Umgangsformen bis
                                            dernis. Verstehen wir es als gesell-
hin zu den eigentlichen Produkten von
                                            schaftliche Vision, als Utopie, wenn Sie
Kunst und Kultur (vgl. Koller 2008: 89).
                                            wollen, an der zu arbeiten wir, die wir
In diesem Rahmen entwickeln Heran-          mit Bildung befasst sind, als unsere
wachsende ihre Eigentümlichkeit – wir       tagtägliche Herausforderung anneh-
würden heute sagen, ihre Individua-         men. Denn Humboldts Kerngedan-
lität. Sie ist der Kern der humanisti-      ke, die Ausbildung der menschlichen
schen Bildungstheorie. Und diese Aus-       Vielfalt, entspricht gerade dem Wesen
prägung von Individualität dient nicht      unserer Zeit: Diversität ist eine Stärke.
nur den Heranwachsenden selbst, son-        Wenn wir jeden und jede von uns, je-
dern auch der Gesellschaft, an der sie      des Mitglied unserer Gesellschaft als
teilhaben: Die Bildungsprozesse der         eine Facette des Menschlichen selbst
Einzelnen sind letztlich eine Angele-       begreifen, dann nimmt unser Entwurf
genheit der Allgemeinheit. Bildung ist      die Wirklichkeit in all ihrer Komplexität
ein gesamtgesellschaftlicher Prozess,       wahr und ernst. Ein Bildungskonzept,
der sich über das Individuum trägt.         das sich der Potentiale Ästhetischer
Und eine Gesellschaft, die ihre Mög-        Bildung bewusst ist, ist dieser Heraus-
lichkeiten voll entfalten will, muss die    forderung gewachsen.

IV – Ästhetik als Erkenntnisform
Zugegeben, die Prinzipien der Ästhe-        sondern, im Gegenteil, nach Relativität
tischen Bildung sind in Forschung           – ihre Inhalte, ihre Ziele und, vor allem,
und Lehre nicht immer leicht zu hän-        ihre Ergebnisse sind als Kontinuum zu
deln. Insofern geraten sie mitunter in      fassen.
Legitimationszwang.
                                            Die Gegenstände Ästhetischer Bildung,
Wir erinnern uns: Ästhetik im prak-         die ästhetischen Objekte, wirken nicht
tischen, bildungswissenschaftlichen         konstant, sondern lösen die unter-
Sinne strebt nicht nach Absolutheit,        schiedlichsten Reaktionen aus. Es gibt       4
                                                                                               13
Ästhetische Bildung

             4nicht die eine fachlogische Methodik,         che und Wirkung und Möglichkeiten
1 | 2023

               um dieses Spektrum zu erfassen, es           der Verallgemeinerbarkeit (vgl. Kettel
               gibt nur die individuell bedingte, itera-    2012: 452). Ästhetische Tätigkeit richtet
               tive Annäherung, und diese verweigert        sich auf das Erfahren und Formulieren
KED Kurier

               sich jedem festgelegten Ausgangs-            einer individuellen Sinnfindung. Auch
               punkt und Ende.                              diese beschreibt einen Modus des Ver-
                                                            stehens und Erkennens – aber einen,
               Die ästhetischen Produkte als ‚Ergeb-
                                                            der sich auf das Individuum bezieht,
               nis‘ Ästhetischer Bildungsprozesse an-
                                                            das sie entwickelt, nicht auf allgemei-
               dererseits bergen die lebensgeschicht-
                                                            ne begriffliche Kategorien (vgl. Vogel
               lichen Gehalte ihrer Urheberinnen und
                                                            2012: 295).
               Urheber, verschlüsselt nach einem in-
               dividuellen ‚Code‘, den Außenstehende        Wissenschaftliches Denken operiert
               nicht unbedingt verstehen können –           unter der Prämisse der Objektivität. Es
               mitunter entzieht sich ihre Logik sogar      bemüht sich um eine möglichst prä-
               denjenigen, die sie geschaffen haben.        zise Unterscheidung von Subjekt und
               Eine Bewertung dieser Resultate ist          Objekt. Im schöpferischen Denken da-
               daher nur im Sinne von ‚weichen Krite-       gegen sind Subjekt und Objekt gerade
               rien‘ zu leisten, nach Wirkung, Glaub-       aufs Engste miteinander verwoben.
               würdigkeit oder Anschaulichkeit – und
                                                            Das bedeutet: Die Bedingungen, Vor-
               diese lassen sich nicht ad hoc in eine
                                                            gänge und Ergebnisse Ästhetischer Bil-
               Notenskala übersetzen.
                                                            dung lassen sich kaum sinnvoll quan-
               Im ästhetischen Handeln überhaupt            tifizieren. Wer mit ästhetischen Ver-
               sind eine abschließende Deutung und          fahren umgehen möchte, muss einen
               begriffliche Fixierung nur schwer-           qualitativen Ansatz wählen, der empi-
               lich möglich. Im Grunde widerspricht         risch vorgeht und seine Untersuchung
               ein solches Ansinnen sogar dem Pro-          auf Empathie und Interpretation rich-
               gramm Ästhetischer Bildung. Denn die         tet. Nicht Vergleichbarkeit, sondern
               zugrundeliegenden Prozesse verhal-           Anschaulichkeit, Beispielhaftigkeit und
               ten sich gerade nicht kausalistisch-me-      die ›Tiefenschärfe‹ eines Phänomens
               chanisch, sondern subjektiv-assozia-         (vgl. Peez 2005: 148) ist der Erkenntnis-
               tiv (vgl. Kettel 2012: 452) – sie sind ein   gewinn qualitativer Forschung. Dies
               Wechselspiel von Idee und Zufall, von        bringt zwar valide Ergebnisse hervor
               Materialverhalten, das zu Entscheidun-       – aber eben keine ‚harten Fakten‘, und
               gen führt, die ihrerseits wieder neue        deshalb ist es unmöglich, ihre Ergeb-
               Assoziationen auslösen und das Ver-          nisse in Statistiken zusammenzufassen
               stehen oder die Gestaltung so immer          und darauf übergeordnete Programme
               weiterentwickeln (vgl. Kirchner et al.       aufzubauen oder allgemeine Konzep-
               2006: 14).                                   te davon abzuleiten. Für die Bildungs-
                                                            politik kann das eine Herausforderung
               Und dennoch ist ästhetisches Verhal-
                                                            sein.
               ten ein eigener Modus der Erkenntnis.
               Aber die Erkenntnisse, die in der ästhe-     Vielleicht lässt sich dieses Problem
               tischen Tätigkeit gewonnen werden,           aber umgehen, wenn wir den Blickwin-
               können nicht mit denen des wissen-           kel ändern und nicht zuerst auf das
               schaftlichen Denkens verglichen wer-         Produkt blicken, das am Ende steht,
               den – mit Erkenntnissen, die sich auf        sondern auf den Prozess, der es hervor-
               ein sachlogisches Paradigma der Kau-         bringt – es lohnt sich, den möglichen
               salität beziehen, die mithilfe analyti-      Widerspruch zu der Ergebnisorientie-
               scher Techniken entwickelt werden            rung auszuhalten, die in unterrichtli-
               und insofern nach größtmöglicher Ob-         chen Zusammenhängen eben vielfach
               jektivität streben, nach einer klaren        nötig ist. Denn Ästhetische Bildung
               Unterscheidung zwischen wahr und             schafft einen Raum, innerhalb dessen
               falsch, dem Zusammenhang von Ursa-           Lernende echte Identitätsarbeit leis-
  14
ten können – und die Entwicklung von       Er ist ein Widerspruch zu einem huma-

                                                                                                KED Kurier
Persönlichkeit können wir nicht ernst-     nistischen Menschenbild an sich.
haft quantifizieren wollen. Ein solcher
                                           Zahlen sind erfahrungsgemäß eben
Ansatz ist nicht nur ein unauflösbarer
                                           nur sehr bedingt geeignet, um über
Widerspruch zu jedem humanistisch
                                           Menschen zu sprechen.
orientierten Verständnis von Bildung.

                                                                                                1 | 2023
V – Ästhetische Bildung in der Schule
Was bleibt? Die politische Wertschät-      geben, ist nicht Verständnis, Kompro-
zung von Fächergruppen drückt sich im      missbereitschaft oder gar Pragma-
schulischen Zusammenhang auf der           tismus. Es ist Kapitulation – und eine
Stundentafel aus sowie in der Akquise,     Fehleinschätzung der Bedeutung, die
der Ausbildung und in der Gestaltung       Individualität und Persönlichkeit im
der Arbeitsbedingungen von Fachkräf-       Kontext schulischen Lernens haben
ten. Die Situation, die wir gegenwär-      müssen. Insofern kann man nicht
tig vorfinden, ist weit entfernt davon,    abwiegeln und sagen, Jeannette Otto
zumindest ausreichend zu sein. Dies        übertreibe, wenn sie in der Zeit on-
kann nicht der Anspruch sein, an dem       line drastisch von einer ‚Bedrohung‘
wir uns messen lassen sollten. Sich mit    schreibt.
einem solchen Zustand zufriedenzu-

                                                            Suitbertus Gymnasium, Ausstellung
                                                            Fotografie LK Q2, 2022;
SCHLUSS                                                     Foto: Hedwig Rogge

Und gewiss – von dieser desolaten Si-      mitgestalten werden. Ästhetische Bil-
tuation sind alle Schulfächer in der ei-   dung bezieht sich so auch immer auf
nen oder anderen Hinsicht betroffen.       das soziale Miteinander.
Wir werden jetzt nicht den Fehler ma-
                                           Denn die Offenheit, die Toleranz ge-
chen, das eine Unverzichtbare gegen
                                           genüber dem Andersartigen, Wider-
das andere auszuspielen.
                                           ständigen, die wir im Umgang mit
Dennoch: In den musisch-künstleri-         ästhetischen Objekten auszuhalten
schen Fächern werden in besonderem         lernen, wird Teil unserer Persönlich-
Maße Persönlichkeiten in ihrer Entfal-     keitsstruktur und fließt darüber ein in
tung auf den Weg gebracht – auf den        die sozialen Begegnungen, in die wir
Weg in eine Gesellschaft, die sie bald     uns täglich hineinbegeben.                4
                                                                                                  15
Ästhetische Bildung

             4Der Ästhetischen Bildung und damit             sein aller, die mit Schule und Schulpo-
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               den Fächern, die diese vertreten, auf         litik befasst sind. Schulen und Schul-
               der Stundentafel zu wenig Raum zuzu-          formen, die hier noch Bedarfe haben,
               gestehen, ist nicht nur eine vergebene        müssen wir entsprechend fördern.
KED Kurier

               Chance der individuellen Bildung. Dies        Schulen und Schulformen, die hier vor-
               wird auch in gesellschaftlicher Hin-          angehen und bereits für diesen Ansatz
               sicht nicht folgenlos bleiben. Gewiss –       einstehen, verdienen unsere besondere
               der Zeithorizont, auf den wir uns hier        Anerkennung. Und dies mag durchaus
               einlassen, mag die Planungskorridore          eine besondere Auszeichnung sein von
               manch politischer und institutioneller        Schulen in privater Hand.
               Personalie überschreiten.
                                                             Vielleicht können wir jetzt sicherer
               Die Auswirkungen der Entscheidun-             sein, Oscar Wilde richtig verstanden zu
               gen, die heute von ihnen getroffen            haben: „Das Leben ist der Kunst bester,
               werden, lassen sich aber eben nicht in        der Kunst einziger Schüler.“ In der Äs-
               Wahlperioden bemessen. Sie bemes-             thetischen Bildung lernen wir tatsäch-
               sen sich in Generationen.                     lich nicht für die Schule, sondern für
                                                             das, für unser Leben. Und kann es ein
               Deshalb müssen wir die Ästhetische
                                                             besseres Leitziel schulischen Wirkens
               Bildung nicht nur fest im schulischen
                                                             geben? Ich glaube, nicht.
               Programm verankern, wir müssen sie
               noch deutlich ausbauen. Dies sollte ein       Vielen Dank.
               unbedingtes gemeinsames Anliegen
                                                                      Prof. i. V. Dr. Laura Flöter-Fratesi

               LITERATUR
               Bucher, Leandra: Divergentes Denken im        wissenschaft. Eine Einführung. 5. Aufl.
               kreativen Schaffensprozess – Grundle-         Stuttgart, Kohlhammer 2008, S.70-92
               gende Erkenntnisse der Kognitionswis-
                                                             Lieberoth, Andreas: With Role-Playing in
               senschaften. In: Buschkühle, Carl-Peter
                                                             Mind – A Cognitive Account of Decoupled
               [Hrsg.]: Künstlerische Kunstpädagogik.
                                                             Reality, Identity and Experience. In: Frit-
               Ein Diskurs zur künstlerischen Bildung.
                                                             zon, Thorbiörn u. Wrigstad, Tobias [Hrsg.]:
               1. Auflage. Oberhausen, Athena 2012,
                                                             Role, Play, Art. Collected Experiences of
               S.275-284
                                                             Role-Playing. Knutpunkt 10. Stockholm,
               Fritzsche, Marc: Eigenes und Fremdes:         Föreningen Knutpunkt 2006, S.67-83
               Identität als Thema im Kunstunterricht.
                                                             Ministerium für Schule und Weiterbil-
               In: Buschkühle, Carl-Peter [Hrsg.]: Künst-
                                                             dung des Landes NRW [Hrsg.]: Kunst.
               lerische Kunstpädagogik. Ein Diskurs zur
                                                             Kernlehrplan für die Sekundarstufe II
               künstlerischen Bildung. 1. Auflage. Ober-
                                                             Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-
               hausen, Athena 2012, S.145-155
                                                             Westfalen. 1. Auflage 2014 [Heft 4703]
               Haußer, Karl: Identitätspsychologie. Berlin
                                                             Otto, Jeannette: Die Lücken im Lehrer-
               u.a., Springer 1995, S.9
                                                             zimmer bedrohen das ganze Land. In:
               Kettel, Joachim: Warum künstlerisches         Zeit online, 10.10.2022 [https://www.
               Denken lernen? In: Buschkühle, Carl-Peter     zeit.de/2022/41/lehrermangel-schulen-
               [Hrsg.]: Künstlerische Kunstpädagogik.        bildungspolitik?utm_source=pocket-
               Ein Diskurs zur künstlerischen Bildung.       newtab-global-de-DE; Abruf 13.10.2022,
               1. Auflage. Oberhausen, Athena 2012,          10:20 h]
               S.447-465
                                                             Peez, Georg: Einführung in die Kunstpä-
               Keupp, Heiner et al.: Identitätskonstruk-     dagogik. Grundriss der Pädagogik/Erzie-
               tionen. Das Patchwork der Identitäten in      hungswissenschaft Band 16, hrsg. von
               der Spätmoderne. 3. Auflage 2006. Ham-        Werner Helsper et al., 2. überarbeitete u.
               burg, Rowohlt 2006 [1999]                     aktualisierte Ausgabe. Stuttgart, Kohl-
                                                             hammer 2005 [2002]
               Kirchner, Constanze; Schiefer Ferrari, Mar-
               kus; Spinner, Kaspar H. [Hrsg.]: Ästheti-     Vogel, Matthias: Was heißt künstleri-
               sche Bildung und Identität. Fächerverbin-     sches Denken? In: Buschkühle, Carl-Peter
               dende Vorschläge für die Sekundarstufe I      [Hrsg.]: Künstlerische Kunstpädagogik.
               und II. München 2006                          Ein Diskurs zur künstlerischen Bildung.
                                                             1. Auflage. Oberhausen, Athena 2012,
               Koller, Hans-Christoph: Grundbegriffe,
                                                             S.285-295
               Theorien und Methoden der Erziehungs-
  16
KED Kurier
                                                                                                1 | 2023

                                                               Gemeinschaftsarbeit der
                                                               Klasse 1 der Viersener Martin-
                                                               schule
                                                               Foto: Christoph Brück, Viersen

Große Kunst in
Kinderaugen
In Viersen bewerben sich alljährlich    en zu, machen mit, sie fragen und
zahlreiche erste Klassen um das be-     experimentieren.
gehrte Angebot der „Kulturstrolche“.
                                        Das Thema des Gestaltungswettbe-
In der Trägerschaft des Kultursekre-
                                        werbs war 2022 „Große Kunst in Kin-
tariats NRW Gütersloh und geför-
                                        deraugen“. Die Klasse 1c der KGS Mar-
dert durch das Ministerium für Kultur
                                        tinschule knüpfte mit ihrer Lehrerin
und Wissenschaft des Landes Nord-
                                        Lisa Brück dabei an die charakteristi-
rhein-Westfalen ermöglicht es ganzen
                                        sche klare Kopfform des Künstlers Ge-
Schulklassen, drei Jahre lang beson-
                                        org Ettl an, die jedes Kind individuell
dere Einblicke in alle Kultursparten
                                        weiterentwickelte.
zu bekommen. Die „Strolche“ streifen
durch Orchestergräben, Museumskel-                                   Jutta Pitzen
ler oder Bücherfluchten. Sie schau-
                                                                                                  17
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KED Kurier      Ästhetische Bildung

             Zu ausgewählten Facetten eines
             Kunstprojekts
             Wenn Weihnachten wieder einmal so          tet: Seit über fünf Jahren gibt es eine ei-
             plötzlich kommt … dann nicht für die       gene Homepage, die die Schüler*innen
             St. Walburga-Realschule im sauerländi-     mit den Protagonisten der Weihnachts-
             schen Meschede. Hier ist man vorberei-     krippe vertraut macht. Und das kam so:

             Die Vorstellungsrunde
             Die Kirchengemeinde Mariä Himmel-          mehr wahrzunehmen, denn die Körper
             fahrt in Meschede bot 2017 der Schule      versanken in Kleidung, die sie wie Kas-
             an, den Aufbau und die Gestaltung der      perlefiguren aussehen ließ.
             Gemeindekrippe zu übernehmen. Die
                                                        Es war daher ein dringliches Anliegen,
             Sichtung des Inventars begann bereits
                                                        den Figuren wieder ein würdiges Aus-
             im Hochsommer. Im Bestand waren
                                                        sehen und eine adäquate Präsenz zu ge-
             zehn sogenannte Ankleidefiguren und
                                                        ben. Dafür musste das Wissen darüber,
             acht Tierfiguren aus Gips bzw. Kera-
                                                        wodurch die einzelnen Krippenfiguren
             mik. Die sechs Gips-Schafe sind aus den
                                                        charakterisiert sind, zusammengetra-
             1940er Jahren, Ochse und Esel aus ke-
                                                        gen werden. Jede der dreizehn Klassen
             ramischem Material jüngeren Datums.
                                                        der St. Walburga-Realschule übernahm
             Die Ankleidefiguren sind jedoch histo-
                                                        die Patenschaft für eine Figur der Weih-
             risch und über 100 Jahre alt. Ihre Köp-
                                                        nachtskrippe und recherchierte zu ihr.
             fe und Hände sind handgeschnitzt und
                                                        Bibeltexte, Alltagswissen und Assozia-
             subtil gefasst. Dies war allerdings kaum
  18
tionen gingen in die Gedankensamm-        wickelten die Schüler*innen des 10er-

                                                                                      KED Kurier
lungen ein. Das Ziel war eine individu-   Textilgestaltungskurses Schnittmuster,
elle Perzeptbildung, um eine hohe Iden-   nach denen unterschiedliche Gewand-
tifikation der Schüler*innen mit dem      formen zugeschnitten und genäht wer-
Projekt zu erreichen. Es entstanden Be-   den konnten. Verwendet wurden Sei-
griffssammlungen und Farbassoziatio-      denmaterialien in unterschiedlichen

                                                                                      1 | 2023
nen als Grundlage für das Zusammen-       Weißtönen. Alle Kleidungsstücke wur-
tragen von geeignetem Collagemate-        den als sogenannte Doublefaces gear-
rial aus Zeitschriften, Kalendern und     beitet, also als doppelseitige Kleidung
dem Internet. Durch Collagen sollten      ohne sichtbare Nahtzugaben. Durch
nämlich die Figuren der Schul- und der    das Weiß, das Material und die wertige
Pfarrgemeinde vorgestellt oder neu ins    Verarbeitung entstand ein abgestimm-
Gedächtnis gerufen werden. Die Colla-     tes Gesamtbild der Figuren, das eine zu-
getechnik verwischt dabei die alters-     rückhaltende Würde ausstrahlt und die
bedingten ästhetisch-handwerklichen       ausdrucksvollen Köpfe und Hände der
Fertigkeiten der Jahrgangsstufen und      Ankleidefiguren zur Wirkung bringt.
sorgt für ein geschlossenes Gesamtbild.
                                          So hielten die Figuren in den Advents-
Doch die Arbeit am Who-is-Who der         gottesdiensten der Schule nach und
Krippe war mit den Collagen-Gestal-       nach Einzug in die Himmelfahrt-Kirche
tungen noch nicht abgeschlossen, denn     und wurden dort mit ihren individuel-
noch fehlte die Neueinkleidung der Fi-    len Collagen jeweils einzeln auf Säulen
guren. Auf der Grundlage von zwei er-     stehend präsentiert. Jede Woche ent-
haltenen historischen Gewändern ent-      stand ein neues Gesamtbild.

Christo, Jeanne-Claude und die verhüllte Krippe
Die Idee des sich verändernden Bil-       allerdings erst posthum. Zu Lebzeiten
des der Krippeninstallation wurde         ließ das Künstlerpaar Brücken, ganze
im Advent 2021 wieder aufgegriffen.       Küstenabschnitte oder auch den Ber-
Zuvor war im Spätsommer des Jahres        liner Reichstag spektakulär verpacken.
die Verhüllung des Arc de Triomphe in     Durch ihre Umhüllungen entzogen sie
Paris in den internationalen Schlagzei-   diese Objekte den Blicken und ließen
len gewesen. Jahrzehntelang war die-      sie unter Stoffkaskaden symbolisch ver-
se Kunstaktion von Christo und sei-       schwinden. Doch bei diesem Verhüllen
ner Ehefrau Jeanne-Claude vorberei-       geschah etwas Paradoxes: Das Verhüll-
tet worden; die Realisierung erfolgte     te nahm sich nicht zurück, sondern trat 4
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