KED KurierWinter 2023 - KED in NRW Landesverband Elternmitwirkung von Anfang an
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KED Kurier Winter 2023 Elternmitwirkung von Anfang an KED in NRW Landesverband 4 Ästhetische Bildung! Menschen – Musen – Miteinander 17 Große Kunst in Kinderaugen 18 Das Who-is-Who der Krippe 23 KED in NRW 26 Aus den Bistümern 29 Literaturempfehlungen
Liebe Eltern, sehr geehrte Damen und Herren! „Ist das Kunst, oder kann das weg?“ heißt es in einem alten Kalauer, in dem anklingt, dass es mitunter gar nicht so leicht ist, Kunst zu erken- nen oder zu interpretieren. Aber leider könnte man den Spruch in unseren Tagen, insbesonde- re seit Beginn der Corona-Krise, so umformulie- ren: „Es ist (nur) Kunst, also kann das weg“. Die musischen Fächer sind die Stiefkinder des schu- lischen Stundenplans, sie rangieren meist bei Schüler*innen sowie bei ihren Eltern unter „fer- ner liefen“ und werden allzu häufig fachfremd Andrea Honecker aus Köln ist Vorsitzende des Landesver unterrichtet. Das war bereits in früheren Jahren bandes der Katholischen so, doch Corona hat diesen Trend bestärkt: In Fol- Elternschaft Deutschlands in Nordrhein-Westfalen (KED ge der festgestellten Defizite wurde vor einigen NRW) Wochen seitens des Schulministeriums angekün- digt, dass die sogenannten Hauptfächer Lesen, Schreiben und Rechnen in der nächsten Zeit ver- stärkt unterrichtet werden sollen. Es besteht kein 1 | 2023 Zweifel daran, dass es sehr wichtig ist, dass unsere Kinder diese Fähigkeiten sorgfältig lernen und sicher einüben. Die Frage ist, auf Kosten welcher anderen Schulfächer oder KED Kurier welcher pädagogischen Inhalte dies – zwangsläufig - ge- schehen wird, und wie sich dies wiederum auf das Lern- und Sozialverhalten unserer jungen Menschen auswirken wird. Die Begegnung mit Kunst und Musik darf schon aus Gründen der Chancengerechtigkeit nicht ausschließlich dem Elternhaus überlassen werden. Alle Kinder und Ju- gendlichen müssen ihre eigenen theoretischen und prak- tischen Erfahrungen mit Kunst und Musik machen dürfen und ihre Kreativität unter Anleitung und mit den Hilfestel- lungen von Lehrer*innen entwickeln können. Die ästhetische Bildung muss ihren festen Platz im Schul- alltag haben. Diese Meinung vertrat auch Frau Prof. Dr. Flöter-Fratesi bei unserem „NRW-Elternforum“ im Muse- um Folkwang im November 2022. Ihren interessanten Vor- trag können Sie in diesem Heft noch einmal nachlesen. Nur mit ästhetischer Bildung – die übrigens nicht nur im 2
Kunstunterricht ihren Platz haben sollte – können Kinder KED Kurier und Jugendliche lernen, Kunst zu erkennen und zu inter- pretieren. Doch die Beschäftigung mit Kunst, da waren sich alle Teilnehmer*innen des Elternforums einig, trägt auch dazu bei, die Empathie zu stärken und ein gutes und 1 | 2023 differenziertes Sozialverhalten zu entwickeln, und dies sind ebenfalls unverzichtbare Fähigkeiten, die auch in der Schu- le nicht zu kurz kommen dürfen. Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre und freuen uns, immer wieder mit Ihnen ins Gespräch zu kom- men über die Frage, wie Erziehung und Bildung zu- hause und in den Bildungseinrichtungen gelingen können! Andrea Honecker Vorsitzende Foto: iStockphoto Ihr Kind kommt in die Schule. Damit beginnt ein neuer Lebensabschnitt. Das gilt ganz sicher für Ihr Kind, möglicherweise aber auch für Sie selbst – vor allem, wenn es Ihr erstes Kind ist, das die Schule besuchen wird. Die Schule lässt erfahrungsgemäß keine Familie un- berührt, Erinnerungen an die eigene Schulzeit wer- den wach. Für manchen bedeutet Schule: Der Ernst des Lebens beginnt. Wichtig ist aber, dass damit die Kind- heit nicht abgeschlossen ist. Kinder sollen sich ihre kindliche Neugier und Unbe- fangenheit lange erhalten. Eltern und Kinder wünschen sich einen guten Start in der Grundschule. Der KED in NRW ist es ein Anliegen, zu erläutern, wie die katholischen Grundschu- len Erziehung und Unterricht verstehen. 3
1 | 2023 Ästhetische Bildung Menschen – Musen – Miteinander KED Kurier Ästhetische Bildung als Schlüssel zu ganzheitlicher Bildung (nicht nur) in der Schule „Das Leben ist der Kunst bester, der ästhetischen – d.h. im Allgemeinver- Kunst einziger Schüler.“ So sagt es zu- ständnis künstlerischen – Gestaltun- mindest Oscar Wilde, Lebemann, Lite- gen auszudrücken und diese zu verste- rat und Intellektueller. Und er muss es hen (vgl. MSB NRW 2014:11). Im breiten wissen, denn er gehört zu den am häu- Spektrum des schulpolitischen Bil- figsten zitierten Leuten überhaupt – dungsauftrags geht es also besonders vermutlich auch zu den am häufigsten den musisch-künstlerischen Fächern falsch zitierten. um die Entwicklung persönlicher Aus- drucksmöglichkeiten. Dieser Gedanke Vielleicht verstehe auch ich Oscar macht uns die Tragweite von Ästheti- Wilde ganz falsch – aber ich möchte scher Bildung bewusst: Es geht ihr um seine Worte als Vorzeichen für den Mündigkeit, um Kommunikationsfä- heutigen Anlass verstehen: Nämlich higkeit, um das Vertreten eines Stand- als den Hinweis auf eine unauflösbare punkts. Eigenschaften, die wir Schüle- Verbindung von Kunst und Leben. Und rinnen und Schülern mitgeben wollen diese Verbindung ist nicht nur unauf- auf ihrem Weg hin zu verantwortlichen lösbar: Sie ist – für das Leben – auch Mitgliedern unserer Gesellschaft. ausgesprochen förderlich. Die reale unterrichtliche Situation aber Deshalb wünsche mir auch, die Schul- kann diesen Anspruch leider nicht im- fächer, die mir besonders am Herzen mer einlösen: „Der Mangel an Lehr- liegen, stärker im Fokus der Bildungs- kräften hat ein dramatisches Ausmaß politik zu sehen. Und dies nicht allein erreicht. Unterricht fällt aus, Stunden aus Gründen der persönlichen Sym- werden ersatzlos gestrichen, Fächer pathie – es gibt auch aus Sicht der Bil- in ihrem Umfang reduziert oder gar dungswissenschaften gute Gründe nicht mehr erteilt, Förderkurse wer- dafür. den eingestellt, Klassengrößen erhöht, So heißt es im Kernlehrplan für das Grundschüler schon am Vormittag Fach Kunst, die musisch-ästhetische nach Hause geschickt, weil kein Lehrer Fächergruppe leiste „wesentliche Bei- mehr für sie da ist“, so schreibt Jean- träge zur ganzheitlichen Persönlich- nette Otto in der Zeit online vom 10. keitsentwicklung, die die Wahrneh- Oktober. Diese Darstellung deckt sich mung, Gestaltung und Reflexion der mit meinen eigenen Erfahrungen – al- Vielgestaltigkeit von Kultur und Le- lerdings mit denen von vor 10 Jahren: benswirklichkeit umfassen“ (MSB NRW Meine erste Stelle trat ich 2013 an ei- 2014:11). Der Schlüssel zu dieser ganz- nem ländlich gelegenen Gymnasium heitlichen Entfaltung liege dabei in der an – dort war ich die einzige Kunstleh- Entwicklung von Fähigkeiten, sich in rerin mit Facultas, meine Kolleginnen 4
und Kollegen in der Fachschaft waren Die gekürzte Stundentafel ist aber fa- KED Kurier Quereinsteiger oder unterrichteten tal gerade vor dem Hintergrund der gänzlich fachfremd. Und so konnte den Bedeutung, die wir den musischen Fä- ministerialen Vorgaben nicht entspro- chern zusprechen – nichts anderes ja chen werden – Kunstunterricht wurde als die ganzheitliche Entwicklung von in der EF nur einstündig erteilt, entfiel Persönlichkeit. Aber schauen wir zu- 1 | 2023 für die Mittelstufe ganz. Die Situation nächst einmal, warum denn gerade vor Ort hat sich bis heute kaum verbes- diesen Fächern solche Potentiale zuge- sert. Und auch von Kolleginnen, ehe- schrieben werden. Ein kleiner Ausblick maligen und gegenwärtigen, höre ich vorweg: Ästhetische Bildung steht in Ähnliches. enger Beziehung zur Entwicklung von Identität. I – Grundbegriffe Ästhetischer Bildung Ästhetische Bildung zielt auf ästheti- aktive, gestaltende Produktion eines sche Prozesse – das ist, was im Kern- ästhetischen Werks. lehrplan gemeint ist mit dem Ver- Ein Thema muss also zunächst gut ver- stehen von und dem Ausdruck durch standen worden sein, um daraus etwas künstlerische Gestaltung. Künstlerisches entwickeln zu können Der Begriff des Ästhetischen ist viel- (vgl. Kirchner et al. 2006: 12–13). Ästhe- schichtig und in der Handhabung auch tisches Verhalten stellt sich dement- nicht ganz einfach. Die Kunstpädago- sprechend als Wechselspiel dieser bei- gin Constanze Kirchner begreift das den Prozesse dar. Sie bedingen sich ge- Ästhetische zunächst ganz praktisch: genseitig und nehmen immer wieder Als eine Art, unserer Welt und ihren aufeinander Bezug. Ästhetisches Ver- Inhalten gegenüberzutreten – erst halten lässt sich also als prozesshaft, einmal geht es also gar nicht um kon- aktiv und schöpferisch beschreiben. krete Inhalte, sondern um eine Art des Dieses ‚praktisch-tätige‘ Verständnis Wahrnehmens und des Denkens. Diese von Ästhetik mit seinen beiden Dimen- ist anschaulich und emotional, nicht so sionen des Wahrnehmens und des Ge- sehr begrifflich-rational (vgl. Kirchner staltens ist aus bildungswissenschaft- et al. 2006: 11). Die sogenannten ästhe- licher Perspektive besonders vielver- tischen Fähigkeiten sind also ein Zu- sprechend. Warum ist das so? Schauen sammenspiel von Wahrnehmung und wir uns dazu diese beiden Dimensio- Vorstellungsvermögen. Sie verbinden nen noch einmal genauer an, und auch so ein bildhaftes Denken mit bewuss- das, worauf sie sich beziehen – nämlich ter Reflexion. Die Grundlage ästhe- die ästhetischen Objekte. tischen Verhaltens ist die bewusste sinnliche Wahrnehmung, die sich mit Eine Wahrnehmungserfahrung, eine der Entfaltung einer differenzierten in- ästhetische Rezeption, beruht auf einer neren Vorstellungswelt verbindet. Und intensiven Auseinandersetzung mit diese wiederum äußert sich in einem dem Wahrgenommenen; dabei ent- ganz persönlichen Gestaltungsvermö- steht Aufmerksamkeit auch für das, gen (vgl. Kirchner et al. 2006: 9). was diese Wahrnehmung begleitet – das Erleben von etwas Neuem, und Ästhetische Tätigkeit spielt sich also in darin für das Empfinden von Überra- zwei Dimensionen ab: Auf der einen schung, Möglichkeiten und Irritation. Seite steht die (reflektierte) Wahrneh- Auch dies sind Erfahrungen im Sinne mung, also die aktive, sinnschöpferi- der Ästhetik. sche Rezeption, auf der anderen Seite steht das Überführen dieses Wahrge- Ein Gegenstand, der solche ästheti- nommenen in eine Gestaltung, also die schen Erfahrungen ermöglicht, ist ein 4 5
1 | 2023 KED Kurier Ästhetische Bildung 4genuines ästhetisches Objekt – ein schen Vorgängen gleichsam wieder- Stück Literatur, eine Tanzdarbietung entdeckt werden. oder auch ein Element der Alltagsäs- Denn die Empfindungen, die Assozi- thetik, vielleicht ein Werbeclip oder der ationen, Gefühle und Gedanken, die Besuch eines Musikfestivals. Die ma- ästhetische Objekte auslösen, sind kei- teriellen Aspekte ästhetischer Objekte, nesfalls beliebig – sie sind individuell also die Farben, die Formen, Töne, die bedeutsam und bereiten einem ver- Sprache, aber auch die künstlerischen, tieften Verstehen oder überhaupt erst religiösen oder anderen kulturellen Neu-Schaffen von Sinngehalten den Kontexte schaffen dabei die Bedingun- Weg: So können Muster der Wahrneh- gen der ästhetischen Erfahrung. mung und Deutung entstehen, und be- Ästhetische Objekte verhalten sich an- reits bestehende können sich produk- ders als chemische Formeln, anders tiv verändern (vgl. Kirchner et al. 2006: als geographische Daten und anders 12). Deshalb ist viel Wahres an dem als sozialwissenschaftliche Konzep- Ausspruch, ein Bild sage uns mehr über te – ihr ‚Erkenntnis-Potential‘ ist in uns selbst als über sich oder über die ihrer besonderen Struktur gebunden, Künstler*in. und sie sind auch die einzige Klasse Der Gegenpart genuin ästhetischer von Gegenständen überhaupt, die die- Wahrnehmung, der Rezeption, ist nun se Eigentümlichkeiten aufweist. Die die ästhetische Gestaltung, die Pro- Wirkungsweisen von Materialien, von duktion. Sie zeigt sich beispielswei- Rhythmen und Klängen oder von Far- se als kreatives Schreiben, im maleri- ben erwarten eine womöglich radikale schen Umgang mit Material und Far- Offenheit, sie strapazieren die Toleranz, be, als szenisches Spiel auf der Bühne mitunter entziehen sie sich zunächst oder auch beim Filmen im Blick durch gänzlich jeder Annäherung und setzen die Kamera. Ästhetisches Gestalten ist Beharrlichkeit und Unerschrockenheit so ein Prozess des Suchens und Fin- voraus – und in dieser Haltung dem dens von eigenen Ausdrucksweisen, Ungewohnten, Irritierenden gegen- nämlich das Formulieren von Symbo- über, die für das Ästhetische so typisch len, Chiffren und Metaphern durch das ist, zeigt sich zugleich eine Empfäng- Arrangieren von Tönen, das Wählen lichkeit für das, was (bisher) nie aufge- von Worten, eine Abfolge von Gesten fallen ist, was übersehen wurde, über- und Bewegungen oder eine Kompo- hört oder auch verdrängt (vgl. Kirchner sition aus Form und Farbe auf einer et al. 2006: 12). Dies kann in ästheti- Leinwand. Diese Gestaltungen können 6
Kooperation Suitbertus Gymnasium KED Kurier und Kunstpalast Düsseldorf 2020; Foto: Hedwig Rogge halte. Das sind biographische Elemen- te wie Erinnerungen, Erlerntes, mediale Inhalte aus Filmen und Büchern, aber 1 | 2023 auch Phantasien und Wünsche, also Er- fahrungen aller Art und Qualität. Hier gerinnen außerdem auch Befindlich- keiten und Stimmungen, gesellschaft- liche, kulturelle, individuelle oder grup- penspezifische Normen, zudem indivi- duelle Vorlieben und Interessen sowie persönliche Themen und Konflikte. All diese latenten psychischen Gehalte fließen in ästhetische Tätigkeiten ein und prägen sie auf ganz persönliche Weise. Mehr noch: Sie machen ästheti- stark abstrakt sein oder sehr gegen- sche Tätigkeiten in Form von Assoziati- ständlich und konkret. Immer aber be- onen als Ideenfindung überhaupt erst ruhen sie auf persönlichen Wahrneh- möglich. Ästhetische Tätigkeiten spei- mungen und Empfindungen. Sie stel- sen sich nicht nur aus diesen Gehalten len somit zugleich eine Verarbeitung, – sie ermöglichen auch, mit und an die- ein Verstehen und eine Äußerung zu sen zu arbeiten, sozusagen in eine Art einer Lebenswirklichkeit dar (vgl. Kirch- produktives Selbstgespräch zu treten ner et al. 2006: 13). (vgl. Peez 2005 a: 39). Die Individualität einer Person ist also Diese psychischen Gehalte reichern der Fixpunkt, der alles zueinander in sich im Lauf des Lebens immer wei- Beziehung setzt. In der ästhetischen ter an und lassen sich als das ästheti- Tätigkeit erweitert sich und entsteht sche Reservoir einer Person bezeich- zugleich ein persönliches Ausdrucks- nen. Weil sie abgesunkene Gehalte in repertoire. Im gleichen Zuge schärft unseren tieferen Bewusstseinsschich- sich die Wahrnehmung am ästheti- ten sind, können wir nur indirekt auf schen Gegenüber, was die Grundlage sie zugreifen. Aber genau dies macht schafft für zunehmendes Verständnis das Ästhetische uns möglich: Die Rei- und entsprechend kompetentes Urteil ze, die von einem ästhetischen Objekt (vgl. Kirchner et al. 2006: 12–14) – also ausgehen, wecken Assoziationen (vgl. das, was der Kernlehrplan unter einem Peez 2005 a: 20) – und Assoziationen Verständnis für ästhetische Gestaltun- sind nichts anderes als unbewusste gen versteht. Unbezweifelbar sind also gedankliche Gehalte, die wieder ‚auf- ästhetische Vorgänge komplexe intel- geweckt‘ worden sind. Im ästhetischen lektuelle Leistungen (vgl. Kirchner et al. Tätigsein gelangen sie zurück in die 2006: 17), die nur in diesem individu- höheren Bewusstseinsschichten – dort ellen, schöpferischen Dialog zwischen können sie dann ‚abgeschöpft‘ und sinnlicher Wahrnehmung und gedank- in einer Gestaltung gewissermaßen lichen Vorstellungsbildern entwickelt sichtbar gemacht werden. Insofern werden können (vgl. Kirchner et al. macht das ästhetische Reservoir ästhe- 2006: 14). tisches Verhalten überhaupt erst mög- lich, weil es das ‚kognitive Rohmaterial‘ In ebenso großem Maße, wie ‚äußeres‘ für unsere Ideen zur Verfügung stellt. Material – Farben oder Worte – daran beteiligt sind, fließt also auch ‚inneres‘ Ästhetische Produkte aller Art sind Material in diesen Dialog ein: nämlich also zu begreifen als Ausdruck unse- die Summe unserer psychischen Ge- rer ‚inneren Welt‘ mit den Mitteln der 4 7
Ästhetische Bildung 4Sprache, der Musik oder des Schreibens te Materialien, Motive und kulturelle 1 | 2023 (vgl. Lieberoth 2006: 69). Unsere inne- Hintergründe – vor allem aber an die ren Vorstellungen werden so auch für biographisch gesammelten Erfahrun- andere zugänglich, ihre ‚Naturgesetze‘ gen einer Person und ihre Art zu den- KED Kurier auch für andere zumindest teilweise ken (vgl. Kirchner et al. 2006: 13). Darin verständlich – und dies macht die Ver- liegt seine Berechtigung. ständigung, den Austausch darüber Ästhetische Tätigkeit ist ohne diese möglich (vgl. Kirchner et al. 2006: 14). Subjektivität nicht möglich: kein Bild, Das persönliche Ausdrucksrepertoire keine Spielszene, keine Melodie, kei- (vgl. Kirchner et al. 2006: 13–14), das ne Empathie in ein Kunstwerk ohne sich in der Individualität der Wahrneh- Subjektivität. Ein ästhetisches Produkt mungsweise, der aufkommenden As- enthält somit sozusagen die Quint- soziationen und der Wahl der Gestal- essenz einer Persönlichkeit – nämlich tung äußert, kann als das ästhetische die biographischen Gehalte, verschlüs- Profil einer Person bezeichnet werden. selt nach einem individuellen ‚Code’ Es entwickelt sich ein Leben lang, in gemäß ihrem ästhetischen Profil (vgl. Austausch mit kulturellen, sozialen Kirchner et al. 2006: 13). Ästhetische und individuellen Bedingungen. Es be- Tätigkeit wurzelt also in der Lebensge- schreibt und bedingt unsere Art wahr- schichte, durch welche die Erfahrungs- zunehmen, zu empfinden und uns zu und Verarbeitungsweisen einer Person verhalten und begründet Vorlieben für entstanden sind – kurz: ihrer Identi- Tonfolgen, Farbkombinationen oder tät (vgl. Kirchner et al. 2006: 26). Diese eine bestimmte Fernsehserie. unmittelbare Betroffenheit begründet die enorme Bedeutung Ästhetischer Ästhetisches Verhalten ist demgemäß Bildung für die Entwicklung von Iden- höchst subjektiv – aber es ist nicht be- tität (vgl. Kirchner et al. 2006: 17): Äs- liebig. Es ist geknüpft an die Bedin- thetisches Arbeiten schafft persönliche gungen einer ästhetischen Situation, Involviertheit und emotionale Beteili- an die äußeren Umstände, an konkre- Suitbertus Gymnasium, Säulen malereikurs, Q1 Wedding 2022; Foto: Hedwig Rogge 8
gung. Und was emotional berührt, das dennoch: Denn ästhetisches Verhalten KED Kurier ist immer auch bedeutsam (vgl. Hau- lässt sich zumindest äußerlich zwei- ßer 1995: 9). felsfrei dokumentieren. Damit ist ästhetisches Arbeiten immer Die biographischen Gehalte, die in äs- auch ein Stück Selbstoffenbarung. Al- thetischem Verhalten wirksam und im 1 | 2023 lerdings ist diese ‚Codierung‘ für Au- Falle von ästhetischen Produkten ge- ßenstehende nicht unbedingt zugäng- wissermaßen sogar sichtbar werden, lich oder gar verständlich (vgl. Kirchner verknüpfen das Ästhetische auf inhalt- et al. 2006: 26) – tatsächlich ist sie dies licher Ebene mit der Identität einer womöglich nicht einmal für die Person Person. Diese Verbindung besteht je- selbst. Identitätsarbeit realisiert sich in doch auch in struktureller Hinsicht: Tat- weiten Teilen indirekt. Die kognitiven sächlich ist ästhetische Arbeit die pro- Prozesse, die sie tragen, ereignen sich totypische Situation für die Arbeit an innerlich und bestenfalls halbbewusst. der eigenen Identität. Aber eins nach Vorhanden – und wirksam – sind sie dem anderen. II – Ästhetische Bildung und Identität Identität ist nun ein ausgesprochen titätstheorie von Heiner Keupp und komplexes Konzept. Je nach Perspekti- seinen Mitautorinnen und -autoren ve wird es soziologisch, philosophisch bieten sich all diese an als Bausteine oder psychologisch zum Teil sehr un- für das Selbst (vgl. Keupp et al. 2006: terschiedlich gefasst. Und die zuneh- 53) – Patchwork-Identität ist der Leitbe- mende Komplexität und der struktu- griff dieses Konzepts. Diese Vielfalt hat relle Wandel unserer Lebensgegenwart Folgen, die gravierend sein können: Ob macht auch vor etablierten Begrif- wir wollen oder nicht, wir müssen un- fen nicht Halt. Das macht es nicht ser Leben, unser Ich eigenständig ent- einfacher. werfen und aktiv verwirklichen. Das ist eine enorme Herausforderung. Denn Verstehen wir Identität also als ein diese selbstverantwortliche Form der Phänomen mit zahlreichen Aspek- Identitätsgestaltung setzt eine brei- ten – darin tragen wir zumindest den te Palette an psychischen, physischen, Erkenntnissen der Neurobiologie und materiellen und sozialen Ressourcen der modernen Entwicklungspsycholo- voraus. Dies kann sehr belastend sein gie Rechnung. Das (Lebens-)Alter, das (vgl. Keupp et al. 2006: 53), kann Ge- Zusammenspiel von Selbstbild und fühle der Orientierungslosigkeit, des Fremdwahrnehmung, aber auch der Kontrollverlustes und Furcht vor dem Beruf, die Bedingungen der individuel- Scheitern wecken (vgl. Keupp et al. len Sozialisation sowie physische und 2006: 53-55) – schon bei Personen, die psychische Eigenschaften spielen in gut ausgestattet sind. Wer schlechtere diesem Zusammenhang eine Rolle. Umstände vorfindet, der kann sich ei- Plausibel ist auch, dass Identität sich ner, so nennt es Keupp, ontologischen zumindest in unserer westlichen Le- Bodenlosigkeit (Keupp et al. 2006: 53) bensgegenwart im Rahmen des ge- gegenübersehen, die schlicht nicht zu sellschaftlichen Strukturwandels er- bewältigen ist mit den Mitteln, die zur eignet. Wir beobachten eine gewisse Verfügung stehen. Der Zugang zu ei- Auflösung von Traditionen und eine nem Bildungssystem, das diesen Man- Erosion herkömmlicher Verbindlich- gel ausgleichen kann, ist für diese Per- keiten – dem entgegen steht eine nie sonen existenziell bedeutsam. dagewesene Vielfalt an Lebensstilen, Das klingt nun ein wenig nach Apoka- an moralischen Koordinaten, an Vor- lypse. Aber wie es so schön heißt, eine stellungen und Normen. In der Iden- Krise ist immer auch eine Chance – und 4 9
Ästhetische Bildung 4zumindest in Bezug auf die Entwick- werden das Zusammenspiel von Form 1 | 2023 lung von Identität im Zeichen dieser und Farbe, die Zeilen eines Dialogs Vielheit stimmt das. oder die Wortform eines Romans ver- stehbar, zum Sinnträger. Denn auf der anderen Seite birgt diese KED Kurier Pluralität auch nie dagewesene Mög- Hier wird nun ein genuin ästhetisches lichkeiten der Lebensgestaltung und Konzept zum Schlüsselbegriff einer der Selbstbestimmung (vgl. Keupp et modernen, sogenannten narrativen al. 2006: 46): Es ist an uns, aus unse- Identitätstheorie. Sie nimmt an, dass rem tagtäglichen Erleben und Erfahren wir uns nicht nur in der alltäglichen ein Identitätsgefühl zu schaffen – ein Interaktion mit dem sozialen Gegen- Leben lang (vgl. Keupp et al. 2006: 83). über in Geschichten und Erzählungen Identität wird so zum Ergebnis unse- darstellen, sondern dass wir unser gan- rer schöpferischen Möglichkeiten (vgl. zes Leben und unsere Beziehungen zur Keupp et al. 2006: 294). In diesem Ver- Welt als Narrationen gestalten (vgl. ständnis ist sie als Prozess zu verste- Keupp et al. 2006: 101). Der Entwurf hen (vgl. Keupp et al. 2006: 215), der von Identität ist in diesem Paradigma unsere Selbsterfahrungen aus Vergan- als Selbstnarration (vgl. Keupp et al. genheit, Gegenwart und Zukunft ver- 2006: 215) zu verstehen. Er gibt Ant- arbeitet, sie reflektiert und dann sinn- wort auf die Elementarteilchen unse- voll zusammenführt (vgl. Keupp et al. res Selbstverständnisses: Wer bin ich? 2006: 207). Wesentlich ist dabei, dass und Warum bin ich so, wie ich bin? (vgl. das Ergebnis – das Identitätsgefühl – Keupp et al. 2006: 208). einheitlich und stimmig ist (vgl. Keupp Diese Identitätserzählungen richten et al. 2006: 100). sich dabei immer an ein soziales Ge- Diese Bedingung, die Einheitlichkeit, genüber – wir möchten, dass andere die Stimmigkeit, verbindet die Identi- uns verstehen können in unserer Art, tätsarbeit mit der ästhetischen Arbeit wie wir sind (vgl. Keupp et al. 2006: – über den inhaltlichen Bezug hinaus. 101-102, 191). Betrachten wir dazu den Modus, nach Identität entsteht also in der Wechsel- dem wir unsere Identität gestalten. wirkung von Selbst- und Fremdwahr- Folgen wir der Theorie von Keupp et al., nehmung (vgl. Keupp et al. 2006: 99) dann ist die menschliche Sprache das – und in Abgleich mit den Rückmel- Medium unserer Identitätsarbeit. Sie dungen über die Glaubwürdigkeit, die bedient sich vor allem der verschiede- Gelungenheit unserer Selbsterzäh- nen Strukturen des Erzählens (vgl. Keu- lungen, die wir erhalten. Sie bedingen pp et al. 2006: 101) – und das Erzählen, die Zustimmung, die wir mit unserem also die Narration, ist auch das gedank- Identitätsentwurf finden (vgl. Keupp et liche Modell ästhetischer Phänomene al. 2006: 232). (vgl. Kirchner et al. 2006: 22). Das Kon- Das bedeutet: Unsere Identitätserzäh- zept der Narration bezeichnet einen lungen sind im Wesentlichen ästheti- bestimmten Modus der Sinnstiftung, schen Kriterien unterworfen. Für ge- eine Denkweise. Ästhetische Objekte lungene, das heißt, vor allem als plau- – Bilder, Musik, Theaterstücke – formu- sibel angesehene Selbstnarrationen, lieren Sinngehalte mit den ihnen ei- existieren Konstruktionsregeln (vgl. genen ästhetischen Mitteln zu einem Keupp et al. 2006: 103). Diese bezie- Sinnzusammenhang, den wir uns in hen sich zunächst natürlich auf den der gedanklichen Auseinandersetzung eigentlichen Inhalt, also Thema, Viel- erschließen können. Ihre Sinngehalte schichtigkeit oder Detailreichtum, aber müssen nicht unbedingt von vornher- auch auf die Menge der verbundenen ein sprachlich vorliegen wie z.B. in der Erzähleinheiten und ihre Originalität Literatur, aber sie müssen Sinn erge- oder Faszinationskraft (vgl. Keupp et ben, der sich in Worte fassen lässt. So al. 2006: 209). Die Rolle des Akteurs, 10
der Akteurin innerhalb der Lebensge- Identitätsarbeit gelingt, wenn aus den KED Kurier schichte und die Bewertung und Re- (Selbst)Erfahrungen, die wir bestän- flexion der eigenen Situation darin ist dig machen (vgl. Keupp et al. 2006: ebenso von Bedeutung, und darüber 57), ein Gefühl der Stimmigkeit her- hinaus zählt auch eine Art Dramatur- gestellt werden kann, von Kohärenz gie, also die Wahl eines sinnstiftenden und Authentizität, das Gefühl also, wir 1 | 2023 Anfangs- und Endpunkts, die Fokus- selbst zu sein (vgl. Keupp et al. 2006: sierung auf relevante Ereignisse und 267). Dies macht uns überhaupt erst deren nachvollziehbare (insbesondere handlungsfähig (vgl. Keupp et al. 2006: kausale) Anordnung (vgl. Keupp et al. 217). Nur in Abstimmung mit diesem 2006: 229). Authentizitätsgefühl können wir aus der Vielfalt möglicher Lebensentwürfe Dieses Bündel an Strukturelementen wählen und sie in entsprechenden Pro- verweist deutlich auf die Erkenntnis- jekten, Vorhaben und Tätigkeiten ver- se der Erzählforschung in der Frage wirklichen (vgl. Keupp et al. 2006: 267). nach dem Modell einer gelungenen Geschichte. Das stützt ebenfalls die Und die bewusste Auswahl eines Le- These, dass die Narration als ein über- bensentwurfs bedeutet nicht weniger geordnetes Modell menschlichen Den- als die Fähigkeit, ein gelingendes Leben kens verstanden werden kann. Und zu gestalten – also Zufriedenheit, Sinn- hier entspringt auch die Brücke zur orientierung und, ja, Glück zu erfahren. Ästhetischen Bildung: Die Identitäts- Nehmen wir diese Erkenntnisse ernst, wirksamkeit von ästhetischer Tätigkeit ist ihre Tragweite enorm: Ästhetische leitet sich nicht nur aus ihrem Bezug Bildung leistet einen wesentlichen zu lebensgeschichtlich erworbenen Beitrag zur Entwicklung von Persön- kognitiven Inhalten her, sondern auch lichkeit. Sie eröffnet uns inhaltlich wie aus ihrer Struktur, nämlich dem Wech- strukturell einen Raum, in dem Identi- selspiel von persönlicher Imagination, tätsarbeit sich vollziehen kann. Darin eigenem Ausdruck und der Wahrneh- legt sie das Fundament für ein selbst- mung eines Gegenübers, also von der bestimmtes Leben. Begegnung mit Alterität (Kirchner et al. 2006: 18). Die notwendige Offen- Dies ist aber nicht die einzige Hinsicht, heit, das Aushalten von Irritation und in der das Leben von der Kunst ler- der Umgang mit Widersprüchen ist ein nen kann – um zwischendurch einmal Kennzeichen ästhetischen Arbeitens. an Oscar Wilde zu erinnern. Über den Es eröffnet darin einen reichhaltigen Identitätsbezug hinaus lehrt uns das Erfahrungsraum für die Begegnung Ästhetische auch eine ganz bestimmte mit Alterität – und so ist ästhetische Art zu denken, eine Art, die im besten Tätigkeit quasi prototypisch für Pro- Sinne eigen-sinnig ist: das sogenannte zesse der Persönlichkeitsbildung (vgl. divergente Denken. Auch dieses unter- Kirchner et al. 2006: 24). stützt uns sehr direkt bei der Gestal- tung unseres Lebens. Dazu muss das eigene Ich gar nicht der eigentliche Gegenstand schöpferischer Schöpferisches Handeln bewegt sich Auseinandersetzung sein. Es sind die zwischen der Offenheit für Neues und ‚Brüche‘ in der gewohnten Denkwei- dem, was bereits besteht. Es ist we- se, die ästhetisches Verhalten provo- sentlich geprägt von diesem divergen- ziert – an diesen differenziert sich das ten Denken: Dieses ermöglicht uns, Identitätsgefüge aus. Die Auseinan- neue Ausdrucksformen zu entwickeln, dersetzung mit ästhetischen Objekten und darin vom Bekannten und Vertrau- ermöglicht neue Erkenntnisse und da- ten, aber auch vom Üblichen abzuwei- mit eine persönliche Veränderung (vgl. chen, von Klischees und Traditionen Fritzsche 2012: 153). (vgl. Bucher 2012: 276). Dem entge- gen steht das konvergente Denken: Es überführt Inhalte in Formen, die in 4 11
Ästhetische Bildung 4Hinblick auf eine gestalterische Ab- scheidung für das eine und gegen das 1 | 2023 sicht funktionieren. Darin greifen wir andere. Diese Fähigkeit, zu eigenen, auf Bekanntes zurück, auf Erfahrungs- neuen Lösungen zu gelangen, sich am werte und Erlerntes. Bestehenden zwar zu orientieren, die- KED Kurier ses aber mehr als einen Gestaltungs- In ästhetisch-schöpferischen Prozessen spielraum zu begreifen, den es auszu- gibt es natürlich keine ‚Patentrezepte‘ schöpfen gilt, denn als einen Katalog – im Gegenteil, oftmals sind verschie- von Anweisungen, die befolgt werden dene, zum Teil sogar widersprüchliche müssen, üben wir im Umgang mit dem Ansätze möglich. Ästhetische Prozesse Ästhetischen. profitieren daher vom Wechselspiel der beiden Denkweisen (vgl. Bucher 2012: Und diese Fähigkeit ist mit Blick auf die 277). Sie sind beispielhaft für das Su- Herausforderungen, die es im Leben zu chen und Finden neuer Lösungswege meistern gilt, einem Leben zumal, das in produktivem Rückgriff auf das Be- wir aktiv gemäß unseren Wünschen, kannte und Bewährte (vgl. Bucher 2012: unseren Möglichkeiten und unserer 276), und so zeichnen sich genuin äs- Wesensart gestalten müssen und ge- thetische Produkte durch ihre Individu- stalten wollen, ein wahrer Schatz, ein alität aus. Jede gefundene Lösung also Schlüssel zu Authentizität, zu Deu- ist das Ergebnis von Aushandlung und tungsfähigkeit und Selbstbestimmung. Reflexion und darin eine bewusste Ent- III – Ästhetische Bildung und Gesellschaft Die Rahmenbedingungen, die eine In- aussehen, die wir uns für unsere Ge- stitution schafft, betreffen deshalb sellschaft wünschen? nicht nur die Qualität von Bildungsge- Ich möchte heute für ein humanistisch schehen sehr direkt. Im Fall der Ästhe- geprägtes Verständnis von Bildung tischen Bildung betreffen sie die Frage sprechen – und damit für einen Erzie- nach dem Entwurf einer Gesellschaft. hungsbegriff, der auf die Stärken Äs- Und daraus ergibt sich für uns die thetischer Bildung setzt. Frage nach dem Entwurf von Schule überhaupt. Im humanistischen Ideal erkennen wir den aktiven Part der Lernenden an. Bei Die Schule ist der thematische Rah- Wilhelm von Humboldt meint dies ei- men, in dem wir uns heute treffen. Sie nen aktiven Vorgang des Sich-Bildens, ist vor allem aber der Ort, an dem wir der Selbstbildung (vgl. Koller 2008: 74). die Gesellschaft von morgen entste- Dies passt zu Heiner Keupps Konzept hen sehen. Schule vermittelt Inhalte, von Identität als Gegenstand unse- Formen und Werte und damit einer- rer Gestaltung. Eine solche Bildungs- seits Orientierung. Andererseits ist sie idee strebt nach dem Ausschöpfen von ein Raum für die Entwicklung von Per- Potentialen: Der Mensch soll die Kräf- sönlichkeiten – erinnern wir uns an das te seiner Natur entwickeln und darin Bekenntnis des Kernlehrplans für das seinem eigentlichen Wesen gerecht Fach Kunst. Damit trägt sie eine ganz werden – als Selbst-Verwirklichung wesentliche Verantwortung dafür, im besten Sinne (vgl. Koller 2008: 76). mit welchen Ideen, Vorstellungen und Dafür ist auch die Phantasietätigkeit Überzeugungen sich die kommende wesentlich, die Vorstellungskraft und Generation in den gesellschaftlichen nicht zuletzt die sinnliche Wahrneh- Diskurs einbringen wird – und wie sie mung – die gedankliche Nähe huma- ihn dann gestaltet. Dies ist meiner nistischer Bildungskonzepte zur Äs- Ansicht nach die vornehmste Aufga- thetischen Bildung ist augenfällig (vgl. be von Schule. Wie also soll die Schule Koller 2008: 77). 12
Die Entwicklung der menschlichen Na- menschliche Vielfalt (vgl. Koller 2008: KED Kurier tur – wir würden heute sagen: seiner 78) ausschöpfen, die Vielfalt mensch- Persönlichkeit, seiner Identität – ist lichen Erlebens und Empfindens und eine Entfaltung von innen. Und diese den gedanklichen Reichtum, der dar- kann nur geschehen in der aktiven Er- aus erwächst. Diesen Anspruch können schließung und Aneignung des Außer- wir mithilfe der Ästhetischen Bildung 1 | 2023 halb, als eine Beziehung zur Welt und einlösen. ihren Inhalten (vgl. Koller 2008: 83). Wollen wir ein solches Verständnis Eine solche produktive Wechselwir- von Bildung ernst nehmen, dann dür- kung lässt sich vergleichen mit der in- fen wir uns nicht vor allem an äußeren dividuellen Haltung, die wir im ästhe- Vorgaben orientieren, sondern an den tischen Handeln entwickeln. Und auch inneren Anlagen der Heranwachsen- im Humboldt’schen Ideal ist wieder die den. Und ja, diese treten nicht selten Sprache das Medium dieser persön- in Opposition zu gesellschaftlichen lichkeitsbildenden Wechselwirkung Strukturen und ihren Anforderungen von Welt, Sinnschöpfung und Individu- (vgl. Koller 2008: 88). Halten wir die- um. Dabei ist Sprache aber nicht allein sen Konflikt aus! Eine vielgeübte Kritik im Sinn von Wort und Schrift gemeint, an Humboldts Bildungsideal ist die ei- sondern tatsächlich eher im Sinne des ner zu harmonischen Vorstellung von Narrations-Konzepts (vgl. Koller 2008: menschlichem Zusammenleben. Diese 86): Sprache im Sinne von Sinnzusam- Kritik mag ihre Berechtigung haben. menhängen, von Kommunikation an Verstehen wir dieses Ideal aber nicht sich, von sozialen Codes – also von Klei- als Beschreibung oder gar als Erfor- dermoden über Umgangsformen bis dernis. Verstehen wir es als gesell- hin zu den eigentlichen Produkten von schaftliche Vision, als Utopie, wenn Sie Kunst und Kultur (vgl. Koller 2008: 89). wollen, an der zu arbeiten wir, die wir In diesem Rahmen entwickeln Heran- mit Bildung befasst sind, als unsere wachsende ihre Eigentümlichkeit – wir tagtägliche Herausforderung anneh- würden heute sagen, ihre Individua- men. Denn Humboldts Kerngedan- lität. Sie ist der Kern der humanisti- ke, die Ausbildung der menschlichen schen Bildungstheorie. Und diese Aus- Vielfalt, entspricht gerade dem Wesen prägung von Individualität dient nicht unserer Zeit: Diversität ist eine Stärke. nur den Heranwachsenden selbst, son- Wenn wir jeden und jede von uns, je- dern auch der Gesellschaft, an der sie des Mitglied unserer Gesellschaft als teilhaben: Die Bildungsprozesse der eine Facette des Menschlichen selbst Einzelnen sind letztlich eine Angele- begreifen, dann nimmt unser Entwurf genheit der Allgemeinheit. Bildung ist die Wirklichkeit in all ihrer Komplexität ein gesamtgesellschaftlicher Prozess, wahr und ernst. Ein Bildungskonzept, der sich über das Individuum trägt. das sich der Potentiale Ästhetischer Und eine Gesellschaft, die ihre Mög- Bildung bewusst ist, ist dieser Heraus- lichkeiten voll entfalten will, muss die forderung gewachsen. IV – Ästhetik als Erkenntnisform Zugegeben, die Prinzipien der Ästhe- sondern, im Gegenteil, nach Relativität tischen Bildung sind in Forschung – ihre Inhalte, ihre Ziele und, vor allem, und Lehre nicht immer leicht zu hän- ihre Ergebnisse sind als Kontinuum zu deln. Insofern geraten sie mitunter in fassen. Legitimationszwang. Die Gegenstände Ästhetischer Bildung, Wir erinnern uns: Ästhetik im prak- die ästhetischen Objekte, wirken nicht tischen, bildungswissenschaftlichen konstant, sondern lösen die unter- Sinne strebt nicht nach Absolutheit, schiedlichsten Reaktionen aus. Es gibt 4 13
Ästhetische Bildung 4nicht die eine fachlogische Methodik, che und Wirkung und Möglichkeiten 1 | 2023 um dieses Spektrum zu erfassen, es der Verallgemeinerbarkeit (vgl. Kettel gibt nur die individuell bedingte, itera- 2012: 452). Ästhetische Tätigkeit richtet tive Annäherung, und diese verweigert sich auf das Erfahren und Formulieren KED Kurier sich jedem festgelegten Ausgangs- einer individuellen Sinnfindung. Auch punkt und Ende. diese beschreibt einen Modus des Ver- stehens und Erkennens – aber einen, Die ästhetischen Produkte als ‚Ergeb- der sich auf das Individuum bezieht, nis‘ Ästhetischer Bildungsprozesse an- das sie entwickelt, nicht auf allgemei- dererseits bergen die lebensgeschicht- ne begriffliche Kategorien (vgl. Vogel lichen Gehalte ihrer Urheberinnen und 2012: 295). Urheber, verschlüsselt nach einem in- dividuellen ‚Code‘, den Außenstehende Wissenschaftliches Denken operiert nicht unbedingt verstehen können – unter der Prämisse der Objektivität. Es mitunter entzieht sich ihre Logik sogar bemüht sich um eine möglichst prä- denjenigen, die sie geschaffen haben. zise Unterscheidung von Subjekt und Eine Bewertung dieser Resultate ist Objekt. Im schöpferischen Denken da- daher nur im Sinne von ‚weichen Krite- gegen sind Subjekt und Objekt gerade rien‘ zu leisten, nach Wirkung, Glaub- aufs Engste miteinander verwoben. würdigkeit oder Anschaulichkeit – und Das bedeutet: Die Bedingungen, Vor- diese lassen sich nicht ad hoc in eine gänge und Ergebnisse Ästhetischer Bil- Notenskala übersetzen. dung lassen sich kaum sinnvoll quan- Im ästhetischen Handeln überhaupt tifizieren. Wer mit ästhetischen Ver- sind eine abschließende Deutung und fahren umgehen möchte, muss einen begriffliche Fixierung nur schwer- qualitativen Ansatz wählen, der empi- lich möglich. Im Grunde widerspricht risch vorgeht und seine Untersuchung ein solches Ansinnen sogar dem Pro- auf Empathie und Interpretation rich- gramm Ästhetischer Bildung. Denn die tet. Nicht Vergleichbarkeit, sondern zugrundeliegenden Prozesse verhal- Anschaulichkeit, Beispielhaftigkeit und ten sich gerade nicht kausalistisch-me- die ›Tiefenschärfe‹ eines Phänomens chanisch, sondern subjektiv-assozia- (vgl. Peez 2005: 148) ist der Erkenntnis- tiv (vgl. Kettel 2012: 452) – sie sind ein gewinn qualitativer Forschung. Dies Wechselspiel von Idee und Zufall, von bringt zwar valide Ergebnisse hervor Materialverhalten, das zu Entscheidun- – aber eben keine ‚harten Fakten‘, und gen führt, die ihrerseits wieder neue deshalb ist es unmöglich, ihre Ergeb- Assoziationen auslösen und das Ver- nisse in Statistiken zusammenzufassen stehen oder die Gestaltung so immer und darauf übergeordnete Programme weiterentwickeln (vgl. Kirchner et al. aufzubauen oder allgemeine Konzep- 2006: 14). te davon abzuleiten. Für die Bildungs- politik kann das eine Herausforderung Und dennoch ist ästhetisches Verhal- sein. ten ein eigener Modus der Erkenntnis. Aber die Erkenntnisse, die in der ästhe- Vielleicht lässt sich dieses Problem tischen Tätigkeit gewonnen werden, aber umgehen, wenn wir den Blickwin- können nicht mit denen des wissen- kel ändern und nicht zuerst auf das schaftlichen Denkens verglichen wer- Produkt blicken, das am Ende steht, den – mit Erkenntnissen, die sich auf sondern auf den Prozess, der es hervor- ein sachlogisches Paradigma der Kau- bringt – es lohnt sich, den möglichen salität beziehen, die mithilfe analyti- Widerspruch zu der Ergebnisorientie- scher Techniken entwickelt werden rung auszuhalten, die in unterrichtli- und insofern nach größtmöglicher Ob- chen Zusammenhängen eben vielfach jektivität streben, nach einer klaren nötig ist. Denn Ästhetische Bildung Unterscheidung zwischen wahr und schafft einen Raum, innerhalb dessen falsch, dem Zusammenhang von Ursa- Lernende echte Identitätsarbeit leis- 14
ten können – und die Entwicklung von Er ist ein Widerspruch zu einem huma- KED Kurier Persönlichkeit können wir nicht ernst- nistischen Menschenbild an sich. haft quantifizieren wollen. Ein solcher Zahlen sind erfahrungsgemäß eben Ansatz ist nicht nur ein unauflösbarer nur sehr bedingt geeignet, um über Widerspruch zu jedem humanistisch Menschen zu sprechen. orientierten Verständnis von Bildung. 1 | 2023 V – Ästhetische Bildung in der Schule Was bleibt? Die politische Wertschät- geben, ist nicht Verständnis, Kompro- zung von Fächergruppen drückt sich im missbereitschaft oder gar Pragma- schulischen Zusammenhang auf der tismus. Es ist Kapitulation – und eine Stundentafel aus sowie in der Akquise, Fehleinschätzung der Bedeutung, die der Ausbildung und in der Gestaltung Individualität und Persönlichkeit im der Arbeitsbedingungen von Fachkräf- Kontext schulischen Lernens haben ten. Die Situation, die wir gegenwär- müssen. Insofern kann man nicht tig vorfinden, ist weit entfernt davon, abwiegeln und sagen, Jeannette Otto zumindest ausreichend zu sein. Dies übertreibe, wenn sie in der Zeit on- kann nicht der Anspruch sein, an dem line drastisch von einer ‚Bedrohung‘ wir uns messen lassen sollten. Sich mit schreibt. einem solchen Zustand zufriedenzu- Suitbertus Gymnasium, Ausstellung Fotografie LK Q2, 2022; SCHLUSS Foto: Hedwig Rogge Und gewiss – von dieser desolaten Si- mitgestalten werden. Ästhetische Bil- tuation sind alle Schulfächer in der ei- dung bezieht sich so auch immer auf nen oder anderen Hinsicht betroffen. das soziale Miteinander. Wir werden jetzt nicht den Fehler ma- Denn die Offenheit, die Toleranz ge- chen, das eine Unverzichtbare gegen genüber dem Andersartigen, Wider- das andere auszuspielen. ständigen, die wir im Umgang mit Dennoch: In den musisch-künstleri- ästhetischen Objekten auszuhalten schen Fächern werden in besonderem lernen, wird Teil unserer Persönlich- Maße Persönlichkeiten in ihrer Entfal- keitsstruktur und fließt darüber ein in tung auf den Weg gebracht – auf den die sozialen Begegnungen, in die wir Weg in eine Gesellschaft, die sie bald uns täglich hineinbegeben. 4 15
Ästhetische Bildung 4Der Ästhetischen Bildung und damit sein aller, die mit Schule und Schulpo- 1 | 2023 den Fächern, die diese vertreten, auf litik befasst sind. Schulen und Schul- der Stundentafel zu wenig Raum zuzu- formen, die hier noch Bedarfe haben, gestehen, ist nicht nur eine vergebene müssen wir entsprechend fördern. KED Kurier Chance der individuellen Bildung. Dies Schulen und Schulformen, die hier vor- wird auch in gesellschaftlicher Hin- angehen und bereits für diesen Ansatz sicht nicht folgenlos bleiben. Gewiss – einstehen, verdienen unsere besondere der Zeithorizont, auf den wir uns hier Anerkennung. Und dies mag durchaus einlassen, mag die Planungskorridore eine besondere Auszeichnung sein von manch politischer und institutioneller Schulen in privater Hand. Personalie überschreiten. Vielleicht können wir jetzt sicherer Die Auswirkungen der Entscheidun- sein, Oscar Wilde richtig verstanden zu gen, die heute von ihnen getroffen haben: „Das Leben ist der Kunst bester, werden, lassen sich aber eben nicht in der Kunst einziger Schüler.“ In der Äs- Wahlperioden bemessen. Sie bemes- thetischen Bildung lernen wir tatsäch- sen sich in Generationen. lich nicht für die Schule, sondern für das, für unser Leben. Und kann es ein Deshalb müssen wir die Ästhetische besseres Leitziel schulischen Wirkens Bildung nicht nur fest im schulischen geben? Ich glaube, nicht. Programm verankern, wir müssen sie noch deutlich ausbauen. Dies sollte ein Vielen Dank. unbedingtes gemeinsames Anliegen Prof. i. V. Dr. Laura Flöter-Fratesi LITERATUR Bucher, Leandra: Divergentes Denken im wissenschaft. Eine Einführung. 5. Aufl. kreativen Schaffensprozess – Grundle- Stuttgart, Kohlhammer 2008, S.70-92 gende Erkenntnisse der Kognitionswis- Lieberoth, Andreas: With Role-Playing in senschaften. In: Buschkühle, Carl-Peter Mind – A Cognitive Account of Decoupled [Hrsg.]: Künstlerische Kunstpädagogik. Reality, Identity and Experience. In: Frit- Ein Diskurs zur künstlerischen Bildung. zon, Thorbiörn u. Wrigstad, Tobias [Hrsg.]: 1. Auflage. Oberhausen, Athena 2012, Role, Play, Art. Collected Experiences of S.275-284 Role-Playing. Knutpunkt 10. Stockholm, Fritzsche, Marc: Eigenes und Fremdes: Föreningen Knutpunkt 2006, S.67-83 Identität als Thema im Kunstunterricht. Ministerium für Schule und Weiterbil- In: Buschkühle, Carl-Peter [Hrsg.]: Künst- dung des Landes NRW [Hrsg.]: Kunst. lerische Kunstpädagogik. Ein Diskurs zur Kernlehrplan für die Sekundarstufe II künstlerischen Bildung. 1. Auflage. Ober- Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein- hausen, Athena 2012, S.145-155 Westfalen. 1. Auflage 2014 [Heft 4703] Haußer, Karl: Identitätspsychologie. Berlin Otto, Jeannette: Die Lücken im Lehrer- u.a., Springer 1995, S.9 zimmer bedrohen das ganze Land. In: Kettel, Joachim: Warum künstlerisches Zeit online, 10.10.2022 [https://www. Denken lernen? In: Buschkühle, Carl-Peter zeit.de/2022/41/lehrermangel-schulen- [Hrsg.]: Künstlerische Kunstpädagogik. bildungspolitik?utm_source=pocket- Ein Diskurs zur künstlerischen Bildung. newtab-global-de-DE; Abruf 13.10.2022, 1. Auflage. Oberhausen, Athena 2012, 10:20 h] S.447-465 Peez, Georg: Einführung in die Kunstpä- Keupp, Heiner et al.: Identitätskonstruk- dagogik. Grundriss der Pädagogik/Erzie- tionen. Das Patchwork der Identitäten in hungswissenschaft Band 16, hrsg. von der Spätmoderne. 3. Auflage 2006. Ham- Werner Helsper et al., 2. überarbeitete u. burg, Rowohlt 2006 [1999] aktualisierte Ausgabe. Stuttgart, Kohl- hammer 2005 [2002] Kirchner, Constanze; Schiefer Ferrari, Mar- kus; Spinner, Kaspar H. [Hrsg.]: Ästheti- Vogel, Matthias: Was heißt künstleri- sche Bildung und Identität. Fächerverbin- sches Denken? In: Buschkühle, Carl-Peter dende Vorschläge für die Sekundarstufe I [Hrsg.]: Künstlerische Kunstpädagogik. und II. München 2006 Ein Diskurs zur künstlerischen Bildung. 1. Auflage. Oberhausen, Athena 2012, Koller, Hans-Christoph: Grundbegriffe, S.285-295 Theorien und Methoden der Erziehungs- 16
KED Kurier 1 | 2023 Gemeinschaftsarbeit der Klasse 1 der Viersener Martin- schule Foto: Christoph Brück, Viersen Große Kunst in Kinderaugen In Viersen bewerben sich alljährlich en zu, machen mit, sie fragen und zahlreiche erste Klassen um das be- experimentieren. gehrte Angebot der „Kulturstrolche“. Das Thema des Gestaltungswettbe- In der Trägerschaft des Kultursekre- werbs war 2022 „Große Kunst in Kin- tariats NRW Gütersloh und geför- deraugen“. Die Klasse 1c der KGS Mar- dert durch das Ministerium für Kultur tinschule knüpfte mit ihrer Lehrerin und Wissenschaft des Landes Nord- Lisa Brück dabei an die charakteristi- rhein-Westfalen ermöglicht es ganzen sche klare Kopfform des Künstlers Ge- Schulklassen, drei Jahre lang beson- org Ettl an, die jedes Kind individuell dere Einblicke in alle Kultursparten weiterentwickelte. zu bekommen. Die „Strolche“ streifen durch Orchestergräben, Museumskel- Jutta Pitzen ler oder Bücherfluchten. Sie schau- 17
1 | 2023 KED Kurier Ästhetische Bildung Zu ausgewählten Facetten eines Kunstprojekts Wenn Weihnachten wieder einmal so tet: Seit über fünf Jahren gibt es eine ei- plötzlich kommt … dann nicht für die gene Homepage, die die Schüler*innen St. Walburga-Realschule im sauerländi- mit den Protagonisten der Weihnachts- schen Meschede. Hier ist man vorberei- krippe vertraut macht. Und das kam so: Die Vorstellungsrunde Die Kirchengemeinde Mariä Himmel- mehr wahrzunehmen, denn die Körper fahrt in Meschede bot 2017 der Schule versanken in Kleidung, die sie wie Kas- an, den Aufbau und die Gestaltung der perlefiguren aussehen ließ. Gemeindekrippe zu übernehmen. Die Es war daher ein dringliches Anliegen, Sichtung des Inventars begann bereits den Figuren wieder ein würdiges Aus- im Hochsommer. Im Bestand waren sehen und eine adäquate Präsenz zu ge- zehn sogenannte Ankleidefiguren und ben. Dafür musste das Wissen darüber, acht Tierfiguren aus Gips bzw. Kera- wodurch die einzelnen Krippenfiguren mik. Die sechs Gips-Schafe sind aus den charakterisiert sind, zusammengetra- 1940er Jahren, Ochse und Esel aus ke- gen werden. Jede der dreizehn Klassen ramischem Material jüngeren Datums. der St. Walburga-Realschule übernahm Die Ankleidefiguren sind jedoch histo- die Patenschaft für eine Figur der Weih- risch und über 100 Jahre alt. Ihre Köp- nachtskrippe und recherchierte zu ihr. fe und Hände sind handgeschnitzt und Bibeltexte, Alltagswissen und Assozia- subtil gefasst. Dies war allerdings kaum 18
tionen gingen in die Gedankensamm- wickelten die Schüler*innen des 10er- KED Kurier lungen ein. Das Ziel war eine individu- Textilgestaltungskurses Schnittmuster, elle Perzeptbildung, um eine hohe Iden- nach denen unterschiedliche Gewand- tifikation der Schüler*innen mit dem formen zugeschnitten und genäht wer- Projekt zu erreichen. Es entstanden Be- den konnten. Verwendet wurden Sei- griffssammlungen und Farbassoziatio- denmaterialien in unterschiedlichen 1 | 2023 nen als Grundlage für das Zusammen- Weißtönen. Alle Kleidungsstücke wur- tragen von geeignetem Collagemate- den als sogenannte Doublefaces gear- rial aus Zeitschriften, Kalendern und beitet, also als doppelseitige Kleidung dem Internet. Durch Collagen sollten ohne sichtbare Nahtzugaben. Durch nämlich die Figuren der Schul- und der das Weiß, das Material und die wertige Pfarrgemeinde vorgestellt oder neu ins Verarbeitung entstand ein abgestimm- Gedächtnis gerufen werden. Die Colla- tes Gesamtbild der Figuren, das eine zu- getechnik verwischt dabei die alters- rückhaltende Würde ausstrahlt und die bedingten ästhetisch-handwerklichen ausdrucksvollen Köpfe und Hände der Fertigkeiten der Jahrgangsstufen und Ankleidefiguren zur Wirkung bringt. sorgt für ein geschlossenes Gesamtbild. So hielten die Figuren in den Advents- Doch die Arbeit am Who-is-Who der gottesdiensten der Schule nach und Krippe war mit den Collagen-Gestal- nach Einzug in die Himmelfahrt-Kirche tungen noch nicht abgeschlossen, denn und wurden dort mit ihren individuel- noch fehlte die Neueinkleidung der Fi- len Collagen jeweils einzeln auf Säulen guren. Auf der Grundlage von zwei er- stehend präsentiert. Jede Woche ent- haltenen historischen Gewändern ent- stand ein neues Gesamtbild. Christo, Jeanne-Claude und die verhüllte Krippe Die Idee des sich verändernden Bil- allerdings erst posthum. Zu Lebzeiten des der Krippeninstallation wurde ließ das Künstlerpaar Brücken, ganze im Advent 2021 wieder aufgegriffen. Küstenabschnitte oder auch den Ber- Zuvor war im Spätsommer des Jahres liner Reichstag spektakulär verpacken. die Verhüllung des Arc de Triomphe in Durch ihre Umhüllungen entzogen sie Paris in den internationalen Schlagzei- diese Objekte den Blicken und ließen len gewesen. Jahrzehntelang war die- sie unter Stoffkaskaden symbolisch ver- se Kunstaktion von Christo und sei- schwinden. Doch bei diesem Verhüllen ner Ehefrau Jeanne-Claude vorberei- geschah etwas Paradoxes: Das Verhüll- tet worden; die Realisierung erfolgte te nahm sich nicht zurück, sondern trat 4 19
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