Keine IV-Rente: Wie verhält sich das Sozialamt?

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Keine IV-Rente: Wie verhält sich das Sozialamt?
Keine IV-Rente: Wie verhält sich
    das Sozialamt?
    Der behandelnde Arzt bescheinigt dem Klienten eine Erwerbsunfähigkeit. Die IV sieht es
    aber anders und lehnt eine Rente ab. Der Sozialdienst tut gut daran, in dieser Situation eine
    Vertrauensärztin oder einen Vertrauensarzt beizuziehen. Auf der Basis dieser Abklärung wird
    beurteilt, ob die Sozialhilfe zum Tragen kommt.

     Frage                                               Grundlagen                                   Antwort
    Der 50-jährige Herr A. bezieht seit August          Grundsätzlich gilt es, zwischen Arbeits-       Das Sozialamt muss die aktuelle finanziel-
    2007 Sozialhilfe. Er reichte im Frühling            und Erwerbsunfähigkeit sowie Invalidität       le und persönliche Situation des Klienten
    desselben Jahres einen Antrag für eine In-          zu unterscheiden. Während mit Arbeits-         aus fachlicher Sicht beurteilen. Es kann
    validenrente ein. Das Gesuch wurde im               unfähigkeit die (vorübergehende) ge-           sich dabei nicht ausschliesslich auf die
    Herbst 2009 mit Verfügung der Invali-               sundheitsbedingte Leistungseinbusse im         Sichtweise der IV stützen, da es die ganze
    denversicherung (IV) abgelehnt. Herr A.             bisherigen Tätigkeitsbereich bezeichnet        Problematik von Herrn A. berücksichti-
    hat gegen diesen Entscheid beim kantona-            wird, liegt eine Erwerbsunfähigkeit erst       gen und entsprechend reale Möglichkei-
    len Sozialversicherungsgericht Beschwer-            dann vor, wenn nach zumutbaren Be-             ten prüfen muss. Folgendes Vorgehen ist
    de erhoben. Das kantonale Versicherungs-            handlungs- und Eingliederungsmassnah-          angezeigt:
    gericht kommt jedoch zum gleichen Ur-               men ein gesundheitsbedingter Verlust der       – Das Sozialamt tritt – in Absprache mit
    teil wie die IV. Der Entscheid ist nun              Erwerbsmöglichkeiten in einem (ande-              dem Klienten und dessen Einwilligung
    rechtskräftig. Herr A. und sein behandeln-          ren) Beruf oder Aufgabenbereich vorliegt          – mit dem behandelnden Arzt in Kon-
    der Arzt sind jedoch der Meinung, dass              (vgl. Art. 6 ATSG). Bei der Beurteilung der       takt, um das weitere Vorgehen zu bera-
    die Aufnahme einer Erwerbsarbeit aus ge-            Erwerbsfähigkeit sind ausschliesslich die         ten.
    sundheitlichen Gründen nicht möglich                Folgen der gesundheitlichen Beeinträchti-      – Bringt ein solches Gespräch keine Klar-
    ist.                                                gungen zu berücksichtigen, die aus objek-         heit, ist dem Klienten die Weisung zu
        Es stellt sich die Frage, was der zu-           tiver Sicht nicht überwindbar sind (Art. 7        erteilen, dass er sich vom Vertrauens-
    ständige Sozialdienst nun tun muss: Soll            Abs. 2 ATSG). Wenn die ganze oder teil-           arzt des Sozialamtes begutachten lässt.
    er sich auf das Urteil abstützen und den            weise Erwerbsunfähigkeit voraussichtlich       – Stellt der Vertrauensarzt eine (teil-
    Klienten anhalten eine Arbeit zu suchen?            bleibend ist oder längere Zeit andauert,          weise) Erwerbsfähigkeit fest, ist ein
                                                        wird von Invalidität gesprochen (Art. 8           Einstieg in die Berufswelt über ein In-
                                                        Abs. 1 ATSG).                                     tegrationsprogramm (evtl. mit Bewer-
                                                            Die IV entrichtet Leistungen, wenn die        bungscoaching) zu empfehlen.
                                                        Erwerbsunfähigkeit gesundheitsbedingt          – Wird vom Vertrauensarzt eine Erwerbs-
                                                        ist. Die Sozialhilfe hingegen orientiert          fähigkeit attestiert, ist der Klient in
                                                        sich am Bedarfsdeckungs- und Subsidia-            Form einer Auflage (SKOS-Richtlinien
                                                        ritätsprinzip und wird demnach nur dann           A.8.1) aufzufordern, sich in einem
                                                        gewährt, wenn sich die bedürftige Person          noch zu bezeichnenden Berufsfeld Ar-
                                                        nicht selbst helfen kann oder wenn Hilfe          beit zu suchen.
                                                        von dritter Seite nicht oder nicht recht-      – Diagnostiziert der Vertrauensarzt eine
                                                        zeitig erfolgt. Der Klient ist verpflichtet,      Erwerbsunfähigkeit, kommt die Sozial-
                                                        alles Zumutbare zu unternehmen, um die            hilfe zum Tragen.                   
                                                        Notlage aus eigenen Kräften abzuwenden
                                                        oder möglichst rasch zu beenden. Doch                                              Kurt Felder
    PRAXIS
                                                        was ist im Fall von Herrn A. zumutbar?                              Mitglied Arbeitsgruppe RiP
                                                            Die Ausrichtung wirtschaftlicher Hilfe                 (Richtlinienkommission der SKOS)
    Die Rubrik « Praxis » beantwortet Fragen der        kann mit einer Auflage verbunden wer-
    Sozialhilfe­praxis. SKOS-Mitglieder haben die       den (SKOS-Richtlinien A.8.1). Der Klient
    Möglichkeit, konkrete Fragen an die SKOS-Line       kann somit verpflichtet werden, sich zur
    zu ­richten (www.skos.ch, einloggen ins Intranet,   Klärung seiner gesundheitlichen Situa-
    Rubrik «SKOS-Line» wählen). Ihre Fragen werden      tion einer vertrauensärztlichen Untersu-
    von Fachpersonen beantwortet, und ausgewählte       chung zu unterziehen.
    Beispiele werden in der ZESO publiziert.

8   ZeSo 4/11 PRAXIS
Keine IV-Rente: Wie verhält sich das Sozialamt?
«Die Kantone sollen eine echte
   und gute Sozialpolitik machen»
   Peter Gomm ist neuer Präsident der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und -direktoren.
   Im Interview spricht der Solothurner Regierungsrat über seine Vorstellungen einer professionellen
   Sozialhilfe. Und er erklärt, mit welchem Mittel die Akzeptanz der SKOS-Richtlinien in den Kantonen
   erhöht werden könnte.

   Herr Gomm, Sie sind Innenminister              Welche Schwerpunkte setzen Sie in              Sie pflegen gute Kontakte zum Bun-
   des Kantons Solothurn und in dieser            diesem Amt?                                    desrat?
   Funktion auch Sozialdirektor. Welche               Meine primäre Aufgabe ist es, den Zu-         Bundesrat Burkhalter ist einer, der zu-
   Bedeutung hat das Wort «sozial» in             sammenhalt der Kantone zu stärken und          hören kann. Er versucht, die Anliegen der
   Ihrem beruflichen Alltag?                      ihre Interessen gegenüber dem Bund zu          Kantone aufzunehmen, und wir nehmen
      Das Wort «sozial» ist im Grunde ge-         vertreten. Mit dem Fokus auf die Sozialpo-     die Gelegenheit wahr, unsere Themen
   nommen eine Selbstverständlichkeit für         litik gilt es sicherzustellen, dass die Kan-   beim Bund zu präsentieren.
   eine Gesellschaft, die auf den Ausgleich       tone auch eine echte und gute Sozialpolitik
   bedacht ist. So gesehen gehört der Begriff     machen.                                        Sie erwähnten die FamEL. Gerade bei
   «sozial» auch in jede Politik.                                                                diesem Thema zeigt der Bund wenig
                                                  Was heisst das?                                Initiative. Die SODK hingegen hat
   Hat es Vorteile, wenn ein Sozialdirek-            Es gibt verschiedene Themen, die man        Empfehlungen für deren Einführung
   tor gleichzeitig Sozialdemokrat ist?           angehen muss. Beispielsweise arbeiten wir      in den Kantonen erarbeitet. Ist das
      Man merkt es sicher, wenn ein Sozial-       an Inhalten, die im Rahmen der Armuts-         Ziel der SODK, dass die Kantone diese
   direktor Sozialdemokrat ist. Er bringt seine   konferenz, die der Bund 2010 zusammen          Leistungen einführen?
   Werthaltungen mit, das ist klar. Das heisst,   mit den Kantonen initiiert hat, aufgegrif-        Es gibt erst wenige Kantone, welche die
   man richtet sein Augenmerk besonders auf       fen wurden. Hohe Priorität hat etwa die        FamEL eingeführt haben – und dies in
   die Entwicklung des sozialen Gefüges in        Schaffung von Ergänzungsleistungen für         unterschiedlicher Form. Das sind das Tes-
   der Schweiz und versucht, die Politik ent-     einkommensschwache Familien (FamEL).           sin, Solothurn, Genf und die Waadt. Und
   sprechend aktiv zu gestalten.                  Wir sind zurzeit im Dialog mit dem Bund        bereits gibt es Bestrebungen in den Kan-
                                                  und versuchen ein Modell auf die Beine         tonen Freiburg und Wallis. Die SODK fin-
   Sie setzen sich in Ihrem Amt für sozia-        zu stellen, das wieder in den politischen      det, die Kantone sollen sich aufgrund der
   len Ausgleich ein. In der Öffentlichkeit       Prozess einfliessen kann, nachdem im           laufenden Diskussion mit dem Bund nicht
   ist seit einigen Jahren die Rede von           eidgenössischen Parlament zwei Vorstösse       davon abhalten lassen, diese Leistung ein-
   einer Schere zwischen Arm und Reich.           begraben wurden. Im Bereich der Armuts-        zuführen. Es ist aber unbestritten, dass die-
   Gibt es diese Schere?                          bekämpfung versuchen wir generell stär-        se Frage auch auf Bundesebene ernsthaft
      Statistisch gesehen gibt es Hinweise,       ker mit dem Bund zusammenzuarbeiten.           thematisiert werden muss. Wir haben nun
   dass diese Schere aufgegangen ist. Immer       Mit Bundesrat Burkhalter haben wir einen       eine Arbeitsgruppe mit Verantwortlichen
   mehr Leute haben kein Vermögen und             Gesprächspartner mit einem offenen Ohr.        des Bundes und der SODK eingesetzt, die
   wenige Leute haben ein grosses Vermö-                                                         Modellvorschläge erarbeitet.
   gen. Die Wirtschaft hat sich in den letzten
   Jahren eigentlich sehr gut entwickelt, das                                                    Gibt es weitere Schwerpunkte auf
   bildet sich aber in den Löhnen ungenü-                                                        der Traktandenliste des SODK-Präsi-
   gend ab. Es gibt also eine Gruppe von Per-                                                    denten?
   sonen, die mit tiefen Löhnen zu kämpfen                                                           Ein Dauerbrenner bleibt das Thema
   hat und somit nicht vom wirtschaftlichen       «Bundesrat Burk-                               Bundesrahmengesetz zur Existenzsi-
   Aufschwung profitieren kann. Diese Un-
   terschiede bei den Erwerbseinkommen
                                                  halter ist einer, der                          cherung. Da haben Bund und Kantone
                                                                                                 unterschiedliche Positionen. Der Bund
   führen letztendlich dazu, dass diese Schere    zuhören kann.                                  findet aufgrund der Aufgabenteilung, die
   aufgeht.
                                                  Er versucht, die An-                           Existenzsicherung sei auch Aufgabe der
                                                                                                 Kantone. Selbstverständlich ist es im föde-
   Sie sind seit Juni 2011 Präsident der
   Konferenz der kantonalen Sozialdi-
                                                  liegen der Kantone                             ralistischen System der Schweiz Aufgabe
                                                                                                 jedes Kantons, diese Leistungen sicherzu-
   rektorinnen und –direktoren (SODK).            aufzunehmen.»                                  stellen. Es gibt aber Handlungsbedarf im

12 ZeSo 4/11 Interview
Keine IV-Rente: Wie verhält sich das Sozialamt?
«Man merkt sicher, wenn ein Sozialdirektor Sozialdemokrat ist. Er bringt seine Werthaltung in die Politik ein.»              Bilder: Daniel Desborough

Sinne einer Koordination und einer Har-            Punkten können die SODK und die                     gibt aber von unserer Seite eine gewisse
monisierung, die man vornehmen muss.               SKOS ihre Zusammenarbeit intensi-                   Erwartungshaltung. Wir möchten, dass
Existenzsicherung besteht nicht nur aus            vieren?                                             der politische Kontext stärker berücksich-
Sozialhilfe. Es braucht den Blick auf das             Auf organisatorischer Ebene besteht              tigt und eingebunden wird, nachdem die
Gesamtsystem. So stellen sich zum Beispiel         zwischen der SODK und der SKOS eine                 Sozialhilfe in den letzten zehn, fünfzehn
auch im Bereich der Gesundheit existenzsi-         sehr gute Zusammenarbeit. Die SKOS ist              Jahren in der Öffentlichkeit häufig zu
chernde Fragen.                                    vor allem fachlich stark und hat ein grosses        Diskussionen geführt hat. Der Prozess
                                                   Know-how. In diesem Bereich sind ihre               bei Revisionen und Anpassungen der
Sie denken also eher an ein Koordina-              Inputs höchst willkommen. Punktuell                 SKOS-Richtlinien sollte weiter verbessert
tionsgesetz und nicht an ein Rahmen-               könnte eine gewisse Intensivierung statt-           werden, damit die Akzeptanz auf poli-
gesetz zur Existenzsicherung?                      finden. Wenn politische Komponenten                 tischer Ebene auch zukünftig vorhanden
   Es geht einerseits um die Koordination,         gefragt sind und es um die Haltung der              ist.
aber natürlich auch um die Festlegung der          Kantone gegenüber dem Bund geht, wird
Eckwerte, wie wir das beispielsweise bei           es aber auch zukünftig so sein, dass die            Das ist ein Appell an die SKOS?
den Ergänzungsleistungen zu AHV und IV             Kantone für sich eine eigenständige Posi-              Ja, ich glaube die SKOS müsste die
kennen, die ja letztlich vom Bund festgelegt       tion beanspruchen.                                  Kantone in dieser Frage früher einbezie-
werden. Diese Praxis der Harmonisierung                                                                hen. Es kann zu Missstimmung führen,
muss auch in anderen Bereichen einge-              Was verstehen Sie unter punktueller                 wenn die Kantone quasi vor vollendete
führt werden, etwa bei der Alimentenbevor-         Intensivierung?                                     Tatsachen gestellt werden.
schussung, wo die Anwendung zurzeit von                Die SKOS hat ein grosses Know-how im
Kanton zu Kanton unterschiedlich ist. Hier         Bereich der Sozialhilfeleistungen und sie           In welche Richtung soll sich die
muss man ein gerechteres System finden.            ist Herausgeberin der SKOS-Richtlinien.             Sozialhilfe Ihrer Ansicht nach entwi-
                                                   Seites der SODK wird es ausdrücklich ge-            ckeln?
Für die SKOS hat die Armutsbekämp-                 wünscht, dass diese fachliche Seite in die            Man muss in dieser Frage zwischen
fung höchste Priorität. In welchen                 Erarbeitung der Richtlinien einfliesst. Es          Organisation und Inhalt unterschei-                
                                                                                                                            interview 4/11 ZeSo 13
Keine IV-Rente: Wie verhält sich das Sozialamt?
 den. Inhaltlich, also fachlich gesehen, ist                                                         einem soliden fachlichen Hintergrund
    die Sozialhilfe auf einem guten Weg. Kli-                                                         funktionieren kann. So sehe ich die Rollen-
    entinnen und Klienten werden in einen                                                             verteilung.
    aktiven Prozess geführt, mit dem Ziel,
    zurück in die Arbeitswelt zu finden. Die-                                                         Soll sich die SKOS politisch weniger
    se Integration hat hohe Priorität. Heute                                                          einmischen?
    sucht man auch nach Lösungen für Leute,                                                              Selbstverständlich wird auch der SKOS
    die in schwierigen Situationen sind. Vor                                                          gelegentlich eine politische Frage unter-
    20 Jahren hat man vor allem ihr Dossier                                                           breitet. Das sehen wir regelmässig, wenn
    verwaltet. Die Sozialhilfe kommt so aus ei-                                                       es um Themen von öffentlichem Interesse
    ner subsidiären Stellung hinaus und greift                                                        geht, beispielsweise letzthin im Zusam-
    auch Aufgaben auf, die sich andere Insti-                                                         menhang mit der Frage der Gewalt gegen-
    tutionen wie die IV oder die Unfallversi-                                                         über Sozialbehörden. Dort hat die SKOS
    cherung schon länger zu eigen gemacht                                                             klar den Auftrag, sich zu positionieren und
    haben.                                                                                            ihre Meinungen und Werthaltungen be-
                                                                                                      kannt zu geben.
    Wie sieht es auf der organisatorischen
    Ebene aus?                                                                                        Die SODK pflegt im Rahmen des Nati-
       In diesem Bereich haben einige Kan-                                                            onalen Dialogs Sozialpolitik Schweiz˃
    tone ihre Strukturen verändert. Man ver-                                                          einen Austausch mit dem Eidgenös-
    sucht, die Sozialhilfe zu professionalisieren                                                     sischen Departement des Innern. Was
                                                    peter gomm
    und zu regionalisieren oder sogar zu kanto-                                                       bewirkt dieser?
    nalisieren. Auch diese Prozesse sind zu un-     Peter Gomm (SP) ist seit Juni 2011 Präsident          Diesen Dialog gibt es erst seit Kurzem.
    terstützen, weil die inhaltlichen Entwick-      der Konferenz der kantonalen Sozialdirekto-       Er soll primär dazu führen, dass man
    lungen – also das stärkere Engagement der       rinnen und –direktoren (SODK). Der promovierte    Grundlagen erarbeiten kann, um poli-
    Sozialhilfe – eben auch institutionell abge-    Jurist führt als Regierungsrat des Kantons So-    tische Probleme zu lösen. Ich sehe den
    stützt und finanziert sein muss.                lothurn seit 2005 das Departement des Innern,     eigentlichen Sinn vor allem im Vorgehen:
                                                    dem die Verwaltungszweige Soziale Sicherheit,     Die Kantone hacken nicht zuerst einmal
    Treibt die SODK die Regionalisierung            Gesundheit, Polizei, Strafvollzug und Migration   auf dem Bund herum und der Bund hackt
    und Professionalisierung voran?                 angehören. Peter Gomm ist 52 Jahre alt. Er        nicht auf den Kantonen herum, sondern
       Ich glaube nicht, dass dies eine primä-      wohnt mit seiner Familie in Olten.                man sitzt gemeinsam an einen Tisch und
    re Aufgabe der SODK ist. Die Frage der                                                            schaut, wie und wo man eine gemein-
    Strukturen betrifft die Organisationen.                                                           same Handlungsebene bestimmen kann.
    Das sind ureigene Bereiche der Kantone                                                            Aus Erfahrung weiss ich, dass diese Art
    oder der Gemeinden. Die SODK wird in                                                              zielführender ist, als wenn man in einem
    diesem Sinne keine politischen Vorgaben                                                           öffentlichen Schlagabtausch versucht, die
    machen. Wir machen aber Hinweise auf                                                              Probleme zu lösen.
    erfolgreiche Modelle und leisten Support,
    wenn ein Kanton die Sozialhilfe professio-
    nalisiert.                                      «Der Prozess bei                                  Wie steht es um den Dialog zwischen
                                                                                                      Bund und Kantonen, wenn es um

    Wenn man sich die drei Akteure
                                                    Revisionen der SKOS-                              die Revisionen der Sozialversiche-
                                                                                                      rungen geht? Viele Kantone sind mit
    SODK, Bund und SKOS in einem Drei-              Richtlinien sollte                                der Politik des Bundes unzufrieden.
    eck vorstellt, wie muss die Verbindung
    idealerweise funktionieren?
                                                    weiter verbessert                                 Überspitzt gesagt lautet das Fazit: Der
                                                                                                      Bund revisioniert – die Kantone baden
       Es gibt eine politische Ebene, dort ist
    die Verbindung zwischen Bund und Kan-
                                                    werden.»                                          aus.
                                                                                                         Die Gefahr besteht tatsächlich. Sie ist
    tonen und auch zwischen dem Städtever-                                                            aber weniger auf die Art und Weise zu-
    band und dem Gemeindeverband ange-                                                                rückzuführen, wie der Bund und die Kan-
    siedelt. Dann gibt es eine Fachebene. Die                                                         tone miteinander verkehren, sondern ein
    SODK und die SKOS sind vor allem auf                                                              Ergebnis der aktuellen politischen Kultur
    dieser fachlichen Ebene miteinander ver-                                                          in der Schweiz. Typisch dafür war die De-
    bunden. Die SKOS kümmert sich ihrem                                                               batte um die Scheininvaliden. Im nati-
    Auftrag entsprechend um die öffentliche                                                           onalen Parlament wird die Anspruchs-
    Fürsorge. Dieser Auftrag gibt eine gute                                                           berechtigung von bestimmten Gruppen
    Grundlage und schafft letztendlich auch                                                           in Frage gestellt. Ich erinnere hier an die
    die Voraussetzungen, dass die Politik auf                                                         psychisch Kranken, die jetzt mit der 5. und

14 ZeSo 4/11 interview
Keine IV-Rente: Wie verhält sich das Sozialamt?
der 6.IV-Revision nicht mehr in allen Be-      Wir wissen aber, dass es ein bis zwei Jah-   praktisch alleine betrieben haben. Präven-
reichen den gleichen Anspruch auf Versi-       re dauert, bis ein Gesuch beantwortet ist.   tion kann sich im politischen Umfeld nur
cherungsleistungen haben wie körperlich        Hier zu behaupten, dass die neue Praxis      schwer durchsetzen, weil die Ergebnisse
geschädigte Menschen.                          nicht zu einer Verschärfung führen wird,     nicht direkt messbar sind. Man kann nicht
                                               halte ich beinahe für zynisch.               mit einer Statistik dahinter, sondern muss
Was tut die SODK?                                                                           Überzeugungsarbeit leisten, damit Verän-
   Unsere zentrale Aufgabe ist es, aufzuzei-   Die OECD hat letzthin einen Bericht          derungsprozesse in Gang kommen. Bei
gen, dass dies falsche Schritte sind. Diese    zum Schweizer Gesundheitswesen               den Kantonen ist übrigens in Bezug auf die
Politik wird auf uns zurückkommen, denn        vorgelegt, welcher der Schweiz sehr          Präventionsgesetzgebung, die der Bund
die gesellschaftliche Solidarität wird stark   gute Noten attestiert. Jedoch kommt          dem Parlament präsentiert hat, eine posi-
leiden, davon bin ich überzeugt. Die Zah-      er zum Schluss, dass die Prävention          tive Stimmung auszumachen. Sie ist sogar
len aus 2009, die vom Bundesamt für So-        unterentwickelt ist. Ist das generell so     positiver als in den parlamentarischen Gre-
zialversicherung präsentiert worden sind,      in der Schweizer Sozialpolitik?              mien.
sind für mich nicht plausibel. Bisher sind        Prävention ist ein politisches Thema,
aufgrund der 5. IV-Revision noch nicht so      das noch relativ jung ist. Ursprünglich      Wenn man erfolgreich Politik und vor
viele Leute in die Sozialhilfe gekommen.       waren es Aufgaben, welche die Kantone        allem auch Sozialpolitik betreiben
                                                                                            will, muss man die Bevölkerung hinter
                                                                                            sich haben. Wie pflegen Sie als Regie-
                                                                                            rungsrat den Kontakt zu den Bürge-
                                                                                            rinnen und Bürgern?
                                                                                                In der medialisierten Gesellschaft von
                                                                                            heute besteht die Möglichkeit, dass man
                                                                                            sich regelmässig via Medien an die Bevöl-
                                                                                            kerung wendet. Das muss nicht immer
                                                                                            auf Regierungsebene sein. Man kann auch
                                                                                            auf der Abteilungsebene einzelne Projekte
                                                                                            vorstellen. Zudem bin ich relativ viel unter-
                                                                                            wegs. Ich nutze Ansprachen oder Gruss-
                                                                                            botschaften, um mein politisches Credo
                                                                                            anzubringen. Die Menschen wollen sehen,
                                                                                            dass ich die Inhalte mit Engagement und
                                                                                            Überzeugung vertrete. Etwas vom Wich-
                                                                                            tigsten ist es auch, dass man den Dialog
                                                                                            mit Entscheidungsträgerinnen und Ent-
                                                                                            scheidungsträgern in der Politik über alle
                                                                                            Stufen hinweg pflegt. Häufig ist es näm-
                                                                                            lich nicht so, dass man die Bevölkerung
                                                                                            von einem Anliegen überzeugen muss,
                                                                                            sondern jene Leute, die entscheidende Po-
                                                                                            sitionen und Ämter innehaben.

                                                                                            Gibt es ein anders Land auf der Welt,
                                                                                            wo Sie gerne Sozialdirektor oder In-
                                                                                            nenminister wären?
                                                                                               Ich bin ganz zufrieden, das Amt eines
                                                                                            Regierungsrates im Kanton Solothurn aus-
                                                                                            üben zu können. Die Bevölkerung bringt
                                                                                            einem grosses Vertrauen entgegen. Man ist
                                                                                            ja vom Volk gewählt, im Gegensatz zu an-
                                                                                            deren Ländern, wo man – gerade auf kan-
                                                                                            tonaler Stufe – oft von einem Parlament
                                                                                            gewählt und von einer Landesregierung
                                                                                            abhängig ist, wie zum Beispiel in Frank-
                                                                                            reich.                               

                                                                                                                      Das Gespräch führte
                                                                                                                       Monika Bachmann

                                                                                                                 interview 4/11 ZeSo 15
Keine IV-Rente: Wie verhält sich das Sozialamt?
Dringend gesucht:
   Stellenleiter/in Sozialhilfe
   Sozialämter in ländlichen Gebieten bekunden am meisten Mühe damit, Führungspositionen neu zu
   besetzen. Von den Kandidaten und Kandidatinnen werden nebst einer sozialarbeiterischen Ausbil-
   dung auch betriebswirtschaftliche Kenntnisse verlangt – und an denen scheint es zu hapern, wie
   eine nicht-repräsentative Umfrage zeigt.

   Auf die Frage, wie einfach es für sie sei, Führungspersonen für frei
   gewordene oder neu geschaffene Kaderstellen zu finden, geben
                                                                              «Viele Sozialarbeiter
   Leiter und Leiterinnen von Sozialämtern ganz unterschiedliche              und Sozialarbeiterinnen
   Antworten. So hat das Sozialamt der Stadt Luzern keine Mühe da-
   mit, gute Leute zu finden. Der Leiter Peter Erdösi führt als Beispiel      bilden sich zwar intensiv
   die jüngste Stellenausschreibung in seinem Dienst an, welche den
   Posten des Bereichsleiters Job-Center betraf und bei der über 70
                                                                              weiter, doch meist auf
   Dossiers auf seinem Schreibtisch eintrafen. Dieser quantitativ und         Fachebene und nicht im
   qualitativ gute Rücklauf sei kein Einzelfall, sagt Erdösi: «Unser So-
   zialamt geniesst in der Bevölkerung der Stadt Luzern ein gutes             Management.»
   Image.» Gründe dafür gibt es gleich mehrere: Einerseits ist sich           Felix Wolffers, Leiter Sozialamt der Stadt Bern
   das Sozialamt des Rückhalts durch die Politik sicher, andererseits
   betreiben sowohl Erdösi als auch sein Vorgesetzter, Sozialdirektor
   Ruedi Meier, eine aktive Medienpolitik. Nicht zuletzt trägt auch
   die Nähe zur Hochschule Luzern – Soziale Arbeit zum guten Ruf
   des städtischen Sozialamts bei, das jährlich mehrere Praktikanten
   und Praktikantinnen des Bachelor- und Masterstudiengangs be-
   schäftigt, die als Multiplikatoren wirken.
       Auch die Rekrutierungen in der Stadt Aarau und im Kanton
   Schaffhausen sind in den letzten Jahren reibungslos verlaufen. In       werden. Für Eugsters Nachfolge aufgrund seiner bevorstehenden
   Aarau wurden in den letzten Jahren vier Führungspositionen neu          Pensionierung trafen mit sieben zwar mehr Bewerbungen ein,
   besetzt, wobei es nur in einem Fall etwas länger dauerte, bis eine      aber keine passenden. Die Stelle musste in leicht abgeänderter
   geeignete Person gefunden werden konnte. Warum dies so einfach          Form ein zweites Mal ausgeschrieben werden: Statt einem sozial-
   ging, will die Vorsteherin soziale Dienste der Stadt Aarau, Jean-       oder rechtswissenschaftlichen Studienabschluss wurden nun auch
   nine Meier, nicht pauschal beurteilen: «Bei einem Dienst mit acht       vergleichbare Ausbildungen zugelassen. Unter den zehn neuen
   Führungspositionen und so wenigen Wechseln lassen sich keine            Dossiers befanden sich zwei gute Bewerbungen, so dass es auch
   verbindlichen Aussagen machen.» Ähnlich klingt es aus Schaff-           hier möglich sein sollte, bald eine für diese Position geeignete Per-
   hausen, wo das kantonale Sozialamt mit fünf Kaderstellen dotiert        son zu finden.
   ist, von denen in den letzten acht Jahren eine zweimal neu besetzt
   werden musste. In Absprache mit der Geschäftsleitung warb der           Alte Vorurteile
   Dienststellenleiter Christoph Roost im einen Fall jemanden ab, im       Wolffers und Dürr führen die Schwierigkeiten bei der Kaderrekru-
   anderen Fall beförderte er einen internen Quereinsteiger.               tierung in erster Linie auf Defizite in der Aus- und Weiterbildung
                                                                           von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern zurück. Je weiter ent-
   Magerer Rücklauf                                                        fernt das Aufgabengebiet von der Fallführung liege, desto mehr
   Dass sich die Rekrutierungssituation auch ganz anders präsentie-        seien Managementkompetenzen wie Kosten- und Prozessoptimie-
   ren kann, zeigen die folgenden Beispiele: Felix Wolffers, Leiter So-    rung sowie Personalführung gefragt, sagen beide übereinstim-
   zialamt der Stadt Bern, Walter Dürr, Sozialvorstand der Zürcher         mend. Fähigkeiten, die oft fehlten, meint Wolffers: «Viele Sozialar-
   Gemeinde Affoltern am Albis, und Norbert Eugster, Leiter Soziale        beiter und Sozialarbeiterinnen bilden sich zwar intensiv weiter,
   Dienste des Kantons Appenzell Innerrhoden, berichten überein-           doch meist auf Fachebene und nicht im Management.» Wer aber
   stimmend, dass die Besetzung von Kaderstellen für sie schwierig         aufsteigen wolle, müsse sich mit Fragen der Fallsteuerung und
   sei. Auf die letzte Ausschreibung der Stelle der Geschäftsführerin      wirtschaftlichen Effizienz auseinandersetzen. «Diese Themen gal-
   des Sozialdienstes etwa haben sich in Affoltern nur gerade drei Per-    ten lange als Tabu-Bereiche», sagt Wolffers, der auch von Fach-
   sonen gemeldet, und nur, weil eine von ihnen alle geforderten           hochschulen fordert, vermehrt betriebswirtschaftliche Kompeten-
   Qualifikationen mitbrachte, konnte die Position bereits besetzt         zen zu vermitteln, insbesondere auf Masterstufe. Ein Anliegen, das

22 ZeSo 4/11 SCHWERPUNKT
«Es tut uns leid, aber Sie bringen die geforderten Qualifikationen nicht mit»: Kaderstellen werden nicht selten mehrmals ausgeschrieben. Bild: Keystone

Dürr voll und ganz unterstützt: Auch er erwartet von den Ausbil-              Punkt sind sich die angefragten Personen einig. Die Arbeitgeber
dungsstätten ein Umdenken, damit Führungspersonen den Anfor-                  tun auch einiges dafür: Die Zusammenarbeit im Team sei gut,
derungen ihrer Position besser gewachsen seien: «Viele Kadermit-              heisst es von Bern bis Appenzell, und grosszügige Aus- und Weiter-
arbeitende führen zu offen und fokussieren zu einseitig auf die Be-           bildungsmöglichkeiten mit einer substanziellen Kosten- und Zeit-
dürfnisse der Klientinnen und Klienten, anstatt mit dem zur Ver-              übernahme sind ebenso gang und gäbe wie die Möglichkeiten von
fügung stehenden Geld wirtschaftlich umzugehen», lautet seine                 Supervision und, falls gewünscht, Coaching. Punkto Arbeitszeitre-
Einschätzung. Der Gemeinderat weiss, wovon er spricht: Affoltern              gelung sind Aarau und Bern besonders fortschrittlich: Meier und
sah sich mit vielen Strafanzeigen wegen Missbrauch konfrontiert,              ihre Mitarbeitenden kommen in den Genuss von Jahresarbeitszeit,
was zu einer Reorganisation des Sozialdienstes und zu einer stärke-           und bei Wolffers können alle Angestellten bis hin zum Kader in ei-
ren Gewichtung betriebswirtschaftlicher Fähigkeiten führte.                   nem Teilzeitpensum arbeiten, falls sie dies wünschen. Der Sozial-
   Anders ist die Lage in Appenzell Innerrhoden. Dort sind laut               dienst unterstützt mit seinen Teilzeitangeboten und diversen Ar-
Eugster nicht fehlende Managementkompetenzen der Grund für                    beitszeitmodellen aktiv Weiterbildungen und die Wahrnehmung
die harzigen Besetzungen der Kaderstellen, sondern breite Anfor-              von Familienpflichten. Tief gehalten wird die Fluktuation zumin-
derungsprofile: «In einem kleinen Sozialdienst wie dem unseren                dest punktuell auch dadurch, dass viele Führungspersonen ihre
sind Führungspersonen auch operativ tätig und müssen etwa im                  Kaderstelle in nicht mehr ganz jungem Alter antreten oder in der
Wald Beschäftigungsprogramme leiten, für die handwerkliches                   Gegend, in der sie arbeiten, verankert sind. So kommt es, dass Ka-
Geschick erforderlich ist.» Solche Allrounder-Qualitäten seien                derpersonen trotz hohem Arbeitsvolumen, teils belastender Tätig-
jedoch Mangelware. Hinzu kommt, dass ländliche Regionen wie                   keit und guten Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt ihr Können oft
Appenzell im Vergleich zu den urbanen Zentren über eine gerin-                viele Jahre für denselben Arbeitgeber unter Beweis stellen.    
gere Standortattraktivität verfügen.
                                                                                                                                            Karin Meier
Unterstützung im Team
Die gute Nachricht: Sind die Kadermitarbeitenden erst einmal ge-
funden, bleiben sie einem Sozialdienst in der Regel lange erhalten,
falls nicht gerade ein Führungswechsel stattfindet – in diesem

                                                                                                            SCHWERPUNKT 4/11 ZeSo
Als pflegende Angehörige wird man erfinderisch: Beatrice Gerber mit Ehemann Peter.                                        Bild: Ursula Markus

   «Unser Leben gleicht einem
   kleinen Unternehmen»
   Beatrice Gerber (55) ist Beraterin in einem Fachgeschäft für Elektrowerkzeuge. Ihr Mann ist seit
   acht Jahren fast vollständig gelähmt. Dank ihrem 70-Prozent-Pensum und einigen kreativen
   Lösungen bewältigen sie und ihre Familie den Alltag zuhause.

   «Zehn Prozent Komplikationsrisiko sagte             Vor acht Jahren noch arbeitete Beatrice    neu zu regeln. «Das war das Beste, was er
   man uns vor acht Jahren für die Rücken-          Gerber Vollzeit. Während der neunmona-        tun konnte», sagt sie. Ihr Mann und der
   operation meines Mannes voraus. Seither          tigen Rehabilitation am Paraplegikerzen-      Sohn wollten im Einfamilienhaus bleiben.
   ist er fast vollständig gelähmt», sagt Beatri-   trum fuhr sie täglich nach Nottwil, um mit    Die Familie plante mit einem befreunde-
   ce Gerber, Ehefrau von Peter Gerber. Tetra-      ihrem Mann die Abende zu verbringen.          ten Architekten den behindertengerechten
   plegie hiess die Diagnose. Zum Glück ge-         Am Wochenende wohnte sie im Zelt auf          Umbau. Der Umbau gelang ohne einen
   lingt es dem 65-Jährigen heute, den linken       dem Campingplatz, um keine Zeit mit           Franken Fehlinvestition.
   Arm zu heben und drei Finger der rechten         Reisen zu verlieren. «Ich arbeitete und
   Hand zu bewegen. So kann er etwas Klei-          funktionierte einfach, wollte nichts davon    Um einen Alltag kämpfen
   nes essen, mit einem Spezialgriff auch           wissen, das Haus zu verkaufen oder einen      Vor der Arbeit, um 5.45 Uhr, bereitet Beat-
   selbstständig trinken. Er kann den elektri-      Treppenlift einzubauen.»                      rice Gerber ihren Mann für die Morgenpfle-
   schen Rollstuhl bedienen, Zigaretten rau-           Nach einiger Zeit griff Beatrice Gerbers   ge vor, kocht Tee und stellt die Medikamen-
   chen, im Quartierladen einkaufen und             Vorgesetzter ein. Er verordnete ihr eine      te bereit. Von Montag bis Freitag kommt die
   Filme am PC schneiden.                           Woche Ferien mit dem Auftrag, ihr Leben       Spitex um 7 Uhr und führt die Pflege wei-

30 ZeSo 4/11 Reportage
Wie unbezahlte Care-Arbeit besser
abgesichert werden kann
Das Büro BASS (arbeits- und sozialpoliti-        die Sozialpolitik skizziert. Der Umgang                 Ausgleichskassen
sche Studien) und die SKOS haben im              mit unbezahlter Care-Arbeit im Sozialstaat
Auftrag des Eidgenössischen Büros für die        wird vor dem Hintergrund zweier dyna-                   leisten kompensation
Gleichstellung von Frau und Mann (EGB)           mischer Entwicklungen untersucht: Ei-                   Wenn jemand das Arbeitspensum zugunsten
ein Grundlagenpapier verfasst, das sich          nerseits sind dies die aktuellen sozialstaat-           der Pflege von Angehörigen reduziert, und
mit der Frage auseinandersetzt, wie der          lichen Reformbestrebungen, andererseits                 die pflegebedürftige Person ergänzungsleis-
Sozialstaat in Zukunft unbezahlte Care-Ar-       der Wandel der geschlechtsspezifischen                  tungsberechtigt ist, so ist bei der kantonalen
beit absichern kann. Unter unbezahlter           Arbeitsteilung im Sinne einer verstärkten               Ausgleichskasse ein Antrag auf «Krankheits-
Care-Arbeit werden Betreuungs-, Sorge-           Erwerbsintegration der Mütter.                          und Behinderungskosten» möglich. Darin
und Pflegeaufgaben für Kinder sowie für             Das Papier schlägt vor, die Rahmen-                  wird die Kompensation jenes Verdienstes
pflege- und betreuungsbedürftige Er-             bedingungen für eine gute Lebensgestal-                 beantragt, welche die angehörige Person
wachsene verstanden. Diese Arbeit ist ge-        tung zwischen Wahlmöglichkeiten und                     aufgrund des reduzierten Pensums einbüsst.
sellschaftlich notwendig und trägt viel          Verpflichtungen im Sinne einer aktiven                  Seit Januar 2011 müssen alle Kantone eine
zum Wohlstand bei, ist aber gleichzeitig         Lebenslaufpolitik zu gestalten. Diese setzt             entsprechende Verordnung haben, die die
mit beträchtlichen Benachteiligungen ver-        auf einen präventiven Ansatz in der Sozi-               frühere Bundesregelung (ELKV) ersetzt.
bunden. Sie stellt in der Schweiz heute ein      alpolitik und garantiert die Vereinbarkeit
Armutsrisiko dar, denn die soziale Absi-         von Erwerb und Care-Verpflichtungen
cherung greift in diesem Bereich oft nicht.      gegenüber Kindern und weiteren pflege-
Dies kann sich auch als strukturelle Hürde       und betreuungsbedürftigen Menschen                      Care-Arbeit: Modelle
für eine gleichstellungsorientierte Arbeits-     aus dem privaten sozialen Umfeld im Lau-
teilung von Paaren auswirken.                    fe des Lebens.                           
                                                                                                         für Arbeitgeber
    Das Grundlagenpapier bietet eine                                                                     Careum F+E, das Forschungsinstitut der
Auslegeordnung, die bestehende, care-                                          Caroline Knupfer          Kalaidos Fachhochschule Departement Ge-
bedingte Armutsrisiken und Gerechtig-                  Fachbereichsleiterin Grundlagen der SKOS          sundheit, hat verschiedene Instrumente für
keitsprobleme aufzeigt, Handlungsfelder                                                                  Arbeitgeber und Arbeitnehmende entwickelt.
identifiziert sowie Stossrichtungen für             Das Papier kann ab 2012 beim Eidg. Büro für die      Diese können helfen, die Vereinbarkeit von
Veränderungen im System der sozialen             Gleichstellung von Frau und Mann bestellt werden:       Beruf und Pflege zu meistern.
Sicherung als Diskussionsgrundlage für                                         ebg@ebg.admin.ch          Weitere Infos: www.workandcare.ch

ter, transferiert ihn in den Rollstuhl und be-    beiten würde – schon aus wirtschaftlichen           ist. Rat kann sie jerderzeit bei ParaHelp,
reitet das Frühstück zu. Von Freitagabend         Gründen. Die Arbeit als Fachberaterin für           der Spitex und dem Care Manager der
bis Montag und während den Ferien ist Be-         Elektrowerkzeuge bedeutet Beatrice Ger-             Krankenkasse einholen.
atrice Gerber alleine zuständig. Alles wird       ber viel. Sie hat strukturierte Arbeitszeiten           Kreative Lösungen sind auch bei der Fi-
dokumentiert, damit die Spitex jederzeit          an sieben Halbtagen. Wenn sie oder ihr              nanzierung der vielen Leistungen gefragt,
über den Stand der Dinge Bescheid weiss.          Mann krank werden, zeigen sich der Ar-              damit die Kosten tragbar sind. «Unser Le-
«Wenn ich ausfalle, arbeiten 14 Personen          beitgeber und die Arbeitskolleginnen und            ben gleicht einem kleinen Unternehmen.
nach vorgegebenem Plan», sagt sie. Zum            -kollegen flexibel.                                 Als pflegende Angehörige wird man erfin-
Glück ist Peter Gerber unkompliziert und                                                              derisch», sagt Beatrice Gerber. Inzwischen
akzeptiert die vielen Leute.                      Intelligente Lösungen sind gefragt                  ist sie von der Privatspitex ihres Mannes
    Seit kurzem ist er pensioniert. Früher        Die grösste Belastung ist die Nacht. Ein-           für einige Stunden angestellt. Die Kosten
fuhr ihn das Behinderten-Auto jeweils um 9        bis fünfmal muss Beatrice Gerber aufste-            bezahlt die Krankenkasse. So ist sie sozial-
Uhr zur Arbeit. Er hatte sie bei seinem lang-     hen, um ihren Mann umzulagern, Einla-               versichert und erhält im Krankheitsfall ein
jährigen Arbeitgeber behalten können. Die         gen zu wechseln, ihm zu trinken zu geben.           Taggeld. 	                              
Präsenzzeit am Arbeitsort betrug 50 Pro-          Wenn sie durch die Privatspitex für den
zent, die Arbeitsleistung 20 Prozent – dies       Abenddienst abgelöst wird, geht sie jeweils
gilt bei einer 100-prozentigen IV-Rente als       früh zu Bett, damit sie etwas schlafen kann,                                    Iren Bischofberger
Beschäftigung. Das Gehalt reichte gerade          bevor ihr Mann das erste Mal läutet und ei-             Fachbereichsleitung Forschung, Careum F+E
für die Fahrkosten. Doch die Arbeit war           nen Wunsch äussert. Seit kurzem hat Peter
wichtig, sie bot Peter Gerber Ablenkung.          Gerber insulinpflichtigen Diabetes. Seine                                        Marianne Schärli
    Für Familie Gerber war es immer klar,         Frau konnte erreichen, dass das Spritzsche-                                    Berufsschullehrerin
dass die Mutter und Ehefrau weiterhin ar-         ma mit ihren Arbeitszeiten kompatibel                 Schule für Gesundheit und Soziales Kt. Aargau

                                                                                                                           reportage 4/11 ZeSo 31
Das Geschäft mit der
   Fremdplatzierung
   Bei der Platzierung von Kindern und Jugendlichen orientieren sich gewisse Organisationen am Profit
   statt am Kindeswohl. Integras, der Fachverband für Sozial- und Sonderpädagogik, fordert deshalb
   eine gesetzliche Regelung auf Bundesebene. Als Referenz kann das Label FPO dienen.

   In den letzten zehn Jahren ist in der              Diese meist in den letzten Jahren ge-        ze können im Bereich der Fremdplatzie-
   Deutschschweizer Sozialbranche ein neuer        gründeten Organisationen verfügen bereits       rung zu erheblichen Missständen führen,
   Markt entstanden: Dienstleistungen im           über einen bestehenden Pool an Pflegefa-        wie ein TV-Bericht der «Rundschau» am 6.
   Bereich Familienplatzierungen. Platzie-         milien und können dem Auftraggeber oft          April 2011 zeigte.
   rende Stellen in der Kinder- und Jugend-        rasch einen freien Pflegeplatz vermitteln.          Integras legt Wert auf die Feststellung,
   hilfe (Amtsvormundschaften, Jugendan-           Häufig übernehmen sie gegen eine ent-           dass es unter den rund 70 in der Schweiz
   waltschaften, Jugend- und Familienbera-         sprechende Tagespauschale verschiedene          tätigen FPO (genaue quantitative Angaben
   tungsstellen) stehen oft unter einem gross-     Dienstleistungen, wie beispielsweise Ab-        fehlen) durchaus solche gibt, die qualita-
   en Zeit- und Arbeitsdruck, so dass sie die      klärung, Weiterbildung von Pflegeeltern         tiv gute Arbeit leisten und ihre Dienstleis-
   aufwändige Suche nach einer geeigneten          und Begleitung des Pflegeverhältnisses.         tungen am Kindswohl und an den Kin-
   Pflegefamilie für ein Kind oder einen Ju-                                                       derrechten ausrichten. Dies ist ihnen hoch
   gendlichen gerne an eine externe Stelle de-     Der Markt setzt falsche Anreize                 anzurechnen, denn ökonomisch gesehen
   legieren. Hier kommen die Familienplat-         Problematisch an der aktuellen Situation        profitieren sie davon nicht: Eine FPO, die
   zierungs-Organisationen (FPO) ins Spiel.        ist in den meisten Kantonen, dass Quali-        fachlich gute, das heisst aufwändige Arbeit
                                                   tätsnormen und -standards auf gesetzlicher      leistet, erzielt weniger Gewinn. Ausgerech-
                                                   oder freiwilliger Ebene fehlen. Familien-       net in diesem sensiblen Bereich des Kin-
                                                   platzierungs-Organisationen sind teils als      des- und Jugendschutzes setzt also ein frei-
                                                   Vereine, teils als profitorientierte Firmen     er Markt ohne flankierende Massnahmen
                                                   organisiert. Sie sind auf Einnahmen, also       falsche Anreize. Betroffen sind Kinder und
                                                   auf Leistungen der Auftraggeber, angewie-       Jugendliche, die durch ihre schwierige Le-
                                                   sen. Es ist im Sozialbereich durchaus üb-       benssituation besonders schutzbedürftig
                                                   lich, dass die Auftraggeber nicht identisch     sind. Pflegekinder haben häufig nicht El-
                                                   sind mit den Leistungsempfängern. Es hat        tern, die sich für ihre Rechte und Bedürf-
                                                   deshalb eine gewisse wirtschaftliche Logik,     nisse einsetzen, sie werden ja auch genau
                                                   dass viele FPO ihre Dienstleistungen nicht      aus diesem Grund fremdplatziert.
                                                   primär am Wohl der Pflegekinder ausrich-
                                                   ten, sondern an den Bedürfnissen der Auf-       Das Gesetz hat Lücken
                                                   traggeber. Wirtschaftlich erfolgreich ist ei-   Fremdplatzierte Kinder haben gemäss Art.
                                                   ne FPO dann, wenn sie den Auftraggebern         20 der UN-Kinderrechtskonvention An-
                                                   möglichst rasch und unkompliziert einen         spruch auf besonderen Schutz und Bei-
                                                   Pflegeplatz vermitteln kann. Mit einer          stand des Staates. Trotzdem gibt es bis an-
                                                   schnellen Platzierung ist aber den betroffe-    hin keine gesetzliche Regelung auf Bun-
                                                   nen Kindern und Jugendlichen nicht un-          desebene, die vorschreibt, dass FPO ihre
                                                   bedingt gedient – im Gegenteil: Aus der         Leistungen am Kindswohl und an den Kin-
                                                   Forschung ist bekannt, dass eine sorgfälti-     derrechten orientieren. Für die platzieren-
                                                   ge Planung sowie die Angewöhnungs- und          den Organisationen besteht in den meisten
                                                   Übergangszeit für ein Pflegeverhältnis zen-     Kantonen weder eine Bewilligungs- noch
                                                   tral sind. Zudem müsste eine FPO aus            eine Aufsichtspflicht. Bewilligung und Auf-
    PLATTFORM
                                                   fachlichen Überlegungen einen Auftrag           sicht von FPO hätten eigentlich in der revi-
                                                   ablehnen, wenn für ein Kind oder einen Ju-      dierten Fassung der Pflegekinder-Verord-
   Die ZESO bietet ihren Partnerorganisationen     gendlichen kein geeigneter Familienplatz        nung (PAVO) geregelt werden sollen. Doch
   diese Doppelseite als Plattform an: in dieser   zur Verfügung steht. Dies widerspricht          die Revision ist auch mit dem zweiten
   Ausgabe Integras, dem Fachverband für Sozial-   aber den wirtschaftlichen Interessen der        Entwurf gescheitert und ihre Zukunft ist
   und Sonderpädagogik.                            FPO. Diese falschen ökonomischen Anrei-         völlig offen.

32 ZeSo 4/11 plattform
Integras ist der Fachverband für Sozial-
                                                                                                     und Sonderpädagogik. Er setzt sich für
                                                                                                     Fachlichkeit und Professionalität in der aus-
                                                                                                     serfamiliären Betreuung von Kindern und
                                                                                                     Jugendlichen ein. Dem Verband gehören
                                                                                                     rund 230 Institutionen an, die insgesamt
                                                                                                     11 000 Kinder, Jugendliche und junge
                                                                                                     Erwachsene professionell fördern, betreuen
                                                                                                     oder schulen. Integras ist in der ganzen
                                                                                                     Schweiz aktiv.

                                                                                                     Weitere Infos: www.integras.ch

                                                                                                  Qualität ihrer Arbeit gegenüber einer exter-
                                                                                                  nen Stelle nachweisen. Damit diese Qualifi-
                                                                                                  zierung vorgenommen werden kann, hat
                                                                                                  Integras vor zwei Jahren das Label FPO
                                                                                                  entwickelt. An diesem Prozess waren Fach-
                                                                                                  leute aus den Bereichen Kinder- und Ju-
                                                                                                  gendschutz, Pflegekinderhilfe und Heim-
                                                                                                  wesen beteiligt. Mit dem Label FPO kön-
                                                                                                  nen Familienplatzierungs-Organisationen
                                                                                                  ihre fachliche Qualität standardisiert nach-
Pflegekinder sind schutzlos – und deshalb besonders schutzbedürftig.            Bild: ex-press   weisen. Bisher ist die Nachfrage jedoch ge-
                                                                                                  ring. Den FPO fehlt der Anreiz, das Zertifi-
                                                                                                  zierungsverfahren auf sich zu nehmen, da
    Integras bedauert dies, denn eine Be-       Standort ohne Probleme in einen anderen           sie auch ohne Label Aufträge erhalten. Dies
willigungspflicht für FPO auf Bundesebe-        Kanton verlagern können.                          dürfte sich erst ändern, wenn die platzie-
ne, die klare Kriterien enthält, würde die                                                        renden und finanzierenden Stellen ihre Zu-
Gesetzeslücke schliessen und zum Schutz         Ein Label schafft Qualität                        sammenarbeit mit FPO davon abhängig
der betroffenen Kinder und Jugendlichen         Bis sich Bund oder Kantone zu einer gesetz-       machen, ob diese über einen standardisier-
beitragen.                                      lichen Regelung durchringen, tragen die           ten und von externer Stelle überprüften
    Voraussichtlich wird es noch Jahre dau-     zuständigen Platzierungs- und Sozialbe-           Qualitätsnachweis verfügen.              
ern, bis ein entsprechendes Gesetz in Kraft     hörden die Verantwortung. Sie entschei-
tritt. Deshalb braucht es dringend Über-        den, mit welchen FPO sie zusammenarbei-                                            Andrea Keller
gangslösungen. Einzelne Kantone haben           ten. Zwar ist in der Regel die Soziahilfebe-                           Fachmitarbeiterin Integras
in Verordnungen Vorschriften für den Be-        hörde an einen Platzierungsentscheid der
trieb von FPO definiert, was zu begrüssen       Vormundschaftsbehörde gebunden, sie                                          Benjamin Shuler
ist. Allerdings birgt diese Entwicklung die     kann aber im Rahmen des rechtlichen Ge-                    Kommunikation und Projekte, Integras
Gefahr, dass im Bereich der Fremdplatzie-       hörs die Forderung stellen, dass für einen
rung ein weiterer föderaler Flickenteppich      Platzierungsauftrag ausschliesslich Organi-                       S. auch S. 35: Veranstaltungen
entsteht. Hinzu kommt, dass FPO ihren           sationen berücksichtigt werden, welche die                    «Fremdplatzierung: Ultima Ratio?»

                                                                                                                       plattform 4/11 ZeSo 33
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