KIELER KONJUNKTUR-BERICHTE - Deutsche Wirtschaft im Sommer 2022

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KIELER KONJUNKTUR-BERICHTE - Deutsche Wirtschaft im Sommer 2022
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 92 (2022|Q2)

KIELER
KONJUNKTUR-
BERICHTE

Deutsche Wirtschaft
im Sommer 2022

Abgeschlossen am 14. Juni 2022

                                                             Nr. 92 (2022|Q2)

Jens Boysen-Hogrefe, Dominik Groll, Nils Jannsen, Stefan Kooths, Saskia
Meuchelböck und Nils Sonnenberg

                                                               Forschungszentrum
                                                         Konjunktur und Wachstum
                                                                            1
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 92 (2022|Q2)

      ERHOLUNG KOMMT MÜHSAM VORAN

      Jens Boysen-Hogrefe, Dominik Groll, Nils Jannsen, Stefan Kooths, Saskia
      Meuchelböck und Nils Sonnenberg

      Die deutsche Wirtschaft steuert weiter durch unruhi-       Nach dem robusten Jahresauftakt zeichnet
      ges Fahrwasser. Zwar setzt sich der Aufholprozess in
      den kontaktintensiven Dienstleistungsbranchen in ho-
                                                                 sich gegenüber der Frühjahrsprogose eine
      hem Tempo fort, und die Unternehmen im Verarbei-           deutlich verlangsamte Expansion ab. Die Be-
      tenden Gewerbe sitzen auf prall gefüllten Auftragsbü-      lastungen durch die vierte Pandemiewelle haben
      chern. Allerdings verringert die hohe Inflation die        der wirtschaftlichen Aktivität im ersten Quartal
      Kaufkraft der verfügbaren Einkommen und wirkt so ei-
      ner höheren Konsumdynamik entgegen. Zudem ha-              hierzulande offenbar weniger zugesetzt als in
      ben sich die Lieferengpässe zuletzt durch den Krieg        unserer Frühjahrsprognose unterstellt. So wurde
      in der Ukraine wieder verschärft. Im Ergebnis gewinnt      beim Bruttoinlandsprodukt statt eines deutlichen
      die Erholung erst in der zweiten Jahreshälfte wieder
      an Kraft, wenn die Preise nicht mehr ganz so rasch         Rückgangs sogar ein leichtes Plus verzeichnet
      steigen und die Lieferengpässe nachlassen. Insge-          (Abbildung 1). Mit Ausnahme des Verarbeiten-
      samt rechnen wir wie im Frühjahr für dieses Jahr mit       des Gewerbes sowie der Energie- und Wasser-
      einem Anstieg des Bruttoinlandsprodukts von 2,1 Pro-
      zent. Im Jahr 2023 dürfte die Zuwachsrate 3,3 Prozent
                                                                 wirtschaft zog die Bruttowertschöpfung in allen
      betragen (Frühjahr: 3,5 Prozent). Die Inflation wird im    Bereichen an. Damit verbleibt für den weiteren
      laufenden Jahr mit 7,4 Prozent so hoch wie noch nie        Prognosezeitraum ein geringerer Aufholbedarf,
      im wiedervereinigten Deutschland ausfallen. Auch im        was für sich genommen mit einer schwächeren
      kommenden Jahr wird der Preisauftrieb mit 4,2 Pro-
      zent wohl noch überdurchschnittlich hoch sein. Die Er-     Expansionsdynamik einhergeht. Allerdings wir-
      holung der Erwerbstätigkeit setzt sich fort. Die Effek-    ken zusätzlich belastende Faktoren, die das
      tivverdienste werden kräftig steigen, auch weil die Ar-    Konjunkturbild insgesamt trüben. So erweisen
      beitskräfteknappheiten einen historischen Höchst-
      stand erreicht haben. Im laufenden Jahr wird der An-       sich die Lieferengpässe, die vor allem der indust-
      stieg mit knapp 5 Prozent aber hinter der Inflationsrate   riellen Aktivität zu schaffen machen, als langwie-
      zurückbleiben. Die Haushaltdefizite der öffentlichen       riger, auch weil durch neue Lockdown-Maßnah-
      Hand werden sinken, da die Einnahmen kräftig zuneh-
      men und die pandemiebedingten Ausgaben zurück-
                                                                 men in China zwischenzeitlich neue Störungen
      gefahren werden. Im Jahr 2023 dürften die öffentli-
                                                                 Abbildung 1:
      chen Schulden in Relation zum Bruttoinlandsprodukt
      bei etwas über 60 Prozent liegen.                          Bruttoinlandsprodukt

                                                                        Kettenindex (2015=100)                            Prozent
                                                                  115                                                                 15
                                                                                 Veränderung
                                                                                 Niveau
                                                                                                                                      10
                                                                  110

                                                                                                                                      5
                                                                  105

                                                                                                                                      0

                                                                  100
                                                                                                                                      -5

                                                                   95
                                                                                                                                      -10

                                                                           1.1         -4.6        2.9         2.1          3.3
                                                                   90                                                                 -15
                                                                        I II III IV I II III IV I II III IV I II III IV I II III IV
                                                                          2019        2020        2021        2022         2023

                                                                  Quartalsdaten: preis-, kalender- und saisonbereinigt; Verän-
                                                                  derung gegenüber dem Vorquartal (rechte Skala).
                                                                  Jahresdaten: preisbereinigt, Veränderung gegenüber dem Vor-
                                                                  jahr in Prozent (gerahmt).

                                                                  Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 18, Reihe 1.2 und
                                                                  1.3; grau hinterlegt: Prognose des IfW Kiel.

                                                                                                                                            2
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 92 (2022|Q2)

      eintraten. Zudem fällt für die privaten Haushalte                    noch in erheblichem Maß aufgestaute Kaufkraft
      der Kaufkraftentzug im Zuge des nun noch kräf-                       aus der Pandemiephase zur Verfügung steht
      tiger ausgeprägten Preisauftriebs stärker aus,                       und die Industrieunternehmen weiterhin ein re-
      was für sich genommen den privaten Konsum                            kordhohes Auftragspolster aufweisen. Alles in
      dämpft. Auch wenn das Bruttoinlandsprodukt vor                       allem erwarten wir für das laufende Jahr unver-
      allem infolge der Schockwellen durch den Krieg                       ändert einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts
      in der Ukraine im zweiten Quartal kaum mehr als                      um 2,1 Prozent (Tabelle 1). Die Prognose für das
      stagnieren dürfte, so bleiben die Auftriebskräfte                    kommende Jahr haben wir geringfügig um 0,2
      intakt, wenn auch mit verringerter Stärke. Maß-                      Prozentpunkte auf 3,3 Prozent herabgesetzt.
      geblich hierfür ist, dass den privaten Haushalten

          Tabelle 1:
          Eckdatentabelle für die wirtschaftliche Entwicklung 2020–2023
                                                                                      2020          2021         2022          2023
          Bruttoinlandsprodukt, preisbereinigt                                           -4,6         2,9           2,1            3,3
          Bruttoinlandsprodukt, Deflator                                                  1,6         3,0           4,9            3,9
          Verbraucherpreise                                                               0,5         3,1           7,4            4,2
          Arbeitsproduktivität (Stundenkonzept)                                           0,4         1,1          -0,3            1,6
          Erwerbstätige im Inland (1000 Personen)                                     44.898      44.918        45.606         45.916
          Arbeitslosenquote (Prozent)                                                     5,9         5,7           5,1            5,1
          In Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt
             Finanzierungssaldo des Staates                                              -4,3        -3,7          -1,4           -0,9
             Schuldenstand                                                              69,1        69,3          65,6           61,5
             Leistungsbilanz                                                              7,1         7,4           4,2            4,8
          Bruttoinlandsprodukt, Verbraucherpreise, Arbeitsproduktivität: Veränderung gegenüber dem Vorjahr in Prozent; Arbeitslosen-
          quote: Abgrenzung der Bundesagentur für Arbeit.
          Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 18, Reihe 1.2; Deutsche Bundesbank, Monatsbericht; Bundesagentur für Arbeit,
          Monatsbericht; grau hinterlegt: Prognose des IfW Kiel.

      Monetäre Rahmenbedingungen                                           diese Kredite auf 2199 Mrd. Euro, wovon 88 Mrd.
                                                                           Euro im Jahr 2022, 1523 Mrd. Euro im Jahr 2023
      Die Europäische Zentralbank leitet erste
                                                                           und 588 Mrd. Euro im Jahr 2024 auslaufen. Auf
      Schritte zur Normalisierung ihrer Geldpolitik
                                                                           der jüngsten Sitzung des Zentralbankrats An-
      ein. Nachdem das pandemische Anleihekauf-
                                                                           fang Juni 2022 wurde beschlossen, die Leitzin-
      progamm (PEPP) im März 2022 eingestellt
                                                                           sen zunächst auf ihren derzeitigen Niveaus zu
      wurde, werden nun auch die Nettokäufe im Rah-
                                                                           belassen (Einlagesatz: -0,5 Prozent, Hauptrefi-
      men des regulären Anleihekaufprogramms
                                                                           nanzierungssatz: 0 Prozent, Spitzenrefinanzie-
      (APP) Ende Juni auslaufen. Derzeit beläuft sich
                                                                           rungssatz: 0,25 Prozent), einen ersten Zins-
      der Bestand an Anleihen im APP auf 3249 Mrd.
                                                                           schritt von 0,25 Prozentpunkten im Juli zu unter-
      Euro und im PEPP auf 1698 Mrd. Euro und es
                                                                           nehmen und einen weiteren im September fol-
      ist beabsichtigt, alle auslaufenden Anleihen
                                                                           gen zu lassen. Für September hat die EZB einen
      durch Reinvestitionen zu ersetzen.1 Die Sonder-
                                                                           höheren Zinsschritt von 0,5 Prozentpunkten in
      konditionen der gezielten langfristigen Refinan-
                                                                           den Raum gestellt, sofern sie ihre Projektion für
      zierungsgeschäfte (TLTRO) laufen auch Ende
                                                                           die Inflationsrate in der mittleren Frist weiter
      Juni aus, sodass die Verzinsung der Kredite an
                                                                           nach oben anpassen muss. Nach dem zweiten
      Banken, bei Erfüllung der Vorgaben an die Kre-
                                                                           Schritt im September sieht die EZB einen
      ditvergabe an den privaten Sektor, von -1 Pro-
                                                                           „schrittweisen, aber nachhaltigen“ Zinspfad vor.
      zent wieder auf den Zinssatz der Einlagenfazili-
                                                                           Insgesamt gehen wir von nun vier Zinsschritten
      tät (-0,5 Prozent) steigt. Zurzeit belaufen sich
                                                                           in diesem Jahr aus. Der Hauptrefinanzierungs-

      1Dabei können die Reinvestitionen im PEPP flexibel
      angelegt werden, während für die Reinvestitionen im
      Rahmen des APP bisher der Kaptalschlüssel gilt.

                                                                                                                                         3
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 92 (2022|Q2)

      satz würde demnach am Ende des Jahres bei            von gut 7 Prozent zu. Dieses recht hohe Expan-
      1,25 Prozent liegen. Zwölf Monate später dürfte      sionstempo ist bereits seit einem Jahr zu be-
      er dann bei 2,5 Prozent liegen. Damit wird die       obachten und deutet weiterhin auf eine starke
      Geldpolitik merklich schneller gestrafft als noch    Nachfrage am Wohnungsmarkt hin. Das Volu-
      im Frühjahr absehbar war.                            men der Konsumentenkredite hat sich im Vor-
                                                           jahresvergleich kaum verändert, während sich
      Die Finanzierungskonditionen haben die Tal-
                                                           das Expansionstempo der Unternehmenskredite
      sohle durchschritten. Die Kapitalmarktzinsen
                                                           beschleunigt hat. Im April lag die Vorjahresrate
      haben schon auf das sich verändernde Zinsum-
                                                           bei 6,4 Prozent, nachdem die Rate in den ersten
      feld reagiert. Nach der Ankündigung des geldpo-
                                                           drei Monaten des Jahres durchschnittlich 5,2
      litischen Normalisierungspfads im Dezember
                                                           Prozent betrug. Auch die Kapitalmarktfinanzie-
      2021 haben sich die risikofreien Zinssätze seit
                                                           rung der Unternehmen expandierte weiter. Das
      Anfang des Jahres 2022 nach oben bewegt.
                                                           Volumen an ausstehenden Anleihen stieg im Ap-
      Dies hat sich auf die Zinsen am Kapitalmarkt
                                                           ril um 8 Prozent gegenüber dem Vorjahr, nach-
      übertragen. Die Umlaufsrendite für 10-jährige
                                                           dem in den ersten drei Monaten eine Rate von
      Bundesanleihen beträgt derzeit durchschnittlich
                                                           durchschnittlich 8,8 Prozent erreicht wurde. Das
      1,2 Prozent. Zum Anfang des Jahres lag die
                                                           Volumen der Bankkredite an die nichtfinanziel-
      Rendite noch bei rund -0,1 Prozent. Die Um-
                                                           len Unternehmen ist aber noch fast zweieinhalb-
      laufsrendite von inländischen Unternehmensan-
                                                           mal so hoch wie das der Anleihen.
      leihen belief sich zuletzt auf 3,25 Prozent, wäh-
      rend sie zu Anfang des Jahres noch bei 1,2 Pro-
      zent lag. Der Aufschlag gegenüber Bundesanlei-       Produktion
      hen mit vergleichbarer Laufzeit betrug 2,0 Pro-
                                                           Die Bruttowertschöpfung wird im Sommer-
      zentpunkte, während er Anfang des Jahres noch
                                                           halbjahr trotz heftigen Gegenwindes wohl zu-
      bei 1,3 Prozentpunkten lag. Aus den monatli-
                                                           nehmen. Insgesamt wird das Expansionstempo
      chen Daten zu den Darlehenszinsen für Haus-
                                                           jedoch deutlich geringer ausfallen, als wir in un-
      halte und Unternehmen lassen sich ähnliche
                                                           serer Frühjahrsprognose erwartet hatten. So hat
      Tendenzen ableiten. Die Zinsen für Wohnungs-
                                                           in den von der Pandemie besonders betroffenen
      baukredite mit einer anfänglichen Zinsbindung
                                                           Dienstleistungsbranchen anders als erwartet be-
      von 5 bis 10 Jahren beliefen sich im April auf 1,9
                                                           reits im ersten Quartal eine leichte Erholung ein-
      Prozent. Im Januar lagen sie mit 1,4 Prozent
                                                           gesetzt, so dass das Aufholpotenzial für die
      noch nah an dem historischen Tiefpunkt aus
                                                           Sommermonate geringer ist. Zudem sind die
      dem Mai 2021 von 1,3 Prozent. Bei Unterneh-
                                                           Verbraucherpreise stärker gestiegen als im
      menskrediten wurde im April ein Zins von 2,3
                                                           Frühjahr prognostiziert, so dass die Dynamik in
      Prozent bei Krediten mit einem Volumen von bis
                                                           den konsumnahen Dienstleistungsbranchen an-
      zu 1 Mill. Euro und 1,8 Prozent bei Krediten mit
                                                           gesichts der geschmälerten real verfügbaren
      einem Volumen von über 1 Mill. Euro erreicht.
                                                           Einkommen wohl niedriger sein wird. Die Frühin-
      Der Zins für Kredite mit einem Volumen von über
                                                           dikatoren deuten auf eine schwache Entwick-
      1 Mill. Euro lag zu Jahresanfang bei 1,5 Prozent
                                                           lung im zweiten Quartal hin. So ist das Ge-
      und ist somit in einem ähnlichen Umfang wie die
                                                           schäftsklima deutlich gesunken und die Einzel-
      Zinsen auf Wohnungsbaukredite gestiegen. Bei
                                                           handelsumsätze und die Industrieproduktion la-
      kleineren Unternehmenskrediten zeigt sich
                                                           gen im April merklich unterhalb des Niveaus vom
      diese Tendenz noch nicht. Vor dem Hintergrund
                                                           ersten Quartal. Einigen gängigen Prognosemo-
      der geldpolitischen Ausrichtung und den be-
                                                           dellen zufolge (Hauber 2018) könnte die Brutto-
      schriebenen Entwicklungen rechnen wir damit,
                                                           wertschöpfung im zweiten Quartal zurückgehen.
      dass sich der Zins auf 10-jährige Bundesanlei-
                                                           Insgesamt gehen wir aber von einem leichten
      hen weiter stetig nach oben anpasst und bis zum
                                                           Anstieg der Bruttowertschöpfung im zweiten
      Ende des Prognosezeitraums auf 2,7 Prozent
                                                           Quartal aus. Dafür spricht, dass die Eintrübung
      steigt.
                                                           des Geschäftsklimas vor allem auf die Erwar-
      Die Kreditexpansion setzte sich mit kräftigen        tungskomponente zurückgeht und die Unterneh-
      Raten fort. Im April legte das Volumen der Woh-      men ihre aktuelle Geschäftslage bis in den Mai
      nungsbaukredite erneut mit einer Vorjahresrate       hinein günstiger beurteilt haben als im ersten

                                                                                                                4
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 92 (2022|Q2)

      Quartal. Zudem zeichnet sich eine sehr kräftige          Belebung ab. Sofern neuerliche Belastungen
      Erholung bei den besonders von der Pandemie              ausbleiben, dürften die Lieferengpässe ab der
      gebeutelten kontaktintensiven Dienstleistungs-           zweiten Jahreshälfte allmählich nachlassen und
      branchen ab, die in gesamtwirtschaftlichen               die Produktion angesichts der guten Auftrags-
      Prognosemodellen nur schwer abgebildet wer-              lage bis an die Kapazitätsgrenze hochgefahren
      den können.2 In der zweiten Jahreshälfte dürfte          werden. Der hohe Auftragsbestand würde dabei
      die Bruttowertschöpfung in deutlich höherem              auch kurzfristige weitere Rückgänge bei den
      Tempo zulegen. Voraussetzung dafür ist, dass             Auftragseingängen – beispielsweise aufgrund
      die Lieferengpässe allmählich nachlassen und             der kriegsbedingten Unsicherheit oder der lan-
      sich so die nach wie vor gute Auftragslage der           gen Lieferzeiten – abfedern. Die maximalen Pro-
      Unternehmen in eine steigende Produktion über-           duktionskapazitäten dürften sich derzeit in etwa
      setzen kann. Auch gehen wir davon aus, dass              auf dem Produktionsniveau des Jahres 2018 be-
      sich die Erholung in den konsumnahen Dienst-             wegen, als die Industrie letztmals nahezu unter
      leistungsbranchen trotz der hohen Inflation fort-        Vollauslastung produzierte. Vor diesem Hinter-
      setzt.                                                   grund rechnen wir mit einem Anstieg der indust-
                                                               rielle Bruttowertschöpfung im laufenden Jahr
      Mit dem Nachlassen der Lieferengpässe wird
                                                               von 0,4 Prozent. Im Jahr 2023 dürfte sie um rund
      die Produktion im Verarbeitenden Gewerbe
                                                               9 Prozent steigen.
      rasch hochgefahren. Das Produktionsniveau
      im Verarbeitenden Gewerbe wird weiterhin                 In den konsumnahen Dienstleistungsbran-
      durch die Lieferengpässe bestimmt. Im April lag          chen wird sich die Erholung trotz der hohen
      die Industrieproduktion trotz der jüngsten kräfti-       Inflation fortsetzen. So deuten Frühindikato-
      gen Rückgänge der Auftragseingänge um rund               ren, wie Mobilitätsdaten oder Online-Buchun-
      10 Prozent unterhalb des Niveaus, dass ange-             gen, auf eine kräftige Erholung in den von der
      sichts der guten Auftragslage ohne Liefereng-            Pandemie besonders gebeutelten Branchen im
      pässe zu erwarten gewesen wäre (Beckmann                 zweiten Quartal hin. Diesen Indikatoren zufolge
      und Jannsen 2021; Beckmann et al. 2021). Zu-             dürften die Umsätze alleine im Gastgewerbe im
      dem haben sich aufgrund der Lieferengpässe               Mai um etwa 30 Prozent oberhalb des Niveaus
      mittlerweile zusätzliche Auftragsbestände im             vom ersten Quartal gelegen haben. Demgegen-
      Umfang von mehr als 15 Prozent einer Jahres-             über dürfte die Wertschöpfung im Bereich Han-
      produktion aufgetürmt. Nachdem gegen Ende                del zurückgehen; darauf deuten nicht zuletzt die
      des vergangenen Jahres eine Erholung bei der             schwachen Einzelhandelsumsätze im April hin.
      Industrieproduktion eingesetzt hatte, kam es zu-         Im weiteren Verlauf wird die Wertschöpfung in
      letzt zu einem neuerlichen Rückschlag, da sich           den konsumnahen Dienstleistungsbranchen
      die Lieferengpässe kriegsbedingt wieder ver-             zwar aufwärtsgerichtet sein, allerdings hinter
      schärft hatten. Im zweiten Quartal dürfte sich die       ihre Vorkrisentrends zurückfallen, da sich die
      Produktion in etwa auf dem im April verzeichne-          real verfügbaren Einkommen aufgrund der ho-
      ten Niveau bewegen, so dass die Bruttowert-              hen Inflation deutlich schwächer entwickeln als
      schöpfung im Verarbeitenden Gewerbe im zwei-             vor der Pandemie. Die Wertschöpfung bei den
      ten Quartal wohl um etwa 2 Prozent niedriger             unternehmensnahen Dienstleistern dürfte dem-
      ausfällt als im ersten Quartal. Zwar dürften sich        gegenüber mit der Erholung im Verarbeitenden
      die fehlenden Vorleistungen aufgrund der Pro-            Gewerbe deutlich zulegen.
      duktionsstörungen in China angesichts der Lie-
      ferzeiten wohl erst im Mai und Juni voll bemerk-
      bar machen. Jedoch zeichnet sich im Automobil-
      bau, der im März aufgrund ausbleibender Zulie-
      ferungen aus der Ukraine deutlich zurückgefah-
      ren wurde, bereits wieder eine spürbare

      2 Dies liegt daran, dass für diese Branchen nur wenig    hatten. Neuere Frühindikatoren, wie Mobilitäts- oder
      belastbare Frühindikatoren für lange Zeiträume vorlie-   Buchungsdaten liegen zudem nur für sehr kurze Zeit-
      gen und diese Branchen vor der Pandemie einen ge-        räume vor, so dass sie schwerer anhand von Zeitrei-
      ringeren Einfluss auf konjunkturelle Schwankungen        henmodellen ausgewertet werden können.

                                                                                                                      5
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 92 (2022|Q2)

      Außenhandel                                         Entwicklung der Warenimporte an. Dagegen
                                                          dürfte sich die Erholung der Dienstleistungsim-
      Das Exportgeschäft wird nach wie vor von
                                                          porte fortgesetzt haben. Im zweiten Halbjahr
      Lieferengpässen bestimmt. Im ersten Quartal
                                                          steigen die Importe wieder dynamischer, da sich
      gingen die Exporte erwartungsgemäß zurück,
                                                          dann die heimische Nachfrage nach Investitions-
      wofür nicht zuletzt die Invasion Russlands in die
                                                          gütern belebt und die Normalisierung der Dienst-
      Ukraine verantwortlich war. So brachen die Lie-
                                                          leistungsimporte weiter fortschreitet. Insgesamt
      ferungen nach Russland, die vor Ausbruch des
                                                          dürften die Importe im Jahr 2022 um 6,6 Prozent
      Krieges einen Anteil von 2 Prozent an den ge-
                                                          steigen. Für das Jahr 2023 rechnen wir mit ei-
      samten Warenexporten hatten, im März gegen-
                                                          nem Anstieg um 5,6 Prozent.
      über dem Vormonat um rund 60 Prozent ein. Zu-
      dem belasteten ausbleibende Lieferungen von         Der Krieg in der Ukraine verschärft den Preis-
      Vorprodukten aus den Kriegsländern die Pro-         auftrieb im Außenhandel, die stark ver-
      duktion und die Exporte, insbesondere in der Au-    schlechterten Terms-of-Trade erholen sich
      tomobilbranche. Im laufenden Quartal dürften        im Prognosezeitraum kaum. Im ersten Quartal
      die Exporte verhalten gestiegen sein. So waren      setzte sich die hohe Preisdynamik im Außen-
      die preisbereinigten Monatsdaten im Spezial-        handel fort. Die Terms of Trade verschlechterten
      handel im April wieder aufwärtsgerichtet, und die   sich weiter, wenngleich aufgrund der zunehmen-
      Exporterwartungen im Verarbeitenden Gewerbe         den Dynamik bei den Exportpreisen weniger
      haben sich nach ihrem Absturz im März auf-          stark als zum Jahresende 2021. Die Preissteige-
      grund des Schocks durch den Kriegsausbruch          rungen bei Rohstoffen infolge des Krieges dürf-
      wieder etwas verbessert. Gleichzeitig haben die     ten sich im laufenden Quartal in den VGR zei-
      produktionsbehindernden Engpässe wohl kaum          gen. So deuten die monatlichen Preise im Au-
      nachgelassen, auch weil wegen des Lockdowns         ßenhandel auf eine nochmalige Zunahme der
      in Teilen Chinas Lieferungen im Mai und Juni        Preisdynamik und eine weitere Verschlechte-
      ausgeblieben sein dürften. Die fortschreitende      rung der Terms of Trade hin. Im weiteren Verlauf
      Erholung der Dienstleistungsexporte von der         nimmt der Preisauftrieb gegeben unserer Wech-
      Pandemie dürfte dagegen gestützt haben. Im          selkurs- und Rohstoffpreisannahmen allmählich
      weiteren Verlauf steigen die Exporte kräftig.       ab. Im kommenden Jahr werden bei leicht rück-
      Zwar hat sich das weltwirtschaftliche Umfeld zu-    läufigen Ölpreisen die Exportpreise etwas stär-
      letzt weiter eingetrübt (Gern et al. 2022), aber    ker steigen als die Importpreise. Die Verschlech-
      das Exportgeschäft wird von seinem hohen Auf-       terung der Terms of Trade wird mit 3,9 Prozent
      tragsbestand profitieren, sobald die Liefereng-     im laufenden Jahr wohl weniger stark ausfallen,
      pässe nachlassen. Alles in allem rechnen wir mit    als noch in unserer Frühjahrsprognose erwartet.
      einem Anstieg von 3,4 Prozent im laufenden          Maßgeblich ist, dass die Exportpreise zuletzt
      Jahr, gefolgt von 6,5 Prozent im Jahr 2023.         deutlicher gestiegen sind als prognostiziert. Im
                                                          kommenden Jahr werden sich die Terms-of-
      Die Importe entfalten vorübergehend recht
                                                          Trade um 0,3 Prozent verbessern.
      wenig Dynamik. Im ersten Quartal verlang-
      samte sich die Erholung bei den Einfuhren. Wie
      in unserer Frühjahrsprognose erwartet, wurden       Heimische Absorption
      weniger Waren – vor allem Investitionsgüter –       Die Kaufkraft der verfügbaren Einkommen
      aus dem Ausland bezogen als im Schlussquartal
                                                          wird massiv durch die hohe Inflation belastet.
      des vergangenen Jahres. Dagegen stiegen die
                                                          Die verfügbaren Einkommen der privaten Haus-
      Importe von Dienstleistungen überaus kräftig        halte werden nominal im laufenden Jahr um vo-
      und verhinderten so einen Rückgang der Im-
                                                          raussichtlich 5,7 Prozent und in 2023 um 4,6
      porte insgesamt. Eine schwungvolle Aufwärts-
                                                          Prozent kräftig steigen, nachdem sie im Jahr
      bewegung bei den Dienstleistungen, insbeson-        2020 krisenbedingt kaum mehr als stagniert hat-
      dere im Reiseverkehr, hatten wir erst im Som-
                                                          ten und im vergangenen Jahr eine vorsichtige
      merhalbjahr verortet. Im laufenden Quartal sind
                                                          Erholung eingesetzt hat. So werden die Brutto-
      die gesamten Importe wohl abermals verhalten        löhne und -gehälter mit der sich fortsetzenden
      gestiegen. So zeigen die preisbereinigten Daten
                                                          Besserung am Arbeitsmarkt in deutlich
      zum Spezialhandel im April eine schwache

                                                                                                              6
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 92 (2022|Q2)

      erhöhtem Tempo zulegen. Auch die Unterneh-              gaben kaum mehr als stagniert haben. Zwar
      mens- und Vermögenseinkommen der privaten               deuten Frühindikatoren, wie die Mobilitätsdaten
      Haushalte, die sich im Jahr 2021 noch deutlich          oder Online-Buchungen bei Gaststätten, darauf
      unterhalb ihres Vorkrisenniveaus befanden, wer-         hin, dass sich die Erholung in den kontaktinten-
      den mit der gesamtwirtschaftlichen Erholung             siven Dienstleistungsbranchen im zweiten Quar-
      spürbar steigen. Die monetären Sozialleistun-           tal in deutlich beschleunigtem Tempo fortgesetzt
      gen werden im laufenden Jahr trotz des Rück-            hat. Neben dem merklich eingetrübten Konsum-
      gangs der Kurzarbeit deutlich mit 3,5 Prozent zu-       klima der privaten Haushalte spricht jedoch ins-
      legen – wegen der starken Rentenanpassung               besondere der Rückschlag bei den Einzelhan-
      zur Jahresmitte und der zusätzlichen Transfers          delsumsätzen im April für eine schwache Ent-
      aus den Entlastungspaketen wie der Energie-             wicklung. Zum Teil dürften sich hier die hohen
      preispauschale. Mit Wegfall dieser Entlastungs-         Energiepreissteigerungen der Vormonate be-
      pakete stellt sich im kommenden Jahr ein Plus           merkbar gemacht haben, zumal sich die Einzel-
      von 2,6 Prozent ein. Der hohe Preisauftrieb – im        handelsumsätze während der Pandemie robust
      laufenden Jahr dürfte der Deflator der privaten         entwickelt hatten und hier keine pandemiebe-
      Konsumausgaben um mehr als 7 Prozent stei-              dingte Erholung aussteht. Zum Teil dürften sie
      gen und im kommenden Jahr um etwa 4 Prozent             allerdings auch Resultat der lebhaften Erholung
      – belastet die Kaufkraft der verfügbaren Einkom-        beim Gastgewerbe widerspiegeln, sind doch die
      men jedoch massiv. Im laufenden Jahr werden             Umsätze bei Lebensmitteln besonders deutlich
      die real verfügbaren Einkommen deshalb noch-            zurückgegangen. Im weiteren Verlauf dürften die
      mals deutlich zurückgehen, bevor sie im kom-            privaten Konsumausgaben mit höheren Raten
      menden Jahr steigen. Insgesamt werden sie im            zulegen, da sich die Erholung von der Pandemie
      Jahr 2023 deutlich niedriger ausfallen als vor Be-      fortsetzt und die privaten Haushalte nach der
      ginn der Pandemie.                                      Konsumzurückhaltung während der Pandemie
                                                              Nachholbedarf haben. Zum Teil speist sich die
      Die Kaufkraftverluste dämpfen die Erholung
                                                              Erholung beim privaten Konsum aus den wäh-
      des privaten Konsums. Die Erholung infolge
                                                              rend der Pandemie zusätzlich angehäuften Er-
      des nachlassenden Pandemiegeschehens fällt
                                                              sparnissen in Höhe von rund 200 Mrd. Euro bzw.
      verhaltener aus als in früheren Pandemiewellen.
                                                              rund 10 Prozent der jährlichen verfügbaren Ein-
      Maßgeblich ist die hohe Inflation, die die Kauf-
                                                              kommen. Wir gehen wie im Frühjahr davon aus,
      kraft der verfügbaren Einkommen deutlich ver-
                                                              dass die privaten Haushalte im Jahr 2023 etwa
      ringert. Insgesamt gehen wir nun von einer deut-
                                                              20 Prozent dieser zusätzlichen Ersparnisse für
      lich langsameren Erholung aus als in unserer
                                                              Konsumausgaben aufwenden.3 Die Sparquote
      Frühjahrsprognose. Erstens setzte bereits im
                                                              wird demzufolge im Jahr 2023 mit 9,1 Prozent ihr
      ersten Quartal eine leichte Erholung ein – im
                                                              Vorkrisenniveau deutlich unterschreiten.
      Frühjahr waren wir von einem weiteren pande-
      miebedingten Rückschlag ausgegangen – und               Die Unternehmen werden ihre Investitionen
      auch der Rückgang im vierten Quartal wird vom           trotz erhöhter Unsicherheit kräftig auswei-
      Statistischen Bundesamt mittlerweile geringer           ten. Das Investitionsumfeld hat sich zuletzt ein-
      ausgewiesen als vor drei Monaten, so dass das           getrübt, da sich die Unsicherheit bezüglich der
      Aufholpotenzial insgesamt geringer ist. Zweitens        Absatzaussichten durch den Krieg in der Ukra-
      machen sich die Preiserhöhungen offenbar erst           ine und die hohe Inflation erhöht hat. In der Folge
      jetzt beim privaten Konsum stärker bemerkbar;           sind die inländischen Auftragseingänge für In-
      im Frühjahr waren wir davon ausgegangen, dass           vestitionsgüter zuletzt zurückgegangen. Für das
      sie bereits im ersten Quartal merklich dämpfen.         zweite Quartal deuten die Frühindikatoren, wie
      Drittens sind die real verfügbaren Einkommen            die Inlandsumsätze und die Produktion der In-
      deutlich niedriger als von uns im Frühjahr erwar-       vestitionsgüterhersteller, auf einen deutlichen
      tet, weil die Verbraucherpreise stärker gestiegen       Rückgang der Ausrüstungsinvestitionen hin.
      sind. Im zweiten Quartal dürften die Konsumaus-         Maßgeblich dürfte vor allem die jüngste

      3 Diese Annahme steht im Einklang mit Verbraucher-      Konsumzwecke zu verwenden (Deutsche Bundes-
      befragungen, denen zufolge die privaten Haushalte       bank 2022).
      planen, einen Teil ihrer zusätzlichen Ersparnisse für

                                                                                                                    7
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      Zunahme der Lieferengpässe sein, die die In-             mittelfristig hoch bleiben. Da die Bauaktivität in
      dustrieproduktion stört.4 Sobald die Liefereng-          den vergangenen Jahren vor allem durch die
      pässe allmählich nachlassen – wir rechnen da-            Produktionskapazitäten bei den Unternehmen
      mit ab der Jahresmitte – dürften die Ausrüs-             beschränkt wurde, würde sich eine – angesichts
      tungsinvestitionen in hohem Tempo ausgeweitet            der schlechteren Finanzierungsbedingungen
      werden. Dafür spricht, dass sich die Auftragsein-        und höheren Baukosten – geringere Nachfrage
      gänge trotz der jüngsten Rückgänge immer noch            zudem zunächst vor allem bei den Preisen und
      in etwa auf ihrem Vorkrisenniveau befinden,              weniger beim Bauvolumen bemerkbar machen.
      während die Ausrüstungsinvestitionen noch                Insgesamt rechnen wir deshalb damit, dass die
      deutlich unter dem Vorkrisenniveau liegen. Zu-           Bauinvestitionen in einem ähnlichen Tempo wie
      dem hat sich seit Beginn der Pandemie der in-            – durchschnittlich – in den vergangenen Jahren
      ländische Auftragsbestand für Investitionsgüter          ausgeweitet werden. Der Deflator der Bauinves-
      um etwa 40 Prozent erhöht. Mittelfristig haben           titionen dürfte in diesem Jahr mit knapp 12 Pro-
      sich die Wachstumsaussichten durch die Pande-            zent so stark steigen wie nie zuvor im wiederver-
      mie zudem wohl kaum eingetrübt (Ademmer et               einigten Deutschland. Für das Jahr 2023 rech-
      al. 2021: Kasten 1), so dass sich der Investitions-      nen wir mit einem Anstieg von 4,7 Prozent.
      bedarf von dieser Seite her kaum verringert hat.
      Durch die hohen Energiepreise und die Maßnah-
                                                               Verbraucherpreise
      men zur Dekarbonisierung der Produktion dürfte
      der Investitionsbedarf zudem für viele Unterneh-         Der hohe Preisdruck hält an. Der Preisdruck ist
      men eher zunehmen. Vor diesem Hintergrund                bereits seit einiger Zeit breit angelegt (Boysen-
      gehen wir davon aus, dass die Ausrüstungsin-             Hogrefe et al. 2022: Kasten 2). Er geht inzwi-
      vestitionen im laufenden Jahr um etwa 2 Prozent          schen deutlich über die Verteuerung von Ener-
      und im Jahr 2023 um rund 13 Prozent steigen              gie und Nahrungsmitteln hinaus, dementspre-
      werden. Zusätzlich angeschoben werden die                chend zog auch die Kernrate weiter an. Die ho-
      Ausrüstungsinvestitionen dabei auch von den              hen Preissteigerungen auf den vorgelagerten
      deutlich höheren Rüstungsausgaben, die im                Produktionsstufen seit Mitte des vergangenen
      Jahr 2023 etwa 4 Prozentpunkte zur Zuwachs-              Jahres werden erst nach und nach an die Ver-
      rate beitragen dürften.                                  braucher weitergegeben und halten den Preis-
                                                               auftrieb auf der Verbraucherstufe auch in den
      Die Bauinvestitionen sind in der Tendenz
                                                               kommenden Monaten hoch (Boysen-Hogrefe
      deutlich aufwärtsgerichtet. Die Bedingungen
                                                               2022). Durch den Krieg in der Ukraine haben
      für Bauvorhaben haben sich zuletzt eingetrübt.
                                                               sich die ohnehin schon bestehenden Liefereng-
      So wird die Bauproduktion weiterhin durch Ma-
                                                               pässe nochmals verschärft. Das dadurch weiter-
      terialengpässe spürbar behindert, und die Mate-
                                                               hin verknappte Angebot trifft auf eine starke
      rialkosten sind in diesem Zuge sprunghaft ge-
                                                               Nachfrage seitens der Haushalte. Durch die
      stiegen. Zudem sind die Hypothekenzinsen ge-
                                                               staatlichen Stabilisierungsmaßnahmen der Ein-
      stiegen. Die Frühindikatoren deuten auf einen
                                                               kommen und die eingeschränkten Konsummög-
      spürbaren Rückgang der Bauinvestitionen im
                                                               lichkeiten während der Pandemie haben sich zu-
      zweiten Quartal hin. Dazu dürften die Material-
                                                               sätzliche Ersparnisse von rund 200 Mrd. Euro
      engpässe und das Aussetzen von Bauvorhaben
                                                               angehäuft. Diese erhöhen nun die Zahlungsbe-
      aufgrund der stark gestiegenen Kosten beitra-
                                                               reitschaft seitens der Verbraucher, zumal sie
      gen. Sobald wieder mehr Material verfügbar
                                                               über längere Zeit auf ihren gewohnten Konsum
      wird, werden die Bauinvestitionen voraussicht-
                                                               verzichten mussten.
      lich wieder deutlich zunehmen. So ist die Auf-
      tragslage nach wie vor gut, und die Baugeneh-            Die aktuellen Inflationsraten befinden sich
      migungen sind zuletzt deutlich gestiegen. Insge-         auf historisch hohen Niveaus. Im Mai erreichte
      samt wird der Bedarf an Bauvorhaben wohl                 die Inflationsrate mit 7,9 Prozent nahezu einen

      4 Zwar sind die Lieferengpässe in vielen Lieferländern   tionen zuletzt bei rund 1/3, so dass die hiesigen Lie-
      deutlich weniger ausgeprägt als in Deutschland. Aller-   ferengpässe die Investitionstätigkeit deutlich bremsen
      dings lag der Anteil der direkten Importe bei den Aus-   dürften.
      rüstungsinvestitionen und sonstigen Anlageinvesti-

                                                                                                                        8
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      Rekordwert seit Erfassung der Daten. Raten von        Impulse auf die Inflationsrate mehr ausgehen,
      über 7 Prozent, wie sie seit März zu verzeichnen      wird die Inflation wohl auf 4,2 Prozent sinken.
      sind, liegen über denen im Wiedervereinigungs-
      boom und auf dem Niveau während der Ölkrisen
                                                            Arbeitsmarkt
      in den Jahren 1973/74 und 1981. Die Kernrate
      (ohne Energie) betrug im Mai 4,5 Prozent, nach        Die Löhne und Gehälter steigen so stark wie
      4,3 und 3,6 Prozent im April und März. Auch die       seit 30 Jahren nicht mehr, werden aber wohl
      Preise für Energie zogen weiterhin deutlich an.       hinter den Verbraucherpreisanstiegen zu-
      Im Mai verteuerten sie sich um 38,3 Prozent ge-       rückbleiben. Für das Jahr 2022 stehen die Ta-
      genüber dem Vorjahr. Die Beiträge der Energie-        rifverdienste weitestgehend fest. Die anstehen-
      komponenten auf die Verbraucherpreise sind            den Verhandlungen in der gewichtigen Metall-
      derzeit sehr hoch. Im Mai ließen allein Kraftstoffe   und Elektroindustrie werden das Jahresergebnis
      und Heizöl die Inflationsrate um 1,4 und 0,9 Pro-     kaum beeinflussen, da sie erst im Herbst begin-
      zentpunkte steigen. Die Verteuerung von Strom         nen. Gleiches gilt für die chemische Industrie, in
      und Gas trug weitere 0,6 und 1 Prozentpunkte          der im April eine Einmalzahlung und eine Fort-
      bei. Der Beitrag der Energiekomponente zur In-        setzung der Verhandlungen im Herbst vereinbart
      flationsrate lag im April bei 3,7 Prozentpunkten      wurden. Angesichts der vorliegenden Ab-
      und erhöhte sich im Mai auf 4 Prozentpunkte.          schlüsse werden die Tarifverdienste in diesem
      Ein Beitrag in dieser Größenordnung zeichnet          Jahr voraussichtlich um 2,8 Prozent zulegen.
      sich auch für den Juni ab. Entspannungen im           Damit steigen sie zwar deutlich stärker als im
      Bereich der Energie würden zunächst bei Kraft-        vergangenen Jahr, als der Zuwachs mit 1,6 Pro-
      stoffen und Heizöl auftreten, wenn die Rohöl-         zent krisenbedingt gering ausfiel, allerdings weit-
      preise entsprechend unserer Annahme ab dem            aus schwächer als die Verbraucherpreise. Für
      dritten Quartal des laufenden Jahres leicht sin-      die anstehenden Tarifverhandlungen im Progno-
      ken. Für Strom und Gas ist aufgrund der länger-       sezeitraum gehen wir von Abschlussraten zwi-
      fristigen Verträge auf der Verbraucherebene mit       schen 4 und 5 Prozent aus. Allerdings stehen in
      einem allmählichen Überwälzungsprozess zu             einer Reihe von Branchen die Tarifverdienste
      rechnen. Einige Sonderfaktoren dürften indes          auch für das kommende Jahr bereits ganz oder
      dämpfend auf die Inflation wirken. Die Abschaf-       größtenteils fest (Bauhauptgewerbe, privates
      fung der EEG-Umlage ab Juli wird die Inflations-      Transport- und Verkehrsgewerbe, Gebäuderei-
      rate im zweiten Halbjahr um etwa 0,3 Prozent-         nigerhandwerk, Bankgewerbe, Versicherungs-
      punkte senken (Einfluss auf die Jahresrate: -         gewerbe, Druckindustrie, Holz und Kunststoff
      0,15 Prozentpunkte). Das 9-Euro-Ticket dürfte         verarbeitenden Industrie; öffentlicher Dienst der
      die Inflationsrate ab Juni für drei Monate um         Länder bis September 2023, Einzelhandel sowie
      etwa 0,4 Prozentpunkte drücken (Einfluss auf          Groß- und Außenhandel bis April 2023). Auf-
      die Jahresrate: -0,1 Prozentpunkte). Bei voller       grund dieser weit ins Jahr reichenden Tarifver-
      Weitergabe würde der Tankrabatt mit rund 17           träge und auf Basis der unterstellten Abschluss-
      Cent auf Diesel und 36 Cent auf Benzin die In-        raten für neue Tarifverträge ergibt sich für das
      flationsrate um etwa 0,5 Prozentpunkte von Juni       Jahr 2023 ein Anstieg der Tarifverdienste von
      bis August senken (Einfluss auf die Jahresrate: -     3,8 Prozent; dies wäre der höchste Zuwachs seit
      0,125 Prozentpunkte). Das Ausmaß der tatsäch-         dem Jahr 1995.
      lichen Weitergabe ist allerdings nicht beobacht-      Die    gesamtwirtschaftlichen         Effektivver-
      bar. Die Kraftstoffpreise sind bislang kaum zu-       dienste (Bruttolöhne und -gehälter je Arbeit-
      rückgegangen, wozu aber wohl auch höhere Be-          nehmer) werden spürbar schneller steigen
      schaffungspreise beigetragen haben. Alles in al-      als die Tarifverdienste. Die Lohndrift beträgt
      lem wird die Inflation angesichts der preistrei-      unserer Prognose zufolge 2 Prozentpunkte im
      benden Rahmenbedingungen voraussichtlich              Jahr 2022 und 1,2 Prozentpunkte im Jahr 2023.
      noch für einige Zeit auf sehr hohem Niveau lie-       Während im laufenden Jahr das deutlich gerin-
      gen. Im Jahr 2022 dürfte der Verbraucherpreis-        gere Ausmaß der Kurzarbeit im Vergleich zum
      anstieg mit rund 7,4 Prozent sehr hoch ausfallen.     Vorjahr maßgeblich ist (Beitrag von 1,7 Prozent-
      Im Jahr 2023, wenn die Lieferengpässe nachlas-        punkten zur Lohndrift), spielt mit fortscheitender
      sen und von den Rohölpreisen keine weiteren

                                                                                                                  9
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 92 (2022|Q2)

      Zeit der höhere allgemeine Preisauftrieb und der          Beschäftigungsbarometer und das IAB-Arbeits-
      dadurch steigende Verteilungsspielraum eine               marktbarometer befinden sich am aktuellen
      zunehmend wichtigere Rolle. Zudem haben Ar-               Rand auf hohen Niveaus, was auf einen robus-
      beitskräfteknappheiten      einen    historischen         ten Beschäftigungszuwachs für das zweite und
      Höchststand erreicht; mittlerweile beklagen               dritte Quartal hindeutet. Im weiteren Verlauf des
      knapp 40 Prozent der Unternehmen, dass Ar-                Prognosezeitraums dürfte das Tempo allerdings
      beitskräftemangel ein Produktionshindernis dar-           abnehmen. Die Erholung der Erwerbstätigkeit
      stellt. Die Erhöhung des gesetzlichen Mindest-            von der Corona-Krise wird dann weit vorange-
      lohns auf 12 Euro brutto je Stunde zum 1. Okto-           schritten sein. Zudem wird zum 1. Oktober 2022
      ber 2022 erhöht die effektiven Stundenver-                der gesetzliche Mindestlohn auf 12 Euro je
      dienste unseren Schätzungen zufolge ceteris               Stunde erhöht. Angesichts der hohen Eingriffsin-
      paribus um 0,9 Prozent (Ademmer et al. 2022:              tensität gehen wir von Beschäftigungsverlusten
      Kasten 3). Hinzu kommt ein Kompositionseffekt             aus, die sich nach und nach materialisieren und
      von 0,4 Prozentpunkten aufgrund eines Stellen-            so den Anstieg der Erwerbstätigkeit dämpfen
      verlusts und eines Rückgangs der Arbeitszeit              werden (Ademmer et al. 2022: Kasten 3).
      der betroffenen Arbeitnehmer, die wir infolge der         Schließlich wird sich im kommenden Jahr be-
      Mindestlohnerhöhung erwarten. Der Rückgang                merkbar machen, dass das Arbeitskräfteange-
      der Arbeitszeit führt auch dazu, dass die Monats-         bot alterungsbedingt wohl seinen Zenit erreichen
      verdienste je Arbeitnehmer weniger stark stei-            wird. Die Fluchtmigration aus der Ukraine dürfte
      gen als die Stundenverdienste. Im laufenden               sich bei der Erwerbstätigkeit erst allmählich be-
      Jahr beträgt der Effekt der Mindestlohnerhöhung           merkbar machen. Die Auswirkungen auf die Ar-
      auf den Anstieg der Pro-Kopf-Verdienste unse-             beitslosigkeit werden hingegen wohl deutlich frü-
      rer Prognose zufolge 0,2 Prozentpunkte, im                her sichtbar werden; die Zahl der Arbeitslosen
      kommenden Jahr 0,6 Prozentpunkte. Alles in al-            mit ukrainischer Staatsangehörigkeit ist im Mai
      lem dürften die Effektivverdienste je Arbeitneh-          bereits sprunghaft gestiegen.6
      mer um 4,8 Prozent (2022) bzw. 5,0 Prozent
                                                                Die Stundenproduktivität schwächelt im lau-
      (2023) sehr kräftig zulegen.
                                                                fenden Jahr. Die kräftige Erholung am Arbeits-
      Die Erholung der Erwerbstätigkeit von der                 markt führt dazu, dass die Zahl der Erwerbstäti-
      Corona-Krise setzt sich ungeachtet des                    gen im Durchschnitt des laufendenden Jahres
      Kriegs in der Ukraine fort. Der Ausbruch des              deutlich über dem Niveau des Vorjahres liegen
      Kriegs in der Ukraine hat bislang kaum Spuren             wird (1,5 Prozent). Die Arbeitszeit je Erwerbstä-
      am Arbeitsmarkt hinterlassen. Die Kurzarbeit              tigen steigt ebenfalls (0,8 Prozent), vor allem
      (Beschäftigtenäquivalent) sank zwischen Januar            weil die Kurzarbeit im laufenden Jahr auf einem
      und März – nach einem geringfügigen Anstieg               viel niedrigeren Niveau liegt als im vergangenen
      um die Jahreswende –, und die ifo Schätzung               Jahr. In der Summe steigt das gesamtwirtschaft-
      auf Basis von Unternehmensbefragungen deutet              liche Arbeitsvolumen der Erwerbstätigen somit
      für April und Mai auf einen fortgesetzten Abbau           sehr kräftig um 2,3 Prozent. Für das laufende
      hin. Die Zahl der Erwerbstätigen erholte sich bis         Jahr zeichnet sich daher eine schwache Arbeits-
      April ungebremst weiter und überschritt erstmals          produktivität je Stunde ab; in unserer Prognose
      das Niveau aus der Vor-Corona-Zeit zu Beginn              sinkt sie um 0,3 Prozent. Ein Grund hierfür
      des Jahres 2020.5 Die Arbeitslosigkeit sank bis           könnte sein, dass in diesem Jahr die Erholung
      Mai weiter und lag ebenfalls wieder auf Vorkri-           von der Pandemie nicht zuletzt aufgrund der
      senniveau. Frühindikatoren wie das ifo                    wirtschaftlichen Folgen des Kriegs in der Ukraine

      5 Vom kontrafaktischen Niveau ohne Corona-Krise           uns an den Annahmen von Gartner et al. (2022) bzgl.
      dürfte die Erwerbstätigkeit freilich noch ein ganzes      des Anteils der Personen im erwerbsfähigen Alter (45
      Stück weit entfernt sein.                                 Prozent), der Erwerbsbeteiligung (60 Prozent), der
      6 Wir nehmen an, dass die Zahl der Geflüchteten aus       Beteiligung an Kursen und arbeitsmarktpolitischen
      der Ukraine in Deutschland im Jahresdurchschnitt          Maßnahmen (90 Prozent) sowie der monatlichen Ab-
      2022 rund 500 000 Personen und im Jahresdurch-            gangsrate aus Arbeitslosigkeit in Beschäftigung (5
      schnitt 2023 knapp 800 000 Personen beträgt. Um die       Prozent).
      Folgen für den Arbeitsmarkt abzuleiten, orientieren wir

                                                                                                                       10
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      schwächer ausfällt als erwartet, die Unterneh-     Vorjahr, unter anderem weil zwar weiterhin Mittel
      men angesichts der rekordhohen Arbeitskräfte-      aus dem NextGenerationEU-Programm an
      knappheit allerdings in starkem Ausmaß an ih-      Deutschland fließen, diese aber deutlich weniger
      ren Beschäftigten festhalten, zumal der Auf-       stark zulegen als im Vorjahr.
      tragsbestand hoch ist. Die Arbeitsproduktivität
                                                         Der Ausgabenanstieg legt im laufenden Jahr
      wird zudem durch einen – wenn auch geringen
                                                         eine Pause ein. Maßgeblich ist ein scharfer
      – Kompositionseffekt gedämpft, da sich die Wirt-
                                                         Rückgang der Subventionen, die sich nahezu
      schaftsbereiche mit einer unterdurchschnittli-
                                                         halbieren. Insbesondere Unternehmenshilfen im
      chen Arbeitsproduktivität (Dienstleistungen)
                                                         Zuge der Corona-Pandemie entfallen, so unter
      stärker expandieren als die mit einer überdurch-
                                                         anderem die Erstattungen von Sozialbeiträgen
      schnittlichen Arbeitsproduktivität (Verarbeiten-
                                                         durch die Bundesagentur für Arbeit im Rahmen
      des Gewerbe).
                                                         der Kurzarbeit. In Aussicht gestellte Unterneh-
                                                         menshilfen für von Energiepreisanstiegen be-
      Öffentliche Finanzen                               sonders betroffenen Unternehmen werden dies
                                                         nicht aufwiegen. Ebenfalls dürften die Gütersub-
      Die jüngsten Zahlen zu den öffentlichen Fi-
                                                         ventionen sinken, da durch den hohen Strom-
      nanzen haben positiv überrascht. Insbeson-
                                                         preis staatliche Hilfen zur Deckelung bzw. Ab-
      dere die umsatz- und gewinnabhängigen Steu-
                                                         schaffung der EEG-Umlage geringer ausfallen
      ereinnahmen sind in den ersten Monaten des
                                                         als im Vorjahr. Bei den Vermögenstransfers
      Jahres kräftig gestiegen. Im ersten Quartal war
                                                         zeichnet sich ein leichter Rückgang ab. Zwar ist
      der Budgetsaldo des Gesamtstaates laut VGR
                                                         in der Tendenz angesichts von Investitionszu-
      nahezu ausgeglichen. In den kommenden Quar-
                                                         schüssen in den Bereichen Klimaschutz und Di-
      talen kommt es zwar durch die Entlastungspa-
                                                         gitalisierung mit einem merklichen Plus zu rech-
      kete, die kräftige Rentenanhebung zum 1. Juli
                                                         nen, doch entfallen im laufenden Jahr die Eigen-
      und zusätzliche Ausgaben im Zuge der Flucht-
                                                         kapitalhilfen an die Deutsche Bahn und Aus-
      migration aus der Ukraine zu Mehrausgaben,
                                                         gleichszahlungen an die Betreiber von Kern-
      doch entfallen auch Belastungen, die im Zuge
                                                         kraftwerken. Deutlich aufwärtsgerichtet sind hin-
      der Corona-Pandemie aufgetreten sind, so dass
                                                         gegen die Investitionsausgaben, unter anderem
      der Fehlbetrag im laufenden Jahr deutlich nied-
                                                         weil Erdgaslagerbestände aufgestockt werden.
      riger ausfallen dürfte als im Jahr 2021.
                                                         Ebenso dürften die monetären Sozialleistungen
      Die Einnahmen des Staates legen deutlich           trotz des Rückgangs der Kurzarbeit und der Ar-
      zu, wenn auch mit geringerem Tempo als im          beitslosigkeit sowie eines geringeren Kinderbo-
      Jahr 2021. Die Steuereinnahmen profitieren von     nus als im Jahr 2021 stärker steigen, da zum 1.
      dem deutlichen Plus der nominalen Konsumaus-       Juli die Renten kräftig angehoben werden und
      gaben und dem robusten Arbeitsmarkt. Zudem         eine Energiepreispauschale in Höhe von 300
      gehen wir davon aus, dass die Unternehmens-        Euro für Erwerbstätige ausgereicht wird. Zudem
      steuern weiter stärker zunehmen als die gesamt-    gibt es Einmalzahlungen für Empfänger von
      wirtschaftlichen Gewinngrößen. Gedämpft wird       Transfereinkommen. Ferner fallen zusätzliche
      der Anstieg von der temporären Absenkung der       Hilfszahlungen für Flüchtlinge aus der Ukraine
      Energiesteuersätze für Benzin und Diesel sowie     an. Durch die zusätzliche Fluchtmigration dürf-
      den Anhebungen des Grundfreibetrags in der         ten zudem Ausgaben für Vorleistungen weiter
      Einkommensteuer, der Pendlerpauschale für          zulegen, obwohl diverse pandemiebezogene
      Fernpendler und der Werbungskostenpau-             Ausgaben wohl entfallen. Insgesamt werden die
      schale. Nur unwesentlich schwächer dürfte das      Ausgaben des Staates im Jahr 2022 nur sehr
      Plus bei den Sozialversicherungseinnahmen          verhalten steigen, freilich nach deutlichen Zu-
      sein, die ebenfalls von der Erholung am Arbeits-   wächsen in den beiden Vorjahren.
      markt profitieren. Zugleich wurden die Beitrags-
                                                         Im Jahr 2023 dauert der Einnahmeanstieg un-
      sätze in der Pflegeversicherung und Zusatzbei-
                                                         vermindert an. Die wirtschaftliche Expansion
      träge von vielen Krankenversicherungen erhöht.
                                                         und insbesondere die Zunahme der Bruttolöhne
      Die sonstigen Einnahmen des Staates dürften
                                                         und -gehälter sorgen für steigende Staatsein-
      mit deutlich geringerem Tempo anziehen als im
                                                         nahmen. Die Beitragseinnahmen profitieren

                                                                                                             11
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      zudem von höheren Beitragssätzen in der Ar-        Lagerbestand im Verarbeiten Gewerbe plausibi-
      beitslosenversicherung. Einem noch höheren         lisiert das Statistische Bundesamt die Entwick-
      Anstieg der Steuereinnahmen dürfte die turnus-     lung der Vorratsveränderungen anhand der Ab-
      mäßige Verschiebung der Tarifeckwerte der Ein-     stimmung von Verwendungs- und Entstehungs-
      kommensteuer zum Abbau der „kalten Progres-        rechnung zum Bruttoinlandsprodukt. Vor diesem
      sion“ sowie eine anstehende Reform der Ren-        Hintergrund könnte im ersten Quartal die im Ver-
      tenbesteuerung entgegenwirken. Zudem sorgen        gleich zu den Warenexporten robuste Entwick-
      höhere Mauttarife für ein Plus bei den Verkäu-     lung der Bruttowertschöpfung im Verarbeitenden
      fen.                                               Gewerbe zu einer Diskrepanz zwischen der Ver-
                                                         wendungs- und Entstehungsrechnung geführt
      Die Ausgaben nehmen 2023 wieder Fahrt auf.
                                                         haben, die sich in dem positiven Lagerbeitrag wi-
      Insbesondere rechnen wir mit steigenden Aus-
                                                         derspiegelt. Für das zweite Quartal rechnen wir
      rüstungsinvestitionen, in denen sich Ausgaben
                                                         mit einer gegenläufigen Entwicklung: Die Frühin-
      des Sondervermögens Bundeswehr nieder-
                                                         dikatoren deuten auf einen deutlichen Rückgang
      schlagen, und mit einem deutlichen Plus bei In-
                                                         der Bruttowertschöpfung im Verarbeitenden Ge-
      vestitionszuschüssen in den Bereichen Klima
                                                         werbe hin, während wir in unserer Prognose von
      und Digitalisierung. Die Vorleistungskäufe hin-
                                                         leicht steigenden Exporten ausgehen. Dies
      gegen dürften nach den deutlichen Anstiegen
                                                         würde für sich genommen für einen deutlich ne-
      der Vorjahre nur noch schwach expandieren.
                                                         gativen Beitrag der Vorratsveränderungen spre-
      Vergleichsweise gering dürften zudem die mo-
                                                         chen. Zwar lässt sich in der Vergangenheit zu-
      netären Sozialleistungen zulegen. Zwar werden
                                                         mindest unterjährig eine Korrelation mit der Dis-
      Regelsätze mit der Inflation deutlich steigen.
                                                         krepanz zwischen Bruttowertschöpfung im Ver-
      Doch entfallen die Einmalzahlungen aus den
                                                         arbeitenden Gewerbe und Exporten feststellen.
      Entlastungspaketen, und der Flüchtlingszustrom
                                                         Allerdings gibt es auch immer wieder größere
      dürfte abebben bzw. vielen der Übergang in den
                                                         Abweichungen. Insbesondere im vergangenen
      Arbeitsmarkt gelingen. Insgesamt legen die Aus-
                                                         Jahr sind die Exporte unterjährig deutlich stärker
      gaben aber in moderaterem Tempo zu als die
                                                         gestiegen als die Bruttowertschöpfung im Verar-
      Einnahmen, so dass das Budgetdefizit weiter
                                                         beitenden Gewerbe, ohne dass diese Entwick-
      sinkt. Der Bruttoschuldenstand wird wohl gegen
                                                         lung von den Vorratsveränderungen nachge-
      Ende des Jahres wieder in die Nähe der 60-Pro-
                                                         zeichnet worden wäre. Zudem deuten die Um-
      zent-Marke rutschen.
                                                         fragedaten darauf hin, dass sich die Lagerbe-
                                                         stände ohne größere Schwankungen zuletzt
      Risiken und Wirtschaftspolitik                     durchgängig auf äußerst niedrigem Niveau be-
      Die zuletzt auffälligen Vorratsveränderungen       funden haben, was angesichts der Liefereng-
      erhöhen die Prognoseunsicherheit. Ohne den         pässe plausibel ist. Schließlich würde ein stark
      Expansionsbeitrag der Vorratsveränderung in        negativer Beitrag der Vorratsveränderungen ver-
      Höhe von 1,1 Prozentpunkten wäre das Brutto-       wendungsseitig gegeben unsere Prognosen für
      inlandsprodukt im ersten Quartal für sich genom-   die anderen Verwendungskomponenten für ei-
      men deutlich gesunken. Grundsätzlich dürften       nen deutlichen Rückgang des Bruttoinlandspro-
      die Vorratsveränderungen systematisch über         dukts sprechen, der in diesem Ausmaß nicht
      den Konjunkturzyklus schwanken (Sichel 1994).      durch die Frühindikatoren angezeigt wird. Zwar
      Für Deutschland liegen jedoch keine unterjähri-    könnte dies auch ein Indiz dafür sein, dass Kor-
      gen originären Informationen zu den Vorratsver-    rekturbedarf bei den anderen Verwendungskom-
      änderungen vor. Insgesamt haben sie in den         ponenten besteht. Allerdings liegen für diese am
      deutschen Volkswirtschaftlichen Gesamtrech-        jeweils aktuellen Rand in der Regel deutlich
      nungen den Charakter einer Restgröße, die oft      mehr Informationen vor als für die Vorratsverän-
      erratisch schwankt. Aus diesem Grund wird hier-    derungen. Insgesamt bleiben wir deshalb bei un-
      für in Prognosen typischerweise eine expansi-      serer üblichen Vorgehensweise und unterstellen
      onsneutrale Entwicklung unterstellt. Neben dem     für unsere Prognose keinen Expansionsbeitrag
      Zusammenspiel von Umsätzen und Produktion          der Vorratsveränderungen, zumal die Position
      und        Unternehmensbefragungen           zum   der Vorratsveränderungen sehr revisionsanfällig
                                                         ist (Döhrn 2019).

                                                                                                              12
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 92 (2022|Q2)

      Die Corona-Phase erschwert die Diagnose               die politische Reaktion darauf stellen weiterhin
      der Produktionsmöglichkeiten. Der Konjunk-            ein Risiko für die ökonomische Aktivität dar, ins-
      turverlauf hängt maßgeblich davon ab, welches         besondere im kommenden Winterhalbjahr. Wei-
      Produktionsniveau bei Normalauslastung der            terhin bildet die Annahme zur Überwindung der
      gesamtwirtschaftlichen Produktionskapazitäten         Lieferengpässe nach wie vor ein beträchtliches
      möglich ist. Hieraus ergeben sich insbesondere        Prognoserisiko. Schließlich beruht auch die Ver-
      das Aufholpotenzial wie auch die Einschätzung         wendung der während der Pandemie aufgestau-
      für eine mögliche temporäre Überauslastung. Im        ten Kaufkraft auf einer Setzung, die sich nur auf
      Zuge der Pandemie blieb die ökonomische Akti-         Umfragen stützen kann, da ein solches Phäno-
      vität bedingt durch exogene Faktoren seit über        men zuvor nicht in vergleichbarem Ausmaß be-
      zwei Jahren unter dem sonst möglichen Niveau          obachtet wurde.
      zurück. Das erschwert die Bestimmung des ge-
                                                            Breitenwirksame Entlastungen wirken stabi-
      samtwirtschaftlichen Produktionspotenzials, da
                                                            lisierungspolitisch kontraproduktiv. Der ge-
      die Schätzverfahren empfindlich auf starke Akti-
                                                            genwärtige Teuerungsdruck ist auch eine Folge
      vitätsänderungen am Ende des Stützzeitraums
                                                            der weltweit massiven fiskal- und geldpolitischen
      reagieren (Ademmer et al. 2019). Derzeit weisen
                                                            Stabilisierungsmaßnahmen während der Pande-
      sie am aktuellen Rand auf eine weiterhin deutli-
                                                            miephase (Kooths 2022). Hierdurch sind im Pri-
      che gesamtwirtschaftliche Unterauslastung hin.
                                                            vatsektor Einkommen entstanden, denen keine
      Dies kontrastiert mit den Ergebnissen von Unter-
                                                            Güterproduktion gegenüberstand. Mangels Aus-
      nehmensbefragungen, denen zufolge das Nor-
                                                            gabegelegenheiten erhöhten sie zunächst die
      malniveau der Kapazitätsauslastung schon wie-
                                                            Ersparnis und werden nun zum Teil nachfrage-
      der erreicht ist. Auch klagen bereits heute schon
                                                            wirksam. Dies erhöht die Preise auf den Güter-
      nahezu alle Branchen über Arbeitskräftemangel
                                                            märkten, wodurch sich ein Teil der zuvor künst-
      auf einem bislang nicht verzeichneten Niveau.
                                                            lich geschaffenen Kaufkraft wieder abbaut. Ver-
      Die deutliche Diskrepanz zwischen der über
                                                            sucht die Finanzpolitik nun, dem durch breit an-
      Schätzverfahren abgeleiteten Produktionslücke
                                                            gelegte Entlastungspakete entgegenzuwirken,
      und den Umfrageergebnissen verweist auf das
                                                            entstehen abermals staatlich alimentierte Ein-
      Risiko, dass in der Kapazitätsauslastung weni-
                                                            kommen, die dem Inflationsprozess neue Nah-
      ger Luft nach oben ist, als in dieser Prognose un-
                                                            rung geben. Der Staat kann die Folgen von
      terstellt. In diesem Fall würde die realwirtschaft-
                                                            Preisanstiegen nur umverteilen, die Breite der
      liche Expansionsdynamik im Prognosezeitraum
                                                            Bevölkerung aber nicht entlasten. Dies spricht
      schwächer und die Preisdynamik stärker ausfal-
                                                            dafür, Hilfsmaßnahmen auf solche Haushalte zu
      len.
                                                            beschränken, die sonst in ihrer sozioökonomi-
      Das Risikoumfeld hat sich gegenüber dem               schen Existenz gefährdet wären. Dies gelingt
      Frühjahr kaum geändert. Weiterhin zeichnet            am besten, indem die entsprechenden nomina-
      sich kein Ende des Kriegs in der Ukraine und der      len Sozialleistungen zeitnah an die Inflationsent-
      damit verbundenen Beeinträchtigungen der öko-         wicklung gekoppelt werden. Dies gilt auch für die
      nomischen Aktivität ab. Diese liegen neben der        Anpassung der Tarifeckwerte in der Einkom-
      allgemeinen höheren Unsicherheit insbesondere         mensteuer („kalte Progression“), sofern die Infla-
      im Rohstoffpreisanstieg, dem Sanktionsregime          tion auf der Einkommensseite der Steuerpflichti-
      sowie in politischer Destabilisierung in ärmeren      gen ankommt. Andernfalls führt der Ausgleich
      Ländern infolge ausbleibender Agrarrohstofflie-       der „kalten Progression“ zu einer rückläufigen
      ferungen. Etwas gemildert ist gegenüber der           Steuerquote, was in einem inflationären Umfeld
      Lage im März allerdings das Risiko einer unge-        stabilisierungspolitisch nicht geboten ist.
      nügenden Gasversorgung im kommenden Win-
                                                            Der Inflationsdruck stellt die Glaubwürdig-
      ter (Gornig et al. 2022), da es bislang zu keiner
                                                            keit der Geldpolitik auf die Probe. Derzeit be-
      Unterbrechung der russischen Lieferungen ge-
                                                            wegt sich die Inflation weitab der Raten, die die
      kommen ist und so bereits wieder höhere Spei-
                                                            Europäische Zentralbank mittelfristig anpeilt.
      cherstände erreicht werden. Zudem kam es zu
                                                            Weil sie diese Entwicklung nicht vorhergesehen
      Fortschritten für das zukünftige Anlanden von
                                                            hatte, hat sie bislang auch noch keine Gegen-
      Flüssiggas. Auch das Infektionsgeschehen und
                                                            maßnahmen ergriffen. Vielmehr hat sie während

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