KIELER KONJUNKTUR-BERICHTE - Deutsche Wirtschaft im Sommer 2022
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KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 92 (2022|Q2) KIELER KONJUNKTUR- BERICHTE Deutsche Wirtschaft im Sommer 2022 Abgeschlossen am 14. Juni 2022 Nr. 92 (2022|Q2) Jens Boysen-Hogrefe, Dominik Groll, Nils Jannsen, Stefan Kooths, Saskia Meuchelböck und Nils Sonnenberg Forschungszentrum Konjunktur und Wachstum 1
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 92 (2022|Q2) ERHOLUNG KOMMT MÜHSAM VORAN Jens Boysen-Hogrefe, Dominik Groll, Nils Jannsen, Stefan Kooths, Saskia Meuchelböck und Nils Sonnenberg Die deutsche Wirtschaft steuert weiter durch unruhi- Nach dem robusten Jahresauftakt zeichnet ges Fahrwasser. Zwar setzt sich der Aufholprozess in den kontaktintensiven Dienstleistungsbranchen in ho- sich gegenüber der Frühjahrsprogose eine hem Tempo fort, und die Unternehmen im Verarbei- deutlich verlangsamte Expansion ab. Die Be- tenden Gewerbe sitzen auf prall gefüllten Auftragsbü- lastungen durch die vierte Pandemiewelle haben chern. Allerdings verringert die hohe Inflation die der wirtschaftlichen Aktivität im ersten Quartal Kaufkraft der verfügbaren Einkommen und wirkt so ei- ner höheren Konsumdynamik entgegen. Zudem ha- hierzulande offenbar weniger zugesetzt als in ben sich die Lieferengpässe zuletzt durch den Krieg unserer Frühjahrsprognose unterstellt. So wurde in der Ukraine wieder verschärft. Im Ergebnis gewinnt beim Bruttoinlandsprodukt statt eines deutlichen die Erholung erst in der zweiten Jahreshälfte wieder an Kraft, wenn die Preise nicht mehr ganz so rasch Rückgangs sogar ein leichtes Plus verzeichnet steigen und die Lieferengpässe nachlassen. Insge- (Abbildung 1). Mit Ausnahme des Verarbeiten- samt rechnen wir wie im Frühjahr für dieses Jahr mit des Gewerbes sowie der Energie- und Wasser- einem Anstieg des Bruttoinlandsprodukts von 2,1 Pro- zent. Im Jahr 2023 dürfte die Zuwachsrate 3,3 Prozent wirtschaft zog die Bruttowertschöpfung in allen betragen (Frühjahr: 3,5 Prozent). Die Inflation wird im Bereichen an. Damit verbleibt für den weiteren laufenden Jahr mit 7,4 Prozent so hoch wie noch nie Prognosezeitraum ein geringerer Aufholbedarf, im wiedervereinigten Deutschland ausfallen. Auch im was für sich genommen mit einer schwächeren kommenden Jahr wird der Preisauftrieb mit 4,2 Pro- zent wohl noch überdurchschnittlich hoch sein. Die Er- Expansionsdynamik einhergeht. Allerdings wir- holung der Erwerbstätigkeit setzt sich fort. Die Effek- ken zusätzlich belastende Faktoren, die das tivverdienste werden kräftig steigen, auch weil die Ar- Konjunkturbild insgesamt trüben. So erweisen beitskräfteknappheiten einen historischen Höchst- stand erreicht haben. Im laufenden Jahr wird der An- sich die Lieferengpässe, die vor allem der indust- stieg mit knapp 5 Prozent aber hinter der Inflationsrate riellen Aktivität zu schaffen machen, als langwie- zurückbleiben. Die Haushaltdefizite der öffentlichen riger, auch weil durch neue Lockdown-Maßnah- Hand werden sinken, da die Einnahmen kräftig zuneh- men und die pandemiebedingten Ausgaben zurück- men in China zwischenzeitlich neue Störungen gefahren werden. Im Jahr 2023 dürften die öffentli- Abbildung 1: chen Schulden in Relation zum Bruttoinlandsprodukt bei etwas über 60 Prozent liegen. Bruttoinlandsprodukt Kettenindex (2015=100) Prozent 115 15 Veränderung Niveau 10 110 5 105 0 100 -5 95 -10 1.1 -4.6 2.9 2.1 3.3 90 -15 I II III IV I II III IV I II III IV I II III IV I II III IV 2019 2020 2021 2022 2023 Quartalsdaten: preis-, kalender- und saisonbereinigt; Verän- derung gegenüber dem Vorquartal (rechte Skala). Jahresdaten: preisbereinigt, Veränderung gegenüber dem Vor- jahr in Prozent (gerahmt). Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 18, Reihe 1.2 und 1.3; grau hinterlegt: Prognose des IfW Kiel. 2
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 92 (2022|Q2) eintraten. Zudem fällt für die privaten Haushalte noch in erheblichem Maß aufgestaute Kaufkraft der Kaufkraftentzug im Zuge des nun noch kräf- aus der Pandemiephase zur Verfügung steht tiger ausgeprägten Preisauftriebs stärker aus, und die Industrieunternehmen weiterhin ein re- was für sich genommen den privaten Konsum kordhohes Auftragspolster aufweisen. Alles in dämpft. Auch wenn das Bruttoinlandsprodukt vor allem erwarten wir für das laufende Jahr unver- allem infolge der Schockwellen durch den Krieg ändert einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts in der Ukraine im zweiten Quartal kaum mehr als um 2,1 Prozent (Tabelle 1). Die Prognose für das stagnieren dürfte, so bleiben die Auftriebskräfte kommende Jahr haben wir geringfügig um 0,2 intakt, wenn auch mit verringerter Stärke. Maß- Prozentpunkte auf 3,3 Prozent herabgesetzt. geblich hierfür ist, dass den privaten Haushalten Tabelle 1: Eckdatentabelle für die wirtschaftliche Entwicklung 2020–2023 2020 2021 2022 2023 Bruttoinlandsprodukt, preisbereinigt -4,6 2,9 2,1 3,3 Bruttoinlandsprodukt, Deflator 1,6 3,0 4,9 3,9 Verbraucherpreise 0,5 3,1 7,4 4,2 Arbeitsproduktivität (Stundenkonzept) 0,4 1,1 -0,3 1,6 Erwerbstätige im Inland (1000 Personen) 44.898 44.918 45.606 45.916 Arbeitslosenquote (Prozent) 5,9 5,7 5,1 5,1 In Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt Finanzierungssaldo des Staates -4,3 -3,7 -1,4 -0,9 Schuldenstand 69,1 69,3 65,6 61,5 Leistungsbilanz 7,1 7,4 4,2 4,8 Bruttoinlandsprodukt, Verbraucherpreise, Arbeitsproduktivität: Veränderung gegenüber dem Vorjahr in Prozent; Arbeitslosen- quote: Abgrenzung der Bundesagentur für Arbeit. Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 18, Reihe 1.2; Deutsche Bundesbank, Monatsbericht; Bundesagentur für Arbeit, Monatsbericht; grau hinterlegt: Prognose des IfW Kiel. Monetäre Rahmenbedingungen diese Kredite auf 2199 Mrd. Euro, wovon 88 Mrd. Euro im Jahr 2022, 1523 Mrd. Euro im Jahr 2023 Die Europäische Zentralbank leitet erste und 588 Mrd. Euro im Jahr 2024 auslaufen. Auf Schritte zur Normalisierung ihrer Geldpolitik der jüngsten Sitzung des Zentralbankrats An- ein. Nachdem das pandemische Anleihekauf- fang Juni 2022 wurde beschlossen, die Leitzin- progamm (PEPP) im März 2022 eingestellt sen zunächst auf ihren derzeitigen Niveaus zu wurde, werden nun auch die Nettokäufe im Rah- belassen (Einlagesatz: -0,5 Prozent, Hauptrefi- men des regulären Anleihekaufprogramms nanzierungssatz: 0 Prozent, Spitzenrefinanzie- (APP) Ende Juni auslaufen. Derzeit beläuft sich rungssatz: 0,25 Prozent), einen ersten Zins- der Bestand an Anleihen im APP auf 3249 Mrd. schritt von 0,25 Prozentpunkten im Juli zu unter- Euro und im PEPP auf 1698 Mrd. Euro und es nehmen und einen weiteren im September fol- ist beabsichtigt, alle auslaufenden Anleihen gen zu lassen. Für September hat die EZB einen durch Reinvestitionen zu ersetzen.1 Die Sonder- höheren Zinsschritt von 0,5 Prozentpunkten in konditionen der gezielten langfristigen Refinan- den Raum gestellt, sofern sie ihre Projektion für zierungsgeschäfte (TLTRO) laufen auch Ende die Inflationsrate in der mittleren Frist weiter Juni aus, sodass die Verzinsung der Kredite an nach oben anpassen muss. Nach dem zweiten Banken, bei Erfüllung der Vorgaben an die Kre- Schritt im September sieht die EZB einen ditvergabe an den privaten Sektor, von -1 Pro- „schrittweisen, aber nachhaltigen“ Zinspfad vor. zent wieder auf den Zinssatz der Einlagenfazili- Insgesamt gehen wir von nun vier Zinsschritten tät (-0,5 Prozent) steigt. Zurzeit belaufen sich in diesem Jahr aus. Der Hauptrefinanzierungs- 1Dabei können die Reinvestitionen im PEPP flexibel angelegt werden, während für die Reinvestitionen im Rahmen des APP bisher der Kaptalschlüssel gilt. 3
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 92 (2022|Q2) satz würde demnach am Ende des Jahres bei von gut 7 Prozent zu. Dieses recht hohe Expan- 1,25 Prozent liegen. Zwölf Monate später dürfte sionstempo ist bereits seit einem Jahr zu be- er dann bei 2,5 Prozent liegen. Damit wird die obachten und deutet weiterhin auf eine starke Geldpolitik merklich schneller gestrafft als noch Nachfrage am Wohnungsmarkt hin. Das Volu- im Frühjahr absehbar war. men der Konsumentenkredite hat sich im Vor- jahresvergleich kaum verändert, während sich Die Finanzierungskonditionen haben die Tal- das Expansionstempo der Unternehmenskredite sohle durchschritten. Die Kapitalmarktzinsen beschleunigt hat. Im April lag die Vorjahresrate haben schon auf das sich verändernde Zinsum- bei 6,4 Prozent, nachdem die Rate in den ersten feld reagiert. Nach der Ankündigung des geldpo- drei Monaten des Jahres durchschnittlich 5,2 litischen Normalisierungspfads im Dezember Prozent betrug. Auch die Kapitalmarktfinanzie- 2021 haben sich die risikofreien Zinssätze seit rung der Unternehmen expandierte weiter. Das Anfang des Jahres 2022 nach oben bewegt. Volumen an ausstehenden Anleihen stieg im Ap- Dies hat sich auf die Zinsen am Kapitalmarkt ril um 8 Prozent gegenüber dem Vorjahr, nach- übertragen. Die Umlaufsrendite für 10-jährige dem in den ersten drei Monaten eine Rate von Bundesanleihen beträgt derzeit durchschnittlich durchschnittlich 8,8 Prozent erreicht wurde. Das 1,2 Prozent. Zum Anfang des Jahres lag die Volumen der Bankkredite an die nichtfinanziel- Rendite noch bei rund -0,1 Prozent. Die Um- len Unternehmen ist aber noch fast zweieinhalb- laufsrendite von inländischen Unternehmensan- mal so hoch wie das der Anleihen. leihen belief sich zuletzt auf 3,25 Prozent, wäh- rend sie zu Anfang des Jahres noch bei 1,2 Pro- zent lag. Der Aufschlag gegenüber Bundesanlei- Produktion hen mit vergleichbarer Laufzeit betrug 2,0 Pro- Die Bruttowertschöpfung wird im Sommer- zentpunkte, während er Anfang des Jahres noch halbjahr trotz heftigen Gegenwindes wohl zu- bei 1,3 Prozentpunkten lag. Aus den monatli- nehmen. Insgesamt wird das Expansionstempo chen Daten zu den Darlehenszinsen für Haus- jedoch deutlich geringer ausfallen, als wir in un- halte und Unternehmen lassen sich ähnliche serer Frühjahrsprognose erwartet hatten. So hat Tendenzen ableiten. Die Zinsen für Wohnungs- in den von der Pandemie besonders betroffenen baukredite mit einer anfänglichen Zinsbindung Dienstleistungsbranchen anders als erwartet be- von 5 bis 10 Jahren beliefen sich im April auf 1,9 reits im ersten Quartal eine leichte Erholung ein- Prozent. Im Januar lagen sie mit 1,4 Prozent gesetzt, so dass das Aufholpotenzial für die noch nah an dem historischen Tiefpunkt aus Sommermonate geringer ist. Zudem sind die dem Mai 2021 von 1,3 Prozent. Bei Unterneh- Verbraucherpreise stärker gestiegen als im menskrediten wurde im April ein Zins von 2,3 Frühjahr prognostiziert, so dass die Dynamik in Prozent bei Krediten mit einem Volumen von bis den konsumnahen Dienstleistungsbranchen an- zu 1 Mill. Euro und 1,8 Prozent bei Krediten mit gesichts der geschmälerten real verfügbaren einem Volumen von über 1 Mill. Euro erreicht. Einkommen wohl niedriger sein wird. Die Frühin- Der Zins für Kredite mit einem Volumen von über dikatoren deuten auf eine schwache Entwick- 1 Mill. Euro lag zu Jahresanfang bei 1,5 Prozent lung im zweiten Quartal hin. So ist das Ge- und ist somit in einem ähnlichen Umfang wie die schäftsklima deutlich gesunken und die Einzel- Zinsen auf Wohnungsbaukredite gestiegen. Bei handelsumsätze und die Industrieproduktion la- kleineren Unternehmenskrediten zeigt sich gen im April merklich unterhalb des Niveaus vom diese Tendenz noch nicht. Vor dem Hintergrund ersten Quartal. Einigen gängigen Prognosemo- der geldpolitischen Ausrichtung und den be- dellen zufolge (Hauber 2018) könnte die Brutto- schriebenen Entwicklungen rechnen wir damit, wertschöpfung im zweiten Quartal zurückgehen. dass sich der Zins auf 10-jährige Bundesanlei- Insgesamt gehen wir aber von einem leichten hen weiter stetig nach oben anpasst und bis zum Anstieg der Bruttowertschöpfung im zweiten Ende des Prognosezeitraums auf 2,7 Prozent Quartal aus. Dafür spricht, dass die Eintrübung steigt. des Geschäftsklimas vor allem auf die Erwar- Die Kreditexpansion setzte sich mit kräftigen tungskomponente zurückgeht und die Unterneh- Raten fort. Im April legte das Volumen der Woh- men ihre aktuelle Geschäftslage bis in den Mai nungsbaukredite erneut mit einer Vorjahresrate hinein günstiger beurteilt haben als im ersten 4
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 92 (2022|Q2) Quartal. Zudem zeichnet sich eine sehr kräftige Belebung ab. Sofern neuerliche Belastungen Erholung bei den besonders von der Pandemie ausbleiben, dürften die Lieferengpässe ab der gebeutelten kontaktintensiven Dienstleistungs- zweiten Jahreshälfte allmählich nachlassen und branchen ab, die in gesamtwirtschaftlichen die Produktion angesichts der guten Auftrags- Prognosemodellen nur schwer abgebildet wer- lage bis an die Kapazitätsgrenze hochgefahren den können.2 In der zweiten Jahreshälfte dürfte werden. Der hohe Auftragsbestand würde dabei die Bruttowertschöpfung in deutlich höherem auch kurzfristige weitere Rückgänge bei den Tempo zulegen. Voraussetzung dafür ist, dass Auftragseingängen – beispielsweise aufgrund die Lieferengpässe allmählich nachlassen und der kriegsbedingten Unsicherheit oder der lan- sich so die nach wie vor gute Auftragslage der gen Lieferzeiten – abfedern. Die maximalen Pro- Unternehmen in eine steigende Produktion über- duktionskapazitäten dürften sich derzeit in etwa setzen kann. Auch gehen wir davon aus, dass auf dem Produktionsniveau des Jahres 2018 be- sich die Erholung in den konsumnahen Dienst- wegen, als die Industrie letztmals nahezu unter leistungsbranchen trotz der hohen Inflation fort- Vollauslastung produzierte. Vor diesem Hinter- setzt. grund rechnen wir mit einem Anstieg der indust- rielle Bruttowertschöpfung im laufenden Jahr Mit dem Nachlassen der Lieferengpässe wird von 0,4 Prozent. Im Jahr 2023 dürfte sie um rund die Produktion im Verarbeitenden Gewerbe 9 Prozent steigen. rasch hochgefahren. Das Produktionsniveau im Verarbeitenden Gewerbe wird weiterhin In den konsumnahen Dienstleistungsbran- durch die Lieferengpässe bestimmt. Im April lag chen wird sich die Erholung trotz der hohen die Industrieproduktion trotz der jüngsten kräfti- Inflation fortsetzen. So deuten Frühindikato- gen Rückgänge der Auftragseingänge um rund ren, wie Mobilitätsdaten oder Online-Buchun- 10 Prozent unterhalb des Niveaus, dass ange- gen, auf eine kräftige Erholung in den von der sichts der guten Auftragslage ohne Liefereng- Pandemie besonders gebeutelten Branchen im pässe zu erwarten gewesen wäre (Beckmann zweiten Quartal hin. Diesen Indikatoren zufolge und Jannsen 2021; Beckmann et al. 2021). Zu- dürften die Umsätze alleine im Gastgewerbe im dem haben sich aufgrund der Lieferengpässe Mai um etwa 30 Prozent oberhalb des Niveaus mittlerweile zusätzliche Auftragsbestände im vom ersten Quartal gelegen haben. Demgegen- Umfang von mehr als 15 Prozent einer Jahres- über dürfte die Wertschöpfung im Bereich Han- produktion aufgetürmt. Nachdem gegen Ende del zurückgehen; darauf deuten nicht zuletzt die des vergangenen Jahres eine Erholung bei der schwachen Einzelhandelsumsätze im April hin. Industrieproduktion eingesetzt hatte, kam es zu- Im weiteren Verlauf wird die Wertschöpfung in letzt zu einem neuerlichen Rückschlag, da sich den konsumnahen Dienstleistungsbranchen die Lieferengpässe kriegsbedingt wieder ver- zwar aufwärtsgerichtet sein, allerdings hinter schärft hatten. Im zweiten Quartal dürfte sich die ihre Vorkrisentrends zurückfallen, da sich die Produktion in etwa auf dem im April verzeichne- real verfügbaren Einkommen aufgrund der ho- ten Niveau bewegen, so dass die Bruttowert- hen Inflation deutlich schwächer entwickeln als schöpfung im Verarbeitenden Gewerbe im zwei- vor der Pandemie. Die Wertschöpfung bei den ten Quartal wohl um etwa 2 Prozent niedriger unternehmensnahen Dienstleistern dürfte dem- ausfällt als im ersten Quartal. Zwar dürften sich gegenüber mit der Erholung im Verarbeitenden die fehlenden Vorleistungen aufgrund der Pro- Gewerbe deutlich zulegen. duktionsstörungen in China angesichts der Lie- ferzeiten wohl erst im Mai und Juni voll bemerk- bar machen. Jedoch zeichnet sich im Automobil- bau, der im März aufgrund ausbleibender Zulie- ferungen aus der Ukraine deutlich zurückgefah- ren wurde, bereits wieder eine spürbare 2 Dies liegt daran, dass für diese Branchen nur wenig hatten. Neuere Frühindikatoren, wie Mobilitäts- oder belastbare Frühindikatoren für lange Zeiträume vorlie- Buchungsdaten liegen zudem nur für sehr kurze Zeit- gen und diese Branchen vor der Pandemie einen ge- räume vor, so dass sie schwerer anhand von Zeitrei- ringeren Einfluss auf konjunkturelle Schwankungen henmodellen ausgewertet werden können. 5
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 92 (2022|Q2) Außenhandel Entwicklung der Warenimporte an. Dagegen dürfte sich die Erholung der Dienstleistungsim- Das Exportgeschäft wird nach wie vor von porte fortgesetzt haben. Im zweiten Halbjahr Lieferengpässen bestimmt. Im ersten Quartal steigen die Importe wieder dynamischer, da sich gingen die Exporte erwartungsgemäß zurück, dann die heimische Nachfrage nach Investitions- wofür nicht zuletzt die Invasion Russlands in die gütern belebt und die Normalisierung der Dienst- Ukraine verantwortlich war. So brachen die Lie- leistungsimporte weiter fortschreitet. Insgesamt ferungen nach Russland, die vor Ausbruch des dürften die Importe im Jahr 2022 um 6,6 Prozent Krieges einen Anteil von 2 Prozent an den ge- steigen. Für das Jahr 2023 rechnen wir mit ei- samten Warenexporten hatten, im März gegen- nem Anstieg um 5,6 Prozent. über dem Vormonat um rund 60 Prozent ein. Zu- dem belasteten ausbleibende Lieferungen von Der Krieg in der Ukraine verschärft den Preis- Vorprodukten aus den Kriegsländern die Pro- auftrieb im Außenhandel, die stark ver- duktion und die Exporte, insbesondere in der Au- schlechterten Terms-of-Trade erholen sich tomobilbranche. Im laufenden Quartal dürften im Prognosezeitraum kaum. Im ersten Quartal die Exporte verhalten gestiegen sein. So waren setzte sich die hohe Preisdynamik im Außen- die preisbereinigten Monatsdaten im Spezial- handel fort. Die Terms of Trade verschlechterten handel im April wieder aufwärtsgerichtet, und die sich weiter, wenngleich aufgrund der zunehmen- Exporterwartungen im Verarbeitenden Gewerbe den Dynamik bei den Exportpreisen weniger haben sich nach ihrem Absturz im März auf- stark als zum Jahresende 2021. Die Preissteige- grund des Schocks durch den Kriegsausbruch rungen bei Rohstoffen infolge des Krieges dürf- wieder etwas verbessert. Gleichzeitig haben die ten sich im laufenden Quartal in den VGR zei- produktionsbehindernden Engpässe wohl kaum gen. So deuten die monatlichen Preise im Au- nachgelassen, auch weil wegen des Lockdowns ßenhandel auf eine nochmalige Zunahme der in Teilen Chinas Lieferungen im Mai und Juni Preisdynamik und eine weitere Verschlechte- ausgeblieben sein dürften. Die fortschreitende rung der Terms of Trade hin. Im weiteren Verlauf Erholung der Dienstleistungsexporte von der nimmt der Preisauftrieb gegeben unserer Wech- Pandemie dürfte dagegen gestützt haben. Im selkurs- und Rohstoffpreisannahmen allmählich weiteren Verlauf steigen die Exporte kräftig. ab. Im kommenden Jahr werden bei leicht rück- Zwar hat sich das weltwirtschaftliche Umfeld zu- läufigen Ölpreisen die Exportpreise etwas stär- letzt weiter eingetrübt (Gern et al. 2022), aber ker steigen als die Importpreise. Die Verschlech- das Exportgeschäft wird von seinem hohen Auf- terung der Terms of Trade wird mit 3,9 Prozent tragsbestand profitieren, sobald die Liefereng- im laufenden Jahr wohl weniger stark ausfallen, pässe nachlassen. Alles in allem rechnen wir mit als noch in unserer Frühjahrsprognose erwartet. einem Anstieg von 3,4 Prozent im laufenden Maßgeblich ist, dass die Exportpreise zuletzt Jahr, gefolgt von 6,5 Prozent im Jahr 2023. deutlicher gestiegen sind als prognostiziert. Im kommenden Jahr werden sich die Terms-of- Die Importe entfalten vorübergehend recht Trade um 0,3 Prozent verbessern. wenig Dynamik. Im ersten Quartal verlang- samte sich die Erholung bei den Einfuhren. Wie in unserer Frühjahrsprognose erwartet, wurden Heimische Absorption weniger Waren – vor allem Investitionsgüter – Die Kaufkraft der verfügbaren Einkommen aus dem Ausland bezogen als im Schlussquartal wird massiv durch die hohe Inflation belastet. des vergangenen Jahres. Dagegen stiegen die Die verfügbaren Einkommen der privaten Haus- Importe von Dienstleistungen überaus kräftig halte werden nominal im laufenden Jahr um vo- und verhinderten so einen Rückgang der Im- raussichtlich 5,7 Prozent und in 2023 um 4,6 porte insgesamt. Eine schwungvolle Aufwärts- Prozent kräftig steigen, nachdem sie im Jahr bewegung bei den Dienstleistungen, insbeson- 2020 krisenbedingt kaum mehr als stagniert hat- dere im Reiseverkehr, hatten wir erst im Som- ten und im vergangenen Jahr eine vorsichtige merhalbjahr verortet. Im laufenden Quartal sind Erholung eingesetzt hat. So werden die Brutto- die gesamten Importe wohl abermals verhalten löhne und -gehälter mit der sich fortsetzenden gestiegen. So zeigen die preisbereinigten Daten Besserung am Arbeitsmarkt in deutlich zum Spezialhandel im April eine schwache 6
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 92 (2022|Q2) erhöhtem Tempo zulegen. Auch die Unterneh- gaben kaum mehr als stagniert haben. Zwar mens- und Vermögenseinkommen der privaten deuten Frühindikatoren, wie die Mobilitätsdaten Haushalte, die sich im Jahr 2021 noch deutlich oder Online-Buchungen bei Gaststätten, darauf unterhalb ihres Vorkrisenniveaus befanden, wer- hin, dass sich die Erholung in den kontaktinten- den mit der gesamtwirtschaftlichen Erholung siven Dienstleistungsbranchen im zweiten Quar- spürbar steigen. Die monetären Sozialleistun- tal in deutlich beschleunigtem Tempo fortgesetzt gen werden im laufenden Jahr trotz des Rück- hat. Neben dem merklich eingetrübten Konsum- gangs der Kurzarbeit deutlich mit 3,5 Prozent zu- klima der privaten Haushalte spricht jedoch ins- legen – wegen der starken Rentenanpassung besondere der Rückschlag bei den Einzelhan- zur Jahresmitte und der zusätzlichen Transfers delsumsätzen im April für eine schwache Ent- aus den Entlastungspaketen wie der Energie- wicklung. Zum Teil dürften sich hier die hohen preispauschale. Mit Wegfall dieser Entlastungs- Energiepreissteigerungen der Vormonate be- pakete stellt sich im kommenden Jahr ein Plus merkbar gemacht haben, zumal sich die Einzel- von 2,6 Prozent ein. Der hohe Preisauftrieb – im handelsumsätze während der Pandemie robust laufenden Jahr dürfte der Deflator der privaten entwickelt hatten und hier keine pandemiebe- Konsumausgaben um mehr als 7 Prozent stei- dingte Erholung aussteht. Zum Teil dürften sie gen und im kommenden Jahr um etwa 4 Prozent allerdings auch Resultat der lebhaften Erholung – belastet die Kaufkraft der verfügbaren Einkom- beim Gastgewerbe widerspiegeln, sind doch die men jedoch massiv. Im laufenden Jahr werden Umsätze bei Lebensmitteln besonders deutlich die real verfügbaren Einkommen deshalb noch- zurückgegangen. Im weiteren Verlauf dürften die mals deutlich zurückgehen, bevor sie im kom- privaten Konsumausgaben mit höheren Raten menden Jahr steigen. Insgesamt werden sie im zulegen, da sich die Erholung von der Pandemie Jahr 2023 deutlich niedriger ausfallen als vor Be- fortsetzt und die privaten Haushalte nach der ginn der Pandemie. Konsumzurückhaltung während der Pandemie Nachholbedarf haben. Zum Teil speist sich die Die Kaufkraftverluste dämpfen die Erholung Erholung beim privaten Konsum aus den wäh- des privaten Konsums. Die Erholung infolge rend der Pandemie zusätzlich angehäuften Er- des nachlassenden Pandemiegeschehens fällt sparnissen in Höhe von rund 200 Mrd. Euro bzw. verhaltener aus als in früheren Pandemiewellen. rund 10 Prozent der jährlichen verfügbaren Ein- Maßgeblich ist die hohe Inflation, die die Kauf- kommen. Wir gehen wie im Frühjahr davon aus, kraft der verfügbaren Einkommen deutlich ver- dass die privaten Haushalte im Jahr 2023 etwa ringert. Insgesamt gehen wir nun von einer deut- 20 Prozent dieser zusätzlichen Ersparnisse für lich langsameren Erholung aus als in unserer Konsumausgaben aufwenden.3 Die Sparquote Frühjahrsprognose. Erstens setzte bereits im wird demzufolge im Jahr 2023 mit 9,1 Prozent ihr ersten Quartal eine leichte Erholung ein – im Vorkrisenniveau deutlich unterschreiten. Frühjahr waren wir von einem weiteren pande- miebedingten Rückschlag ausgegangen – und Die Unternehmen werden ihre Investitionen auch der Rückgang im vierten Quartal wird vom trotz erhöhter Unsicherheit kräftig auswei- Statistischen Bundesamt mittlerweile geringer ten. Das Investitionsumfeld hat sich zuletzt ein- ausgewiesen als vor drei Monaten, so dass das getrübt, da sich die Unsicherheit bezüglich der Aufholpotenzial insgesamt geringer ist. Zweitens Absatzaussichten durch den Krieg in der Ukra- machen sich die Preiserhöhungen offenbar erst ine und die hohe Inflation erhöht hat. In der Folge jetzt beim privaten Konsum stärker bemerkbar; sind die inländischen Auftragseingänge für In- im Frühjahr waren wir davon ausgegangen, dass vestitionsgüter zuletzt zurückgegangen. Für das sie bereits im ersten Quartal merklich dämpfen. zweite Quartal deuten die Frühindikatoren, wie Drittens sind die real verfügbaren Einkommen die Inlandsumsätze und die Produktion der In- deutlich niedriger als von uns im Frühjahr erwar- vestitionsgüterhersteller, auf einen deutlichen tet, weil die Verbraucherpreise stärker gestiegen Rückgang der Ausrüstungsinvestitionen hin. sind. Im zweiten Quartal dürften die Konsumaus- Maßgeblich dürfte vor allem die jüngste 3 Diese Annahme steht im Einklang mit Verbraucher- Konsumzwecke zu verwenden (Deutsche Bundes- befragungen, denen zufolge die privaten Haushalte bank 2022). planen, einen Teil ihrer zusätzlichen Ersparnisse für 7
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 92 (2022|Q2) Zunahme der Lieferengpässe sein, die die In- mittelfristig hoch bleiben. Da die Bauaktivität in dustrieproduktion stört.4 Sobald die Liefereng- den vergangenen Jahren vor allem durch die pässe allmählich nachlassen – wir rechnen da- Produktionskapazitäten bei den Unternehmen mit ab der Jahresmitte – dürften die Ausrüs- beschränkt wurde, würde sich eine – angesichts tungsinvestitionen in hohem Tempo ausgeweitet der schlechteren Finanzierungsbedingungen werden. Dafür spricht, dass sich die Auftragsein- und höheren Baukosten – geringere Nachfrage gänge trotz der jüngsten Rückgänge immer noch zudem zunächst vor allem bei den Preisen und in etwa auf ihrem Vorkrisenniveau befinden, weniger beim Bauvolumen bemerkbar machen. während die Ausrüstungsinvestitionen noch Insgesamt rechnen wir deshalb damit, dass die deutlich unter dem Vorkrisenniveau liegen. Zu- Bauinvestitionen in einem ähnlichen Tempo wie dem hat sich seit Beginn der Pandemie der in- – durchschnittlich – in den vergangenen Jahren ländische Auftragsbestand für Investitionsgüter ausgeweitet werden. Der Deflator der Bauinves- um etwa 40 Prozent erhöht. Mittelfristig haben titionen dürfte in diesem Jahr mit knapp 12 Pro- sich die Wachstumsaussichten durch die Pande- zent so stark steigen wie nie zuvor im wiederver- mie zudem wohl kaum eingetrübt (Ademmer et einigten Deutschland. Für das Jahr 2023 rech- al. 2021: Kasten 1), so dass sich der Investitions- nen wir mit einem Anstieg von 4,7 Prozent. bedarf von dieser Seite her kaum verringert hat. Durch die hohen Energiepreise und die Maßnah- Verbraucherpreise men zur Dekarbonisierung der Produktion dürfte der Investitionsbedarf zudem für viele Unterneh- Der hohe Preisdruck hält an. Der Preisdruck ist men eher zunehmen. Vor diesem Hintergrund bereits seit einiger Zeit breit angelegt (Boysen- gehen wir davon aus, dass die Ausrüstungsin- Hogrefe et al. 2022: Kasten 2). Er geht inzwi- vestitionen im laufenden Jahr um etwa 2 Prozent schen deutlich über die Verteuerung von Ener- und im Jahr 2023 um rund 13 Prozent steigen gie und Nahrungsmitteln hinaus, dementspre- werden. Zusätzlich angeschoben werden die chend zog auch die Kernrate weiter an. Die ho- Ausrüstungsinvestitionen dabei auch von den hen Preissteigerungen auf den vorgelagerten deutlich höheren Rüstungsausgaben, die im Produktionsstufen seit Mitte des vergangenen Jahr 2023 etwa 4 Prozentpunkte zur Zuwachs- Jahres werden erst nach und nach an die Ver- rate beitragen dürften. braucher weitergegeben und halten den Preis- auftrieb auf der Verbraucherstufe auch in den Die Bauinvestitionen sind in der Tendenz kommenden Monaten hoch (Boysen-Hogrefe deutlich aufwärtsgerichtet. Die Bedingungen 2022). Durch den Krieg in der Ukraine haben für Bauvorhaben haben sich zuletzt eingetrübt. sich die ohnehin schon bestehenden Liefereng- So wird die Bauproduktion weiterhin durch Ma- pässe nochmals verschärft. Das dadurch weiter- terialengpässe spürbar behindert, und die Mate- hin verknappte Angebot trifft auf eine starke rialkosten sind in diesem Zuge sprunghaft ge- Nachfrage seitens der Haushalte. Durch die stiegen. Zudem sind die Hypothekenzinsen ge- staatlichen Stabilisierungsmaßnahmen der Ein- stiegen. Die Frühindikatoren deuten auf einen kommen und die eingeschränkten Konsummög- spürbaren Rückgang der Bauinvestitionen im lichkeiten während der Pandemie haben sich zu- zweiten Quartal hin. Dazu dürften die Material- sätzliche Ersparnisse von rund 200 Mrd. Euro engpässe und das Aussetzen von Bauvorhaben angehäuft. Diese erhöhen nun die Zahlungsbe- aufgrund der stark gestiegenen Kosten beitra- reitschaft seitens der Verbraucher, zumal sie gen. Sobald wieder mehr Material verfügbar über längere Zeit auf ihren gewohnten Konsum wird, werden die Bauinvestitionen voraussicht- verzichten mussten. lich wieder deutlich zunehmen. So ist die Auf- tragslage nach wie vor gut, und die Baugeneh- Die aktuellen Inflationsraten befinden sich migungen sind zuletzt deutlich gestiegen. Insge- auf historisch hohen Niveaus. Im Mai erreichte samt wird der Bedarf an Bauvorhaben wohl die Inflationsrate mit 7,9 Prozent nahezu einen 4 Zwar sind die Lieferengpässe in vielen Lieferländern tionen zuletzt bei rund 1/3, so dass die hiesigen Lie- deutlich weniger ausgeprägt als in Deutschland. Aller- ferengpässe die Investitionstätigkeit deutlich bremsen dings lag der Anteil der direkten Importe bei den Aus- dürften. rüstungsinvestitionen und sonstigen Anlageinvesti- 8
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 92 (2022|Q2) Rekordwert seit Erfassung der Daten. Raten von Impulse auf die Inflationsrate mehr ausgehen, über 7 Prozent, wie sie seit März zu verzeichnen wird die Inflation wohl auf 4,2 Prozent sinken. sind, liegen über denen im Wiedervereinigungs- boom und auf dem Niveau während der Ölkrisen Arbeitsmarkt in den Jahren 1973/74 und 1981. Die Kernrate (ohne Energie) betrug im Mai 4,5 Prozent, nach Die Löhne und Gehälter steigen so stark wie 4,3 und 3,6 Prozent im April und März. Auch die seit 30 Jahren nicht mehr, werden aber wohl Preise für Energie zogen weiterhin deutlich an. hinter den Verbraucherpreisanstiegen zu- Im Mai verteuerten sie sich um 38,3 Prozent ge- rückbleiben. Für das Jahr 2022 stehen die Ta- genüber dem Vorjahr. Die Beiträge der Energie- rifverdienste weitestgehend fest. Die anstehen- komponenten auf die Verbraucherpreise sind den Verhandlungen in der gewichtigen Metall- derzeit sehr hoch. Im Mai ließen allein Kraftstoffe und Elektroindustrie werden das Jahresergebnis und Heizöl die Inflationsrate um 1,4 und 0,9 Pro- kaum beeinflussen, da sie erst im Herbst begin- zentpunkte steigen. Die Verteuerung von Strom nen. Gleiches gilt für die chemische Industrie, in und Gas trug weitere 0,6 und 1 Prozentpunkte der im April eine Einmalzahlung und eine Fort- bei. Der Beitrag der Energiekomponente zur In- setzung der Verhandlungen im Herbst vereinbart flationsrate lag im April bei 3,7 Prozentpunkten wurden. Angesichts der vorliegenden Ab- und erhöhte sich im Mai auf 4 Prozentpunkte. schlüsse werden die Tarifverdienste in diesem Ein Beitrag in dieser Größenordnung zeichnet Jahr voraussichtlich um 2,8 Prozent zulegen. sich auch für den Juni ab. Entspannungen im Damit steigen sie zwar deutlich stärker als im Bereich der Energie würden zunächst bei Kraft- vergangenen Jahr, als der Zuwachs mit 1,6 Pro- stoffen und Heizöl auftreten, wenn die Rohöl- zent krisenbedingt gering ausfiel, allerdings weit- preise entsprechend unserer Annahme ab dem aus schwächer als die Verbraucherpreise. Für dritten Quartal des laufenden Jahres leicht sin- die anstehenden Tarifverhandlungen im Progno- ken. Für Strom und Gas ist aufgrund der länger- sezeitraum gehen wir von Abschlussraten zwi- fristigen Verträge auf der Verbraucherebene mit schen 4 und 5 Prozent aus. Allerdings stehen in einem allmählichen Überwälzungsprozess zu einer Reihe von Branchen die Tarifverdienste rechnen. Einige Sonderfaktoren dürften indes auch für das kommende Jahr bereits ganz oder dämpfend auf die Inflation wirken. Die Abschaf- größtenteils fest (Bauhauptgewerbe, privates fung der EEG-Umlage ab Juli wird die Inflations- Transport- und Verkehrsgewerbe, Gebäuderei- rate im zweiten Halbjahr um etwa 0,3 Prozent- nigerhandwerk, Bankgewerbe, Versicherungs- punkte senken (Einfluss auf die Jahresrate: - gewerbe, Druckindustrie, Holz und Kunststoff 0,15 Prozentpunkte). Das 9-Euro-Ticket dürfte verarbeitenden Industrie; öffentlicher Dienst der die Inflationsrate ab Juni für drei Monate um Länder bis September 2023, Einzelhandel sowie etwa 0,4 Prozentpunkte drücken (Einfluss auf Groß- und Außenhandel bis April 2023). Auf- die Jahresrate: -0,1 Prozentpunkte). Bei voller grund dieser weit ins Jahr reichenden Tarifver- Weitergabe würde der Tankrabatt mit rund 17 träge und auf Basis der unterstellten Abschluss- Cent auf Diesel und 36 Cent auf Benzin die In- raten für neue Tarifverträge ergibt sich für das flationsrate um etwa 0,5 Prozentpunkte von Juni Jahr 2023 ein Anstieg der Tarifverdienste von bis August senken (Einfluss auf die Jahresrate: - 3,8 Prozent; dies wäre der höchste Zuwachs seit 0,125 Prozentpunkte). Das Ausmaß der tatsäch- dem Jahr 1995. lichen Weitergabe ist allerdings nicht beobacht- Die gesamtwirtschaftlichen Effektivver- bar. Die Kraftstoffpreise sind bislang kaum zu- dienste (Bruttolöhne und -gehälter je Arbeit- rückgegangen, wozu aber wohl auch höhere Be- nehmer) werden spürbar schneller steigen schaffungspreise beigetragen haben. Alles in al- als die Tarifverdienste. Die Lohndrift beträgt lem wird die Inflation angesichts der preistrei- unserer Prognose zufolge 2 Prozentpunkte im benden Rahmenbedingungen voraussichtlich Jahr 2022 und 1,2 Prozentpunkte im Jahr 2023. noch für einige Zeit auf sehr hohem Niveau lie- Während im laufenden Jahr das deutlich gerin- gen. Im Jahr 2022 dürfte der Verbraucherpreis- gere Ausmaß der Kurzarbeit im Vergleich zum anstieg mit rund 7,4 Prozent sehr hoch ausfallen. Vorjahr maßgeblich ist (Beitrag von 1,7 Prozent- Im Jahr 2023, wenn die Lieferengpässe nachlas- punkten zur Lohndrift), spielt mit fortscheitender sen und von den Rohölpreisen keine weiteren 9
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 92 (2022|Q2) Zeit der höhere allgemeine Preisauftrieb und der Beschäftigungsbarometer und das IAB-Arbeits- dadurch steigende Verteilungsspielraum eine marktbarometer befinden sich am aktuellen zunehmend wichtigere Rolle. Zudem haben Ar- Rand auf hohen Niveaus, was auf einen robus- beitskräfteknappheiten einen historischen ten Beschäftigungszuwachs für das zweite und Höchststand erreicht; mittlerweile beklagen dritte Quartal hindeutet. Im weiteren Verlauf des knapp 40 Prozent der Unternehmen, dass Ar- Prognosezeitraums dürfte das Tempo allerdings beitskräftemangel ein Produktionshindernis dar- abnehmen. Die Erholung der Erwerbstätigkeit stellt. Die Erhöhung des gesetzlichen Mindest- von der Corona-Krise wird dann weit vorange- lohns auf 12 Euro brutto je Stunde zum 1. Okto- schritten sein. Zudem wird zum 1. Oktober 2022 ber 2022 erhöht die effektiven Stundenver- der gesetzliche Mindestlohn auf 12 Euro je dienste unseren Schätzungen zufolge ceteris Stunde erhöht. Angesichts der hohen Eingriffsin- paribus um 0,9 Prozent (Ademmer et al. 2022: tensität gehen wir von Beschäftigungsverlusten Kasten 3). Hinzu kommt ein Kompositionseffekt aus, die sich nach und nach materialisieren und von 0,4 Prozentpunkten aufgrund eines Stellen- so den Anstieg der Erwerbstätigkeit dämpfen verlusts und eines Rückgangs der Arbeitszeit werden (Ademmer et al. 2022: Kasten 3). der betroffenen Arbeitnehmer, die wir infolge der Schließlich wird sich im kommenden Jahr be- Mindestlohnerhöhung erwarten. Der Rückgang merkbar machen, dass das Arbeitskräfteange- der Arbeitszeit führt auch dazu, dass die Monats- bot alterungsbedingt wohl seinen Zenit erreichen verdienste je Arbeitnehmer weniger stark stei- wird. Die Fluchtmigration aus der Ukraine dürfte gen als die Stundenverdienste. Im laufenden sich bei der Erwerbstätigkeit erst allmählich be- Jahr beträgt der Effekt der Mindestlohnerhöhung merkbar machen. Die Auswirkungen auf die Ar- auf den Anstieg der Pro-Kopf-Verdienste unse- beitslosigkeit werden hingegen wohl deutlich frü- rer Prognose zufolge 0,2 Prozentpunkte, im her sichtbar werden; die Zahl der Arbeitslosen kommenden Jahr 0,6 Prozentpunkte. Alles in al- mit ukrainischer Staatsangehörigkeit ist im Mai lem dürften die Effektivverdienste je Arbeitneh- bereits sprunghaft gestiegen.6 mer um 4,8 Prozent (2022) bzw. 5,0 Prozent Die Stundenproduktivität schwächelt im lau- (2023) sehr kräftig zulegen. fenden Jahr. Die kräftige Erholung am Arbeits- Die Erholung der Erwerbstätigkeit von der markt führt dazu, dass die Zahl der Erwerbstäti- Corona-Krise setzt sich ungeachtet des gen im Durchschnitt des laufendenden Jahres Kriegs in der Ukraine fort. Der Ausbruch des deutlich über dem Niveau des Vorjahres liegen Kriegs in der Ukraine hat bislang kaum Spuren wird (1,5 Prozent). Die Arbeitszeit je Erwerbstä- am Arbeitsmarkt hinterlassen. Die Kurzarbeit tigen steigt ebenfalls (0,8 Prozent), vor allem (Beschäftigtenäquivalent) sank zwischen Januar weil die Kurzarbeit im laufenden Jahr auf einem und März – nach einem geringfügigen Anstieg viel niedrigeren Niveau liegt als im vergangenen um die Jahreswende –, und die ifo Schätzung Jahr. In der Summe steigt das gesamtwirtschaft- auf Basis von Unternehmensbefragungen deutet liche Arbeitsvolumen der Erwerbstätigen somit für April und Mai auf einen fortgesetzten Abbau sehr kräftig um 2,3 Prozent. Für das laufende hin. Die Zahl der Erwerbstätigen erholte sich bis Jahr zeichnet sich daher eine schwache Arbeits- April ungebremst weiter und überschritt erstmals produktivität je Stunde ab; in unserer Prognose das Niveau aus der Vor-Corona-Zeit zu Beginn sinkt sie um 0,3 Prozent. Ein Grund hierfür des Jahres 2020.5 Die Arbeitslosigkeit sank bis könnte sein, dass in diesem Jahr die Erholung Mai weiter und lag ebenfalls wieder auf Vorkri- von der Pandemie nicht zuletzt aufgrund der senniveau. Frühindikatoren wie das ifo wirtschaftlichen Folgen des Kriegs in der Ukraine 5 Vom kontrafaktischen Niveau ohne Corona-Krise uns an den Annahmen von Gartner et al. (2022) bzgl. dürfte die Erwerbstätigkeit freilich noch ein ganzes des Anteils der Personen im erwerbsfähigen Alter (45 Stück weit entfernt sein. Prozent), der Erwerbsbeteiligung (60 Prozent), der 6 Wir nehmen an, dass die Zahl der Geflüchteten aus Beteiligung an Kursen und arbeitsmarktpolitischen der Ukraine in Deutschland im Jahresdurchschnitt Maßnahmen (90 Prozent) sowie der monatlichen Ab- 2022 rund 500 000 Personen und im Jahresdurch- gangsrate aus Arbeitslosigkeit in Beschäftigung (5 schnitt 2023 knapp 800 000 Personen beträgt. Um die Prozent). Folgen für den Arbeitsmarkt abzuleiten, orientieren wir 10
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 92 (2022|Q2) schwächer ausfällt als erwartet, die Unterneh- Vorjahr, unter anderem weil zwar weiterhin Mittel men angesichts der rekordhohen Arbeitskräfte- aus dem NextGenerationEU-Programm an knappheit allerdings in starkem Ausmaß an ih- Deutschland fließen, diese aber deutlich weniger ren Beschäftigten festhalten, zumal der Auf- stark zulegen als im Vorjahr. tragsbestand hoch ist. Die Arbeitsproduktivität Der Ausgabenanstieg legt im laufenden Jahr wird zudem durch einen – wenn auch geringen eine Pause ein. Maßgeblich ist ein scharfer – Kompositionseffekt gedämpft, da sich die Wirt- Rückgang der Subventionen, die sich nahezu schaftsbereiche mit einer unterdurchschnittli- halbieren. Insbesondere Unternehmenshilfen im chen Arbeitsproduktivität (Dienstleistungen) Zuge der Corona-Pandemie entfallen, so unter stärker expandieren als die mit einer überdurch- anderem die Erstattungen von Sozialbeiträgen schnittlichen Arbeitsproduktivität (Verarbeiten- durch die Bundesagentur für Arbeit im Rahmen des Gewerbe). der Kurzarbeit. In Aussicht gestellte Unterneh- menshilfen für von Energiepreisanstiegen be- Öffentliche Finanzen sonders betroffenen Unternehmen werden dies nicht aufwiegen. Ebenfalls dürften die Gütersub- Die jüngsten Zahlen zu den öffentlichen Fi- ventionen sinken, da durch den hohen Strom- nanzen haben positiv überrascht. Insbeson- preis staatliche Hilfen zur Deckelung bzw. Ab- dere die umsatz- und gewinnabhängigen Steu- schaffung der EEG-Umlage geringer ausfallen ereinnahmen sind in den ersten Monaten des als im Vorjahr. Bei den Vermögenstransfers Jahres kräftig gestiegen. Im ersten Quartal war zeichnet sich ein leichter Rückgang ab. Zwar ist der Budgetsaldo des Gesamtstaates laut VGR in der Tendenz angesichts von Investitionszu- nahezu ausgeglichen. In den kommenden Quar- schüssen in den Bereichen Klimaschutz und Di- talen kommt es zwar durch die Entlastungspa- gitalisierung mit einem merklichen Plus zu rech- kete, die kräftige Rentenanhebung zum 1. Juli nen, doch entfallen im laufenden Jahr die Eigen- und zusätzliche Ausgaben im Zuge der Flucht- kapitalhilfen an die Deutsche Bahn und Aus- migration aus der Ukraine zu Mehrausgaben, gleichszahlungen an die Betreiber von Kern- doch entfallen auch Belastungen, die im Zuge kraftwerken. Deutlich aufwärtsgerichtet sind hin- der Corona-Pandemie aufgetreten sind, so dass gegen die Investitionsausgaben, unter anderem der Fehlbetrag im laufenden Jahr deutlich nied- weil Erdgaslagerbestände aufgestockt werden. riger ausfallen dürfte als im Jahr 2021. Ebenso dürften die monetären Sozialleistungen Die Einnahmen des Staates legen deutlich trotz des Rückgangs der Kurzarbeit und der Ar- zu, wenn auch mit geringerem Tempo als im beitslosigkeit sowie eines geringeren Kinderbo- Jahr 2021. Die Steuereinnahmen profitieren von nus als im Jahr 2021 stärker steigen, da zum 1. dem deutlichen Plus der nominalen Konsumaus- Juli die Renten kräftig angehoben werden und gaben und dem robusten Arbeitsmarkt. Zudem eine Energiepreispauschale in Höhe von 300 gehen wir davon aus, dass die Unternehmens- Euro für Erwerbstätige ausgereicht wird. Zudem steuern weiter stärker zunehmen als die gesamt- gibt es Einmalzahlungen für Empfänger von wirtschaftlichen Gewinngrößen. Gedämpft wird Transfereinkommen. Ferner fallen zusätzliche der Anstieg von der temporären Absenkung der Hilfszahlungen für Flüchtlinge aus der Ukraine Energiesteuersätze für Benzin und Diesel sowie an. Durch die zusätzliche Fluchtmigration dürf- den Anhebungen des Grundfreibetrags in der ten zudem Ausgaben für Vorleistungen weiter Einkommensteuer, der Pendlerpauschale für zulegen, obwohl diverse pandemiebezogene Fernpendler und der Werbungskostenpau- Ausgaben wohl entfallen. Insgesamt werden die schale. Nur unwesentlich schwächer dürfte das Ausgaben des Staates im Jahr 2022 nur sehr Plus bei den Sozialversicherungseinnahmen verhalten steigen, freilich nach deutlichen Zu- sein, die ebenfalls von der Erholung am Arbeits- wächsen in den beiden Vorjahren. markt profitieren. Zugleich wurden die Beitrags- Im Jahr 2023 dauert der Einnahmeanstieg un- sätze in der Pflegeversicherung und Zusatzbei- vermindert an. Die wirtschaftliche Expansion träge von vielen Krankenversicherungen erhöht. und insbesondere die Zunahme der Bruttolöhne Die sonstigen Einnahmen des Staates dürften und -gehälter sorgen für steigende Staatsein- mit deutlich geringerem Tempo anziehen als im nahmen. Die Beitragseinnahmen profitieren 11
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 92 (2022|Q2) zudem von höheren Beitragssätzen in der Ar- Lagerbestand im Verarbeiten Gewerbe plausibi- beitslosenversicherung. Einem noch höheren lisiert das Statistische Bundesamt die Entwick- Anstieg der Steuereinnahmen dürfte die turnus- lung der Vorratsveränderungen anhand der Ab- mäßige Verschiebung der Tarifeckwerte der Ein- stimmung von Verwendungs- und Entstehungs- kommensteuer zum Abbau der „kalten Progres- rechnung zum Bruttoinlandsprodukt. Vor diesem sion“ sowie eine anstehende Reform der Ren- Hintergrund könnte im ersten Quartal die im Ver- tenbesteuerung entgegenwirken. Zudem sorgen gleich zu den Warenexporten robuste Entwick- höhere Mauttarife für ein Plus bei den Verkäu- lung der Bruttowertschöpfung im Verarbeitenden fen. Gewerbe zu einer Diskrepanz zwischen der Ver- wendungs- und Entstehungsrechnung geführt Die Ausgaben nehmen 2023 wieder Fahrt auf. haben, die sich in dem positiven Lagerbeitrag wi- Insbesondere rechnen wir mit steigenden Aus- derspiegelt. Für das zweite Quartal rechnen wir rüstungsinvestitionen, in denen sich Ausgaben mit einer gegenläufigen Entwicklung: Die Frühin- des Sondervermögens Bundeswehr nieder- dikatoren deuten auf einen deutlichen Rückgang schlagen, und mit einem deutlichen Plus bei In- der Bruttowertschöpfung im Verarbeitenden Ge- vestitionszuschüssen in den Bereichen Klima werbe hin, während wir in unserer Prognose von und Digitalisierung. Die Vorleistungskäufe hin- leicht steigenden Exporten ausgehen. Dies gegen dürften nach den deutlichen Anstiegen würde für sich genommen für einen deutlich ne- der Vorjahre nur noch schwach expandieren. gativen Beitrag der Vorratsveränderungen spre- Vergleichsweise gering dürften zudem die mo- chen. Zwar lässt sich in der Vergangenheit zu- netären Sozialleistungen zulegen. Zwar werden mindest unterjährig eine Korrelation mit der Dis- Regelsätze mit der Inflation deutlich steigen. krepanz zwischen Bruttowertschöpfung im Ver- Doch entfallen die Einmalzahlungen aus den arbeitenden Gewerbe und Exporten feststellen. Entlastungspaketen, und der Flüchtlingszustrom Allerdings gibt es auch immer wieder größere dürfte abebben bzw. vielen der Übergang in den Abweichungen. Insbesondere im vergangenen Arbeitsmarkt gelingen. Insgesamt legen die Aus- Jahr sind die Exporte unterjährig deutlich stärker gaben aber in moderaterem Tempo zu als die gestiegen als die Bruttowertschöpfung im Verar- Einnahmen, so dass das Budgetdefizit weiter beitenden Gewerbe, ohne dass diese Entwick- sinkt. Der Bruttoschuldenstand wird wohl gegen lung von den Vorratsveränderungen nachge- Ende des Jahres wieder in die Nähe der 60-Pro- zeichnet worden wäre. Zudem deuten die Um- zent-Marke rutschen. fragedaten darauf hin, dass sich die Lagerbe- stände ohne größere Schwankungen zuletzt Risiken und Wirtschaftspolitik durchgängig auf äußerst niedrigem Niveau be- Die zuletzt auffälligen Vorratsveränderungen funden haben, was angesichts der Liefereng- erhöhen die Prognoseunsicherheit. Ohne den pässe plausibel ist. Schließlich würde ein stark Expansionsbeitrag der Vorratsveränderung in negativer Beitrag der Vorratsveränderungen ver- Höhe von 1,1 Prozentpunkten wäre das Brutto- wendungsseitig gegeben unsere Prognosen für inlandsprodukt im ersten Quartal für sich genom- die anderen Verwendungskomponenten für ei- men deutlich gesunken. Grundsätzlich dürften nen deutlichen Rückgang des Bruttoinlandspro- die Vorratsveränderungen systematisch über dukts sprechen, der in diesem Ausmaß nicht den Konjunkturzyklus schwanken (Sichel 1994). durch die Frühindikatoren angezeigt wird. Zwar Für Deutschland liegen jedoch keine unterjähri- könnte dies auch ein Indiz dafür sein, dass Kor- gen originären Informationen zu den Vorratsver- rekturbedarf bei den anderen Verwendungskom- änderungen vor. Insgesamt haben sie in den ponenten besteht. Allerdings liegen für diese am deutschen Volkswirtschaftlichen Gesamtrech- jeweils aktuellen Rand in der Regel deutlich nungen den Charakter einer Restgröße, die oft mehr Informationen vor als für die Vorratsverän- erratisch schwankt. Aus diesem Grund wird hier- derungen. Insgesamt bleiben wir deshalb bei un- für in Prognosen typischerweise eine expansi- serer üblichen Vorgehensweise und unterstellen onsneutrale Entwicklung unterstellt. Neben dem für unsere Prognose keinen Expansionsbeitrag Zusammenspiel von Umsätzen und Produktion der Vorratsveränderungen, zumal die Position und Unternehmensbefragungen zum der Vorratsveränderungen sehr revisionsanfällig ist (Döhrn 2019). 12
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 92 (2022|Q2) Die Corona-Phase erschwert die Diagnose die politische Reaktion darauf stellen weiterhin der Produktionsmöglichkeiten. Der Konjunk- ein Risiko für die ökonomische Aktivität dar, ins- turverlauf hängt maßgeblich davon ab, welches besondere im kommenden Winterhalbjahr. Wei- Produktionsniveau bei Normalauslastung der terhin bildet die Annahme zur Überwindung der gesamtwirtschaftlichen Produktionskapazitäten Lieferengpässe nach wie vor ein beträchtliches möglich ist. Hieraus ergeben sich insbesondere Prognoserisiko. Schließlich beruht auch die Ver- das Aufholpotenzial wie auch die Einschätzung wendung der während der Pandemie aufgestau- für eine mögliche temporäre Überauslastung. Im ten Kaufkraft auf einer Setzung, die sich nur auf Zuge der Pandemie blieb die ökonomische Akti- Umfragen stützen kann, da ein solches Phäno- vität bedingt durch exogene Faktoren seit über men zuvor nicht in vergleichbarem Ausmaß be- zwei Jahren unter dem sonst möglichen Niveau obachtet wurde. zurück. Das erschwert die Bestimmung des ge- Breitenwirksame Entlastungen wirken stabi- samtwirtschaftlichen Produktionspotenzials, da lisierungspolitisch kontraproduktiv. Der ge- die Schätzverfahren empfindlich auf starke Akti- genwärtige Teuerungsdruck ist auch eine Folge vitätsänderungen am Ende des Stützzeitraums der weltweit massiven fiskal- und geldpolitischen reagieren (Ademmer et al. 2019). Derzeit weisen Stabilisierungsmaßnahmen während der Pande- sie am aktuellen Rand auf eine weiterhin deutli- miephase (Kooths 2022). Hierdurch sind im Pri- che gesamtwirtschaftliche Unterauslastung hin. vatsektor Einkommen entstanden, denen keine Dies kontrastiert mit den Ergebnissen von Unter- Güterproduktion gegenüberstand. Mangels Aus- nehmensbefragungen, denen zufolge das Nor- gabegelegenheiten erhöhten sie zunächst die malniveau der Kapazitätsauslastung schon wie- Ersparnis und werden nun zum Teil nachfrage- der erreicht ist. Auch klagen bereits heute schon wirksam. Dies erhöht die Preise auf den Güter- nahezu alle Branchen über Arbeitskräftemangel märkten, wodurch sich ein Teil der zuvor künst- auf einem bislang nicht verzeichneten Niveau. lich geschaffenen Kaufkraft wieder abbaut. Ver- Die deutliche Diskrepanz zwischen der über sucht die Finanzpolitik nun, dem durch breit an- Schätzverfahren abgeleiteten Produktionslücke gelegte Entlastungspakete entgegenzuwirken, und den Umfrageergebnissen verweist auf das entstehen abermals staatlich alimentierte Ein- Risiko, dass in der Kapazitätsauslastung weni- kommen, die dem Inflationsprozess neue Nah- ger Luft nach oben ist, als in dieser Prognose un- rung geben. Der Staat kann die Folgen von terstellt. In diesem Fall würde die realwirtschaft- Preisanstiegen nur umverteilen, die Breite der liche Expansionsdynamik im Prognosezeitraum Bevölkerung aber nicht entlasten. Dies spricht schwächer und die Preisdynamik stärker ausfal- dafür, Hilfsmaßnahmen auf solche Haushalte zu len. beschränken, die sonst in ihrer sozioökonomi- Das Risikoumfeld hat sich gegenüber dem schen Existenz gefährdet wären. Dies gelingt Frühjahr kaum geändert. Weiterhin zeichnet am besten, indem die entsprechenden nomina- sich kein Ende des Kriegs in der Ukraine und der len Sozialleistungen zeitnah an die Inflationsent- damit verbundenen Beeinträchtigungen der öko- wicklung gekoppelt werden. Dies gilt auch für die nomischen Aktivität ab. Diese liegen neben der Anpassung der Tarifeckwerte in der Einkom- allgemeinen höheren Unsicherheit insbesondere mensteuer („kalte Progression“), sofern die Infla- im Rohstoffpreisanstieg, dem Sanktionsregime tion auf der Einkommensseite der Steuerpflichti- sowie in politischer Destabilisierung in ärmeren gen ankommt. Andernfalls führt der Ausgleich Ländern infolge ausbleibender Agrarrohstofflie- der „kalten Progression“ zu einer rückläufigen ferungen. Etwas gemildert ist gegenüber der Steuerquote, was in einem inflationären Umfeld Lage im März allerdings das Risiko einer unge- stabilisierungspolitisch nicht geboten ist. nügenden Gasversorgung im kommenden Win- Der Inflationsdruck stellt die Glaubwürdig- ter (Gornig et al. 2022), da es bislang zu keiner keit der Geldpolitik auf die Probe. Derzeit be- Unterbrechung der russischen Lieferungen ge- wegt sich die Inflation weitab der Raten, die die kommen ist und so bereits wieder höhere Spei- Europäische Zentralbank mittelfristig anpeilt. cherstände erreicht werden. Zudem kam es zu Weil sie diese Entwicklung nicht vorhergesehen Fortschritten für das zukünftige Anlanden von hatte, hat sie bislang auch noch keine Gegen- Flüssiggas. Auch das Infektionsgeschehen und maßnahmen ergriffen. Vielmehr hat sie während 13
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