KIELER KONJUNKTUR-BERICHTE - Weltwirtschaft im Herbst 2020 - Kieler Wirtschaftsförderung
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KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 69 (2020|Q3) KIELER KONJUNKTUR- BERICHTE Weltwirtschaft im Herbst 2020 Abgeschlossen am 16. September 2020 © Daniel Wolcke / IfW Kiel Nr. 69 (2020|Q3) Klaus-Jürgen Gern, Philipp Hauber, Stefan Kooths, und Ulrich Stolzenburg Prognosezentrum 1
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 69 (2020|Q3) INHALTSVERZEICHNIS Weltwirtschaft im Herbst 2020: Erholung vom Corona-Schock bleibt vorerst unvollständig Überblick ........................................................................................................................... 3 Ausblick: Nur teilweise Erholung trotz kräftigen Produktionsanstiegs........................ 14 Die Prognose im Einzelnen.............................................................................................. 17 US-Konjunktur erholt sich von Corona-Einbruch ....................................................... 17 China: Konjunktur nähert sich zügig der Normalauslastung .. Fehler! Textmarke nicht definiert. Noch verhaltene Erholung in Japan .......................................................................... 23 Mühsame Erholung nach tiefem Einbruch in der Europäischen Union ...................... 24 Brexit-Unsicherheit belastet die Konjunktur im Vereinigten Königreich zusätzlich ..... 26 Konjunkturerholung nach tiefer Rezession in den Schwellenländern ........................ 27 Literatur ........................................................................................................................... 31 2
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 69 (2020|Q3) WELTWIRTSCHAFT IM HERBST 2020: ERHOLUNG VOM CORONA-SCHOCK BLEIBT VORERST UNVOLLSTÄNDIG Von Klaus-Jürgen Gern, Philipp Hauber, Stefan Kooths und Ulrich Stolzenburg Die weltwirtschaftliche Aktivität ist infolge der Covid- Überblick 19-Pandemie im ersten Halbjahr 2020 um annähernd 10 Prozent gesunken. Nach einem Rückgang um 3 Die Weltproduktion ist infolge der Covid-19- Prozent im ersten Quartal brach die Weltproduktion im Pandemie im Frühjahr dramatisch gesunken, zweiten Quartal um rund 7 Prozent ein, auch weil welt- die Erholung hat aber bereits eingesetzt. Die weit Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie er- weltwirtschaftliche Aktivität brach im zweiten griffen wurden. Inzwischen hat aber eine Erholung Quartal 2020 um knapp 7 Prozent ein, nachdem eingesetzt, die für das dritte Quartal hohe weltwirt- bereits im ersten Quartal ein Rückgang von schaftliche Zuwachsraten erwarten lässt. Anders als reichlich 3 Prozent verzeichnet worden war (Ab- in China wird die Produktion ihr Vorkrisenniveau aber bildung 1). Der wirtschaftliche Einbruch war auch in den meisten Ländern noch deutlich verfehlen. Die Folge der Bemühungen um eine Eindämmung weitere Normalisierung dürfte sich in erheblich lang- der COVID-19-Pandemie. In zahlreichen Län- samerem Tempo vollziehen, auch weil die Pandemie dern wurden teils drakonische Maßnahmen zur noch nicht überwunden ist und bedeutende Teile der Eindämmung des Coronavirus ergriffen, zu- Wirtschaft noch längere Zeit unter Corona-bedingten Einschränkungen leiden werden. Im laufenden Jahr nächst in China, wo die negativen Auswirkungen wird wohl ein Rückgang der Weltproduktion (gemes- der Eindämmungspolitik auf die wirtschaftliche sen auf Basis von Kaufkraftparitäten) von 3,6 Prozent Aktivität im Wesentlichen bereits im ersten Quar- zu verzeichnen sein. Für 2021 rechnen wir zwar mit tal wirksam wurden, in der Folge dann in einer einem kräftigen Anstieg der Produktion um 6,7 Pro- zunehmenden Anzahl von Industrie- und zent. Die durch die Corona-Krise verursachten Ein- Schwellenländern. kommenseinbußen und eine infolge von verschlech- terten Absatzerwartungen und einer reduzierten Ei- Abbildung 1: genkapitalbasis vermutlich nachhaltig gedämpfte In- Weltwirtschaftliche Aktivität 2007 - 2020 vestitionsneigung wird aber dazu führen, dass das Ni- Prozent Index veau der Weltproduktion auf längere Zeit deutlich un- 1,5 ter dem Pfad bleibt, den wir noch zu Jahresbeginn er- 3,0 1,0 wartet hatten. Im Vergleich zu unserer Prognose vom Bruttoinlandsprodukt Juni haben wir die Prognose für 2020 um 0,2 Prozent- 1,0 0,5 punkte und für 2021 um 0,5 Prozentpunkte nach oben 0,0 revidiert. -1,0 -0,5 -1,0 -3,0 -1,5 IfW-Indikator (rechte Skala) -2,0 -5,0 -2,5 -7,0 -3,0 Quartalsdaten; saisonbereinigt; Indikator be-rechnet auf Basis von Stimmungsindikatoren aus 42 Ländern; Bruttoinlands- produkt: preisbereinigt, Veränderung gegenüber dem Vorquartal, 46 Länder, gewichtet nach Kaufkraftparität. Quelle: OECD, Main Economic Indicators; nationale Quellen; Berechnungen des IfW Kiel. 3
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 69 (2020|Q3) Ab Mai wurden viele der Beschränkungen nach Abbildung 3: und nach aufgehoben, und die Produktion be- Welthandel 2012-2020 lebte sich, wie zuvor schon in China. Dennoch 2012=100 130 fiel das Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal Welthandel insgesamt insgesamt in den meisten Ländern sehr deutlich Industrieländer unter das Niveau des ersten Quartals; in man- 120 Entwicklungs-und chen Ländern, etwa im Vereinigten Königreich, Schwellenländer in Indien und Peru, betrug der Rückgang mehr als 20 Prozent. Inzwischen hat aber überall eine Erholung eingesetzt, die durch den auf Basis von 110 Stimmungsindikatoren aus 42 Ländern berech- neten IfW-Indikator für die weltwirtschaftliche Aktivität, noch unterzeichnet sein dürfte. So hat 100 die globale Industrieproduktion zur Jahresmitte wieder deutlich angezogen. Sie lag im Juni schon um 3,5 Prozent über dem Durchschnitts- 90 niveau des zweiten Quartals (Abbildung 2) und 2012 2014 2016 2018 2020 die verfügbaren Zahlen für Juli deuten auf einen Monatsdaten; preis- und saisonbereinigt. weiteren kräftigen Anstieg hin. Quelle: CPB, World Trade Monitor; Berechnungen des IfW Kiel. Der Welthandel ist bereits wieder deutlich ge- stiegen. Das weltweite Handelsvolumen sank von 4,5 Prozent mit einem kräftigen Zuwachs ge- nach den Berechnungen des CPB in den ersten rechnet werden kann. Im Vergleich zur Großen fünf Monaten dieses Jahres um insgesamt 17 Rezession 2008/2009 ist der Rückgang des Prozent, wobei der stärkste Einbruch im April Welthandels zwar ähnlich groß (-18,6 Prozent). verzeichnet wurde (Abbildung 3). Im Juni sprang Damals zog er sich aber über einen längeren die weltweite Handelsaktivität aber wieder deut- Zeitraum hin, und er war mit einem geringeren lich nach oben, so dass für das dritte Quartal bei Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produk- einem statistischen Überhang tion verbunden. Während der Finanzkrise war der Welthandel ein aufgrund von Problemen bei Abbildung 2: Industrieproduktion nach Ländergruppen 2012–2020 der Finanzierung des Handels wichtiger Treiber der Krise (Ahn et al. 2011, Contessi und Nicola 2012=100 130 2012). Gegenwärtig steht das Finanzsystem Industrieländer nicht im Zentrum und Regierungen, staatliche Entwicklungs-und und zwischen staatliche Entwicklungsbanken 120 Schwellenländer Welt (wie Weltbank, Europäische Entwicklungsbank oder Asiatische Entwicklungsbank) sowie Regu- 110 lierungsbehörden haben rasch reagiert, um die Abwicklung des Handels von der finanziellen 100 Seite zu stützen und aufkommenden Schwierig- keiten bei der Handelsfinanzierung zu begegnen (ICC 2020, EBRD 2020). Anders als 2008/2009 90 sind in der Coronakrise insbesondere auch weite Teile des Dienstleistungssektors betroffen. 80 Durch die Maßnahmen zur Eindämmung der 2012 2014 2016 2018 2020 Pandemie ist nämlich gerade der grenzüber- schreitende Austausch von Dienstleistungen, Monatsdaten; preis- und saisonbereinigt. Letzter Wert: Juni 2020 etwa im Luftverkehr und Tourismussektor, Quelle: CPB, World Trade Monitor; Berechnungen des IfW Kiel. 4
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 69 (2020|Q3) besonders reduziert worden und die Erholung in den Ländern verzeichnet, die wie Spanien, Ita- diesem Bereich gestaltet sich zäh.1 lien und Frankreich einen hohen Anteil der Wert- schöpfung durch den internationalen Tourismus In den fortgeschrittenen Volkswirtschaften erzielen, da in großem Umfang Dienstleistungs- ist die Produktion im Zusammenhang mit der exporte entfallen sind. Auffällig ist, dass in ein- Coronakrise nahezu überall deutlich gesun- zelnen Ländern, etwa im Vereinigten Königreich ken, das Ausmaß des Einbruchs unterschei- und in Frankreich, der Staatskonsum preisberei- det sich zwischen den Ländern aber deutlich. nigt massiv eingebrochen ist, bei gleichzeitig In den fortgeschrittenen Volkswirtschaften ins- stark gestiegenem Deflator, während in den gesamt ist das Bruttoinlandsprodukt im zweiten meisten Ländern der reale Staatskonsum entwe- Quartal um 10,5 Prozent eingebrochen, nach- der zunahm oder nur moderat zurückging und dem es bereits im ersten Quartal um 2 Prozent die Entwicklung des entsprechendes Deflators zurückgegangen war. Da sich die Produktions- unauffällig war. Dies lässt auf Unterschiede in rückgänge in den einzelnen Ländern in unter- der statistischen Behandlung der staatlichen Ak- schiedlichem Verhältnis auf das erste und das tivität (etwa im Bildungssektor, wo Schulen und zweite Quartal verteilten, ist es zweckmäßig, den Universitäten in vielen Ländern zeitweise ge- Rückgang des Bruttoinlandsprodukts im ersten schlossen waren) schließen, was die internatio- Halbjahr zusammengenommen zu betrachten, nale Vergleichbarkeit der ausgewiesenen Zah- um die Stärke des wirtschaftlichen Einbruchs len einschränkt. durch den Corona-Schock international zu ver- In China hat die Produktion das Vorkrisenni- gleichen (Abbildung 4). Besonders stark getrof- veau bereits überschritten – damit ist das fen wurden das Vereinigte Königreich und Spa- Land aber eine seltene Ausnahme. Die Erho- nien, wo das Bruttoinlandsprodukt jeweils um lung vom durch die COVID-19-Epidemie und die fast 23 Prozent einbrach, sowie Italien und zu ihrer Bekämpfung getroffenen Einhegungs- Frankreich, die einen Rückgang um fast 20 Pro- maßnahmen verursachten Konjunktureinbruch zent verzeichneten. Relativ moderat war der hatte in China bereits im März eingesetzt und Rückgang vor allem in einigen fortgeschrittenen sich im Frühjahr fortgesetzt, wobei die chinesi- Volkswirtschaften im asiatischen Raum wie Ko- schen Exporteure auch von der großen weltwei- rea (-4 Prozent) und Taiwan (-2,5 Prozent), wo ten Nachfrage nach persönlicher Schutzausrüs- die Ausbreitung von COVOD-19 vergleichs- tung profitierten (Deutsche Bundesbank 2020). weise früh und effektiv bekämpft wurde. Be- Die gesamtwirtschaftliche Produktion erreichte trachtet man die Entwicklung der verschiedenen bereits im zweiten Quartal wieder ihr Vorkrisen- Verwendungsaggregate, so ist für die Corona- niveau, von ihrem vor der Krise verzeichneten krise bezeichnend, dass der private Konsum – Expansionspfad ist sie freilich auch in China eine üblicherweise im Konjunkturzyklus ver- noch ein gutes Stück entfernt. gleichsweise stabile Komponente – drastisch eingeschränkt wurde. Nahezu überall wurde ein In den übrigen Schwellenländern ist Covid- Rückgang um mehr als 10 Prozent verzeichnet, 19 zwar noch nicht eingedämmt, die Kon- im Vereinigten Königreich und in Spanien sogar junktur hat aber trotzdem angezogen In den um annähernd 25 Prozent. Die Investitionen meisten übrigen Schwellenländern entwickelte wurden zumeist ebenfalls deutlich einge- sich die Krise in etwa im Gleichschritt mit den schränkt, in der Regel aber nicht stärker als der fortgeschrittenen Volkswirtschaften. Steigende private Konsum. In einigen Ländern, so in Korea Infektionszahlen und zum Teil drastische Lock- und Japan, beschränkte sich der Rückgang so- down-Maßnahmen führten zu in manchen Län- gar auf eine Größenordnung, wie sie in normalen dern dramatischen Produktionseinbrüchen, etwa Konjunkturzyklen gelegentlich zu verzeichnen um fast 25 Prozent in Indien und nahezu 30 Pro- ist. Der Außenhandel war stark betroffen, sowohl zent in Peru. Obwohl die Ausbreitung der Pan- Importe wie Exporte gingen drastisch zurück. demie durch die staatlichen Beschränkungs- Besonders starke Exporteinbußen wurden in maßnahmen nicht nachhaltig reduziert 1 So weist die internationale Luftverkehrsvereinigung Rückgang der geflogenen Personenkilometer um fast IATA auch im Juli noch auf globaler Basis einen 80 Prozent aus (IATA 2020). 5
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 69 (2020|Q3) Abbildung 4: Bruttoinlandsprodukt und Verwendungskomponenten in ausgewählten Ländern Bruttoinlandsprodukt privater Konsum 0 0 -10 -10 -20 -20 -30 -30 Q1 Q2 Gesamt -40 -40 Exporte Staatskonsum 0 0 -10 -10 -20 -20 -30 -30 -40 -40 Preis- und saisonbereinigt, Gesamt: prozentuale Veränderung des Niveaus im zweiten Quartal 2020 gegenüber dem vierten Quartal 2019; Q1 und Q2: Beiträge der jeweiligen Quartale. Quelle: nationale Statistikämter, OECD Main Economic Indicators werden konnte, wurden sie im Frühjahr gelo- Tourismus, andernorts dämpfen gesunkene ckert, und eine wirtschaftliche Belebung setzte Rohstoffeinnahmen, in Ölexportländern auch auch hier ein, wenngleich zum Teil recht zöger- eine zum Teil freiwillig zur Stützung der Preise lich. Gebremst wird die Erholung in einigen Län- gedrosselte Förderung die wirtschaftliche Aktivi- dern (etwa in der Türkei, in Thailand und den tät. Philippinen) durch die anhaltende Flaute im 6
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 69 (2020|Q3) Die Unterschiede in der Produktionsentwick- Abbildung 5: lung lassen sich zu einem Teil durch die Maßnahmenstrenge und Bruttoinlandsprodukt Härte und Länge der wirtschaftlichen Be- schränkungen erklären. Die Regierungen ha- China ben auf die Ausbreitung des Coronavirus mit 0 zahlreichen Maßnahmen reagiert, welche die KOR soziale Interaktion vermindern und damit die In- SWE Bruttoinlandsprodukt RUS fektionswelle brechen sollen. Diese reichten von -10 Reisebeschränkungen und dem Verbot von DEU Großveranstaltungen über Beschränkungen des ITA Angebots von Dienstleistungen und im Handel AUT -20 FRA bis hin zu kategorischen Ausgangssperren. Das VK Ausmaß der Regulierungen unterscheidet sich Indien von Land zu Land bezüglich des Zeitpunkts der Einführung, der Strenge der Maßnahmen sowie -30 20 30 40 50 60 70 der Dauer ihrer Wirksamkeit. Ein Zusammen- Stringency Index hang zwischen der staatlichen Reaktion und dem Ausmaß des wirtschaftlichen Einbruchs Daten für 34 Länder. Bruttoinlandsprodukt: kalender- und saison- berenigt, prozentuale Veränderung zwischen dem vierten lässt sich mit Hilfe eines an der Universität Quartal 2019 und dem zweiten Quartal 2020. Stringency-Index: Oxford entwickelten Index der Strenge der Maß- Strenge der Maßnahmen zur Eindämmung von COVID-19, Durchschnitt im ersten Halbjahr des Jahres 2020. nahmen (Stringency Index) zeigen, wenngleich Quelle: Hale et al. (2020).Oxford COVID-19 Government die Korrelation alles andere als perfekt ist (Abbil- Response Tracker, Blavatnik School of Government; Eurostat, dung 5). Insbesondere China scheint ein Son- OECD, Deutsche Bundesbank. derfall zu sein, wo sich die gemessene Strenge der Maßnahmen im Zeitablauf nur wenig verrin- gert, zuletzt sogar wieder erhöht hat, und die Kurzarbeitsprogramme gedämpft, für die bis zu Produktion sich dennoch rasch erholt. Offenbar einem Drittel der Beschäftigten angemeldet wor- wirken die noch bestehenden Maßnahmen we- den waren. Zum anderen müssen sich Arbeits- niger bremsend. Neben der Strenge der Maß- lose aktiv um einen neuen Arbeitsplatz bemü- nahmen der Regierung sind darüber hinaus Fak- hen, um nach den Regeln der Internationalen Ar- toren wichtig wie die Übertragung der negativen beitsorganisation (ILO) als erwerbslos zu zäh- Konjunkturimpulse über den Außenhandel, Un- len. Dies war angesichts der geschlossenen Be- terschiede in der Wirtschaftsstruktur wie ein un- triebsstätten und Kinderbetreuungseinrichtun- terschiedliches Gewicht des internationalen gen in der Phase des Lockdowns wohl vielfach Tourismus, sowie „freiwillige“ Verhaltensände- nicht der Fall. Inzwischen steigt die Arbeitslosig- rungen im Angesicht der Pandemie. So haben keit aber verbreitet an, wenngleich in einem ver- sich die Umsätze im Einzelhandel und in der glichen mit dem Ausmaß des Produktionsein- Gastronomie auch in Schweden im März und bruchs noch moderaten Tempo. Anders ist das April stark verringert, obwohl – anders als in den Bild in den Vereinigten Staaten: Hier kam es bei meisten anderen europäischen Ländern – die Fehlen einer Kurzarbeitsregelung im Frühjahr in Geschäftstätigkeit nicht staatlicherseits be- großem Umfang zu Entlassungen, die Erwerbs- schränkt wurde. losenquote stieg im April auf ein Rekordniveau von 14,7 Prozent. Zwar kehrte ein großer Teil Die Beschäftigungswirkungen der Krise wer- der Arbeitslosen nach der Lockerung der wirt- den zunehmend sichtbar. Der drastische Kon- schaftlichen Restriktionen wieder in eine Be- junktureinbruch hat sich in vielen Ländern zu- schäftigung zurück, insbesondere in dem beson- nächst kaum oder gar nicht in den Arbeitslosen- ders betroffenen Freizeit- und Gastgewerbe, zahlen gezeigt. Zum einen wurde der Anstieg doch werden gleichzeitig immer noch wöchent- der Arbeitslosigkeit in vielen fortgeschrittenen lich so viele Arbeitnehmer entlassen wie sonst Volkswirtschaften durch am Tiefpunkt einer Rezession. So lag die Ar- beitslosenquote in den Vereinigten im August mit 8,4 Prozent immer noch auf hohem Niveau. 7
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 69 (2020|Q3) Massive Kürzungen der Fördermengen ha- schwierigkeiten aufgrund der Pandemie, etwa in ben den Preis für Rohöl etwas steigen las- einigen Ländern Südamerikas. Preistreibend sen. Mit dem Konjunktureinbruch als Folge der wirkte wohl auch das Interesse von Finanzinves- Covid-19-Pandemie kam es zu einem drasti- toren, die nach Rendite versprechenden Anla- schen Rückgang der Ölnachfrage – im April war gen suchen. sie um mehr als 20 Prozent niedriger als ein Jahr zuvor –, und der Ölpreis wurde auf langjährige Tiefstände gedrückt. Darauf reagierten die wich- Abbildung 6: Rohstoffpreise 2012-2020 tigsten Ölexporteure mit umfangreichen Produk- tionskürzungen, und auch in den Vereinigten 2015=100 US-Dollar 250 140 Staaten wurde die Produktion deutlich zurückge- Rohstoffpreise fahren. Mit der inzwischen wieder steigenden ohne Energie Nachfrage nach Öl zeichnet sich für die Zukunft Ölpreis (rechte 120 ein Abbau der stark gestiegenen Lagerbestände 200 Skala) ab. Diese Aussicht hat den Ölpreis gestützt und 100 in den vergangenen Monaten sukzessive auf ein Niveau von rund 45 Dollar je Barrel der Sorte 150 80 Brent steigen lassen (Abbildung 6). Wir erwar- ten, dass die Notierungen im Verlauf des Prog- 60 nosezeitraums weiter, wenn auch allmählich, bis 100 auf 56 Dollar steigen (Tabelle 1). Bei diesen No- tierungen dürfte die Produktion von Frackingöl in 40 den Vereinigten Staaten, die im ersten Halbjahr 50 eingebrochen ist, wieder profitabel werden, so 20 dass mit dem Entstehen eines nachhaltigen Pro- duktionsdefizits am Weltölmarkt nicht zu rech- 0 0 nen ist. Die Preise für Industrierohstoffe waren 2012 2014 2016 2018 2020 im Zuge der Corona-Krise zunächst ebenfalls Monatsdaten; Rohstoffpreise: HWWI-Index auf US-Dollarbasis; Ölpreis: Spotpreis Sorte Brent, letzter Wert für August. deutlich gesunken, wenn auch nicht so stark wie Quelle: International Petroleum Exchange via Thomson Financial die Ölpreise. Sie haben sich inzwischen deutlich Datastream; HWWI, Rohstoffpreisindex. erholt und liegen zum Teil höher als vor der Krise. Ein Grund sind Produktions- Tabelle 1: Rahmendaten für die Konjunkturprognose 2019–2021 2020 2021 2022 I II III IV I II III IV I II III IV Leitzins Vereinigte Staaten 1,50 0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 Japan -0,10 -0,10 -0,10 -0,10 -0,10 -0,10 -0,10 -0,10 -0,10 -0,10 -0,10 -0,10 Euroraum 0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 Wechselkurse US-Dollar/Euro 1,10 1,10 1,18 1,20 1,20 1,20 1,20 1,20 1,20 1,20 1,20 1,20 Yen/US-Dollar 109,0 107,5 105,8 105,0 105,0 105,0 105,0 105,0 105,0 105,0 105,0 105,0 Ölpreis (Brent) in US-Dollar 50,44 29,34 44,85 47,91 50,1 52,4 54,5 55,0 55,3 55,6 55,9 56,1 HWWI-Index für Industrierohstoffe 119,1 112,7 134,85 148,3 151,3 152,8 154,3 155,9 156,7 157,4 158,2 159,0 Leitzins am Quartalsende: Vereinigte Staaten: Untergrenze des Zielbandes für die Fed Funds Rate; Japan: Tagesgeldzins; Eu- roraum: Hauptrefinanzierungssatz. Quelle: HWWI, Rohstoffpreisindex; IMF, International Financial Statistics; Federal Reserve Bank, Intended Federal Funds Rate; EZB, Monatsbericht; grau hinterlegt: Prognose des IfW. 8
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 69 (2020|Q3) Die Inflation in den fortgeschrittenen Volks- Abbildung 7: wirtschaften ist stark gesunken. In den fortge- Verbraucherpreise in den fortgeschrittenen Volkswirt- schaften 2012–2020 schrittenen Volkswirtschaften insgesamt ist die 4,0 Prozent Verbraucherpreise insgesamt Inflationsrate im Zuge der Krise deutlich gesun- 3,5 Kernindex ken, der Tiefpunkt wurde mit 0,2 Prozent im Mai 3,0 erreicht, verglichen mit 2 Prozent zu Jahresbe- 2,5 ginn. Im Sommer zog die Inflation aber wieder leicht an, auf 0,7 Prozent im Juli (Abbildung 2,0 7).Maßgeblich für die Inflationsentwicklung war 1,5 nicht nur der Ölpreis; auch die Kernrate der In- 1,0 flation (ohne Energie und unverarbeitete Nah- 0,5 rungsmittel) folgte dem gleichen Muster: Nach 0,0 einem deutlichen Rückgang in der ersten Jah- -0,5 reshälfte zog sie zuletzt wieder an. In den kom- -1,0 menden Monaten dürfte die Inflation weiter 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 durch die im Vorjahresvergleich gesunkenen Monatsdaten; Veränderung gegenüber dem Vorjahr der Ver- Energiepreise gedämpft werden. Hinzu kommt, braucherpreise in den Vereinigten Staaten, im Euroraum, in Japan und im Vereinigten Königreich, gewichtet mit dem Brutto- dass in einzelnen Ländern (zum Teil befristete) inlandsprodukt zu Preisen und Wechselkursen von 2019; Kern- index: Verbraucherpreise ohne Energie und Nahrungsmittel. Verbrauchsteuersenkungen zur Anregung der Konjunktur beschlossen worden sind; neben Quelle: OECD, Main Economic Indicators; Berechnungen des IfW Kiel. Deutschland wurden solche Maßnahmen z.B. in China, Zypern und Norwegen sowie in einigen Entwicklungs- und Schwellenländern ergriffen zum Bruttoinlandsprodukt) ergriffen, und ein wei- (OECD 2020a). Bei in großen Teilen der Wirt- teres umfangreiches Programm ist in der Diskus- schaft noch deutlich unterausgelasteten Kapazi- sion. In Japan beläuft sich das Volumen der bei- täten dürfte der Preisdruck im Prognosezeitraum den im April und im Mai beschlossenen Nach- gering bleiben, auch wenn vermutlich an einigen tragshaushalte auf knapp 11 Prozent der Wirt- Stellen durch die Eindämmungsmaßnahmen ge- schaftsleistung. Auch in Europa sind die fiskali- stiegene Kosten an die Verbraucher weitergege- schen Impulse beträchtlich und werden zusam- ben werden. Auf längere Sicht bestehen freilich men mit den konjunkturbedingten Einnahmeaus- Risiken für die Preisniveaustabilität durch die in fällen die Defizitquoten teilweise auf zweistellige manchen Ländern beträchtliche zurückgestaute Werte steigen lassen. Die Programme beinhal- Kaufkraft. ten im Einzelnen neben Aufwendungen zur Stär- Die Finanzpolitik in den fortgeschrittenen kung der zur Bekämpfung der Pandemie nötigen Infrastruktur insbesondere Stundungen von Volkswirtschaften stützt die Wirtschaft durch Steuern und Sozialabgaben, Einkommenser- Konjunkturprogramme von bisher nicht ge- kannten Dimensionen. In dem Bemühen, die satzleistungen im Rahmen von Kurzarbeitsrege- lungen und Programmen für Kleinselbständige, wirtschaftlichen Folgen der zur Bekämpfung der pauschale Zahlungen an private Haushalte, Ver- Pandemie ergriffenen Maßnahmen zu mildern, haben die Regierungen Mehrausgaben und brauchsteuersenkungen allgemein oder für be- sonders betroffene Bereiche, staatliche Investiti- Steuerstundungen beschlossen, die zusammen- onen und Maßnahmen zur Förderung privater mit konjunkturbedingten Einnahmeausfällen in diesem Jahr zu Fehlbeträgen im Staatshaushalt Investition. Hinzu kommen in der Regel noch Kreditgarantien und Kapitalbeteiligungen in be- führen werden, die nicht selten eine Größenord- trächtlicher Höhe (die zunächst nicht defizitwirk- nung von 10 Prozent erreichen werden (Abbil- dung 8). So wurden in den Vereinigten Staaten sam sind), um das Überleben einer Vielzahl von Unternehmen zu sichern, die ansonsten infolge budgetwirksame Maßnahmen in einem Umfang von Liquiditäts- von 1700 Mrd. US-Dollar (8 Prozent in Relation 9
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 69 (2020|Q3) Abbildung 8: fortgeschrittenen Volkswirtschaften ihre Leitzin- Staatliche Finanzierungssalden in großen fortge- sen dort, wo noch Spielraum bestand (Vereinigte schrittenen Volkswirtschaften 2018–2022 Staaten, Vereinigtes Königreich, Kanada) auf Null. Außerdem wurden Programme aufgelegt o- der ausgeweitet, welche die Liquidität im Finanz- sektor sichern und die Kapitalmarktzinsen nied- rig halten sollen. Die US-Notenbank kaufte in den vergangenen Monaten Wertpapiere im Um- fang von 3000 Mrd. Dollar, wobei nicht nur Bun- desanleihen, sondern auch Papiere von Bun- desstaaten und Kommunen sowie in großem Umfang Unternehmensanleihen erworben wur- den.3 Auch in Japan wurden die Käufe der No- tenbank von verschiedenen Wertpapieren bis hin zu Aktien stark ausgeweitet. Zudem hat sich die Bank von Japan explizit das Ziel gesetzt, die Rendite auf langfristige Staatsanleihen trotz der massiven Ausweitung der Neuemissionen bei null zu halten. Im Euroraum wurden im März das bereits bestehende Programm der Europäi- schen Zentralbank zum Ankauf von Vermögens- werten um 120 Mrd. Euro aufgestockt und ein neues Notfallprogramm im Umfang von 750 Mrd. Euro aufgelegt, das flexiblere Regeln und weit- reichende Anlagemöglichkeiten beinhaltet, um Spannungen an den Kapitalmärkten, die sich engpässen in Konkurs gehen würden.2 In der etwa in einem starken Anstieg von Risikoprä- Folge schwillt die Staatsverschuldung – häufig mien zeigen, verringern zu können. Dieses Pro- ausgehend von bereits hohen Ständen – erheb- gramm wurde im Mai nochmals um 600 Mrd. lich an, und die Frage nach einem glaubwürdi- Euro ausgeweitet und bis Mitte nächsten Jahres gen Konsolidierungspfad wird sich im späteren verlängert. Die US-Notenbank kündigte im Au- Prognosezeitraum mehr und mehr in den Vor- gust einen Strategiewechsel an, demzufolge sie dergrund schieben. So werden die fiskalischen ihr Inflationsziel nun in einem längerfristigen Impulse im kommenden Jahr deutlich nachlas- Durchschnitt erreichen will, was es erfordert, sen, im Jahr 2022 könnte die Finanzpolitik in vie- nach einer Phase unerwünscht niedriger Infla- len Ländern restriktiv ausgerichtet sein. Inzwi- tion ein Überschießen zuzulassen. Dies bedeu- schen stellt sich auch die Frage, wie lange struk- tet, dass die Geldpolitik in den Vereinigten Staa- turerhaltende Kreditvergabe und Subventionen ten erst später gestrafft werden wird, als es nach geleistet werden sollten, um notwendigen Struk- der bisherigen Strategie zu erwarten gewesen turwandel nicht zu behindern und das Wachstum wäre. In den Schwellenländern bemühten sich von Produktivität und Produktionspotenzial nicht die Notenbanken ebenfalls um eine Stimulierung dauerhaft zu dämpfen. der Konjunktur, und sie senkten in den vergan- Die Zentralbanken haben ihre expansive genen Monaten die Zinsen auf breiter Front (Ab- Ausrichtung nochmals verstärkt. Bereits im bildung 9). März senkten die Notenbanken in den großen 2 Für eine internationale Zusammenstellung der im Notenbank zu einer „Zombifizierung“ der Wirtschaft Zusammenhang mit Covid-19 beschlossenen fiskali- beiträgt, die längerfristig Wirtschaftsdynamik und schen Maßnahmen siehe IMF (2020a), eine Übersicht Wachstum kostet, weil die Begebung von Anleihen über die Reaktion der Finanzpolitik in Europa gibt am Kapitalmarkt zu durch Notenbankgeld subventio- Bruegel (2020). nierten Bedingungen Unternehmensmodelle künstlich 3 Der Kauf von Unternehmensanleihen in großem Stil aufrecht erhält und Ressourcen in gering produktiven hat zu einer Diskussion darüber geführt, ob die Verwendungen bindet (Financial Times 2020). 10
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 69 (2020|Q3) Abbildung 9: (Abbildung 10). Schließlich hat sich das finanzi- Geldpolitik in Schwellenländern 2005-2020 elle Umfeld für die Schwellenländer aufgehellt, 15 nachdem sich die Flucht der Finanzinvestoren Diffusionsindex Gleitender Durchschnitt (3 Monate) aus den Schwellenländern, die im März ein his- 10 torisch beispielloses Ausmaß erreicht hatte, als Restriktivere Geldpolitik vorrübergehend erwies und die Anleger in den vergangenen Monaten wieder per Saldo in Ak- 5 tien und Anleihen der Schwellenländer investier- ten (Kasten 1). Hierzu hat wohl beigetragen, 0 dass sich der Außenwert des Dollars im Zuge der immer expansiveren Geldpolitik der Fed seit -5 dem Frühjahr spürbar verringerte. -10 Expansivere Geldpolitik Abbildung 10: Aktienkurse in großen fortgeschrittenen Volkswirt- -15 schaften und China 2018-2020 Index (2018 = 100) Monatsdaten. Der Diffusionsindex entspricht der Anzahl der 140 S&P 500 Eurostoxx 50 Zentralbanken, die in einem gegebenen Monat die Zinsen erhöhten minus der Anzahl der Zentralbanken, die in einem Nikkei 225 SSE 50 gegebenen Monat die Zinsen senkten. Enthaltene Schwellenländer: Argentinien, Brasilien, Chile, China, 130 Indonesien, Indien, Kolumbien, Mexiko, Malaysia, Peru, Philippinen, Russland, Südafrika, Thailand, Türkei. Quelle: Bank of International Settlements (BIS); Berechnungen 120 des IfW Kiel. 110 An den Finanzmärkten hat sich die Lage be- 100 ruhigt. Die massive Lockerung der Geldpolitik in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften hat dazu beigetragen, dass sich die Spannungen an 90 den internationalen Finanzmärkten, die im Feb- ruar und März zu beobachten waren, zurückge- 80 bildet haben. Im Euroraum sind die Renditediffe- renzen zwischen den Staatsanleihen von Län- 70 dern unterschiedlicher Bonität nach dem zwi- schenzeitlichen deutlichen Anstieg nachhaltig auf ein moderates Niveau gesunken. Die Aktien- kurse an den wichtigsten Börsenplätzen sind Wochendaten. Letzter Wert: 31 August. aufwärtsgerichtet und nähern sich dem Vorkri- Quelle: Thomson Reuters Datastream. senniveau an (Euroraum, Japan) oder haben es bereits überschritten (Vereinigte Staaten, China) 11
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 69 (2020|Q3) Kasten 1: Zu den Folgen der Corona-Pandemie für den Kapitalfluss in Schwellen- und Entwicklungsländera Die Covid-19-Pandemie hat die Weltwirtschaft in Abbildung K1-1: eine tiefe Rezession gestürzt. In der Folge kam es Kumulierte Kapitalabflüsse aus Schwellen- und auch zu einer sprunghaften Zunahme der Unsicher- Entwicklungsländern heit an den globalen Finanzmärkten. Gemessen am VIX, der die Volatilität von Aktienoptionen erfasst Mrd. Dollar und als Maß für die Risikoaversion der Finanzmarkt- teilnehmer gilt, stieg die Unsicherheit auf das 0 höchste Niveau seit der Globalen Finanzkrise im Jahr 2008. In diesem Umfeld zogen Investoren in -20 großem Umfang Kapital aus Schwellen- und Ent- wicklungsländern ab. Laut Zahlen des Institute of In- ternational Finance (IIF), die die Aktien- und Anlei- -40 Globale Finanzkrise henmärkte in diesen Ländern abdecken, beliefen sich die akkumulierten Portfolioabflüsse im Zeitraum Taper -60 Tantrum von März bis Mai des laufenden Jahres auf mehr als 95 Mrd. US Dollar (IIF, 2020a), ein mehr als dreimal COVID-19 so großes Volumen als während der globalen Fi- -80 nanzkrise 2008 oder des Taper Tantrums im Jahr -100 t t+30 t+60 t+90 Abbildung K1-2: Tagesdaten. Ausländische Portfoliokapitalströme, Beginn Wechselkurse in ausgewählten Schwellenlän- der Zeitreihen: 8.9.2008 (Globale Finanzkrise), 17.5.2020 dern (Taper Tantrum), 21.1.2020 (Covid-19). Quelle: Institute of International Finance. Index (31.12.2019 = 100) 160 Brasilien Türkei 2013 (Abbildung K1-1). In der Folge waren die Regierun- 150 Thailand gen aller Schwellen- und Entwicklungsländer für meh- 140 rere Wochen vom internationalen Kapitalmarkt ausge- schlossen (Thomson Reuters Eikon, 2020). Insbeson- 130 dere Länder mit einer bereits am Beginn der Krise hohen Verschuldung und Länder, deren Wirtschaftsleistung 120 stark von Ölexporten oder dem globalen Tourismus ab- hängt, waren somit mehreren Schocks gleichzeitig aus- 110 gesetzt (IMF, 2020b). Kritisch ist die Lage insbesondere für afrikanische und südamerikanische Ölexporteure; der 100 Einbruch im Tourismus trifft kleinere Inselentwicklungs- 90 länder in der Karibik, im Pazifik und im indischen Ozean Jan. 20 Mrz. 20 Mai. 20 Jul. 20 Sep. 20 besonders hart. Der Kapitalabfluss infolge der Corona- Pandemie war zwar ausgesprochen heftig, doch er hielt Kassakurs vis-as-vis US-Dollar, Anstieg entspricht eine Abwertung. nicht lange an. Bereits im April stabilisierte sich die Lage und bis einschließlich Juli erholte sich der Kapitalverkehr Quelle: nationale Zentralbanken via Thomson Reuters Eikon. in die Schwellen- und Entwicklungsländern wieder, wenngleich auf noch recht niedrigem Niveau (IIF, 2020b). Dies ging einher mit einer kräftigen Erholung an den Finanzmärkten: So lagen Indizes, die die Wertentwicklung an den Aktien- und Anleihemärkten in den Schwellenländern abbilden, im Juli bereits wieder in etwa auf ihrem Vorjahresniveau, nachdem im März noch Einbrüche von bis zu 30 Prozent ver- zeichnet worden waren.b Hinzu kommt, dass die Auswirkungen der Pandemie auf den Kapitalverkehr zwischen den einzelnen Ländern große Unterschiede aufweisen. Ein Indiz dafür ist die Wechselkursentwicklung. In den südostasi- atischen Schwellenländern wie z.B. Thailand gaben sie vergleichsweise wenig und nur für einen kurzen Zeitraum nach. Hingegen wertete z.B. die türkische Lira sehr viel deutlicher und nachhaltiger ab. Beson- ders stark an Wert verlor der brasilianische Real, der sich zwischenzeitlich zwar wieder etwas erholte, aber auch zuletzt gegenüber dem US-Dollar noch um 30 Prozent niedriger notierte (Abbildung K1-2). Die ein- gangs beschriebene Entwicklung des Kapitalverkehrs spiegelt sich in der Zahlungsbilanzstatistik in den ausländischen Wertpapieranlagen im Inland (Portfolioinvestitionen) wider. Demnach verzeichnete Brasi- lien allein im März einen Rückgang der ausländischen Wertpapieranlagen im Inland in Höhe von 22 Mrd. US-Dollar. Dies stellt den größten monatlichen Abfluss seit Beginn der Zeitreihe dar. Der Rückgang der Portfolioinvestitionen Im gesamten ersten Halbjahr betrug 3,7 Prozent im Verhältnis zur Wirtschaftsleis- tung. Zu einer ähnlich großen Veränderung kam es während der Globalen Finanzkrise im Jahr 2008, als der Zufluss an ausländischen Mitteln allerdings nur zum Erliegen kam. In der Türkei fiel der Abfluss an 12
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 69 (2020|Q3) ausländischem Kapital im Vergleich zur Wirtschaftsleistung ähnlich hoch aus, er erstreckte sich jedoch über mehrere Monate. Zwischen März und Juni kam es dort zu einem Rückgang der ausländischen Port- folioinvestitionen in Höhe von 12 Mrd. US-Dollar. Erst im Juli stabilisierte sich die Lage, und es erfolgten nur noch geringe Abflüsse. Auch aus Thailand zogen internationale Investoren Kapital ab: Die Portfolioin- vestitionen verzeichneten im ersten Halbjahr einen Rückgang in Höhe von ebenfalls 3,7 Prozent im Ver- hältnis zur Wirtschaftsleistung. Der Abfluss in diesem Bereich der Zahlungsbilanz konnte jedoch teilweise durch ausländische Bankkredite abgefedert werden. Außerdem war der Kapitalabfluss im historischen Ver- gleich nicht außergewöhnlich hoch und blieb deutlich hinter jenem während der Asienkrise Ende der 90er- Jahre zurück. Andere Schwellenländer, für die bereits amtliche Zahlen vorliegen, wie z.B. Indonesien oder Mexiko, verzeichneten lediglich einen verlangsamten Kapitalzufluss im ersten Halbjahr, zu einem Rück- gang kam es aber nicht. Unverändert hoch blieb sogar das Interesse internationaler Investoren an chileni- schen Wertpapieren im ersten Halbjahr des laufenden Jahres. Die wirtschaftlichen Folgen von abrupten Einbrüchen internationaler Kapitalzuflüsse, sogenannter „sud- den stops“, sind in der akademischen Literatur gut dokumentiert. Sie führten in der Vergangenheit zu tiefen Rezessionen (Calvo et al., 2006 und Cavallo et al., 2015) oder gar Finanzkrisen (Joyce und Nabar, 2009, und Furceri et al., 2012). Calvo et al. (2006) zeigen auch, dass die wirtschaftliche Aktivität nach einem „sudden stop“ in der Regel erst innerhalb von durchschnittlich drei Jahren wieder das Vorkrisenniveau erreicht, wobei insbesondere die Investitionstätigkeit längerfristig gedämpft bleibt. Allerdings lag die durch- schnittliche Dauer länderspezifischer „sudden stops“ der letzten 50 Jahre in Schwellen- und Entwicklungs- ländern bei etwas unter einem Jahr (David und Goncalves, 2019). Angesichts der Kürze der COVID-19- Episode könnten die wirtschaftlichen Folgen in diesem Fall geringer ausfallen. Neben der Wirkung von internationalen Kapitalflusszyklen auf die Konjunktur bestand in der Vergan- genheit ein starker Zusammenhang mit Staatsbankrotten. Vor allem wenn Episoden von Einbrüchen inter- nationaler Kapitalflüsse mit starken Rückgängen der Rohstoffpreise zusammenfallen, was auch im Früh- jahr diesen Jahres der Fall war, droht der Anteil an Ländern, die einen Zahlungsausfall erleiden, zu steigen (Reinhart et al., 2016). Nickol und Stoppok (2020) zeigen, dass dieser Anstieg vornehmlich auf vermehrte Kreditausfälle in Schwellen- und Entwicklungsländer zurückzuführen ist. Als Antwort auf die Corona-Krise lockerten die betroffenen Länder Kapitalverkehrskontrollen, und ihre Zentralbanken intervenierten am De- visenmarkt, um Liquiditätsengpässen entgegenzuwirken (OECD, 2020b). Zudem gibt es seit April eine Initiative des Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und des G20-Hilfsfonds für Schuldenerlasse in Milliardenhöhe, um Schwellen- und Entwicklungsländern größeren Spielraum bei der Bekämpfung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Krise zu verschaffen. Wahrgenommen wurden diese Angebote bisher allerdings nur zögerlich. Der Grund liegt wohl in der Sorge, dass es in der Folge zu einer Abstufung der Bonität durch die Ratingagenturen oder gar einem anhaltendenden Ausschluss vom internationalen Kapitalmarkt kommen könnte (Financial Times, 2020). Die Entwicklung an den internationalen Finanzmärkten in der ersten Jahreshälfte lässt angesichts der in der Literatur dokumentierten wirtschaftlichen Effekte von Kapitalflusszyklen befürchten, dass die Kon- junktur in einigen Schwellenländern über die pandemiebedingten Produktionsausfälle hinaus zusätzlich belastet wird. Prognosen, dass es in Folge von Kapitalabflüssen zu einer Welle von Finanzkrisen kommt, haben sich bislang allerdings nicht bestätigt. Mit Ausnahme der Türkei stiegen die Renditen auf Staatsan- leihen der Schwellenländer bislang nicht an, und für Fremdwährungstitel gingen die Spreads gegenüber US-Anleihen sogar zurück (BIZ 2020), wozu die massive Ausweitung der Dollarliquidität durch die US- Notenbank beigetragen haben dürfte. Dennoch bleibt der Ausblick verhalten. Denn die Unsicherheit an den Finanzmärkten ist zwar zurückgegangen, im historischen Vergleich befindet sie sich aber immer noch auf einem hohen Niveau, und zum jetzigen Zeitpunkt ist schwer abzuschätzen, wie schnell sich der inter- nationale Kapitalverkehr von dem Corona-Schock erholen wird. Hinzu kommt, dass die Pandemie in eini- gen Ländern noch lange nicht ausgestanden ist. Erhebliche Mehrausgaben für den Gesundheitssektor und zusätzliche Sozialleistungen zur Bekämpfung des Anstiegs der Armut könnten in einigen Ländern wie z.B. Brasilien oder Indien zu Fiskal- und Schuldenkrisen führen. Das Risiko einer steigenden Zahl von Kredit- ausfällen öffentlicher Schuldner als mittelfristige Folge des Corona-Schocks ist in Anbetracht der hohen Anzahl an Länderratings, die in Folge der Pandemie bislang herabgestuft wurden, beträchtlich. aAn diesem Kasten haben Philipp Nickol (Universität Duisburg-Essen und IfW Kiel) und Lucie Stoppok (IfW Kiel) mit- gearbeitet.— b Der dort berücksichtigte Länderkreis ist allerdings nicht deckungsgleich mit der vom IWF verwendeten Klassifizierung von Schwellenländern. So sind bspw. Wertpapiere aus Südkorea oder Taiwan in dem Aktienindex MSCI Emerging Markets vertreten. 13
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 69 (2020|Q3) Ausblick: Nur teilweise Erholung trotz Abbildung 11: kräftigen Produktionsanstiegs Unternehmenszuversicht nach Ländergruppen 2007- 2020 Dem tiefen Einbruch der Weltwirtschaft im ersten Halbjahr dürfte im zweiten Halbjahr 2,0 Index 2020 eine kräftige Gegenbewegung folgen. Die drastischen Einbußen bei der Produktion im 1,0 Frühjahr waren auch auf Maßnahmen zur Ein- dämmung der COVID 19-Pandemie zurückzu- 0,0 führen, die in vielen Ländern die wirtschaftliche -1,0 Aktivität in weiten Bereichen der Wirtschaft na- hezu komplett lahmlegten. Mit der Lockerung -2,0 Restriktionen wurde diese Produktion zu einem Teil wieder aufgenommen, was zu einer hohen -3,0 Zuwachsrate des Bruttoinlandsprodukts im drit- Welt ten Quartal führen wird. Eine solche Gegenbe- -4,0 Fortgeschrittene Volkswirtschaften wegung war für China, wo COVID 19 zuerst auf- Entwicklungs- und Schwellenländer getreten und erfolgreich eingedämmt worden -5,0 war, bereits im zweiten Quartal zu verzeichnen. 2007 2009 2011 2013 2015 2017 2019 Die Erholung ist aber nicht vollständig und in den Monatsdaten, saisonbereinigt; teilweise geschätzt; auf der Basis der im IfW-Indikator enthaltenen Stimmungsindikatoren für 42 einzelnen Ländern unterschiedlich stark fortge- Länder (34 fortgeschrittene Volkswirtschaften und 8 schritten, auch weil sich das Infektionsgesche- Schwellenländer). hen von Land zu Land stark unterscheidet. So Quelle: OECD, Main Economic Indicators; nationale Quellen; deuten die Stimmungsindikatoren darauf hin, Berechnungen des IfW Kiel. dass sich das wirtschaftliche Klima in den fortge- schrittenen Volkswirtschaften bisher stärker nor- malisiert hat als in den Schwellenländern (Abbil- hend normalisiert. Derzeit sind die Infektions- dung 11). Die vorliegenden Daten zur Industrie- zahlen in vielen Ländern wieder gestiegen, zum produktion zeigen, dass neben China, wo das Teil sogar deutlich über das im Frühjahr ver- Vorkrisenniveau im Juni bereits wieder über- zeichnete Niveau hinaus. In Israel, wo derzeit im schritten wurde, der coronabedingte Einbruch Verhältnis zur Bevölkerungszahl weltweit das in- auch in den übrigen asiatischen Schwellenlän- tensivste Infektionsgeschehen verzeichnet wird, dern zur Jahresmitte schon zu einem Gutteil wurden als Reaktion darauf Mitte September er- wettgemacht worden ist. Eine vergleichsweise neut strenge Beschränkungen der sozialen In- starke Erholung der Industrieproduktion wurde teraktion und der persönlichen Mobilität einge- bis dahin auch im Euroraum verzeichnet, wäh- führt, mit vermutlich wiederum erheblichen Fol- rend die Erzeugung in diesem Sektor in den Ver- gen für die wirtschaftliche Aktivität. Wir erwarten einigten Staaten, in Japan sowie in Lateiname- jedoch nicht, dass es in vielen Ländern zu solch rika noch stark gedrückt war. Im Juli hat die Er- einem zweiten Lockdown kommt, da versucht holung aber auch hier deutliche Fortschritte ge- werden dürfte, das Infektionsgeschehen mit ge- macht. zielteren Maßnahmen einzudämmen. Gleichzei- tig zeigt die Entwicklung aber, dass die wirt- Die Weltproduktion dürfte im Jahr 2020 um schaftliche Aktivität wohl noch längere Zeit durch 3,6 Prozent sinken und im kommenden Jahr Covid-19 und dadurch bedingte Verhaltensän- um 6,7 Prozent zunehmen, sofern es nicht zu derungen und Unsicherheiten belastet werden einer neuerlichen Verschärfung der Maßnah- wird. So erwarten wir, dass die internationale men zur Eindämmung der Pandemie kommt. Reisetätigkeit noch bis weit in das nächste Jahr Unserer Prognose liegt die Annahme zugrunde, hinein deutlich beeinträchtigt sein wird. Für das dass die Lockerung der Beschränkungen für die laufende Jahr rechnen wir mit einem Rückgang wirtschaftliche Aktivität in den kommenden Mo- der Weltproduktion (gemessen auf Basis von naten Bestand hat und sich die Situation im Ver- Kaufkraftparitäten) um 3,6 Prozent (Tabelle 2), lauf des Jahres 2021 weitge- dies ist der mit Abstand stärkste Einbruch der vergangenen 70 Jahre. Für 2021 rechnen wir 14
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 69 (2020|Q3) zwar mit einem kräftigen Anstieg der Produktion 2021 haben wir die Prognose um 0,5 Prozent- um 6,7 Prozent. Auf der Basis von Marktwech- punkte – angehoben. Der Welthandel (Waren) selkursen ergeben sich Veränderungsraten der dürfte im Durchschnitt dieses Jahres um 8 Pro- globalen Produktion von –4,3 Prozent in diesem zent schrumpfen und im kommenden Jahr um sowie 6,0 Prozent im nächsten Jahr. Auch im 6,7 Prozent zulegen. Für 2022 rechnen wir mit Jahr 2022 wird die weltwirtschaftliche Aktivität einem Zuwachs von 3,7 Prozent. Der im Ver- mit 4,1 Prozent (bzw. 3,6 Prozent auf Basis von gleich zur Produktion mäßige Zuwachs erklärt Marktwechselkursen) voraussichtlich stärker vor allem daraus, dass die Expansion im kom- steigen als im mittelfristigen Trend. Gleichwohl menden Jahr wesentlich auch durch die Erho- bleibt das Niveau der Weltproduktion aufgrund lung im Dienstleistungssektor getragen wird. der durch die Corona-Krise erfolgten Einkom- Hinzu kommt, dass sich die in den vergangenen menseinbußen und einer infolge von verschlech- beiden Jahren bereits erkennbare Abnahme der terten Absatzerwartungen und einer reduzierten Handelsintensität der Weltproduktion voraus- Eigenkapitalbasis vermutlich nachhaltig ge- sichtlich fortsetzen wird. Hintergrund ist das viel- dämpften Investitionsneigung wohl auf längere fach geäußerte Bestreben von Unternehmen, Zeit deutlich unter dem Pfad, den wir noch zu die Wertschöpfungsketten zu verkürzen, um sie Beginn dieses Jahres erwartet hatten. Im Ver- robuster gegen internationale Schocks zu ma- gleich zum Juni haben wir unsere Prognose für chen. Dies ist nur zu einem Teil durch die 2020 um 0,2 Prozentpunkte nach oben revidiert, Coronakrise bedingt, sondern auch der zuneh- vor allem aufgrund einer etwas weniger ungüns- menden Unsicherheit über die Handelspolitik ge- tigen Einschätzung der Aussichten für die fortge- schuldet, die in den vergangenen Jahren ent- schrittenen Volkswirtschaften. Für standen ist. Tabelle 2: Bruttoinlandsprodukt und Verbraucherpreise in der Welt 2020–2022 Gewicht Bruttoinlandsprodukt Verbraucherpreise 2020 2021 2022 2020 2021 2022 Weltwirtschaft 100 -3,6 6,7 4,1 3,4 3,4 3,6 Fortgeschrittene Länder 41,7 -5,2 4,6 2,6 0,9 1,8 1,8 China 18,7 2,0 9,7 5,7 3,2 2,3 2,3 Lateinamerika 6,5 -7,7 5,3 2,8 7,7 7,0 7,2 Indien 7,7 -9,1 12,7 7,5 6,3 5,5 4,9 Ostasiatische Schwellenländer 5,0 -4,7 6,6 4,7 1,3 2,5 2,8 Russland 3,1 -3,0 4,2 1,8 3,2 4,2 4,0 Nachrichtlich: Welthandelsvolumen -8,0 6,7 3,7 Weltwirtschaft (gewichtet gemäß Bruttoin- -4,3 6,0 3,6 2,6 2,9 3,0 landsprodukt im Jahr 2014 in US-Dollar) Prozent. Gewicht: gemäß Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2019 nach Kaufkraftparität. Bruttoinlandsprodukt, Verbraucherpreise: Veränderungen gegenüber dem Vorjahr; Ostasiatische Schwellenländer: Thailand, Malaysia, Indonesien und Philippinen; La- teinamerika: Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Mexiko, Peru, Venezuela (nicht Verbraucherpreise). Fortgeschrittene Länder: Die Werte stimmen nicht notwendigerweise mit denen in Tabelle 3 überein, da der Länderkreis hier breiter gefasst ist und ein anderes Konzept bei der Gewichtung verwandt wird. Quelle: IMF, International Financial Statistics; OECD, Main Economic Indicators; eigene Berechnungen; grau hinterlegt: Prog- nose des IfW. 15
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 69 (2020|Q3) In den fortgeschrittenen Volkswirtschaften die Schwellenländer insgesamt rechnen wir mit nimmt die Produktion im Prognosezeitraum einem Rückgang der Produktion in diesem Jahr zwar kräftig zu, das Vorkrisenniveau wir aber um 3 Prozent. Dabei sind die Unterschiede zwi- erst im Verlauf des Jahres 2022 überschrit- schen den Ländern und Regionen erheblich. ten. Für die fortgeschrittenen Volkswirtschaften Während in China gegenüber dem Jahr 2019 so- erwarten wir für 2021 einen Anstieg des Brutto- gar noch ein Produktionszuwachs von 2 Prozent inlandsprodukts um 4,9 Prozent, nach einem verzeichnet werden dürfte -- eine rare Aus- Einbruch um 5,9 Prozent in diesem Jahr (Tabelle nahme im weltweiten Gesamtbild –, ist für Indien 3). Die Jahreszuwachsrate für 2021 überzeich- und Lateinamerika mit Produktionsrückgängen net die Dynamik im Jahresverlauf allerdings, da in der Größenordnung von 9 bzw. 8 Prozent zu sie zu einem Teil auf dem kräftigen Anstieg im rechnen. Zwar ist für den Prognosezeitraum zweiten Halbjahr 2020 (Rückpralleffekt) beruht. überall ein kräftiger Anstieg der Produktion zu er- Unter der Annahme, dass im Verlauf des kom- warten. Wie rasch das Vorkrisenniveau der Pro- menden Jahres ein Impfstoff gegen das Corona- duktion wieder erreicht wird und wie stark die virus zur Verfügung stehen wird und die Norma- Krise die wirtschaftliche Aktivität nachhaltig ver- lisierung der wirtschaftlichen und sozialen Inter- ringert hat, wird aber nicht einheitlich sein. Maß- aktion unterstützt, rechnen wir für 2022 mit einer geblich für die Unterschiede sind einmal unter- fortgesetzten wirtschaftlichen Erholung. Wäh- schiedlichen Erfolge bei der Eindämmung der rend die Geldpolitik auch dann noch starke Im- Pandemie. Hinzu kommen unterschiedliche Be- pulse geben wird, dürfte die Finanzpolitik 2022 lastungen durch den weltweiten Rückgang des eine fiskalische Konsolidierung einleiten, nach- Tourismus, der einige Schwellenländer – etwa dem sie in diesem und im nächsten Jahr stark die Türkei, einige südostasiatische Länder oder expansiv ausgerichtet ist. Südafrika – besonders trifft. Schließlich sind auch die Maßnahmen der Politik, mit denen die In den Schwellenländern ist das Tempo der Wirtschaft in der Krise gestützt und die Verluste wirtschaftlichen Erholung uneinheitlich. Für an Haushaltseinkommen gemindert werden, in Tabelle 3: Bruttoinlandsprodukt, Verbraucherpreise und Arbeitslosenquote in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften 2020– 2022 Gewicht Bruttoinlandsprodukt Verbraucherpreise Arbeitslosenquote 2020 2021 2022 2020 2021 2022 2020 2021 2022 Europäische Union 34,8 -6,7 5,2 2,7 0,8 1,9 1,7 7,8 8,4 7,4 Euroraum 28,1 -7,1 5,3 2,6 0,4 1,7 1,3 8,1 9,0 7,8 Vereinigtes Königreich 5,5 -9,8 7,6 2,8 0,9 1,8 2,3 4,2 5,3 4,8 Schweden 1,0 -3,2 3,6 2,5 1,1 1,5 1,7 8,5 8,0 7,3 Polen 2,3 -3,1 5,8 3,9 3,3 3,6 3,8 3,5 3,5 3,3 Schweiz 1,0 -4,5 5,2 2,4 -0,8 0,6 0,6 5,4 4,8 4,5 Norwegen 0,7 -2,7 3,2 2,4 1,4 2,0 2,3 4,5 4,0 3,7 Vereinigte Staaten 37,9 -4,1 3,8 2,5 1,3 2,3 2,1 8,2 6,2 5,6 Kanada 3,4 -6,1 5,9 2,9 0,6 1,5 1,8 9,2 7,5 6,6 Japan -5,0 -5,0 3,4 2,0 0,3 0,8 0,8 2,8 2,7 2,5 Südkorea 4,1 -0,7 3,5 3,0 0,4 0,9 1,1 4,2 3,8 3,6 Australien 2,4 -3,0 3,8 3,0 0,9 1,6 2,0 6,9 6,4 6,1 Aufgeführte Länder 100,0 -5,5 4,7 2,7 0,9 1,9 1,8 6,9 6,5 5,8 Prozent. Gewicht gemäß Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2019 in US-Dollar. Bruttoinlandsprodukt: preisbereinigt und arbeitstäg- lich bereinigt, Veränderung gegenüber dem Vorjahr. Verbraucherpreise: Veränderung gegenüber dem Vorjahr, Europäische Union und Norwegen: harmonisierter Verbraucherpreisindex (HVPI). Arbeitslosenquote: standardisiert nach dem ILO-Konzept. Ländergruppen gewichtet auf der Grundlage der Erwerbspersonenzahl von 2018. Quelle: Eurostat, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen; OECD, Main Economic Indicators; IMF, World Economic Outlook Database; Statistics Canada, Canadian Economic Account; grau hinterlegt: Prognose des IfW. 16
KIELER KONJUNKTURBERICHTE NR. 69 (2020|Q3) einigen Ländern aufgrund von Problemen in der henen Volumen zurückgeblieben sind. Schließ- Administration und fehlender fiskalischer Kapa- lich besteht Unsicherheit über die Auswirkungen zität eng begrenzt. des Ausscheidens des Vereinigten Königreichs aus dem europäischen Binnenmarkt, der für den Die Unsicherheit über die Folgen des wirt- Beginn des kommenden Jahres vorgesehen ist schaftlichen Einbruchs ist hoch; Risiken be- und ungeregelt zu erfolgen droht. stehen durch die Möglichkeit von finanziellen Rückkopplungseffekten, hinzu kommen wie- der zunehmende handelspolitischen Span- nungen. Unsicherheiten über die Stärke und Nachhaltigkeit der konjunkturellen Erholung Die Prognose im Einzelnen nach dem Corona-Schock bestehen einmal dadurch, dass die weitere Entwicklung des In- Erholung der US-Konjunktur verliert an fektionsgeschehens ungewiss ist. Eine weitere Schwung Welle der Pandemie im Herbst, wie von vielen Das Bruttoinlandsprodukt in den Vereinigten befürchtet (und von der OECD 2020c unter- Staaten ist im zweiten Quartal infolge der stellt), würde zwar voraussichtlich nicht zu ei- Pandemie eingebrochen. Nachdem die nem nochmaligen Einbruch der Produktion im gesamtwirtschaftliche Produktion bereits zu Ausmaß wie in diesem Frühjahr führen, könnte Beginn des Jahres um knapp 1 Prozent allerdings die weitere Erholung der Produktion geschrumpft war, ging sie im zweiten Quartal im Winterhalbjahr spürbar bremsen und den in des laufenden Jahres um 9,1 Prozent zurück unserem Szenario recht kräftigen Produktions- (Abbildung 12). Dies ist der größte Produktions- anstieg im kommenden Jahr merklich verrin- einbruch seit Beginn der Aufzeichnungen im gern. Darüber hinaus bleibt abzuwarten, ob es Jahr 1947. Verwendungsseitig spiegelt er die gelingt, den wirtschaftspolitischen Spagat zwi- Folgen der Pandemie im In- und Ausland wider: schen makroökonomischer Stabilisierung und Der Rückgang des privaten Konsums um notwendigen wirtschaftlichen Anpassungen zu insgesamt 9,9 Prozent konzentrierte sich leisten, der notwendig ist, um gleichzeitig die besonders auf die Dienstleistungen, während Produktionskapazitäten für eine rasche Erho- der Konsum von Gebrauchsgütern nur leicht lung zu erhalten und die längerfristige Dynamik abnahm. Die Konsumzurückhaltung war nicht der Wirtschaft nicht zu gefährden. Die derzeit in durch geringere verfügbare Einkommen bedingt. vielen Ländern verfolgte Politik, Unternehmen Diese stiegen vielmehr dank staatlicher durch Liquiditätshilfen, staatliche Kreditpro- Transfers im Rahmen des „ CARES-Act“, die gramme und die Übernahme von Arbeitskosten unter anderem eine deutliche Ausweitung der über Wasser zu halten, verhindert zwar kurzfris- Arbeitslosenunterstützung umfassten, um 10 tig Entlassungen und ermöglicht es, eine anzie- Prozent. In der Folge erhöhte sich die Sparquote hende Nachfrage sofort wieder bedienen zu kön- der privaten Haushalte im April sprunghaft auf 33 nen. Auch wird das Risiko geringer, dass im Prozent. Zwar bildete sie sich inzwischen wieder Zuge einer Welle von Insolvenzen schließlich spürbar zurück; mit knapp 20 Prozent lag sie im Zweifel an der Stabilität des Finanzsektors auf- Juli allerdings immer noch auf einem außer- kommt. Diese Politik wird aber dann kontrapro- gewöhnlich hohen Niveau. Die Einfuhren duktiv, wenn notwendige strukturelle Anpassun- schrumpften um knapp 18 Prozent, während die gen dadurch verhindert und Kapital und Arbeits- Exporte als Folge der Rezession im Rest der kräfte in ineffizienten Verwendungen gehalten Welt noch stärker sanken (-22 Prozent). werden. Ein weiteres Risiko für die Weltkonjunk- tur besteht darin, dass sich die handelspoliti- schen Spannungen wieder verstärken und pro- tektionistische Maßnahmen ergriffen werden. So hat sich die Stimmung im Verhältnis der Verei- nigten Staaten und China wieder verschlechtert, auch weil die chinesischen Importe deutlich hin- ter dem in der Phase 1–Vereinbarung vorgese- 17
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