KLASSENPOLITIK IN ZEITEN VON AKADEMISIERUNG UND NEUER UNSICHERHEIT
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KLASSENPOLITIK IN ZEITEN VON AKADEMISIERUNG UND NEUER UNSICHERHEIT NICOLE GESELLSCHAFTSANALYSE UND GOHLKE LINKE 1 PRAXIS
KLASSENPOLITIK IN ZEITEN VON AKADEMISIERUNG UND NEUER UNSICHERHEIT PLÄDOYER FÜR EINE ZEITGEMÄSSE BETRACHTUNG VON AKADEMIKER*INNEN NICOLE GOHLKE Die wachsende Akademisierung der Lohnarbeit hat nur sehr bedingt zu einer Aufwertung von neuen aka- demischen Berufen geführt. Eher ist ein akademisches Proletariat entstanden. Während sich Teile der Arbei- terklasse durch die Ausweitung von Hochschulbildung akademisiert haben, hat sich die soziale Lage von Akademiker*innen der des nicht-akademischen Teils der Lohnabhängigen angeglichen. Statt also immer wieder die falsche Gegenüberstellung von Akademiker*innen und Arbeiter*innen zu reproduzieren, öffnet die verän- derte Zusammensetzung der Klasse der Lohnabhängi- gen die Chance einer verbindenden Klassenpolitik. 2 KLASSENPOLITIK IN ZEITEN VON AKADEMISIERUNG UND NEUER UNSICHERHEIT
EIN NEUES AKADEMISCHES Bundesamt 2020c). Im gleichen Zeitraum PROLETARIAT wuchs der Anteil des Dienstleistungssek- Die Arbeitswelt unterliegt im Kapitalismus tors an der Gesamtbeschäftigung von 40 einem permanenten Wandel – und gemein- auf beinahe 75 Prozent (ebd.). Die neu sam mit ihr auch die Klasse der Lohnab- entstandenen Arbeitsplätze in diesem hängigen. Trotz zyklisch wiederkehrender Bereich umfassen ein weites Spektrum an Abgesänge auf die Arbeiterklasse gibt es in Tätigkeiten und Berufen. Unternehmens- Deutschland heute mit über 40 Millionen bezogene wie öffentliche Dienstleistungen Arbeitnehmer*innen so viele lohnabhängig reichen von Tätigkeiten im Bereich der Beschäftigte wie nie zuvor (Statistisches Forschung und Entwicklung bis hin zu Bundesamt 2019). Jedoch hat sich im Wachdiensten oder der Gebäudereini- Vergleich zu den Nachkriegsjahrzehnten gung – ihr Bedeutungsgewinn steht sowohl das Gesicht der Arbeiterklasse grundlegend im Zusammenhang mit der gestiegenen verändert. Der wirtschaftliche und poli- Komplexität und Wissensintensität von tische ›Strukturbruch‹ im Laufe der 1970er Aufgaben wie mit Auslagerungsprozessen Jahre stieß Veränderungsprozesse an, die von Teilen der Wertschöpfungsketten aus sich bis in die Gegenwart beschleunigten dem produzierenden Gewerbe (Schwahn und die Arbeitswelt substanziell veränder- et al. 2018). Hinzu kommt ein immenser ten. Bestand bis dahin eine grundlegende Beschäftigungsanstieg im Bereich Handel, Differenz zwischen klassischen Arbeit- Verkehr und Gastgewerbe, aber auch durch er*innen, die ausführende ›Handarbeit‹ öffentliche Dienstleister, etwa in Erziehung, erledigten, und Angestellten, die zumeist Bildung und Gesundheit (ebd.). selbstbestimmte und anweisende ›Kopfar- Dieser Strukturwandel der Arbeitswelt beit‹ leisteten, sehen die Spaltungslinien hat traditionelle Spaltungslinien zwischen innerhalb der lohnabhängigen Bevölkerung Arbeiter*innen und Angestellten verlagert. heute zunehmend anders aus. Ein Angestelltenverhältnis ist längst nicht Während Automatisierung und mehr automatisch mit einer gehobenen Globalisierung von Produktionsketten zu Stellung verbunden. Im Gegenteil: Ob in einem Verlust industrieller Arbeitsplätze der Altenpflege oder an der Supermarkt- führten, ist ein großer und ausdifferenziert- kasse, ob in Werbeagenturen, in Unterne- er Dienstleistungssektor entstanden. Waren hmen oder dem akademischen Mittelbau im Jahr 1965 noch beinahe die Hälfte aller in der Wissenschaft – in vielen Dienstleis- Beschäftigten in der Bundesrepublik im tungs- und akademischen Berufen sind die produzierenden Gewerbe tätig, so sank Gehälter deutlich niedriger als die Löhne deren Anteil bis 1995 auf etwa ein Drittel festangestellter Arbeiter*innen etwa im und macht heute weniger als ein Viertel der Maschinenbau oder der Autoindustrie. Gesamtbeschäftigtenzahl aus (Statistisches Doch nicht nur strukturelle Prozesse, NICOLE GOHLKE 3
sondern auch politisches Handeln hat Diese Entwicklungen führen dazu, unsere neue Trennlinien unter den Beschäftigten traditionellen Vorstellungen der Arbeiterk- entstehen lassen. Spätestens seit den lasse oder des Proletariats zu hinterfragen neoliberalen Arbeitsmarkt- und Sozial- und neu zu bestimmen: In diesem Aufsatz reformen zu Beginn der 2000er Jahre verfolge ich die These, dass ein neues stehen in vielen Betrieben festangestellte akademisches Proletariat entstanden ist. Beschäftigte prekären Leiharbeiter*innen, Dieses speist sich allerdings nicht nur aus Werkvertragsarbeiter*innen und Minijob- denjenigen Akademiker*innen, deren ber*innen gegenüber. Letztere verfügen vormals prestigeträchtige und sichere über eine deutlich geringere Jobsicherheit Berufe eine Entwertung erfahren haben. und in der Regel auch über niedrigere Vielmehr ist auch ein gegenläufiger Löhne und Gehälter. Im Median verdienen Prozess zu beobachten: Viele Arbeitsstel- Beschäftigte in der Bundesrepublik pro len und Branchen wurden und werden Monat 3 024 Euro, Leiharbeiter*innen zunehmend akademisiert. dagegen nur 1 758 Euro (Zacharias Dies bedeutet, dass die häufigen 2016; Zahlen von 2016). So verfügt polemischen Gegenüberstellungen von Deutschland heute zwar über eine der Arbeiterklasse und vermeintlich elitären »wettbewerbsfähigsten« Volkswirtschaften »akademischen Mittelschichten« oder der Welt, aber auch über den größten zwischen »akademischen Milieus« und Niedriglohnsektor in Europa (Deutscher »kleinen Leuten« mit geringerer Bildung Gewerkschaftsbund 2019). und Einkommen in den meisten Fällen Mit diesen Prozessen verflochten nicht mehr zeitgemäß sind und einer ist ein weiterer Wandlungsprozess, der tiefer gehenden Analyse bedürfen. traditionelle Grenzlinien am Arbeitsmarkt Steigt man in eine solche Analyse ein, zusehends infrage stellt. Denn spätestens wird als eine Wurzel dieser Entwicklung seit der Jahrtausendwende verwischen auch die Bildungsexpansion seit den späten die Gegensätze zwischen Akademiker*innen 1950er Jahren erkennbar. Anforderungen und Nichtakademiker*innen immer mehr. und Bedingungen im Bildungs- und Längst geht ein Großteil der an Hoch- Ausbildungswesen veränderten sich schulen ausgebildeten Arbeitskräfte in der gemeinsam mit der Arbeitswelt insgesamt. Klasse der Lohnabhängigen auf. Unter Dadurch wurde deutlich, dass etwa Hoch- den Bedingungen einer neoliberalen schulen mit den Interessen der Wirtschaft Arbeitswelt schützt akademische Bildung verflochten sind, da sie eine entscheidende nicht mehr selbstverständlich vor der Funktion in der Reproduktion qualifiziert- sich ausbreitenden Prekarisierung, also er Arbeitskräfte ausfüllen. unsicheren Beschäftigungsverhältnissen Forderungen nach einer umfassenden und einem sozialen Abstieg. Akademisierung der Bevölkerung, die 4 KLASSENPOLITIK IN ZEITEN VON AKADEMISIERUNG UND NEUER UNSICHERHEIT
erstmals in den späten 1950er Jahren lauter von Anfang an darauf ab, qualifizierte wurden, gipfelten ab den späten 1960er Arbeitskräfte für die sich verändernden Jahren in einer Welle von Hochschulgründ- Anforderungen einer wissenszentrierten ungen, die zu einer deutlichen Zunahme Wirtschaft bereitzustellen. der Studierendenzahlen führten. Insbe- Nicht nur in Deutschland suchen sondere die späten 1960er und frühen linke Parteien nach Antworten auf diese 1970er Jahre waren eine Hochphase Entwicklung. Vor dem Hintergrund expansiver Bildungspolitik. Gemeinsam neoliberaler Hegemonie hat die Linke mit den Gewerkschaften drängte vor allem zwar die Klassenfrage wiederentdeckt – die die SPD auf Chancengleichheit in der widersprüchliche Entwicklung im Prozess Bildung, um die durch das Bildungssys- der Akademisierung wird dabei bislang tem reproduzierte soziale Ungleichheit aber viel zu wenig berücksichtigt (vgl. etwa auszubremsen. Willy Brandt kündigte als LuXemburg-Spezial zu ›Neuer Klassen- ein Credo seiner Kanzlerschaft 1969 an, politik‹ 2017 oder das Dossier zu Klassen- »Bildung und Ausbildung, Wissenschaft politik der Rosa-Luxemburg-Stiftung, RLS und Forschung« an die »Spitze der Refor- 2018). Soll eine linke Klassenpolitik für das men« zu stellen (Wunder/Erdsiek-Rave 21. Jahrhundert entwickelt werden, hat es 2011). Hiermit setzte ein rasanter Prozess wenig Sinn, sehnsuchtsvoll in die Vergan- der Akademisierung großer Bevölk- genheit zu schauen und den idealtypischen erungsteile ein, der die Exklusivität des Industriearbeiter zu verklären, wie es in Studiums durchbrach: War das Studium an manchen linken Diskursen derzeit geschie- einer Hochschule zuvor das Privileg einer ht. Eine zukunftsweisende Klassenpolitik kleinen Minderheit gewesen, hatten an den muss berücksichtigen, wie die Prozesse ›Massenuniversitäten‹ nun erstmals auch der Akademisierung und Prekarisierung die sprichwörtlichen ›kleinen Leute‹ aus die Zusammensetzung und Struktur unteren Einkommensklassen Chancen auf der Arbeiterklasse und der Gesellschaft akademische Bildung. Heute nimmt mehr insgesamt verändert haben. Wie eine linke als die Hälfte eines Schuljahrgangs ein Klassenpolitik heute aussehen könnte, ist Universitäts- oder Fachhochschulstudium Gegenstand dieses Aufsatzes. auf (Statistisches Bundesamt 2020b). Dieser Prozess der Bildungsexpansion ZWISCHEN AKADEMISIERUNG UND war nicht frei von Widersprüchen. Auf NEUER UNSICHERHEIT der einen Seite stellte der Zugang zu Auf den ersten Blick scheinen sich die akademischer Bildung für Angehörige der Prozesse der Akademisierung und der Arbeiterklasse natürlich einen Schritt in Prekarisierung immer größerer Bevölk- Richtung Demokratisierung dar. Auf der erungsteile zu widersprechen. Die Tatsa- anderen Seite zielte die Bildungsexpansion che, dass Ausbildungen für bestimmte NICOLE GOHLKE 5
Tätigkeits- und Berufsfelder an Akademien klassische Lehrberufe, heute eine höhere und Hochschulen verlegt werden, ließe Qualifikation benötigen. eine Aufwertung dieser Tätigkeiten erwarten und sollte dementsprechend mit HOCHSCHULEXPANSION UND besseren beruflichen Perspektiven der AKADEMISIERUNG DER LOHNARBEIT Absolvent*innen einhergehen. Dennoch Bis ins 20. Jahrhundert hinein war die erleben wir, dass sich trotz eines stetig Aufnahme eines Studiums den Angehöri- wachsenden Anteils von Akademiker*in- gen von Eliten vorbehalten. Die Universität nen an der Gesamtbevölkerung die soziale sicherte die ideologische Reproduktion Spaltung in den vergangenen Jahrzehnten der gesellschaftlichen Ordnung – Pro- vertieft hat und prekäre Arbeits- und Leb- fessorenschaft und Studierende traten ensverhältnisse zunehmen (Vogel 2015). nach der gescheiterten Revolution 1848 Die Parallelität dieser Prozesse könnte in Kaiserreich und Weimarer Republik damit erklärt werden, dass ein Teil der zunächst nicht mehr als progressive Kräfte Bevölkerung vom Prozess der Akademis- in Erscheinung. Neben dem alten Adel und ierung profitiert, während der andere Teil der Bourgeoisie stand die Universität nur davon ausgeschlossen bleibt und in Bezug einem kleinen Teil des Kleinbürgertums auf Einkommen, materielle Sicherheit sowie Beamtenfamilien offen. Das Studium und Arbeitsbedingungen immer weiter war durch die Loslösung von materiellen zurückfällt. Doch dies ist nur ein Teil der Fragen gekennzeichnet – es entstand der Wahrheit. Denn im Prozess von Hoch- viel beschworene ›Elfenbeinturm‹, in dem schulöffnung und Bildungsexpansion hat man sich den schönen Künsten, Freizeit- sich auch die gesellschaftliche Funktion vergnügungen und dem Studium der akademischer Bildung grundlegend ›Klassiker‹ widmen konnte. »Das Studium gewandelt. Was gemeinhin als Akade- des Vortrefflichen und die fortwährende misierung diskutiert wird, umfasst nicht Ausübung des Vortrefflichen musste not- nur eine Aufwertung neuer akademischer wendig aus einem Menschen, den die Natur Berufe. Vielmehr ist durch die Ausweitung nicht im Stich gelassen, etwas machen«, akademischer Bildung ein neues akade- so Johann Wolfgang von Goethe (zit. nach misches Proletariat entstanden, das sich in Eckermann 2018). Bezug auf gesellschaftliche Stellung und Erfolgreiche kapitalistische Akkumu- berufliche Perspektiven den nicht-akade- lation erfordert jedoch die beständige und mischen Bevölkerungsschichten angleicht. systematische Anwendung wissenschaft- Gleichzeitig führt die Ausweitung licher und technologischer Forschung akademischer Bildung aber dazu, dass auf die wirtschaftlichen Sektoren, um sich das Proletariat akademisiert, indem Produktivkräfte und Erträge zu steigern. So viele ausführende Tätigkeiten, frühere sorgte der wirtschaftliche Aufschwung der 6 KLASSENPOLITIK IN ZEITEN VON AKADEMISIERUNG UND NEUER UNSICHERHEIT
Nachkriegszeit für einen erhöhten Bedarf zierten Fachkräften mehr und mehr als an akademisch gebildeten Arbeitskräften, Gefährdung des ökonomischen Wohlstands um weitere Produktivitätssteigerungen der westdeutschen Gesellschaft problematis- zu erreichen und um die öffentliche iert (ebd.; Picht 1964). Verwaltung und den Bildungssektor durch Parallel dazu formierte sich die Stud- qualifiziertes Personal zu erweitern. Dies ierendenbewegung der 1960er und 1970er bedeutete zwangsläufig, dass es zuneh- Jahre, die den Prozess der Hochschulöff- mend einer breiten Masse der Bevölkerung nung und Akademisierung von Beginn möglich gemacht werden musste, ein an kritisch begleitete. Der Sozialistische Studium aufzunehmen. Auch wenn Ziele Deutsche Studentenbund (SDS), der immer und Interessen von Kapital und Arbeit bei stärker ins Zentrum der Bewegung rückte, der Hochschulöffnung nie deckungsgleich verfasste wichtige Schriften zur Rolle der waren, überschnitten sich die gewandelten Universitäten in der Gesellschaft und bez- Anforderungen kapitalistischen Wirtschaf- eichnete diese als »Ausbildungsanstalten« tens somit in der Stoßrichtung mit linken im Interesse des Kapitals. Zudem erkämpfte und gewerkschaftlichen Positionen nach die »68er-Bewegung« viele studentische einer Öffnung der Bildung für die Masse Freiheiten und stieß vielfältige Demokra- der lohnabhängigen Bevölkerung. Erstmals tisierungsprozesse in den Hochschulen an, hatten nun auch Arbeiter*innenkinder die den Zielsetzungen der Kapitalseite dia- in größerem Umfang die Chance, eine metral entgegenstanden. Eine bedeutende akademische Laufbahn einzuschlagen. Errungenschaft dieser Protestbewegung ist Zwar blieben – und bleiben – sie unter die Bewahrung und zeitweise Ausweitung den Hochschulabsolvent*innen unter- eines Spektrums geistes- und sozialwissen- repräsentiert, dennoch verlor das deutsche schaftlicher Fächer an den Universitäten, Hochschulsystem zumindest etwas von deren Bedeutung für die kapitalistische seinem elitären Charakter. Akkumulation relativ gering ist. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte Seither hat sich die Akademisierung diese Entwicklung mit der Entstehung auf immer mehr Berufsfelder und einen der modernen ›Massenuniversität‹ ab den stetig wachsenden Teil der Lohnarbeit 1960er und 1970er Jahren. Ein Katalysator ausgeweitet. Die Studienanfänger*innen- hierfür war der ›Sputnik-Schock‹ Ende quote eines Jahrgangs stieg von knapp der 1950er Jahre, der den USA und davon 8 Prozent im Jahre 1960 (BMBF 2001) auf ausgehend dem ›Westen‹ insgesamt die über 56 Prozent im Jahre 2019 (Statis- Gefahr der technologischen Unterlegenheit tisches Bundesamt 2020b). Während in den in Konkurrenz zum damaligen ›Ost-Block‹ 1980er Jahren insbesondere die massive offenbarte (vgl. Möller et al. 2020). In der Ausweitung der Ingenieurswissenschaften Folge wurde der Mangel an hoch qualifi- zur Akademisierung industrieller Berufe be- NICOLE GOHLKE 7
itrug, etwa in den Bereichen Elektrotechnik, darauf abzielten, die akademische Bildung Maschinenbau oder Bauwesen, folgte in den zu kommodifizieren. Hierbei ging es 1990er Jahren die Informationstechnologie sowohl darum, die Hochschulexpansion für mit ihren diversen Berufsfeldern vom die öffentliche Hand möglichst kosten- Webdesigner bis zum Systemadministrator neutral für die gestalten, als auch darum, diesem Trend. Seit den 2000er Jahren höhere Lohnerwartungen der zukünftigen durchdringt die Akademisierung auch den Akademiker*innen zu bremsen (vgl. Bereich der sozialen Dienstleistungen. Gohlke/Butollo 2012, 14). Die Zweiteilung Dies betrifft nicht mehr nur die soziale des Studiums in Bachelor und Master schuf Arbeit, sondern auch die Krankenpflege, die nicht nur eine weitere Hürde durch ein Ergotherapie, die frühkindliche Erziehung zusätzliches Bewerbungsverfahren nach und die Hebammenkunde. Heute gibt es dem ersten Hochschulabschluss, sondern in Deutschland über 20 000 Studiengänge hatte explizit zum Ziel, den Großteil der und etwa 2,9 Millionen Studierende (Hoch- Studierenden nach kurzer Studiendauer in schulrektorenkonferenz 2020). den Arbeitsmarkt zu entlassen. Studierende Parallel zur Akademisierung der sind mehr denn je gezwungen, ihre indivi- Lohnarbeit lässt sich eine zunehmende duellen Erkenntnisinteressen an Vorgaben, Ausdifferenzierung des akademischen Fristen und Ordnungen anzupassen und Bereichs beobachten. Bei der Ausweitung das Studium ist infolgedessen durch einen akademischer Ausbildungsgänge spielte Verlust an Freiheiten und Wahlmöglichkeit- der Ausbau des Fachhochschulwesens en bei gleichzeitig wachsendem Leistungs- sowie der Berufsakademien eine wesen- druck gekennzeichnet. tliche Rolle. Mittlerweile sind über eine Zwar ist die Vorstellung einer breiten, Million Studierende an Fachhochschulen universalistischen und von ökonomischen eingeschrieben und ihr Anteil wächst stetig, Interessen unabhängigen Bildung schon während die Zahl der Studierenden an Uni- immer eine romantische Idealisierung versitäten einschließlich der pädagogischen gewesen. Mit den Bologna-Reformen ist und theologischen Hochschulen mit etwa jedoch ein massiv gesteigerter Prüfungs- 1,8 Millionen zuletzt nur noch langsam druck in das Studium eingezogen. Wer stieg (Statistisches Bundesamt 2020c). nicht mithält und beim Anhäufen von Spätestens seit den 1990er Jahren Leistungspunkten in Verzug gerät, dem haben neoliberale Umbaumaßnahmen drohen Disziplinierungen in Form von auch die Hochschulen erfasst und hier zu BAföG-Kürzungen oder gar die Zwangsex- drastischen Veränderungen geführt. Zentral matrikulation. Bildung gilt unter diesen waren hierbei die 1999 verabschiedeten Vorzeichen vor allem als Qualifikation Bologna-Reformen mit der Einführung für den Arbeitsmarkt – und damit als ein der Bachelor- und Masterstudiengänge, die marktfähiges Produkt. 8 KLASSENPOLITIK IN ZEITEN VON AKADEMISIERUNG UND NEUER UNSICHERHEIT
Diese Orientierung auf Effizienz mit dem DAS NEUE AKADEMISCHE Ziel, die Masse der Studierenden schnell PROLETARIAT durch das Studium zu schleusen – damit Es sei einer Krankenschwester nicht die zu erwartenden steigenden Studieren- zuzumuten, über Steuerabgaben die Aus- denzahlen ohne zusätzliche Finanzmittel bildung ihrer zukünftigen Vorgesetzten zu bewältigt werden können –, hat zur Folge, finanzieren. So rechtfertigte der ehemalige dass der Arbeitsaufwand für Studierende hessische Wissenschaftsminister Udo Corts stark gestiegen ist und immer weniger die Einführung von Studiengebühren zum Raum für die breite Aneignung von Wintersemester 2007/08 (Euler 2006). Bildungsinhalten, das sprichwörtliche Ziel des vermeintlichen Eintretens für die Blicken nach links und rechts, bleibt. Interessen der ›kleinen Leute‹ war es, die Hinzu kommt, dass steigende Leben- Proteste Studierender zu delegitimieren shaltungskosten dazu führen, dass heute und als elitär zu brandmarken. Studieren- bis zu zwei Drittel aller Studierenden de, so der Vorwurf, ließen sich vom Steuer- auf einen Nebenjob angewiesen sind zahler subventionieren, obwohl sie ohnehin (Middendorff et al. 2017) und eine einer zukünftigen Elite angehörten. Der geforderte Wochenstundenzahl von 40 Bildungsstreik sei demnach lediglich eine im Bachelorstudium für viele Studierende Art Lobby-Unterfangen, das dazu diene, nicht zu schaffen sind. Durchschnittlich Privilegien zu sichern. Doch was ist tatsäch- gehen erwerbstätige Studierende heute lich dran an diesen Vorwürfen? Warten auf zusätzlich zum Vollzeitstudium 13 Studierende auch heute noch hoch dotierte Stunden in der Woche einer Erwerbsarbeit Posten in Wirtschaft und Verwaltung? Sind nach (Middendorff et al. 2013). Gleichzeit- Akademiker*innen noch Elite? ig lebt die Hälfte aller Studierenden in Tatsächlich ergibt sich ein ambiva- Deutschland von weniger als 860 Euro lentes Bild: Auch wenn immer größeren im Monat (Middendorff et al. 2017). Das Bevölkerungsteilen eine akademische BAföG, das 1971 eingeführt wurde, damit Bildung offensteht, ist die Ungleichheit auch Studierende aus der Arbeiterklasse bei den Bildungschancen nach wie vor und finanziell weniger starke Schichten massiv. In kaum einem OECD-Land ist ein Studium finanzieren können, kommt die ›Vererbbarkeit‹ von Bildungsabschlüs- dieser Aufgabe längst nicht mehr nach. sen so groß wie in Deutschland (OECD Lag die Quote der BAföG-Empfänger*in- 2018; Autorengruppe Berichterstattung nen unter allen Studierenden 1972 noch 2020). Die massive Bildungsungleichheit bei 45 Prozent, setzte danach ein steiler verlängert sich dabei aus dem Schulsystem Sinkflug ein: Im Jahr 2019 erhielten in den Bereich der Berufs- und Hochschul- gerade noch 11 Prozent aller Studierenden bildung. So erwerben nur etwa halb so viele BAföG (Iost 2021). Nichtakademiker- wie Akademikerkinder NICOLE GOHLKE 9
eine Hochschulzugangsberechtigung. Bis Kurzum: Die Bildungsexpansion im zum Masterabschluss steigt die Relation auf modernen Kapitalismus, die sowohl knapp 1:6, bis zum Doktortitel sogar auf demokratische Errungenschaft als auch 1:10. Das bedeutet, dass von 100 Akade- Folge der sich verändernden Anforderun- mikerkindern durchschnittlich zehn einen gen der Wirtschaft ist, hat sowohl zur Doktortitel erwerben, von 100 Nichtakade- Akademisierung der Lohnarbeit als auch mikerkindern nur eines (Stifterverband für zur ›Proletarisierung‹ von Akademik- die Deutsche Wissenschaft e. V. 2017). er*innen geführt. Zwar sind Studierende Die sozialen Barrieren beim Zugang zu und Akademiker*innen mit Blick auf ihr akademischer Bildung sind also nicht ver- Tätigkeitsprofil nach wie vor oft besserg- schwunden. Geändert hat sich jedoch etwas estellt. Sie müssen in der Regel keine anderes: die Struktur des Arbeitsmarkts. harten körperlichen Arbeiten verrichten Obwohl ein abgeschlossenes Studium und verfügen über mehr Autonomie in und ein akademischer Grad auch heute der Gestaltung ihres Arbeitsalltags. Eine noch potenziell eine bessere berufliche Elite bilden sie aber trotzdem längst nicht Perspektive bieten, heißt das nicht, dass mehr. Ein wachsender Teil der Hoch- die Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt schulabsolvent*innen von heute landet generell gut wären. Die soziologische in abhängiger Beschäftigung, für die vor Analyse der ›Abstiegsgesellschaft‹ deutet Jahrzehnten eine Lehre ausgereicht hätte. diesen Sachverhalt anschaulich: Während Dabei ist die Tendenz stark steigend: der goldenen Jahre der Industriemoderne Zwischen 2008 und 2018 stieg der Anteil nach dem Zweiten Weltkrieg konnte man der Arbeiter*innen und Angestellten an davon ausgehen, dass es den eigenen der gesamten erwerbstätigen Bevölkerung Kindern einmal besser gehen werde: Wie um 11 Prozent, der Anteil von Akademik- in einem Fahrstuhl fuhr (fast) die gesamte er*innen hingegen, die als Arbeiter*innen Gesellschaft nach oben. Heute haben sich oder Angestellte arbeiten, stieg um die Vorzeichen verkehrt: Die Mittelschicht 43 Prozent (Bundesagentur für Arbeit gerät unter immer stärkeren Druck, sozial 2019). Demgegenüber schlagen weniger abzusteigen. Um dies zu verhindern, muss Akademiker*innen nach Studienabschluss man strampeln – Überstunden machen, den Weg in die Selbstständigkeit ein. mehr Zertifikate anhäufen, sich weiter- Selbst in klassischen selbstständigen bilden. Fuhr man früher gemeinsam mit Berufen – Psychologie, Rechtswissenschaf- dem Fahrstuhl nach oben, läuft man heute ten, Human- oder Zahnmedizin – ist die individuell gegen eine nach unten fahrende Selbstständigenquote auf deutlich unter Rolltreppe an, um nach oben zu kommen 50 Prozent gesunken (ebd.). Erklären lässt oder seine Position zumindest halten zu sich dies mit dem Wunsch nach mehr können (Nachtwey 2016; Beck 1986). Einkommenssicherheit. 10 KLASSENPOLITIK IN ZEITEN VON AKADEMISIERUNG UND NEUER UNSICHERHEIT
Die überwiegende Mehrheit der heutigen höchstens befristet eingestellt. So war Studierenden und jungen Akademiker*in- 2017 fast jeder zweite neu abgeschlossene nen landet letztlich in klassischen Lohnar- Arbeitsvertrag von Akademiker*innen beitsverhältnissen. Ein abgeschlossenes befristet. Bei Beschäftigten ohne Berufsab- Studium steigert zwar die Wahrscheinlich- schluss lag dieser Anteil mit 56 Prozent keit, in einer gesicherten Erwerbsposition zwar etwas höher, bei Arbeitnehmer*in- zu landen, aber nur einem kleinen Teil der nen mit Berufsabschluss dagegen mit Akademiker*innen gelingt der Aufstieg 38 Prozent deutlich niedriger (Bundes- in hohe Gehaltsgruppen oder Führungs- agentur für Arbeit 2019). Auch unter den positionen. So sind die Einstiegsgehälter Leiharbeiter*innen steigt die Zahl der vieler Hochschulabsolvent*innen nur Hochschulabsolvent*innen. Jede*r sechste noch unwesentlich höher als diejenigen Beschäftigte, die oder der von einer der 15 in Lehrberufen. Das durchschnittlich größten Leiharbeitsfirmen vermittelt wird, zu erwartende Lebenseinkommen von hat studiert (Lünendonk 2020). Akademiker*innen liegt zwar weiterhin Insbesondere die Arbeitsverhältnisse über dem gesellschaftlichen Gesamt- in der Wissenschaft sind von starkem Leis- durchschnitt, allerdings gibt es große tungsdruck und einer hohen Arbeitsdichte Unterschiede zwischen verschiedenen geprägt. Wer in einer gewissen Zeit nicht Studiengängen sowie zwischen den alle nötigen Qualifikationen ansammelt, Geschlechtern. In einigen Berufen erziel- wird gnadenlos aussortiert – und wer sie en Akademiker*innen im Vergleich zu hat, schaut bei der Bewerbung um eine der Absolvent*innen mit einer Ausbildung zur wenigen Professuren trotzdem zumeist in Meister*in oder Techniker*in geringere die Röhre. Nicht selten verzichten Wissen- Einkommen (Kugler et al. 2017). Zudem schaftler*innen zugunsten ihrer Karriere sind Akademiker*innen längst nicht mehr deshalb auf Kinder, und doch gibt es keine automatisch in leitenden Funktionen tätig. Garantie dafür, mit Anfang oder Mitte So haben Erwerbstätige mit Fortbil- 40 nicht plötzlich vor einer beruflichen dungsabschluss sogar häufiger direkte Neuorientierung zu stehen. Da auf den Personalverantwortung als Erwerbstätige steinigen Karrierepfaden Phasen der Arbe- mit akademischem Abschluss (Bundesin- itslosigkeit oder niedriger Erwerbsmögli- stitut für Berufsbildung 2019). chkeiten keine Seltenheit sind, wurde Es kommt hinzu, dass eine große vielfach über Jahre nicht einmal genügend Zahl von Akademiker*innen nach dem Geld in die Sozialsysteme eingezahlt, Studium gar nicht die Möglichkeit hat, um vor Altersarmut zu schützen. Somit in feste Arbeitsverhältnisse zu gelangen. verkörpern Wissenschaftler*innen keine Viele hangeln sich von einem unbezahlten materielle Elite, sondern sind ein Heer Praktikum zum nächsten und werden prekarisierter Beschäftigter. NICOLE GOHLKE 11
Dass akademische Bildung nicht autom- akademisch ausgebildete Menschen atisch höhere Gehälter und materiellen gestiegen sind. Die Mehrzahl von ihnen ist Aufstieg impliziert, wird deutlich, wenn von der wachsenden ökonomischen und man die Einkommen von Facharbeit- sozialen Ungleichheit und der allgemein- er*innen in der Autoindustrie heranzieht. en Senkung des Lebensstandards großer Berufsanfänger*innen in der Produktion Bevölkerungsteile direkt betroffen. Genau bei Volkswagen in Wolfsburg verdienen wie nicht-akademische Lohnabhängige rund 3.700 Euro pro Monat (brutto) für 35 leiden sie unter der neoliberalen Politik Stunden Wochenarbeitszeit. Sozialpäda- und machen die Erfahrung von befristeten gog*innen erhalten mit rund 2.850 Euro Arbeitsverhältnissen, Arbeitsverdichtung pro Monat (brutto) fast ein Viertel weniger und Lohndepression. Kurz: Das neue Gehalt bei einer Wochenarbeitszeit von akademische Proletariat ist ein Teil der 40 Stunden. Und es ist keinesfalls Arbeiterklasse – mit ähnlichen sozialen ausgemacht, dass die Kinder von Facha- Interessen wie die nicht akademisch rbeiter*innen in der Autoindustrie nach gebildeten Teile der Klasse. einem Studium jemals das Gehaltsniveau ihrer Eltern erreichen: Die Tochter eines HERAUSFORDERUNGEN LINKER Facharbeiters etwa, die nach einem geiste- KLASSENPOLITIK swissenschaftlichen Studium Journalistin Der Wandel der gesellschaftlichen Funktion wird, erhält zum Berufseinstieg bei einer akademischer Bildung und die damit ein- Tageszeitung rund 3.300 Euro pro Monat hergehenden Veränderungen in der Zusam- (brutto) und liegt damit nach einer wes- mensetzung und Lage der Arbeiterklasse entlich längeren Ausbildungszeit deutlich stellen die politische Linke vor neue Heraus- unter dem Gehalt ihres Vaters (das sich forderungen. Die ungebrochene Tendenz durch diverse Erfahrungsstufen über das der Prekarisierung der Arbeitswelt, wie Berufsleben hinweg noch deutlich erhöht wir sie in den letzten Jahrzehnten erleben hat) (Scheppe 2020). mussten, zeigt, dass Arbeiterbewegung und Ein Studium ist also nicht mehr Linke sich nach wie vor in der Defensive automatisch mit sozialen Aufstiegschan- befinden. Der Prozess der fortschreitenden cen verbunden, sondern vielfach eher Akademisierung steht dabei, wie wir gese- eine Notwendigkeit, um die Gefahr des hen haben, keineswegs im Widerspruch Abrutschens und des sozialen Abstiegs zur Ausweitung der Kapitalmacht und der zu senken. Der Trend zu immer mehr Schwäche der organisierten Arbeiterklasse. Studierenden sowie zu immer höheren Vielmehr ist er eine Folge sich verändernder Bildungsabschlüssen – über den Dok- Anforderungen des modernen Kapitalismus tortitel bis zur Habilitation – deuten an qualifizierte Arbeitskräfte. Im Ergeb- darauf hin, dass die Anforderungen an nis bildet sich ein neues akademisches 12 KLASSENPOLITIK IN ZEITEN VON AKADEMISIERUNG UND NEUER UNSICHERHEIT
Proletariat, das zunehmend den gleichen Hochschulexpansion und Akademisierung Zumutungen der neoliberalen Arbeitswelt der Lohnarbeit auch für Angehörige der ausgesetzt ist wie der Rest der Klasse der Arbeiterklasse der Zugang zu akademischer Lohnabhängigen. Bildung erreicht – eine Demokratisierung, Im Folgenden soll erörtert werden, die in langen und erbitterten Auseinander- welche Widersprüche, aber auch Chancen setzungen erkämpft werden musste und aus diesen Entwicklungen für eine zuku- nicht als elitäres Privileg kritisiert, sondern nftsweisende linke Politik erwachsen und gegen Widerstände verteidigt und weiter wie Klassenpolitik in Zeiten von Akademis- durchgesetzt werden muss. Andererseits ierung und fortschreitender Prekarisierung folgte die Entwicklung den Anforderungen weiter Teile der arbeitenden Klasse in der des modernen Kapitalismus und führte zu neoliberalen ›Abstiegsgesellschaft‹ aussehen einer veränderten Funktion von Hoch- kann. Zunächst soll hierbei ein Augenmerk schulbildung, die diese zunehmend an die auf den Stellenwert der Bildungs- und Interessen der Wirtschaft koppelt. In der Hochschulpolitik für die sozialistische Folge verschlechterten sich die Studi- Linke gerichtet werden, wobei durch einen enbedingungen und die soziale Lage eines Blick in die Vergangenheit linker Strategien Großteils der Studierenden und es kam zur der Organisierung die Erfahrungen aus der Entwertung akademischer Bildung sowie Geschichte der Arbeiterbewegung bezüglich zur zunehmenden ›Proletarisierung‹ von des Kampfes um Bildung sowie des Ver- Akademiker*innen. hältnisses der Linken zur gesellschaftlichen Gleichzeitig ist offensichtlich, dass Bil- Intelligenz und zum Umgang mit Fragen dungsgerechtigkeit in der Bundesrepublik der Bildungsgerechtigkeit nutzbar gemacht nach wie vor nicht erreicht ist und die Chan- werden sollen. Zuletzt soll es darum gehen, cen auf akademische Bildung weiterhin in eine Vision zu entwickeln, wie eine verbind- hohem Maße von der sozialen Herkunft ende Klassenpolitik vor dem Hintergrund abhängen. Dies bedeutet für die politische der skizzierten Entwicklungen aussehen Linke, dass der Kampf um Bildungsgerech- kann, die bestehende Spaltungen in der tigkeit weiterhin einen zentralen Stellenw- Klasse der Lohnabhängigen überwindet und ert haben muss. Die Forderung, dass jede die gemeinsamen Interessen akademischer und jeder die Möglichkeit haben muss, und nicht-akademischer Beschäftigter in studieren zu können, darf aber keineswegs einen gemeinsamen Kampf überführt. darauf hinauslaufen, nicht-akademische Bildungswege zu entwerten. Auch die KAMPF UM BILDUNGSGERECHTIGKEIT Ausbildung im Betrieb und an Berufs- Wie wir gesehen haben, ist die Bilanz der fachschulen muss ihre Wertschätzung in Bildungsöffnung der letzten Jahrzehnte Form guter Ausbildungsbedingungen, zwiespältig. Einerseits wurde durch guter Arbeitsplätze und gesellschaftlicher NICOLE GOHLKE 13
Anerkennung bekommen. Was es jedoch quote eines Jahrgangs betrug 1968 nur zu erreichen gilt, ist die Wahlfreiheit des knapp 15 Prozent (BMBF 2001). Heute Bildungswegs – für alle, unabhängig von nimmt mehr als die Hälfte eines Jahrgangs Herkunft, Geschlecht oder anderen Kriter- ein Hochschulstudium auf (Statistisches ien. Davon sind wir heute weit entfernt. Bundesamt 2020b). Durch den neoliber- Die zunehmende Ausrichtung akade- alen Umbau des Hochschulwesens und mischer Bildung auf die Anforderungen die gestiegene Arbeitsbelastung Stud- des Kapitals betrifft heute die Mehrheit der ierender wurden jedoch gleichzeitig die Studierenden und damit einen Großteil der studentischen Freiheiten eingeschränkt zukünftigen Lohnarbeiter*innen. Damit – und damit der Raum für politisches werden die Demokratisierungserfolge Engagement und Protest. Auf der anderen vergangener Generationen untergraben Seite hat diese Entwicklung jedoch, wie und es droht die Bildung neuer sozialer wir gesehen haben, zu einer Annäherung Barrieren, wie der wiederholte Versuch der sozialen Lagen und der individuellen der Einführung von Studiengebühren beruflichen Perspektiven von Studieren- oder die rapide sinkende Quote der den und Akademiker*innen sowie der BAföG-Empfänger*innen zeigen. Der übrigen lohnabhängigen Bevölkerung Kampf gegen diese neoliberale Hochschul- geführt, wodurch gemeinsame Anliegen politik muss weiter intensiviert werden. So und Forderungen erkennbar wurden. braucht es eine gezielte Förderung sozial Die Linke sollte diese Entwicklungen Benachteiligter, um Bildungsgerechtigkeit wahrnehmen, analysieren und für linke und Chancengleichheit beim Zugang Organisierung nutzen. zu akademischer Bildung zu erreichen. Innerhalb der politischen Linken wird Studentischer Protest ist ernst zu nehmen das Verhältnis von Studierenden und und zu unterstützen. Potenziale sind da, Akademiker*innen zur Arbeiter*innen- wie die Bildungsproteste in den letzten klasse jedoch immer wieder kontrovers Jahrzehnten gezeigt haben. diskutiert. Die Gegenüberstellung der Immer wieder sind von modernen sozialen Interessen akademischer und Massenhochschulen große Proteste proletarischer Milieus ist nach wie vor ausgegangen, und wie es spätestens die weit verbreitet. Dies führt jedoch in eine »68er-Bewegung« bewiesen hat, können politische Sackgasse. Denn einerseits sie auch Zündfunke verallgemeinerter haben sich die Trennlinien zwischen Revolten sein. Damals war der gesellschaft- beiden Gruppen verwischt und die skritische und aktivistische Impuls, der sozialen Interessen angeglichen. Ander- von den Hochschulen ausging, noch auf erseits wird oft vergessen, wie wichtig die eine verhältnismäßig kleine Minderheit Rolle formal höher gebildeter Schichten begrenzt – die Studienanfänger*innen- für linke Organisierung in der Geschichte 14 KLASSENPOLITIK IN ZEITEN VON AKADEMISIERUNG UND NEUER UNSICHERHEIT
gewesen ist. Dazu lohnt ein Exkurs in die eine Waffe im Kampf um die Emanzipa- Geschichte der organisierten Arbeiterbe- tion der gesamten Arbeiterklasse sein. Und wegung und der Linken, denn was eine dafür waren die Arbeiterbildungsvereine mögliche Symbiose angeht, war uns die notwendig, denn mit Anteilen von 0,5 Pro- historische Arbeiterbewegung bereits um zent aller Studierenden zu Zeiten des einiges voraus. Kaiserreichs beziehungsweise 3 Prozent in der Weimarer Republik war Kindern aus LEHREN AUS DER GESCHICHTE der Arbeiterklasse der Weg ins Studium Die meisten Mitglieder der sozialistischen praktisch verwehrt (Jarausch 1984, 134). Arbeiter*innenparteien des 19. und frühen Tatsächlich änderte sich dies erst mit 20. Jahrhunderts stammten aus den besser der Bildungsexpansion nach dem Zweiten gestellten Teilen der Arbeiter*innenklasse, Weltkrieg grundlegend (ebd.: 13). Mit den der Facharbeiterschaft. Angeführt wurden vielen neuen Studierenden zog ein neuer, die Parteien oder deren Vorläufer von kritischer Geist in die Hochschulen ein. bestens gebildeten Intellektuellen wie Gleichzeitig bot dieser Bildungsweg in der Karl Marx, Ferdinand Lassalle, Rosa prosperierenden Wirtschaft der 1960er Luxemburg, Karl Liebknecht oder Lenin. und 1970er Jahre die Möglichkeit, den Tatsächlich wäre diese frühe Arbeiter- eng gewordenen Milieus und Klassen zu bewegung nie auf die Idee gekommen, entkommen. Auf diese Weise entstand ›Bildung‹ gegen ›Handarbeit‹ auszuspiel- eine akademisch gebildete Mittelschicht, en. Vielmehr wurde die Arbeiterbewegung die es in dieser Form zuvor noch nicht in Arbeiterbildungsvereinen begründet. gegeben hatte. Sie bestimmte fortan auch Welch hohen Stellenwert Bildung für das Leben in politischen Parteien – gerade die Arbeiterparteien besaß, zeigt sich die SPD wurde zu Beginn der 1970er Jahre daran, dass die SPD unmittelbar nach dem durch die neuen Mitglieder regelrecht Ende der Sozialistengesetze 1891 ihre »All- ›entproletarisiert‹ (Walter 2018, 207). gemeine Arbeiter-Bildungsschule« grün- Solche Aufstiegsprozesse in gebildete dete und 1906 ihre »Reichsparteischule« und gut bezahlte Schichten wurden in Berlin eröffnete (Olbrich 1982). Nach oftmals zu Idealfällen stilisiert. So verwun- der Abspaltung von der Sozialdemokratie dert es nicht, wenn sozialdemokratische eröffnete die KPD die »Marxistische Arbe- Politiker*innen im In- und Ausland, die iterschule« in Berlin (Gerhard-Sonnenberg wie Gerhard Schröder von einem histor- 1976). Die Arbeiterparteien betrachteten isch einmaligen Bildungsaufstieg profitiert Bildung nicht als Mittel, um einen persön- haben, das Ideal des lebenslangen Lernens lichen Aufstieg zu verwirklichen, sondern und meritokratischer Gerechtigkeitsvor- ihnen galt Wissen als Instrument, um die stellungen propagieren, während sie Gesellschaft zu verändern: Bildung sollte zeitgleich den Sozialstaat aushöhlen NICOLE GOHLKE 15
(Lessenich 2008). Dass ausgerechnet die Bewusstsein zu befördern (Eiden-Offe Bildungsaufsteiger*innen der 1960er und 2016). Und dies brachte Steine ins Rollen: 1970er Jahre sozialdemokratische und Die sich ab den 1840er Jahren formieren- sozialistische Parteien in Europa (und de Arbeiterbewegung basierte auf solchen auch die US-Demokraten) umkrempelten, Bildungsvereinen. kann als eine Ironie der Geschichte bezeichnet werden. Den Parteien waren ORGANISIERUNG: die Bindekräfte abhandengekommen, DIE VERANTWORTUNG DER LINKEN um ein immer stärker auseinandertrei- Das neue akademische Proletariat, das in bendes Milieu, das sich vielfach nicht Bezug auf gesellschaftliche Stellung und mehr stolz als Arbeiterklasse, sondern als berufliche Perspektiven den nicht-akade- gesellschaftliche Mitte begriff, beisammen- mischen Bevölkerungsschichten ähnelt, halten zu können. Akademische Bildung muss von linker Klassenpolitik adressiert wurde dabei jedoch auf den individuellen werden. Da Studierende und Akademik- sozialen Aufstieg reduziert – und nicht wie er*innen ebenso wie Arbeiter*innen von erhofft auf die gesellschaftliche Emanzipa- der Ausbreitung neoliberaler Marktprin- tion der gesamten Klasse angewendet. zipien, der Zunahme prekärer Beschäft- Heute ist die Lage, dem oben bes- igungsverhältnisse und von wachsender chriebenen Bild der ›Abstiegsgesellschaft‹ ökonomischer Unsicherheit betroffen sind, folgend, grundlegend anders. Aufstiege entstehen hier Möglichkeiten zur Bildung lassen sich immer schwerer realisieren. von Koalitionen. Damit ist eine neue In vielem erinnert unsere kapitalistische Situation entstanden, da sich die Interessen Gegenwart an die Situation der 1830er dieser Bevölkerungsanteile in früheren Jahre, den »Vormärz«, als durch die Zeiten nicht im selben Maße überschnitten. Auflösung der Zunftordnung eine Zeit Die materiellen Interessen von der sozialen Desintegration begann. akademischen und nicht-akademischen Viele Handwerker und Arbeiter standen Beschäftigtengruppen und auch ihre vor dem sozialen Ruin und setzten auf Stellung in der Produktion, also dem Selbstorganisation in Bildungsvereinen zentralen Konfliktfeld von Arbeit und wie dem »Bund der Gerechten« des Kapital, haben sich einander angenähert. Frühsozialisten Wilhelm Weitling. Hier Ein großes Hindernis für die gemeinsame wurde die Vermittlung von Wissen zur Organisierung liegt heute gleichwohl in Triebfeder bei der Herausbildung eines habituellen Gegensätzen. Hierunter werden Klassenbewusstseins. Denn die Kultur, inkorporierte Verhaltensweisen verstanden, die Kunst und die Sprache ermöglichten die aus der Sozialisation und der Zuge- es, verbindende Bilder und Vorstellungen hörigkeit zu Klassen und Milieus entste- entstehen zu lassen und ein gemeinsames hen. Es sind diese vielfach beschriebenen 16 KLASSENPOLITIK IN ZEITEN VON AKADEMISIERUNG UND NEUER UNSICHERHEIT
»feinen Unterschiede« (Bourdieu 1982), Markt mit immer stärkerem Preis- und diese realen Schranken, die seit jeher für Lohndruck ausgerichtet ist und der sich die Distinktion der oberen Klassen vom ›ge- ›einfache‹ Arbeiter*innen ebenso wie meinen Volk‹ sorgen. Das Studium ist hier Hochschulabsolvent*innen fügen müssen, als kultureller Distinktionsgewinn, aber wird dabei verschleiert. Es ist für die CSU auch als Netzwerk- und Karriereschmiede vorteilhafter, beide Gruppen gegeneinander unverzichtbarer Bestandteil, um geradezu auszuspielen, als sich selbst als Beförderin ständische Privilegien zu konservieren und dieser Politik in die Schusslinie zu bringen. zu reproduzieren. Gleichzeitig können Der ›kleine Mann‹, der sich gegen habituelle Unterschiede verschiedener vermeintlich abgehobene intellektuelle Bevölkerungsschichten zielgerichtet Eliten wehren muss, ist eine klassische instrumentalisiert werden, um bei ihnen populistische Argumentationsfigur der das Erkennen von Gemeinsamkeiten zu politischen Rechten. Man findet sie im verhindern. explizit anti-intellektuellen französischen Um diese Strategie der Instrumentalis- Poujadismus der 1950er Jahre, aber auch ierung zu beobachten, muss man nicht bis heute, manifestiert durch den »gesunden in die USA reisen, wo der (vermutlich unre- Menschenverstand der normalen Leute«, chtmäßige) Milliardär Donald Trump und den die AfD vor allem in ihrer Anfangs- neurechte Netzwerke eine durchschaubare phase bemühte, um allen anderen Parteien Elitenkritik vorbringen, die die Vergessenen den Vorwurf machen zu können, den und Abgehängten für die Rechte gewinnt. Kontakt zu den Sorgen, Nöten und Be- In Deutschland hat sich etwa Alexander fürchtungen der Bevölkerung verloren zu Dobrindt vor einigen Jahren damit hervor- haben. Ihre explizit rassistischen Argumen- getan, Angehörige der urbanen gebildeten tationen stellen nur eine weitere Eskalation Milieus gegen die ›kleinen Leute‹ auszus- dieser argumentativen Logik dar. In den pielen: Da in manchen Stadtvierteln nur Erklärungsmustern der Rechten wird ›die noch Englisch gesprochen werde, fühlten Elite‹ nicht materialistisch über Reichtum sich die einfachen Leute zunehmend und eine daraus resultierende Macht kon- fremd (Dobrindt 2018). Dobrindt spielt struiert, sondern als kulturelle Bedrohung mit einem Unbehagen und stellt dabei die eines way of life. Deswegen ist das Spiel mit Notwendigkeit, sich in einer vernetzten der Angst ein zentrales Element rechter und globalisierten Welt mehrsprachig zu Rhetorik, das sich systematisch aller mögli- bewegen, dem nachvollziehbaren Wunsch chen Strategien bedient, um vermeintliche nach größerer Übersichtlichkeit gegenüber. Bedrohungen aufzubauschen. So werden Dass die wahrgenommene International- rassistische Zuschreibungen, antifemi- isierung aber auf eine Wirtschaftspolitik nistische Positionen, Fake News und die zurückzuführen ist, die auf einen globalen Bekämpfung wissenschaftlicher Erkennt- NICOLE GOHLKE 17
nisse als Verteidigungshaltung der ›kleinen anderen Seite schadet diesem Ziel nicht Leute‹ in Anschlag gebracht. nur, sondern ist auch längst überholt. Sicher, die Diskurse im akademischen Es stimmt zwar, dass die Arbeiterklasse und auch im linken politischen Raum sind gespalten ist. Die Trennlinien verlaufen nicht immer leicht verständlich. Und nicht jedoch – wie in anderen gesellschaftlichen jeder Diskurs verdient dieselbe Aufmerk- Schichten auch – entlang von Geschlecht, samkeit oder erweist sich in der Rückschau Ethnizität und habituellen Umgangsweisen als sinnvoll. Man muss etwa zu sprachpoli- und auch auf dem Feld der Arbeitsbez- tischen Fragen nicht immer einer Meinung iehungen selbst, etwa zwischen Festan- sein. Die polemische Gegenüberstellung gestellten sowie Leiharbeiter*innen und von vermeintlich kulturellen und materi- Werkvertragsarbeiter*innen oder zwischen ellen Fragen, die unter dem Schlagwort befristet und unbefristet Beschäftigten. Die des »Gendersternchens« zur Karikatur Herstellung der Einheit ist eine politische verkommen ist, oder die Trennung von Aufgabe. Karl Marx beschrieb diesen Fragen sexueller Orientierung oder der Umstand wie folgt: Minderheitenrechte von harten Verteilungs- forderungen unternehmen allerdings gar »Die ökonomischen Verhältnisse haben nicht erst den Versuch, nach möglichen zuerst die Masse der Bevölkerung in Verbindungen zu suchen, bzw. ignorieren Arbeiter verwandelt. Die Herrschaft bestehende Allianzen bewusst. Progres- des Kapitals hat für diese Masse eine siven Forderungen aber für den schnellen gemeinsame Situation, gemeinsame Beifall den Ruch des Elitären zu verleihen, Interessen geschaffen. So ist diese gibt sie der Lächerlichkeit preis. Masse bereits eine Klasse gegenüber Linke Politiker*innen sollten nicht in dem Kapital, aber noch nicht für sich derartige Ausspielungswettkämpfe entlang selbst. In dem Kampf […] findet sich falscher Gegenübersetzungen einstimmen. diese Masse zusammen, konstituiert Auf diese Weise betreibt man das Geschäft sie sich als Klasse für sich selbst. Die des politischen Gegners. Wie immer wirk- Interessen, welche sie verteidigt, wer- mächtig die habituellen Schranken zwis- den Klasseninteressen. Aber der Kampf chen den Beschäftigtengruppen sind, sie von Klasse gegen Klasse ist ein politi- können in der gemeinsamen Organisierung scher Kampf.« (Marx 1847, 180f) überwunden werden. Diese herzustellen, ist eine zentrale Aufgabe der Linken. Diesen politischen Kampf zur Heraus- Die nicht selten polemische Gegenüber- bildung einer »Klasse für sich selbst« stellung von vermeintlich privilegierten gilt es zu führen. Er entsteht, indem wir Akademiker*innen auf der einen und Verbindungen betonen und gemeinsame benachteiligten Arbeiter*innen auf der Interessen aufzeigen – letztlich jedoch nur 18 KLASSENPOLITIK IN ZEITEN VON AKADEMISIERUNG UND NEUER UNSICHERHEIT
in den gemeinsamen Kämpfen selbst, die LINKE als auch in der SPD werden seit es dementsprechend aufzubauen gilt. Jahren vermehrt Stimmen laut, die vor Der Schlüssel zum Verständnis ist die einer Abwendung vom klassisch linken soziale Realität und sind vor allem die Wählermilieu der Arbeiter*innen und Zukunftsaussichten derjenigen, die die sozial Benachteiligten warnen. Kritische Bewegungen tragen – mit ihrem großen Stimmen drücken die Sorge aus, dass Anteil an Schüler*innen und Studierenden. die soziale Frage als politischer Kern der Vor dem Hintergrund ihrer individuellen Partei DIE LINKE gegenüber vermeintlich sozialen und ökonomischen Perspektiven identitätspolitischen ›Nebenschauplätzen‹ in der ›Abstiegsgesellschaft‹ und der in den Hintergrund rücken könnte. Legitimationskrise des Systems als Ganzem Warnungen aus den Reihen der SPD ist die junge Generation heute wesentlich wirken zuweilen anachronistisch und mit offener für Systemkritik und Klasseno- Blick auf die eigene Verantwortung in rientierung. Die ›Generation Krise‹, die den Prekarisierungsprozessen nur wenig in einer Welt aufgewachsen ist, in der aufrichtig. Wie glaubwürdig sind Parteire- im Gefolge der Weltwirtschaftskrise seit chte wie der ehemalige Arbeitsminister 2008 die politischen, sozialen, ökonomis- Sigmar Gabriel, wenn sie die Entfernung chen und ökologischen Verhältnisse ins der SPD von der Arbeiterschaft beklagen Rutschen geraten sind, hegt Sympathien (Ismar 2020), während gleichzeitig der für linke Gedanken – und das trotz des neoliberale Kahlschlag der »Agenda 2010« immer noch relativ niedrigen Niveaus unter der Kanzlerschaft Gerhard Schröders ökonomischer Kämpfe und der Schwäche mit Vehemenz verteidigt wird (Frankfurter der Gewerkschaftsbewegung. Dies gilt es Allgemeine Zeitung, 5.1.2015)? für linke Klassenpolitik zu nutzen, was aber Die Idee einer Gesellschaft, in der nur gelingen kann, wenn sie in der Lage alle erhalten, was sie durch Bildungsab- ist, verschiedene Kämpfe zu verbinden, schlüsse berechtigterweise erworben statt Trennendes zu betonen. Nur so kann haben, ist eine Illusion. Das Fachwort der aus objektiven gemeinsamen Interessen ›Meritokratie‹, das sich seit den 1990er der Angehörigen einer »Klasse gegenüber Jahren zur Beschreibung eines solchen dem Kapital« eine »Klasse für sich selbst« vermeintlich gerechten Verteilungsmech- werden. anismus eingebürgert hat, benannte anfangs eine satirisch zugespitzte Dystopie FAZIT (Young 1958; hierauf bezugnehmend: »Die linken Parteien sind Akademik- Walter/Marg 2013). Denn gerade weil hier erparteien geworden«, beklagte Sahra jede Position in der Gesellschaft als durch Wagenknecht (Süddeutsche Zeitung, Bildungsabschlüsse ›gerecht‹ ausgewiesen 23.10.2020). Sowohl in der Partei DIE wird, entsteht eine hochgradig starre und NICOLE GOHLKE 19
immobile soziale Ordnung, aus der es kein 2020-barrierefrei.pdf Beck, Ulrich, 1986: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in Entrinnen gibt. eine andere Moderne, Frankfurt a. M. Gerade deswegen gilt es, Gemein- BMBF – Bundesministerium für Bildung und For- samkeiten zwischen den Milieus, den schung, 2001: Grund- und Strukturdaten, Statis- tische Veröffentlichung der Kultusministerkonfe- Einkommens- und Bildungsniveaus renz, Sonderheft 97: Quantitative Entwicklung im zu suchen und mit ihnen zu arbeiten. Schul- und Hochschulbereich bis 2015 Deshalb muss für die Partei DIE LINKE wie Bourdieu, Pierre, 1982: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. für die gesellschaftliche Linke insgesamt Bude, Heinz, 1995: Das Altern einer Generation. Die gelten: Der Gegensatz zwischen den Jahrgänge 1938–1948, Frankfurt a. M. »urbanen akademischen Schichten« und Bundesagentur für Arbeit, 2019: Berichte: Blickpunkt Arbeitsmarkt. Akademikerinnen und Akademiker, der Arbeiterklasse besteht nur dann, Nürnberg, https://statistik.arbeitsagentur.de/DE/ wenn man fälschlicherweise unterstellt, Statischer-Content/Statistiken/Themen-im-Fokus/ dass Erstere nicht unter den Härten des Berufe/Generische-Publikationen/Broschuere- Akademiker.pdf?__blob=publicationFile&v=4 Arbeitsmarkts leiden würden. Das ist, Bundesinstitut für Berufsbildung, 2019: Datenreport wie wir gesehen haben, ein Trugschluss. 2019. Indikatoren zur beruflichen Ausbildung. Ausbildung und Beschäftigung. Ergebnisse der Die beschriebene Entwicklung von BIBB/BAuA Erwerbstätigenbefragung, www.bibb. Akademisierung und Prekarisierung zeigt de/datenreport/de/2019/102316.php deutlich, wie künstlich der konstruierte Deutscher Gewerkschaftsbund, 2019: Niedriglohn- sektor: Falle statt Sprungbrett, klartext 15/2019, Gegensatz zwischen Akademiker*innen 18.4.2019, www.dgb.de/themen/++co++8b578f56- und Arbeiterklasse heute ist. Statt alten 6109-11e9-9fde-52540088cada Spaltungslinien das Wort zu reden, muss Dobrindt, Alexander, 2018: Für eine bürgerliche Wen- de, in: Die Welt, 4.1.2018. die Linke ihrer Verantwortung für alle Eckermann, Johann Peter, 2018: Gespräche mit Goethe Lohnabhängigen gerecht werden. Es ist in den letzten Jahren seines Lebens, Berlin: epubli, Aufgabe der Linken, Strategien zu entwick- zuerst erschienen: Brockhaus, Leipzig 1836/Hein- richshofen, Magdeburg 1848 eln, um eine verbindende Klassenpolitik Eiden-Offe, Patrick, 2016: Die Poesie der Klasse. zu schaffen. Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats, Berlin Euler, Ralf, 2006: Gesetzentwurf zu Studiengebühren im Landtag eingebracht, in: Frankfurter Allge- meine Zeitung, 12.7.2006, www.faz.net/aktuell/ rhein-main/region-und-hessen/landespolitik- gesetzentwurf-zu-studiengebuehren-im-landtag- eingebracht-1357211.html LITERATUR Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2015: Gabriel und Altvater, Elmar/Huisken, Freerk (Hg.), 1971: Materiali- Nahles loben Reformen der Agenda 2010, 5.1.2015, en zur politischen Ökonomie des Ausbildungssek- www.faz.net/aktuell/politik/gabriel-und-nahles- tors, Erlangen loben-reformen-der-agenda-2010-13353768.html Autorengruppe Berichterstattung (2020): Bildung in Gerhard-Sonnenberg, Gabriele, 1976: Marxistische Deutschland 2020, https://www.bildungsbericht. Arbeiterbildung in der Weimarer Zeit (MASCH), de/de/bildungsberichte-seit-2006/bildungsbe- Köln richt-2020/pdf-dateien-2020/bildungsbericht- Gohlke, Nicole/Butollo, Florian, 2012: Hochschule im 20 KLASSENPOLITIK IN ZEITEN VON AKADEMISIERUNG UND NEUER UNSICHERHEIT
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