KLASSENPOLITIK IN ZEITEN VON AKADEMISIERUNG UND NEUER UNSICHERHEIT

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KLASSENPOLITIK IN ZEITEN VON AKADEMISIERUNG UND NEUER UNSICHERHEIT
KLASSENPOLITIK
   IN ZEITEN VON
AKADEMISIERUNG UND
NEUER UNSICHERHEIT

                             NICOLE
       GESELLSCHAFTSANALYSE UND     GOHLKE
                                 LINKE     1
                                       PRAXIS
KLASSENPOLITIK IN ZEITEN VON AKADEMISIERUNG UND NEUER UNSICHERHEIT
KLASSENPOLITIK IN ZEITEN
     VON AKADEMISIERUNG UND
       NEUER UNSICHERHEIT
          PLÄDOYER FÜR EINE
      ZEITGEMÄSSE BETRACHTUNG
        VON AKADEMIKER*INNEN
                        NICOLE GOHLKE

  Die wachsende Akademisierung der Lohnarbeit hat
 nur sehr bedingt zu einer Aufwertung von neuen aka-
demischen Berufen geführt. Eher ist ein akademisches
  Proletariat entstanden. Während sich Teile der Arbei-
terklasse durch die Ausweitung von Hochschulbildung
   akademisiert haben, hat sich die soziale Lage von
Akademiker*innen der des nicht-akademischen Teils der
Lohnabhängigen angeglichen. Statt also immer wieder
 die falsche Gegenüberstellung von Akademiker*innen
 und Arbeiter*innen zu reproduzieren, öffnet die verän-
 derte Zusammensetzung der Klasse der Lohnabhängi-
   gen die Chance einer verbindenden Klassenpolitik.

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EIN NEUES AKADEMISCHES                          Bundesamt 2020c). Im gleichen Zeitraum
PROLETARIAT                                     wuchs der Anteil des Dienstleistungssek-
Die Arbeitswelt unterliegt im Kapitalismus      tors an der Gesamtbeschäftigung von 40
einem permanenten Wandel – und gemein-          auf beinahe 75 Prozent (ebd.). Die neu
sam mit ihr auch die Klasse der Lohnab-         entstandenen Arbeitsplätze in diesem
hängigen. Trotz zyklisch wiederkehrender        Bereich umfassen ein weites Spektrum an
Abgesänge auf die Arbeiterklasse gibt es in     Tätigkeiten und Berufen. Unternehmens-
Deutschland heute mit über 40 Millionen         bezogene wie öffentliche Dienstleistungen
Arbeitnehmer*innen so viele lohnabhängig        reichen von Tätigkeiten im Bereich der
Beschäftigte wie nie zuvor (Statistisches       Forschung und Entwicklung bis hin zu
Bundesamt 2019). Jedoch hat sich im             Wachdiensten oder der Gebäudereini-
Vergleich zu den Nachkriegsjahrzehnten          gung – ihr Bedeutungsgewinn steht sowohl
das Gesicht der Arbeiterklasse grundlegend      im Zusammenhang mit der gestiegenen
verändert. Der wirtschaftliche und poli-        Komplexität und Wissensintensität von
tische ›Strukturbruch‹ im Laufe der 1970er      Aufgaben wie mit Auslagerungsprozessen
Jahre stieß Veränderungsprozesse an, die        von Teilen der Wertschöpfungsketten aus
sich bis in die Gegenwart beschleunigten        dem produzierenden Gewerbe (Schwahn
und die Arbeitswelt substanziell veränder-      et al. 2018). Hinzu kommt ein immenser
ten. Bestand bis dahin eine grundlegende        Beschäftigungsanstieg im Bereich Handel,
Differenz zwischen klassischen Arbeit-          Verkehr und Gastgewerbe, aber auch durch
er*innen, die ausführende ›Handarbeit‹          öffentliche Dienstleister, etwa in Erziehung,
erledigten, und Angestellten, die zumeist       Bildung und Gesundheit (ebd.).
selbstbestimmte und anweisende ›Kopfar-             Dieser Strukturwandel der Arbeitswelt
beit‹ leisteten, sehen die Spaltungslinien      hat traditionelle Spaltungslinien zwischen
innerhalb der lohnabhängigen Bevölkerung        Arbeiter*innen und Angestellten verlagert.
heute zunehmend anders aus.                     Ein Angestelltenverhältnis ist längst nicht
    Während Automatisierung und                 mehr automatisch mit einer gehobenen
Globalisierung von Produktionsketten zu         Stellung verbunden. Im Gegenteil: Ob in
einem Verlust industrieller Arbeitsplätze       der Altenpflege oder an der Supermarkt-
führten, ist ein großer und ausdifferenziert-   kasse, ob in Werbeagenturen, in Unterne-
er Dienstleistungssektor entstanden. Waren      hmen oder dem akademischen Mittelbau
im Jahr 1965 noch beinahe die Hälfte aller      in der Wissenschaft – in vielen Dienstleis-
Beschäftigten in der Bundesrepublik im          tungs- und akademischen Berufen sind die
produzierenden Gewerbe tätig, so sank           Gehälter deutlich niedriger als die Löhne
deren Anteil bis 1995 auf etwa ein Drittel      festangestellter Arbeiter*innen etwa im
und macht heute weniger als ein Viertel der     Maschinenbau oder der Autoindustrie.
Gesamtbeschäftigtenzahl aus (Statistisches      Doch nicht nur strukturelle Prozesse,

                                                                         NICOLE GOHLKE 3
sondern auch politisches Handeln hat         Diese Entwicklungen führen dazu, unsere
neue Trennlinien unter den Beschäftigten     traditionellen Vorstellungen der Arbeiterk-
entstehen lassen. Spätestens seit den        lasse oder des Proletariats zu hinterfragen
neoliberalen Arbeitsmarkt- und Sozial-       und neu zu bestimmen: In diesem Aufsatz
reformen zu Beginn der 2000er Jahre          verfolge ich die These, dass ein neues
stehen in vielen Betrieben festangestellte   akademisches Proletariat entstanden ist.
Beschäftigte prekären Leiharbeiter*innen,    Dieses speist sich allerdings nicht nur aus
Werkvertragsarbeiter*innen und Minijob-      denjenigen Akademiker*innen, deren
ber*innen gegenüber. Letztere verfügen       vormals prestigeträchtige und sichere
über eine deutlich geringere Jobsicherheit   Berufe eine Entwertung erfahren haben.
und in der Regel auch über niedrigere        Vielmehr ist auch ein gegenläufiger
Löhne und Gehälter. Im Median verdienen      Prozess zu beobachten: Viele Arbeitsstel-
Beschäftigte in der Bundesrepublik pro       len und Branchen wurden und werden
Monat 3 024 Euro, Leiharbeiter*innen         zunehmend akademisiert.
dagegen nur 1 758 Euro (Zacharias                Dies bedeutet, dass die häufigen
2016; Zahlen von 2016). So verfügt           polemischen Gegenüberstellungen von
Deutschland heute zwar über eine der         Arbeiterklasse und vermeintlich elitären
»wettbewerbsfähigsten« Volkswirtschaften     »akademischen Mittelschichten« oder
der Welt, aber auch über den größten         zwischen »akademischen Milieus« und
Niedriglohnsektor in Europa (Deutscher       »kleinen Leuten« mit geringerer Bildung
Gewerkschaftsbund 2019).                     und Einkommen in den meisten Fällen
    Mit diesen Prozessen verflochten         nicht mehr zeitgemäß sind und einer
ist ein weiterer Wandlungsprozess, der       tiefer gehenden Analyse bedürfen.
traditionelle Grenzlinien am Arbeitsmarkt        Steigt man in eine solche Analyse ein,
zusehends infrage stellt. Denn spätestens    wird als eine Wurzel dieser Entwicklung
seit der Jahrtausendwende verwischen auch    die Bildungsexpansion seit den späten
die Gegensätze zwischen Akademiker*innen     1950er Jahren erkennbar. Anforderungen
und Nichtakademiker*innen immer mehr.        und Bedingungen im Bildungs- und
Längst geht ein Großteil der an Hoch-        Ausbildungswesen veränderten sich
schulen ausgebildeten Arbeitskräfte in der   gemeinsam mit der Arbeitswelt insgesamt.
Klasse der Lohnabhängigen auf. Unter         Dadurch wurde deutlich, dass etwa Hoch-
den Bedingungen einer neoliberalen           schulen mit den Interessen der Wirtschaft
Arbeitswelt schützt akademische Bildung      verflochten sind, da sie eine entscheidende
nicht mehr selbstverständlich vor der        Funktion in der Reproduktion qualifiziert-
sich ausbreitenden Prekarisierung, also      er Arbeitskräfte ausfüllen.
unsicheren Beschäftigungsverhältnissen           Forderungen nach einer umfassenden
und einem sozialen Abstieg.                  Akademisierung der Bevölkerung, die

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erstmals in den späten 1950er Jahren lauter   von Anfang an darauf ab, qualifizierte
wurden, gipfelten ab den späten 1960er        Arbeitskräfte für die sich verändernden
Jahren in einer Welle von Hochschulgründ-     Anforderungen einer wissenszentrierten
ungen, die zu einer deutlichen Zunahme        Wirtschaft bereitzustellen.
der Studierendenzahlen führten. Insbe-            Nicht nur in Deutschland suchen
sondere die späten 1960er und frühen          linke Parteien nach Antworten auf diese
1970er Jahre waren eine Hochphase             Entwicklung. Vor dem Hintergrund
expansiver Bildungspolitik. Gemeinsam         neoliberaler Hegemonie hat die Linke
mit den Gewerkschaften drängte vor allem      zwar die Klassenfrage wiederentdeckt – die
die SPD auf Chancengleichheit in der          widersprüchliche Entwicklung im Prozess
Bildung, um die durch das Bildungssys-        der Akademisierung wird dabei bislang
tem reproduzierte soziale Ungleichheit        aber viel zu wenig berücksichtigt (vgl. etwa
auszubremsen. Willy Brandt kündigte als       LuXemburg-Spezial zu ›Neuer Klassen-
ein Credo seiner Kanzlerschaft 1969 an,       politik‹ 2017 oder das Dossier zu Klassen-
»Bildung und Ausbildung, Wissenschaft         politik der Rosa-Luxemburg-Stiftung, RLS
und Forschung« an die »Spitze der Refor-      2018). Soll eine linke Klassenpolitik für das
men« zu stellen (Wunder/Erdsiek-Rave          21. Jahrhundert entwickelt werden, hat es
2011). Hiermit setzte ein rasanter Prozess    wenig Sinn, sehnsuchtsvoll in die Vergan-
der Akademisierung großer Bevölk-             genheit zu schauen und den idealtypischen
erungsteile ein, der die Exklusivität des     Industriearbeiter zu verklären, wie es in
Studiums durchbrach: War das Studium an       manchen linken Diskursen derzeit geschie-
einer Hochschule zuvor das Privileg einer     ht. Eine zukunftsweisende Klassenpolitik
kleinen Minderheit gewesen, hatten an den     muss berücksichtigen, wie die Prozesse
›Massenuniversitäten‹ nun erstmals auch       der Akademisierung und Prekarisierung
die sprichwörtlichen ›kleinen Leute‹ aus      die Zusammensetzung und Struktur
unteren Einkommensklassen Chancen auf         der Arbeiterklasse und der Gesellschaft
akademische Bildung. Heute nimmt mehr         insgesamt verändert haben. Wie eine linke
als die Hälfte eines Schuljahrgangs ein       Klassenpolitik heute aussehen könnte, ist
Universitäts- oder Fachhochschulstudium       Gegenstand dieses Aufsatzes.
auf (Statistisches Bundesamt 2020b).
    Dieser Prozess der Bildungsexpansion      ZWISCHEN AKADEMISIERUNG UND
war nicht frei von Widersprüchen. Auf         NEUER UNSICHERHEIT
der einen Seite stellte der Zugang zu         Auf den ersten Blick scheinen sich die
akademischer Bildung für Angehörige der       Prozesse der Akademisierung und der
Arbeiterklasse natürlich einen Schritt in     Prekarisierung immer größerer Bevölk-
Richtung Demokratisierung dar. Auf der        erungsteile zu widersprechen. Die Tatsa-
anderen Seite zielte die Bildungsexpansion    che, dass Ausbildungen für bestimmte

                                                                       NICOLE GOHLKE 5
Tätigkeits- und Berufsfelder an Akademien     klassische Lehrberufe, heute eine höhere
und Hochschulen verlegt werden, ließe         Qualifikation benötigen.
eine Aufwertung dieser Tätigkeiten
erwarten und sollte dementsprechend mit       HOCHSCHULEXPANSION UND
besseren beruflichen Perspektiven der         AKADEMISIERUNG DER LOHNARBEIT
Absolvent*innen einhergehen. Dennoch          Bis ins 20. Jahrhundert hinein war die
erleben wir, dass sich trotz eines stetig     Aufnahme eines Studiums den Angehöri-
wachsenden Anteils von Akademiker*in-         gen von Eliten vorbehalten. Die Universität
nen an der Gesamtbevölkerung die soziale      sicherte die ideologische Reproduktion
Spaltung in den vergangenen Jahrzehnten       der gesellschaftlichen Ordnung – Pro-
vertieft hat und prekäre Arbeits- und Leb-    fessorenschaft und Studierende traten
ensverhältnisse zunehmen (Vogel 2015).        nach der gescheiterten Revolution 1848
    Die Parallelität dieser Prozesse könnte   in Kaiserreich und Weimarer Republik
damit erklärt werden, dass ein Teil der       zunächst nicht mehr als progressive Kräfte
Bevölkerung vom Prozess der Akademis-         in Erscheinung. Neben dem alten Adel und
ierung profitiert, während der andere Teil    der Bourgeoisie stand die Universität nur
davon ausgeschlossen bleibt und in Bezug      einem kleinen Teil des Kleinbürgertums
auf Einkommen, materielle Sicherheit          sowie Beamtenfamilien offen. Das Studium
und Arbeitsbedingungen immer weiter           war durch die Loslösung von materiellen
zurückfällt. Doch dies ist nur ein Teil der   Fragen gekennzeichnet – es entstand der
Wahrheit. Denn im Prozess von Hoch-           viel beschworene ›Elfenbeinturm‹, in dem
schulöffnung und Bildungsexpansion hat        man sich den schönen Künsten, Freizeit-
sich auch die gesellschaftliche Funktion      vergnügungen und dem Studium der
akademischer Bildung grundlegend              ›Klassiker‹ widmen konnte. »Das Studium
gewandelt. Was gemeinhin als Akade-           des Vortrefflichen und die fortwährende
misierung diskutiert wird, umfasst nicht      Ausübung des Vortrefflichen musste not-
nur eine Aufwertung neuer akademischer        wendig aus einem Menschen, den die Natur
Berufe. Vielmehr ist durch die Ausweitung     nicht im Stich gelassen, etwas machen«,
akademischer Bildung ein neues akade-         so Johann Wolfgang von Goethe (zit. nach
misches Proletariat entstanden, das sich in   Eckermann 2018).
Bezug auf gesellschaftliche Stellung und          Erfolgreiche kapitalistische Akkumu-
berufliche Perspektiven den nicht-akade-      lation erfordert jedoch die beständige und
mischen Bevölkerungsschichten angleicht.      systematische Anwendung wissenschaft-
Gleichzeitig führt die Ausweitung             licher und technologischer Forschung
akademischer Bildung aber dazu, dass          auf die wirtschaftlichen Sektoren, um
sich das Proletariat akademisiert, indem      Produktivkräfte und Erträge zu steigern. So
viele ausführende Tätigkeiten, frühere        sorgte der wirtschaftliche Aufschwung der

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Nachkriegszeit für einen erhöhten Bedarf       zierten Fachkräften mehr und mehr als
an akademisch gebildeten Arbeitskräften,       Gefährdung des ökonomischen Wohlstands
um weitere Produktivitätssteigerungen          der westdeutschen Gesellschaft problematis-
zu erreichen und um die öffentliche            iert (ebd.; Picht 1964).
Verwaltung und den Bildungssektor durch            Parallel dazu formierte sich die Stud-
qualifiziertes Personal zu erweitern. Dies     ierendenbewegung der 1960er und 1970er
bedeutete zwangsläufig, dass es zuneh-         Jahre, die den Prozess der Hochschulöff-
mend einer breiten Masse der Bevölkerung       nung und Akademisierung von Beginn
möglich gemacht werden musste, ein             an kritisch begleitete. Der Sozialistische
Studium aufzunehmen. Auch wenn Ziele           Deutsche Studentenbund (SDS), der immer
und Interessen von Kapital und Arbeit bei      stärker ins Zentrum der Bewegung rückte,
der Hochschulöffnung nie deckungsgleich        verfasste wichtige Schriften zur Rolle der
waren, überschnitten sich die gewandelten      Universitäten in der Gesellschaft und bez-
Anforderungen kapitalistischen Wirtschaf-      eichnete diese als »Ausbildungsanstalten«
tens somit in der Stoßrichtung mit linken      im Interesse des Kapitals. Zudem erkämpfte
und gewerkschaftlichen Positionen nach         die »68er-Bewegung« viele studentische
einer Öffnung der Bildung für die Masse        Freiheiten und stieß vielfältige Demokra-
der lohnabhängigen Bevölkerung. Erstmals       tisierungsprozesse in den Hochschulen an,
hatten nun auch Arbeiter*innenkinder           die den Zielsetzungen der Kapitalseite dia-
in größerem Umfang die Chance, eine            metral entgegenstanden. Eine bedeutende
akademische Laufbahn einzuschlagen.            Errungenschaft dieser Protestbewegung ist
Zwar blieben – und bleiben – sie unter         die Bewahrung und zeitweise Ausweitung
den Hochschulabsolvent*innen unter-            eines Spektrums geistes- und sozialwissen-
repräsentiert, dennoch verlor das deutsche     schaftlicher Fächer an den Universitäten,
Hochschulsystem zumindest etwas von            deren Bedeutung für die kapitalistische
seinem elitären Charakter.                     Akkumulation relativ gering ist.
    Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte          Seither hat sich die Akademisierung
diese Entwicklung mit der Entstehung           auf immer mehr Berufsfelder und einen
der modernen ›Massenuniversität‹ ab den        stetig wachsenden Teil der Lohnarbeit
1960er und 1970er Jahren. Ein Katalysator      ausgeweitet. Die Studienanfänger*innen-
hierfür war der ›Sputnik-Schock‹ Ende          quote eines Jahrgangs stieg von knapp
der 1950er Jahre, der den USA und davon        8 Prozent im Jahre 1960 (BMBF 2001) auf
ausgehend dem ›Westen‹ insgesamt die           über 56 Prozent im Jahre 2019 (Statis-
Gefahr der technologischen Unterlegenheit      tisches Bundesamt 2020b). Während in den
in Konkurrenz zum damaligen ›Ost-Block‹        1980er Jahren insbesondere die massive
offenbarte (vgl. Möller et al. 2020). In der   Ausweitung der Ingenieurswissenschaften
Folge wurde der Mangel an hoch qualifi-        zur Akademisierung industrieller Berufe be-

                                                                       NICOLE GOHLKE 7
itrug, etwa in den Bereichen Elektrotechnik,   darauf abzielten, die akademische Bildung
Maschinenbau oder Bauwesen, folgte in den      zu kommodifizieren. Hierbei ging es
1990er Jahren die Informationstechnologie      sowohl darum, die Hochschulexpansion für
mit ihren diversen Berufsfeldern vom           die öffentliche Hand möglichst kosten-
Webdesigner bis zum Systemadministrator        neutral für die gestalten, als auch darum,
diesem Trend. Seit den 2000er Jahren           höhere Lohnerwartungen der zukünftigen
durchdringt die Akademisierung auch den        Akademiker*innen zu bremsen (vgl.
Bereich der sozialen Dienstleistungen.         Gohlke/Butollo 2012, 14). Die Zweiteilung
Dies betrifft nicht mehr nur die soziale       des Studiums in Bachelor und Master schuf
Arbeit, sondern auch die Krankenpflege, die    nicht nur eine weitere Hürde durch ein
Ergotherapie, die frühkindliche Erziehung      zusätzliches Bewerbungsverfahren nach
und die Hebammenkunde. Heute gibt es           dem ersten Hochschulabschluss, sondern
in Deutschland über 20 000 Studiengänge        hatte explizit zum Ziel, den Großteil der
und etwa 2,9 Millionen Studierende (Hoch-      Studierenden nach kurzer Studiendauer in
schulrektorenkonferenz 2020).                  den Arbeitsmarkt zu entlassen. Studierende
    Parallel zur Akademisierung der            sind mehr denn je gezwungen, ihre indivi-
Lohnarbeit lässt sich eine zunehmende          duellen Erkenntnisinteressen an Vorgaben,
Ausdifferenzierung des akademischen            Fristen und Ordnungen anzupassen und
Bereichs beobachten. Bei der Ausweitung        das Studium ist infolgedessen durch einen
akademischer Ausbildungsgänge spielte          Verlust an Freiheiten und Wahlmöglichkeit-
der Ausbau des Fachhochschulwesens             en bei gleichzeitig wachsendem Leistungs-
sowie der Berufsakademien eine wesen-          druck gekennzeichnet.
tliche Rolle. Mittlerweile sind über eine          Zwar ist die Vorstellung einer breiten,
Million Studierende an Fachhochschulen         universalistischen und von ökonomischen
eingeschrieben und ihr Anteil wächst stetig,   Interessen unabhängigen Bildung schon
während die Zahl der Studierenden an Uni-      immer eine romantische Idealisierung
versitäten einschließlich der pädagogischen    gewesen. Mit den Bologna-Reformen ist
und theologischen Hochschulen mit etwa         jedoch ein massiv gesteigerter Prüfungs-
1,8 Millionen zuletzt nur noch langsam         druck in das Studium eingezogen. Wer
stieg (Statistisches Bundesamt 2020c).         nicht mithält und beim Anhäufen von
    Spätestens seit den 1990er Jahren          Leistungspunkten in Verzug gerät, dem
haben neoliberale Umbaumaßnahmen               drohen Disziplinierungen in Form von
auch die Hochschulen erfasst und hier zu       BAföG-Kürzungen oder gar die Zwangsex-
drastischen Veränderungen geführt. Zentral     matrikulation. Bildung gilt unter diesen
waren hierbei die 1999 verabschiedeten         Vorzeichen vor allem als Qualifikation
Bologna-Reformen mit der Einführung            für den Arbeitsmarkt – und damit als ein
der Bachelor- und Masterstudiengänge, die      marktfähiges Produkt.

8 KLASSENPOLITIK IN ZEITEN VON AKADEMISIERUNG UND NEUER UNSICHERHEIT
Diese Orientierung auf Effizienz mit dem      DAS NEUE AKADEMISCHE
Ziel, die Masse der Studierenden schnell      PROLETARIAT
durch das Studium zu schleusen – damit        Es sei einer Krankenschwester nicht
die zu erwartenden steigenden Studieren-      zuzumuten, über Steuerabgaben die Aus-
denzahlen ohne zusätzliche Finanzmittel       bildung ihrer zukünftigen Vorgesetzten zu
bewältigt werden können –, hat zur Folge,     finanzieren. So rechtfertigte der ehemalige
dass der Arbeitsaufwand für Studierende       hessische Wissenschaftsminister Udo Corts
stark gestiegen ist und immer weniger         die Einführung von Studiengebühren zum
Raum für die breite Aneignung von             Wintersemester 2007/08 (Euler 2006).
Bildungsinhalten, das sprichwörtliche         Ziel des vermeintlichen Eintretens für die
Blicken nach links und rechts, bleibt.        Interessen der ›kleinen Leute‹ war es, die
Hinzu kommt, dass steigende Leben-            Proteste Studierender zu delegitimieren
shaltungskosten dazu führen, dass heute       und als elitär zu brandmarken. Studieren-
bis zu zwei Drittel aller Studierenden        de, so der Vorwurf, ließen sich vom Steuer-
auf einen Nebenjob angewiesen sind            zahler subventionieren, obwohl sie ohnehin
(Middendorff et al. 2017) und eine            einer zukünftigen Elite angehörten. Der
geforderte Wochenstundenzahl von 40           Bildungsstreik sei demnach lediglich eine
im Bachelorstudium für viele Studierende      Art Lobby-Unterfangen, das dazu diene,
nicht zu schaffen sind. Durchschnittlich      Privilegien zu sichern. Doch was ist tatsäch-
gehen erwerbstätige Studierende heute         lich dran an diesen Vorwürfen? Warten auf
zusätzlich zum Vollzeitstudium 13             Studierende auch heute noch hoch dotierte
Stunden in der Woche einer Erwerbsarbeit      Posten in Wirtschaft und Verwaltung? Sind
nach (Middendorff et al. 2013). Gleichzeit-   Akademiker*innen noch Elite?
ig lebt die Hälfte aller Studierenden in          Tatsächlich ergibt sich ein ambiva-
Deutschland von weniger als 860 Euro          lentes Bild: Auch wenn immer größeren
im Monat (Middendorff et al. 2017). Das       Bevölkerungsteilen eine akademische
BAföG, das 1971 eingeführt wurde, damit       Bildung offensteht, ist die Ungleichheit
auch Studierende aus der Arbeiterklasse       bei den Bildungschancen nach wie vor
und finanziell weniger starke Schichten       massiv. In kaum einem OECD-Land ist
ein Studium finanzieren können, kommt         die ›Vererbbarkeit‹ von Bildungsabschlüs-
dieser Aufgabe längst nicht mehr nach.        sen so groß wie in Deutschland (OECD
Lag die Quote der BAföG-Empfänger*in-         2018; Autorengruppe Berichterstattung
nen unter allen Studierenden 1972 noch        2020). Die massive Bildungsungleichheit
bei 45 Prozent, setzte danach ein steiler     verlängert sich dabei aus dem Schulsystem
Sinkflug ein: Im Jahr 2019 erhielten          in den Bereich der Berufs- und Hochschul-
gerade noch 11 Prozent aller Studierenden     bildung. So erwerben nur etwa halb so viele
BAföG (Iost 2021).                            Nichtakademiker- wie Akademikerkinder

                                                                       NICOLE GOHLKE 9
eine Hochschulzugangsberechtigung. Bis        Kurzum: Die Bildungsexpansion im
zum Masterabschluss steigt die Relation auf   modernen Kapitalismus, die sowohl
knapp 1:6, bis zum Doktortitel sogar auf      demokratische Errungenschaft als auch
1:10. Das bedeutet, dass von 100 Akade-       Folge der sich verändernden Anforderun-
mikerkindern durchschnittlich zehn einen      gen der Wirtschaft ist, hat sowohl zur
Doktortitel erwerben, von 100 Nichtakade-     Akademisierung der Lohnarbeit als auch
mikerkindern nur eines (Stifterverband für    zur ›Proletarisierung‹ von Akademik-
die Deutsche Wissenschaft e. V. 2017).        er*innen geführt. Zwar sind Studierende
    Die sozialen Barrieren beim Zugang zu     und Akademiker*innen mit Blick auf ihr
akademischer Bildung sind also nicht ver-     Tätigkeitsprofil nach wie vor oft besserg-
schwunden. Geändert hat sich jedoch etwas     estellt. Sie müssen in der Regel keine
anderes: die Struktur des Arbeitsmarkts.      harten körperlichen Arbeiten verrichten
Obwohl ein abgeschlossenes Studium            und verfügen über mehr Autonomie in
und ein akademischer Grad auch heute          der Gestaltung ihres Arbeitsalltags. Eine
noch potenziell eine bessere berufliche       Elite bilden sie aber trotzdem längst nicht
Perspektive bieten, heißt das nicht, dass     mehr. Ein wachsender Teil der Hoch-
die Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt         schulabsolvent*innen von heute landet
generell gut wären. Die soziologische         in abhängiger Beschäftigung, für die vor
Analyse der ›Abstiegsgesellschaft‹ deutet     Jahrzehnten eine Lehre ausgereicht hätte.
diesen Sachverhalt anschaulich: Während       Dabei ist die Tendenz stark steigend:
der goldenen Jahre der Industriemoderne       Zwischen 2008 und 2018 stieg der Anteil
nach dem Zweiten Weltkrieg konnte man         der Arbeiter*innen und Angestellten an
davon ausgehen, dass es den eigenen           der gesamten erwerbstätigen Bevölkerung
Kindern einmal besser gehen werde: Wie        um 11 Prozent, der Anteil von Akademik-
in einem Fahrstuhl fuhr (fast) die gesamte    er*innen hingegen, die als Arbeiter*innen
Gesellschaft nach oben. Heute haben sich      oder Angestellte arbeiten, stieg um
die Vorzeichen verkehrt: Die Mittelschicht    43 Prozent (Bundesagentur für Arbeit
gerät unter immer stärkeren Druck, sozial     2019). Demgegenüber schlagen weniger
abzusteigen. Um dies zu verhindern, muss      Akademiker*innen nach Studienabschluss
man strampeln – Überstunden machen,           den Weg in die Selbstständigkeit ein.
mehr Zertifikate anhäufen, sich weiter-       Selbst in klassischen selbstständigen
bilden. Fuhr man früher gemeinsam mit         Berufen – Psychologie, Rechtswissenschaf-
dem Fahrstuhl nach oben, läuft man heute      ten, Human- oder Zahnmedizin – ist die
individuell gegen eine nach unten fahrende    Selbstständigenquote auf deutlich unter
Rolltreppe an, um nach oben zu kommen         50 Prozent gesunken (ebd.). Erklären lässt
oder seine Position zumindest halten zu       sich dies mit dem Wunsch nach mehr
können (Nachtwey 2016; Beck 1986).            Einkommenssicherheit.

10 KLASSENPOLITIK IN ZEITEN VON AKADEMISIERUNG UND NEUER UNSICHERHEIT
Die überwiegende Mehrheit der heutigen        höchstens befristet eingestellt. So war
Studierenden und jungen Akademiker*in-        2017 fast jeder zweite neu abgeschlossene
nen landet letztlich in klassischen Lohnar-   Arbeitsvertrag von Akademiker*innen
beitsverhältnissen. Ein abgeschlossenes       befristet. Bei Beschäftigten ohne Berufsab-
Studium steigert zwar die Wahrscheinlich-     schluss lag dieser Anteil mit 56 Prozent
keit, in einer gesicherten Erwerbsposition    zwar etwas höher, bei Arbeitnehmer*in-
zu landen, aber nur einem kleinen Teil der    nen mit Berufsabschluss dagegen mit
Akademiker*innen gelingt der Aufstieg         38 Prozent deutlich niedriger (Bundes-
in hohe Gehaltsgruppen oder Führungs-         agentur für Arbeit 2019). Auch unter den
positionen. So sind die Einstiegsgehälter     Leiharbeiter*innen steigt die Zahl der
vieler Hochschulabsolvent*innen nur           Hochschulabsolvent*innen. Jede*r sechste
noch unwesentlich höher als diejenigen        Beschäftigte, die oder der von einer der 15
in Lehrberufen. Das durchschnittlich          größten Leiharbeitsfirmen vermittelt wird,
zu erwartende Lebenseinkommen von             hat studiert (Lünendonk 2020).
Akademiker*innen liegt zwar weiterhin             Insbesondere die Arbeitsverhältnisse
über dem gesellschaftlichen Gesamt-           in der Wissenschaft sind von starkem Leis-
durchschnitt, allerdings gibt es große        tungsdruck und einer hohen Arbeitsdichte
Unterschiede zwischen verschiedenen           geprägt. Wer in einer gewissen Zeit nicht
Studiengängen sowie zwischen den              alle nötigen Qualifikationen ansammelt,
Geschlechtern. In einigen Berufen erziel-     wird gnadenlos aussortiert – und wer sie
en Akademiker*innen im Vergleich zu           hat, schaut bei der Bewerbung um eine der
Absolvent*innen mit einer Ausbildung zur      wenigen Professuren trotzdem zumeist in
Meister*in oder Techniker*in geringere        die Röhre. Nicht selten verzichten Wissen-
Einkommen (Kugler et al. 2017). Zudem         schaftler*innen zugunsten ihrer Karriere
sind Akademiker*innen längst nicht mehr       deshalb auf Kinder, und doch gibt es keine
automatisch in leitenden Funktionen tätig.    Garantie dafür, mit Anfang oder Mitte
So haben Erwerbstätige mit Fortbil-           40 nicht plötzlich vor einer beruflichen
dungsabschluss sogar häufiger direkte         Neuorientierung zu stehen. Da auf den
Personalverantwortung als Erwerbstätige       steinigen Karrierepfaden Phasen der Arbe-
mit akademischem Abschluss (Bundesin-         itslosigkeit oder niedriger Erwerbsmögli-
stitut für Berufsbildung 2019).               chkeiten keine Seltenheit sind, wurde
    Es kommt hinzu, dass eine große           vielfach über Jahre nicht einmal genügend
Zahl von Akademiker*innen nach dem            Geld in die Sozialsysteme eingezahlt,
Studium gar nicht die Möglichkeit hat,        um vor Altersarmut zu schützen. Somit
in feste Arbeitsverhältnisse zu gelangen.     verkörpern Wissenschaftler*innen keine
Viele hangeln sich von einem unbezahlten      materielle Elite, sondern sind ein Heer
Praktikum zum nächsten und werden             prekarisierter Beschäftigter.

                                                                     NICOLE GOHLKE 11
Dass akademische Bildung nicht autom-         akademisch ausgebildete Menschen
atisch höhere Gehälter und materiellen        gestiegen sind. Die Mehrzahl von ihnen ist
Aufstieg impliziert, wird deutlich, wenn      von der wachsenden ökonomischen und
man die Einkommen von Facharbeit-             sozialen Ungleichheit und der allgemein-
er*innen in der Autoindustrie heranzieht.     en Senkung des Lebensstandards großer
Berufsanfänger*innen in der Produktion        Bevölkerungsteile direkt betroffen. Genau
bei Volkswagen in Wolfsburg verdienen         wie nicht-akademische Lohnabhängige
rund 3.700 Euro pro Monat (brutto) für 35     leiden sie unter der neoliberalen Politik
Stunden Wochenarbeitszeit. Sozialpäda-        und machen die Erfahrung von befristeten
gog*innen erhalten mit rund 2.850 Euro        Arbeitsverhältnissen, Arbeitsverdichtung
pro Monat (brutto) fast ein Viertel weniger   und Lohndepression. Kurz: Das neue
Gehalt bei einer Wochenarbeitszeit von        akademische Proletariat ist ein Teil der
40 Stunden. Und es ist keinesfalls            Arbeiterklasse – mit ähnlichen sozialen
ausgemacht, dass die Kinder von Facha-        Interessen wie die nicht akademisch
rbeiter*innen in der Autoindustrie nach       gebildeten Teile der Klasse.
einem Studium jemals das Gehaltsniveau
ihrer Eltern erreichen: Die Tochter eines     HERAUSFORDERUNGEN LINKER
Facharbeiters etwa, die nach einem geiste-    KLASSENPOLITIK
swissenschaftlichen Studium Journalistin      Der Wandel der gesellschaftlichen Funktion
wird, erhält zum Berufseinstieg bei einer     akademischer Bildung und die damit ein-
Tageszeitung rund 3.300 Euro pro Monat        hergehenden Veränderungen in der Zusam-
(brutto) und liegt damit nach einer wes-      mensetzung und Lage der Arbeiterklasse
entlich längeren Ausbildungszeit deutlich     stellen die politische Linke vor neue Heraus-
unter dem Gehalt ihres Vaters (das sich       forderungen. Die ungebrochene Tendenz
durch diverse Erfahrungsstufen über das       der Prekarisierung der Arbeitswelt, wie
Berufsleben hinweg noch deutlich erhöht       wir sie in den letzten Jahrzehnten erleben
hat) (Scheppe 2020).                          mussten, zeigt, dass Arbeiterbewegung und
    Ein Studium ist also nicht mehr           Linke sich nach wie vor in der Defensive
automatisch mit sozialen Aufstiegschan-       befinden. Der Prozess der fortschreitenden
cen verbunden, sondern vielfach eher          Akademisierung steht dabei, wie wir gese-
eine Notwendigkeit, um die Gefahr des         hen haben, keineswegs im Widerspruch
Abrutschens und des sozialen Abstiegs         zur Ausweitung der Kapitalmacht und der
zu senken. Der Trend zu immer mehr            Schwäche der organisierten Arbeiterklasse.
Studierenden sowie zu immer höheren           Vielmehr ist er eine Folge sich verändernder
Bildungsabschlüssen – über den Dok-           Anforderungen des modernen Kapitalismus
tortitel bis zur Habilitation – deuten        an qualifizierte Arbeitskräfte. Im Ergeb-
darauf hin, dass die Anforderungen an         nis bildet sich ein neues akademisches

12 KLASSENPOLITIK IN ZEITEN VON AKADEMISIERUNG UND NEUER UNSICHERHEIT
Proletariat, das zunehmend den gleichen        Hochschulexpansion und Akademisierung
Zumutungen der neoliberalen Arbeitswelt        der Lohnarbeit auch für Angehörige der
ausgesetzt ist wie der Rest der Klasse der     Arbeiterklasse der Zugang zu akademischer
Lohnabhängigen.                                Bildung erreicht – eine Demokratisierung,
    Im Folgenden soll erörtert werden,         die in langen und erbitterten Auseinander-
welche Widersprüche, aber auch Chancen         setzungen erkämpft werden musste und
aus diesen Entwicklungen für eine zuku-        nicht als elitäres Privileg kritisiert, sondern
nftsweisende linke Politik erwachsen und       gegen Widerstände verteidigt und weiter
wie Klassenpolitik in Zeiten von Akademis-     durchgesetzt werden muss. Andererseits
ierung und fortschreitender Prekarisierung     folgte die Entwicklung den Anforderungen
weiter Teile der arbeitenden Klasse in der     des modernen Kapitalismus und führte zu
neoliberalen ›Abstiegsgesellschaft‹ aussehen   einer veränderten Funktion von Hoch-
kann. Zunächst soll hierbei ein Augenmerk      schulbildung, die diese zunehmend an die
auf den Stellenwert der Bildungs- und          Interessen der Wirtschaft koppelt. In der
Hochschulpolitik für die sozialistische        Folge verschlechterten sich die Studi-
Linke gerichtet werden, wobei durch einen      enbedingungen und die soziale Lage eines
Blick in die Vergangenheit linker Strategien   Großteils der Studierenden und es kam zur
der Organisierung die Erfahrungen aus der      Entwertung akademischer Bildung sowie
Geschichte der Arbeiterbewegung bezüglich      zur zunehmenden ›Proletarisierung‹ von
des Kampfes um Bildung sowie des Ver-          Akademiker*innen.
hältnisses der Linken zur gesellschaftlichen       Gleichzeitig ist offensichtlich, dass Bil-
Intelligenz und zum Umgang mit Fragen          dungsgerechtigkeit in der Bundesrepublik
der Bildungsgerechtigkeit nutzbar gemacht      nach wie vor nicht erreicht ist und die Chan-
werden sollen. Zuletzt soll es darum gehen,    cen auf akademische Bildung weiterhin in
eine Vision zu entwickeln, wie eine verbind-   hohem Maße von der sozialen Herkunft
ende Klassenpolitik vor dem Hintergrund        abhängen. Dies bedeutet für die politische
der skizzierten Entwicklungen aussehen         Linke, dass der Kampf um Bildungsgerech-
kann, die bestehende Spaltungen in der         tigkeit weiterhin einen zentralen Stellenw-
Klasse der Lohnabhängigen überwindet und       ert haben muss. Die Forderung, dass jede
die gemeinsamen Interessen akademischer        und jeder die Möglichkeit haben muss,
und nicht-akademischer Beschäftigter in        studieren zu können, darf aber keineswegs
einen gemeinsamen Kampf überführt.             darauf hinauslaufen, nicht-akademische
                                               Bildungswege zu entwerten. Auch die
KAMPF UM BILDUNGSGERECHTIGKEIT                 Ausbildung im Betrieb und an Berufs-
Wie wir gesehen haben, ist die Bilanz der      fachschulen muss ihre Wertschätzung in
Bildungsöffnung der letzten Jahrzehnte         Form guter Ausbildungsbedingungen,
zwiespältig. Einerseits wurde durch            guter Arbeitsplätze und gesellschaftlicher

                                                                        NICOLE GOHLKE 13
Anerkennung bekommen. Was es jedoch            quote eines Jahrgangs betrug 1968 nur
zu erreichen gilt, ist die Wahlfreiheit des    knapp 15 Prozent (BMBF 2001). Heute
Bildungswegs – für alle, unabhängig von        nimmt mehr als die Hälfte eines Jahrgangs
Herkunft, Geschlecht oder anderen Kriter-      ein Hochschulstudium auf (Statistisches
ien. Davon sind wir heute weit entfernt.       Bundesamt 2020b). Durch den neoliber-
    Die zunehmende Ausrichtung akade-          alen Umbau des Hochschulwesens und
mischer Bildung auf die Anforderungen          die gestiegene Arbeitsbelastung Stud-
des Kapitals betrifft heute die Mehrheit der   ierender wurden jedoch gleichzeitig die
Studierenden und damit einen Großteil der      studentischen Freiheiten eingeschränkt
zukünftigen Lohnarbeiter*innen. Damit          – und damit der Raum für politisches
werden die Demokratisierungserfolge            Engagement und Protest. Auf der anderen
vergangener Generationen untergraben           Seite hat diese Entwicklung jedoch, wie
und es droht die Bildung neuer sozialer        wir gesehen haben, zu einer Annäherung
Barrieren, wie der wiederholte Versuch         der sozialen Lagen und der individuellen
der Einführung von Studiengebühren             beruflichen Perspektiven von Studieren-
oder die rapide sinkende Quote der             den und Akademiker*innen sowie der
BAföG-Empfänger*innen zeigen. Der              übrigen lohnabhängigen Bevölkerung
Kampf gegen diese neoliberale Hochschul-       geführt, wodurch gemeinsame Anliegen
politik muss weiter intensiviert werden. So    und Forderungen erkennbar wurden.
braucht es eine gezielte Förderung sozial      Die Linke sollte diese Entwicklungen
Benachteiligter, um Bildungsgerechtigkeit      wahrnehmen, analysieren und für linke
und Chancengleichheit beim Zugang              Organisierung nutzen.
zu akademischer Bildung zu erreichen.              Innerhalb der politischen Linken wird
Studentischer Protest ist ernst zu nehmen      das Verhältnis von Studierenden und
und zu unterstützen. Potenziale sind da,       Akademiker*innen zur Arbeiter*innen-
wie die Bildungsproteste in den letzten        klasse jedoch immer wieder kontrovers
Jahrzehnten gezeigt haben.                     diskutiert. Die Gegenüberstellung der
Immer wieder sind von modernen                 sozialen Interessen akademischer und
Massenhochschulen große Proteste               proletarischer Milieus ist nach wie vor
ausgegangen, und wie es spätestens die         weit verbreitet. Dies führt jedoch in eine
»68er-Bewegung« bewiesen hat, können           politische Sackgasse. Denn einerseits
sie auch Zündfunke verallgemeinerter           haben sich die Trennlinien zwischen
Revolten sein. Damals war der gesellschaft-    beiden Gruppen verwischt und die
skritische und aktivistische Impuls, der       sozialen Interessen angeglichen. Ander-
von den Hochschulen ausging, noch auf          erseits wird oft vergessen, wie wichtig die
eine verhältnismäßig kleine Minderheit         Rolle formal höher gebildeter Schichten
begrenzt – die Studienanfänger*innen-          für linke Organisierung in der Geschichte

14 KLASSENPOLITIK IN ZEITEN VON AKADEMISIERUNG UND NEUER UNSICHERHEIT
gewesen ist. Dazu lohnt ein Exkurs in die     eine Waffe im Kampf um die Emanzipa-
Geschichte der organisierten Arbeiterbe-      tion der gesamten Arbeiterklasse sein. Und
wegung und der Linken, denn was eine          dafür waren die Arbeiterbildungsvereine
mögliche Symbiose angeht, war uns die         notwendig, denn mit Anteilen von 0,5 Pro-
historische Arbeiterbewegung bereits um       zent aller Studierenden zu Zeiten des
einiges voraus.                               Kaiserreichs beziehungsweise 3 Prozent in
                                              der Weimarer Republik war Kindern aus
LEHREN AUS DER GESCHICHTE                     der Arbeiterklasse der Weg ins Studium
Die meisten Mitglieder der sozialistischen    praktisch verwehrt (Jarausch 1984, 134).
Arbeiter*innenparteien des 19. und frühen         Tatsächlich änderte sich dies erst mit
20. Jahrhunderts stammten aus den besser      der Bildungsexpansion nach dem Zweiten
gestellten Teilen der Arbeiter*innenklasse,   Weltkrieg grundlegend (ebd.: 13). Mit den
der Facharbeiterschaft. Angeführt wurden      vielen neuen Studierenden zog ein neuer,
die Parteien oder deren Vorläufer von         kritischer Geist in die Hochschulen ein.
bestens gebildeten Intellektuellen wie        Gleichzeitig bot dieser Bildungsweg in der
Karl Marx, Ferdinand Lassalle, Rosa           prosperierenden Wirtschaft der 1960er
Luxemburg, Karl Liebknecht oder Lenin.        und 1970er Jahre die Möglichkeit, den
Tatsächlich wäre diese frühe Arbeiter-        eng gewordenen Milieus und Klassen zu
bewegung nie auf die Idee gekommen,           entkommen. Auf diese Weise entstand
›Bildung‹ gegen ›Handarbeit‹ auszuspiel-      eine akademisch gebildete Mittelschicht,
en. Vielmehr wurde die Arbeiterbewegung       die es in dieser Form zuvor noch nicht
in Arbeiterbildungsvereinen begründet.        gegeben hatte. Sie bestimmte fortan auch
    Welch hohen Stellenwert Bildung für       das Leben in politischen Parteien – gerade
die Arbeiterparteien besaß, zeigt sich        die SPD wurde zu Beginn der 1970er Jahre
daran, dass die SPD unmittelbar nach dem      durch die neuen Mitglieder regelrecht
Ende der Sozialistengesetze 1891 ihre »All-   ›entproletarisiert‹ (Walter 2018, 207).
gemeine Arbeiter-Bildungsschule« grün-            Solche Aufstiegsprozesse in gebildete
dete und 1906 ihre »Reichsparteischule«       und gut bezahlte Schichten wurden
in Berlin eröffnete (Olbrich 1982). Nach      oftmals zu Idealfällen stilisiert. So verwun-
der Abspaltung von der Sozialdemokratie       dert es nicht, wenn sozialdemokratische
eröffnete die KPD die »Marxistische Arbe-     Politiker*innen im In- und Ausland, die
iterschule« in Berlin (Gerhard-Sonnenberg     wie Gerhard Schröder von einem histor-
1976). Die Arbeiterparteien betrachteten      isch einmaligen Bildungsaufstieg profitiert
Bildung nicht als Mittel, um einen persön-    haben, das Ideal des lebenslangen Lernens
lichen Aufstieg zu verwirklichen, sondern     und meritokratischer Gerechtigkeitsvor-
ihnen galt Wissen als Instrument, um die      stellungen propagieren, während sie
Gesellschaft zu verändern: Bildung sollte     zeitgleich den Sozialstaat aushöhlen

                                                                      NICOLE GOHLKE 15
(Lessenich 2008). Dass ausgerechnet die       Bewusstsein zu befördern (Eiden-Offe
Bildungsaufsteiger*innen der 1960er und       2016). Und dies brachte Steine ins Rollen:
1970er Jahre sozialdemokratische und          Die sich ab den 1840er Jahren formieren-
sozialistische Parteien in Europa (und        de Arbeiterbewegung basierte auf solchen
auch die US-Demokraten) umkrempelten,         Bildungsvereinen.
kann als eine Ironie der Geschichte
bezeichnet werden. Den Parteien waren         ORGANISIERUNG:
die Bindekräfte abhandengekommen,             DIE VERANTWORTUNG DER LINKEN
um ein immer stärker auseinandertrei-         Das neue akademische Proletariat, das in
bendes Milieu, das sich vielfach nicht        Bezug auf gesellschaftliche Stellung und
mehr stolz als Arbeiterklasse, sondern als    berufliche Perspektiven den nicht-akade-
gesellschaftliche Mitte begriff, beisammen-   mischen Bevölkerungsschichten ähnelt,
halten zu können. Akademische Bildung         muss von linker Klassenpolitik adressiert
wurde dabei jedoch auf den individuellen      werden. Da Studierende und Akademik-
sozialen Aufstieg reduziert – und nicht wie   er*innen ebenso wie Arbeiter*innen von
erhofft auf die gesellschaftliche Emanzipa-   der Ausbreitung neoliberaler Marktprin-
tion der gesamten Klasse angewendet.          zipien, der Zunahme prekärer Beschäft-
    Heute ist die Lage, dem oben bes-         igungsverhältnisse und von wachsender
chriebenen Bild der ›Abstiegsgesellschaft‹    ökonomischer Unsicherheit betroffen sind,
folgend, grundlegend anders. Aufstiege        entstehen hier Möglichkeiten zur Bildung
lassen sich immer schwerer realisieren.       von Koalitionen. Damit ist eine neue
In vielem erinnert unsere kapitalistische     Situation entstanden, da sich die Interessen
Gegenwart an die Situation der 1830er         dieser Bevölkerungsanteile in früheren
Jahre, den »Vormärz«, als durch die           Zeiten nicht im selben Maße überschnitten.
Auflösung der Zunftordnung eine Zeit             Die materiellen Interessen von
der sozialen Desintegration begann.           akademischen und nicht-akademischen
Viele Handwerker und Arbeiter standen         Beschäftigtengruppen und auch ihre
vor dem sozialen Ruin und setzten auf         Stellung in der Produktion, also dem
Selbstorganisation in Bildungsvereinen        zentralen Konfliktfeld von Arbeit und
wie dem »Bund der Gerechten« des              Kapital, haben sich einander angenähert.
Frühsozialisten Wilhelm Weitling. Hier        Ein großes Hindernis für die gemeinsame
wurde die Vermittlung von Wissen zur          Organisierung liegt heute gleichwohl in
Triebfeder bei der Herausbildung eines        habituellen Gegensätzen. Hierunter werden
Klassenbewusstseins. Denn die Kultur,         inkorporierte Verhaltensweisen verstanden,
die Kunst und die Sprache ermöglichten        die aus der Sozialisation und der Zuge-
es, verbindende Bilder und Vorstellungen      hörigkeit zu Klassen und Milieus entste-
entstehen zu lassen und ein gemeinsames       hen. Es sind diese vielfach beschriebenen

16 KLASSENPOLITIK IN ZEITEN VON AKADEMISIERUNG UND NEUER UNSICHERHEIT
»feinen Unterschiede« (Bourdieu 1982),         Markt mit immer stärkerem Preis- und
diese realen Schranken, die seit jeher für     Lohndruck ausgerichtet ist und der sich
die Distinktion der oberen Klassen vom ›ge-    ›einfache‹ Arbeiter*innen ebenso wie
meinen Volk‹ sorgen. Das Studium ist hier      Hochschulabsolvent*innen fügen müssen,
als kultureller Distinktionsgewinn, aber       wird dabei verschleiert. Es ist für die CSU
auch als Netzwerk- und Karriereschmiede        vorteilhafter, beide Gruppen gegeneinander
unverzichtbarer Bestandteil, um geradezu       auszuspielen, als sich selbst als Beförderin
ständische Privilegien zu konservieren und     dieser Politik in die Schusslinie zu bringen.
zu reproduzieren. Gleichzeitig können              Der ›kleine Mann‹, der sich gegen
habituelle Unterschiede verschiedener          vermeintlich abgehobene intellektuelle
Bevölkerungsschichten zielgerichtet            Eliten wehren muss, ist eine klassische
instrumentalisiert werden, um bei ihnen        populistische Argumentationsfigur der
das Erkennen von Gemeinsamkeiten zu            politischen Rechten. Man findet sie im
verhindern.                                    explizit anti-intellektuellen französischen
    Um diese Strategie der Instrumentalis-     Poujadismus der 1950er Jahre, aber auch
ierung zu beobachten, muss man nicht bis       heute, manifestiert durch den »gesunden
in die USA reisen, wo der (vermutlich unre-    Menschenverstand der normalen Leute«,
chtmäßige) Milliardär Donald Trump und         den die AfD vor allem in ihrer Anfangs-
neurechte Netzwerke eine durchschaubare        phase bemühte, um allen anderen Parteien
Elitenkritik vorbringen, die die Vergessenen   den Vorwurf machen zu können, den
und Abgehängten für die Rechte gewinnt.        Kontakt zu den Sorgen, Nöten und Be-
In Deutschland hat sich etwa Alexander         fürchtungen der Bevölkerung verloren zu
Dobrindt vor einigen Jahren damit hervor-      haben. Ihre explizit rassistischen Argumen-
getan, Angehörige der urbanen gebildeten       tationen stellen nur eine weitere Eskalation
Milieus gegen die ›kleinen Leute‹ auszus-      dieser argumentativen Logik dar. In den
pielen: Da in manchen Stadtvierteln nur        Erklärungsmustern der Rechten wird ›die
noch Englisch gesprochen werde, fühlten        Elite‹ nicht materialistisch über Reichtum
sich die einfachen Leute zunehmend             und eine daraus resultierende Macht kon-
fremd (Dobrindt 2018). Dobrindt spielt         struiert, sondern als kulturelle Bedrohung
mit einem Unbehagen und stellt dabei die       eines way of life. Deswegen ist das Spiel mit
Notwendigkeit, sich in einer vernetzten        der Angst ein zentrales Element rechter
und globalisierten Welt mehrsprachig zu        Rhetorik, das sich systematisch aller mögli-
bewegen, dem nachvollziehbaren Wunsch          chen Strategien bedient, um vermeintliche
nach größerer Übersichtlichkeit gegenüber.     Bedrohungen aufzubauschen. So werden
Dass die wahrgenommene International-          rassistische Zuschreibungen, antifemi-
isierung aber auf eine Wirtschaftspolitik      nistische Positionen, Fake News und die
zurückzuführen ist, die auf einen globalen     Bekämpfung wissenschaftlicher Erkennt-

                                                                       NICOLE GOHLKE 17
nisse als Verteidigungshaltung der ›kleinen   anderen Seite schadet diesem Ziel nicht
Leute‹ in Anschlag gebracht.                  nur, sondern ist auch längst überholt.
    Sicher, die Diskurse im akademischen      Es stimmt zwar, dass die Arbeiterklasse
und auch im linken politischen Raum sind      gespalten ist. Die Trennlinien verlaufen
nicht immer leicht verständlich. Und nicht    jedoch – wie in anderen gesellschaftlichen
jeder Diskurs verdient dieselbe Aufmerk-      Schichten auch – entlang von Geschlecht,
samkeit oder erweist sich in der Rückschau    Ethnizität und habituellen Umgangsweisen
als sinnvoll. Man muss etwa zu sprachpoli-    und auch auf dem Feld der Arbeitsbez-
tischen Fragen nicht immer einer Meinung      iehungen selbst, etwa zwischen Festan-
sein. Die polemische Gegenüberstellung        gestellten sowie Leiharbeiter*innen und
von vermeintlich kulturellen und materi-      Werkvertragsarbeiter*innen oder zwischen
ellen Fragen, die unter dem Schlagwort        befristet und unbefristet Beschäftigten. Die
des »Gendersternchens« zur Karikatur          Herstellung der Einheit ist eine politische
verkommen ist, oder die Trennung von          Aufgabe. Karl Marx beschrieb diesen
Fragen sexueller Orientierung oder der        Umstand wie folgt:
Minderheitenrechte von harten Verteilungs-
forderungen unternehmen allerdings gar           »Die ökonomischen Verhältnisse haben
nicht erst den Versuch, nach möglichen           zuerst die Masse der Bevölkerung in
Verbindungen zu suchen, bzw. ignorieren          Arbeiter verwandelt. Die Herrschaft
bestehende Allianzen bewusst. Progres-           des Kapitals hat für diese Masse eine
siven Forderungen aber für den schnellen         gemeinsame Situation, gemeinsame
Beifall den Ruch des Elitären zu verleihen,      Interessen geschaffen. So ist diese
gibt sie der Lächerlichkeit preis.               Masse bereits eine Klasse gegenüber
    Linke Politiker*innen sollten nicht in       dem Kapital, aber noch nicht für sich
derartige Ausspielungswettkämpfe entlang         selbst. In dem Kampf […] findet sich
falscher Gegenübersetzungen einstimmen.          diese Masse zusammen, konstituiert
Auf diese Weise betreibt man das Geschäft        sie sich als Klasse für sich selbst. Die
des politischen Gegners. Wie immer wirk-         Interessen, welche sie verteidigt, wer-
mächtig die habituellen Schranken zwis-          den Klasseninteressen. Aber der Kampf
chen den Beschäftigtengruppen sind, sie          von Klasse gegen Klasse ist ein politi-
können in der gemeinsamen Organisierung          scher Kampf.« (Marx 1847, 180f)
überwunden werden. Diese herzustellen, ist
eine zentrale Aufgabe der Linken.             Diesen politischen Kampf zur Heraus-
    Die nicht selten polemische Gegenüber-    bildung einer »Klasse für sich selbst«
stellung von vermeintlich privilegierten      gilt es zu führen. Er entsteht, indem wir
Akademiker*innen auf der einen und            Verbindungen betonen und gemeinsame
benachteiligten Arbeiter*innen auf der        Interessen aufzeigen – letztlich jedoch nur

18 KLASSENPOLITIK IN ZEITEN VON AKADEMISIERUNG UND NEUER UNSICHERHEIT
in den gemeinsamen Kämpfen selbst, die         LINKE als auch in der SPD werden seit
es dementsprechend aufzubauen gilt.            Jahren vermehrt Stimmen laut, die vor
     Der Schlüssel zum Verständnis ist die     einer Abwendung vom klassisch linken
soziale Realität und sind vor allem die        Wählermilieu der Arbeiter*innen und
Zukunftsaussichten derjenigen, die die         sozial Benachteiligten warnen. Kritische
Bewegungen tragen – mit ihrem großen           Stimmen drücken die Sorge aus, dass
Anteil an Schüler*innen und Studierenden.      die soziale Frage als politischer Kern der
Vor dem Hintergrund ihrer individuellen        Partei DIE LINKE gegenüber vermeintlich
sozialen und ökonomischen Perspektiven         identitätspolitischen ›Nebenschauplätzen‹
in der ›Abstiegsgesellschaft‹ und der          in den Hintergrund rücken könnte.
Legitimationskrise des Systems als Ganzem          Warnungen aus den Reihen der SPD
ist die junge Generation heute wesentlich      wirken zuweilen anachronistisch und mit
offener für Systemkritik und Klasseno-         Blick auf die eigene Verantwortung in
rientierung. Die ›Generation Krise‹, die       den Prekarisierungsprozessen nur wenig
in einer Welt aufgewachsen ist, in der         aufrichtig. Wie glaubwürdig sind Parteire-
im Gefolge der Weltwirtschaftskrise seit       chte wie der ehemalige Arbeitsminister
2008 die politischen, sozialen, ökonomis-      Sigmar Gabriel, wenn sie die Entfernung
chen und ökologischen Verhältnisse ins         der SPD von der Arbeiterschaft beklagen
Rutschen geraten sind, hegt Sympathien         (Ismar 2020), während gleichzeitig der
für linke Gedanken – und das trotz des         neoliberale Kahlschlag der »Agenda 2010«
immer noch relativ niedrigen Niveaus           unter der Kanzlerschaft Gerhard Schröders
ökonomischer Kämpfe und der Schwäche           mit Vehemenz verteidigt wird (Frankfurter
der Gewerkschaftsbewegung. Dies gilt es        Allgemeine Zeitung, 5.1.2015)?
für linke Klassenpolitik zu nutzen, was aber       Die Idee einer Gesellschaft, in der
nur gelingen kann, wenn sie in der Lage        alle erhalten, was sie durch Bildungsab-
ist, verschiedene Kämpfe zu verbinden,         schlüsse berechtigterweise erworben
statt Trennendes zu betonen. Nur so kann       haben, ist eine Illusion. Das Fachwort der
aus objektiven gemeinsamen Interessen          ›Meritokratie‹, das sich seit den 1990er
der Angehörigen einer »Klasse gegenüber        Jahren zur Beschreibung eines solchen
dem Kapital« eine »Klasse für sich selbst«     vermeintlich gerechten Verteilungsmech-
werden.                                        anismus eingebürgert hat, benannte
                                               anfangs eine satirisch zugespitzte Dystopie
FAZIT                                          (Young 1958; hierauf bezugnehmend:
»Die linken Parteien sind Akademik-            Walter/Marg 2013). Denn gerade weil hier
erparteien geworden«, beklagte Sahra           jede Position in der Gesellschaft als durch
Wagenknecht (Süddeutsche Zeitung,              Bildungsabschlüsse ›gerecht‹ ausgewiesen
23.10.2020). Sowohl in der Partei DIE          wird, entsteht eine hochgradig starre und

                                                                      NICOLE GOHLKE 19
immobile soziale Ordnung, aus der es kein                     2020-barrierefrei.pdf
                                                          Beck, Ulrich, 1986: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in
Entrinnen gibt.
                                                              eine andere Moderne, Frankfurt a. M.
   Gerade deswegen gilt es, Gemein-                       BMBF – Bundesministerium für Bildung und For-
samkeiten zwischen den Milieus, den                           schung, 2001: Grund- und Strukturdaten, Statis-
                                                              tische Veröffentlichung der Kultusministerkonfe-
Einkommens- und Bildungsniveaus
                                                              renz, Sonderheft 97: Quantitative Entwicklung im
zu suchen und mit ihnen zu arbeiten.                          Schul- und Hochschulbereich bis 2015
Deshalb muss für die Partei DIE LINKE wie                 Bourdieu, Pierre, 1982: Die feinen Unterschiede. Kritik
                                                              der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M.
für die gesellschaftliche Linke insgesamt
                                                          Bude, Heinz, 1995: Das Altern einer Generation. Die
gelten: Der Gegensatz zwischen den                            Jahrgänge 1938–1948, Frankfurt a. M.
»urbanen akademischen Schichten« und                      Bundesagentur für Arbeit, 2019: Berichte: Blickpunkt
                                                              Arbeitsmarkt. Akademikerinnen und Akademiker,
der Arbeiterklasse besteht nur dann,                          Nürnberg, https://statistik.arbeitsagentur.de/DE/
wenn man fälschlicherweise unterstellt,                       Statischer-Content/Statistiken/Themen-im-Fokus/
dass Erstere nicht unter den Härten des                       Berufe/Generische-Publikationen/Broschuere-
                                                              Akademiker.pdf?__blob=publicationFile&v=4
Arbeitsmarkts leiden würden. Das ist,                     Bundesinstitut für Berufsbildung, 2019: Datenreport
wie wir gesehen haben, ein Trugschluss.                       2019. Indikatoren zur beruflichen Ausbildung.
                                                              Ausbildung und Beschäftigung. Ergebnisse der
Die beschriebene Entwicklung von
                                                              BIBB/BAuA Erwerbstätigenbefragung, www.bibb.
Akademisierung und Prekarisierung zeigt                       de/datenreport/de/2019/102316.php
deutlich, wie künstlich der konstruierte                  Deutscher Gewerkschaftsbund, 2019: Niedriglohn-
                                                              sektor: Falle statt Sprungbrett, klartext 15/2019,
Gegensatz zwischen Akademiker*innen
                                                              18.4.2019, www.dgb.de/themen/++co++8b578f56-
und Arbeiterklasse heute ist. Statt alten                     6109-11e9-9fde-52540088cada
Spaltungslinien das Wort zu reden, muss                   Dobrindt, Alexander, 2018: Für eine bürgerliche Wen-
                                                              de, in: Die Welt, 4.1.2018.
die Linke ihrer Verantwortung für alle                    Eckermann, Johann Peter, 2018: Gespräche mit Goethe
Lohnabhängigen gerecht werden. Es ist                         in den letzten Jahren seines Lebens, Berlin: epubli,
Aufgabe der Linken, Strategien zu entwick-                    zuerst erschienen: Brockhaus, Leipzig 1836/Hein-
                                                              richshofen, Magdeburg 1848
eln, um eine verbindende Klassenpolitik                   Eiden-Offe, Patrick, 2016: Die Poesie der Klasse.
zu schaffen.                                                  Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung
                                                              des Proletariats, Berlin
                                                          Euler, Ralf, 2006: Gesetzentwurf zu Studiengebühren
                                                              im Landtag eingebracht, in: Frankfurter Allge-
                                                              meine Zeitung, 12.7.2006, www.faz.net/aktuell/
                                                              rhein-main/region-und-hessen/landespolitik-
                                                              gesetzentwurf-zu-studiengebuehren-im-landtag-
                                                              eingebracht-1357211.html
LITERATUR                                                 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2015: Gabriel und
Altvater, Elmar/Huisken, Freerk (Hg.), 1971: Materiali-       Nahles loben Reformen der Agenda 2010, 5.1.2015,
     en zur politischen Ökonomie des Ausbildungssek-          www.faz.net/aktuell/politik/gabriel-und-nahles-
     tors, Erlangen                                           loben-reformen-der-agenda-2010-13353768.html
Autorengruppe Berichterstattung (2020): Bildung in        Gerhard-Sonnenberg, Gabriele, 1976: Marxistische
     Deutschland 2020, https://www.bildungsbericht.           Arbeiterbildung in der Weimarer Zeit (MASCH),
     de/de/bildungsberichte-seit-2006/bildungsbe-             Köln
     richt-2020/pdf-dateien-2020/bildungsbericht-         Gohlke, Nicole/Butollo, Florian, 2012: Hochschule im

20 KLASSENPOLITIK IN ZEITEN VON AKADEMISIERUNG UND NEUER UNSICHERHEIT
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