Wie die schweizer wirklich wohnen - EINE ETHNOGRAFISCHE STUDIE ZUm WOHN- UND EINRICHTUNGS - vERHALTEN
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wie die schweizer wirklich wohnen EINE ETHNOGRAFISCHE STUDIE ZUm WOHN- UND EINRICHTUNGS - vERHALTEN EINE TRENDSTUDIE ZUR ENTWICKLUNG NEUER WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN 1
Impressum: Wie die Schweizer wirklich wohnen vORWORT: DIE WOHNENDEN vERSTEHEN Eine ethnografische Studie zum Wohn- und Einrichtungsverhalten Autor: Frerk Froböse; mitarbeit: Judith Schubiger Als grösster möbelfachhändler der Schweiz be- Es war für uns wichtig, die Fragen, die uns am Betreuung GDI: Karin Frick (Head of Research, member of the Executive Board) schäftigen wir uns intensiv mit dem Wohnverhal- Herzen liegen, direkt an die Wohnenden richten Betreuung Pfister: Carlos Friedrich (Leiter marketing Kommunikation, mitglied der GL) ten der hier lebenden menschen. Damit wir ihnen zu können – wie sich herausstellte, war das eine Redaktion: Esther Banz, bürobanz, und Alain Egli, GDI ein gutes Angebot an Produkten und Dienstleis- gute Entscheidung. Heute verstehen wir besser, © 2011 möbel Pfister AG und GDI Gottlieb Duttweiler Institute tungen bieten können, bemühen wir uns, unsere was die Wohnenden selber für Fragen an ihre Kunden gut zu kennen und Ihre Bedürfnisse zu Einrichtung und an uns als möbelhändler haben. Herausgeber: verstehen. Möbel Pfister AG Wir sind einen grossen Schritt weiter. Nun wird es Bernstrasse Ost 49; CH-5034 Suhr (AG) Die ethnografische Forschungsarbeit, deren Ergeb- unsere Aufgabe sein, das neu erlangte verständnis Tel. +41 (0) 62 855 44 33; info@pfister.ch; www.pfister.ch nisse wir in dieser Studie vorstellen, hat uns nah in Produkt- und Serviceangebote zu übersetzen. GDI Gottlieb Duttweiler Institute an die menschen gebracht – nämlich in ihre Woh- Gedankt sei all denen, die ihre Türen öffneten und Langhaldenstrasse 21; CH-8803 Rüschlikon (ZH) nungen. Die Forscher, die wir zusammen mit dem sich für unsere Fragen Zeit nahmen. Tel. +41 (0) 44 724 61 11; info@gdi.ch; www.gdi.ch GDI auf die Reise schickten, lernten im direkten Gespräch die aktuellen Bedürfnisse der Schweizer Carlos Friedrich, Marketingleiter Pfister Fotos (inkl. Titelbild): Während unserer Forschungsarbeit entstanden. an ihr Zuhause und was sich darin befindet kennen. Die Informantinnen und Informanten unseres Projekts fotografierten selbst. 2 WIE DIE SCHWEIZER WIRKLICH WOHNEN EINE TRENDSTUDIE ZUR ENTWICKLUNG NEUER WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN 3
«Nicht da ist man daheim, wo man seinen Wohnsitz hat, sondern wo man verstanden wird.» Christian morgenstern, in «Stufen», 1917 vORWORT: NEUE WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN Wie werden die menschen morgen wohnen? umsonst bezeichnete der Kommunikationstheo- Woran orientieren sie sich beim Einrichten? – retiker marshall mcLuhan Wohnungen als unsere Diese Fragen stellte sich das GDI Gottlieb Dutt- «dritte Haut» (neben Epidermis und Kleidung). weiler Institut, das den gesellschaftlichen Wandel und seine Auswirkungen auf das Konsumverhalten So haben wir den Konsumenten beim Wohnen untersucht. Statistische Analysen halfen hier nicht zugeschaut und lange Gespräche mit ihnen ge- weiter. Denn Durchschnittswerte – etwa über führt. mit ethnografischen methoden haben wir Haushaltsgrösse, Wohnfläche pro Person oder erforscht, was Wohnen für die Schweizer bedeutet verweildauer in einer Wohnung – sagen wenig und wie sich das Wohnverhalten und das verhält- darüber aus, wie menschen wirklich wohnen. nis zur Einrichtung im Laufe der Zeit ändern. Dadurch gelingt uns hier ein in dieser Form für die Unsere Forscher sind daher dem noch jungen Schweiz erstmaliger, direkter und vorurteilsfreier Ansatz der «material Culture Studies» gefolgt: Einblick in die Intimsphäre des Wohnens. Die nützlichen, guten und schönen Dinge, mit de- nen wir uns umgeben, sind nicht bloss Requisiten, Karin Frick, Forschungsleiterin GDI sondern prägen unser Denken und Handeln – nicht 4 WIE DIE SCHWEIZER WIRKLICH WOHNEN EINE TRENDSTUDIE ZUR ENTWICKLUNG NEUER WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN 5
INHALT Einleitung 7 Wo liegt Wohnen in der Trendlandschaft? 11 Welche Bedeutung hat Wohnen heute? 13 Für wen richten sich die Wohnenden ein? 15 Welche Gegenstände sind den menschen wichtig? 18 Wie verändert sich die Rolle von möbeln? 21 Wie beeinflussen veränderungen die Wohnsituation? 24 Wieso «ohne Stil» und doch nicht «stillos»? 27 Wie beurteilen die menschen Kataloge und möbelhäuser? 31 Fragen und Antworten 34 EINLEITUNG Zusammenfassung 35 «Wohnen» bezeichnet ein weites Themenfeld. So verwundert es nicht, dass neben den verschiede- Anhang 36 Architekten beschäftigen sich damit, genau wie nen Bau- und Ästhetik-Profis auch jeder Einzelne Dekorateure; Designer wie Künstler; auch Geo- eine menge über das Wohnen weiss. Designmaga- Gewinner Wettbewerb mein Lieblingsplatz 37 grafen und Soziologen. Jedoch meinen sie mit dem zine zeigen uns, wie man sich einrichten sollte, Begriff «Wohnen» nicht immer dasselbe. Aus und bei verwandten, Freunden und im Tv sehen sozialwissenschaftlicher Sicht bedingt die Art und wir, wie andere ihr Zuhause gestaltet haben. Weise, wie man wohnt, die Zugehörigkeit zu einem Haushalt, einem sozio-ökonomischen milieu, einer Es ist nicht das Anliegen dieser Studie, den schon Gesellschaft. Architekten und Gestalter suchen vorhandenen professionellen und persönlichen eher nach neuen Formen, anhand derer sich das Sichtweisen eine weitere hinzuzufügen. Auch Wohnen entfaltet. Die englische Sprache zeigt, wie möchten wir mit dem Titel «Wie die Schweizer bedeutend das Wohnen fürs Leben ist: beides wirklich wohnen» nicht suggerieren, wir hätten die heisst «to live». Die meisten menschen verbringen Wohnfrage endgültig und abschliessend geklärt. einen grossen Teil ihrer Zeit dort, wo sie gerade Jedoch bringt das Adjektiv «wirklich» zum Aus- wohnen – entsprechend wichtig ist für sie diese druck, dass unser Augenmerk auf die gelebte Umgebung, die sie selber (mit-)gestalten können. Realität der in der Schweiz wohnhaften Personen 6 WIE DIE SCHWEIZER WIRKLICH WOHNEN EINE TRENDSTUDIE ZUR ENTWICKLUNG NEUER WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN 7
gerichtet ist. Welches sind ihre Wünsche und Ethnografie Bedürfnisse, was ihre Ansprüche und Fragen Wie die Namensverwandtschaft verrät, hat die ans Wohnen? Das bestehende Expertenwissen Ethnografie ihren Ursprung in der Ethnologie: möchten wir aus Sicht der Wohnenden hinter- hier bedeutet Ethnografie die holistische fragen und weiterentwickeln. Beschreibung eines volksstammes oder einer Kulturgruppe durch eine/n Ethnologin/en nach Zu diesem Zweck haben wir Familien und Allein- mehrmonatigem Forschungsaufenthalt. stehende bei sich zuhause besucht. Da wir keinen Heute ist die Ethnografie eine in allen Fragenkatalog an die Wohnenden herantragen, Sozialwissenschaften vielfach angewandte sondern die Wohnung aus ihrer Sicht erfahren Forschungsmethode. Sie ergänzt statistische wollten, haben wir uns einer ethnografischen Auswertungen, indem sie ohne vorformulierte methode bedient und dafür sowohl die materiellen Hypothesen oder modelle in enger Zusammen- Beschaffenheiten als auch die sozialen Gegeben- arbeit mit Informanten ein Phänomen aus heiten der Wohnung erforscht.1 Das heisst konkret: ihrer Sicht hinterfragt. Wir haben die Personen gebeten, Fotos von ihren Aufgrund der möglichkeit in einer sich stetig Räumen zu machen und festzuhalten, was ihnen weiter ausdifferenzierenden Gesellschaft positiv, negativ oder als momentan im Wandel individuelle Erfahrungen ganzheitlich zu befindliches Detail auffällt. Im weiteren Gespräch erforschen, findet die Ethnografie auch in der – und in mehreren Besuchen – haben wir uns über marketing-, markt- und Trendforschung im- die Fotos, die Gegebenheiten und die persönlichen mer grösseren Anklang. Ansichten unterhalten und das Thema Wohnen vertieft. Betrachten der Fotos werden sie sofort wieder alles bekannt ist. Eine Altersresidenz ist anders wach und lassen sich in Worte fassen. eingerichtet als eine Studentenwohnung, Banker Bewusst haben wir auf eine anfängliche Hypothese chen, warum sie nun diesen oder jenen Tisch haben meist einen anderen Geschmack als Gleis- verzichtet. Wir wollten nicht bekannte Tatsachen mögen oder wie sie ihren Einrichtungsstil nennen Anders als bei Ferienreisen, wo menschen selber arbeiter, das Leben auf dem Land unterscheidet wie die schrumpfende Haushaltsgrösse über- 2 würden. Unser vorgehen bot einen Ausweg aus Alben anfertigen, ihre Fotos auf Facebook und sich von dem in der Stadt – all dies sind Gemein- prüfen, sondern neue Fragen zum Wohnen entwi- dieser Situation: Die Teilnehmenden fotografierten Flickr mit der Welt teilen4, ist das Wohnen für die plätze. ckeln, die in erster Linie für die Frauen und männer zuerst die eigene Wohnung; danach unterhielten meisten Privatsache oder einfach eine Selbst- selbst eine Rolle spielen. Dadurch, dass wir die wir uns über die Bilder. Die Aufnahmen schufen verständlichkeit, sodass wenige Bilder von der Aber die menschen werden ebenso von ihrem Konversation in keine bestimmte Richtung führten, den Boden für die weitere Forschungsarbeit. Denn Wohnungseinrichtung gemacht werden. Die Fotos, materiellen Umfeld (und besonders von ihrer konnten wir uns von den Ansichten der Wohnenden Bilder helfen, Eindrücke und Empfindungen in die diese Studie zieren und ihre eigene non-verbale Wohnung) geformt, wie sie es selber formen.5 leiten lassen. Wenn materielle Dinge selbstver- Worte zu fassen – beim Betrachten eines Albums Geschichte erzählen, wurden während unserer Der englische Ethnologe und material-Culture- ständlich werden und den Alltag prägen, ohne dass mit Urlaubsfotos spielt es sich ähnlich ab: zehn Forschungsarbeiten von den Wohnenden gemacht. Experte Daniel miller beschreibt, wie das mate- es auffallen würde, nimmt man sie kaum mehr Jahre nach einer Reise sind viele Erinnerungen Der «Umweg» über diese Fotos hatte einen wei- rielle Umfeld, in dem ein mensch aufwächst, ihn wahr. Es fällt menschen schwer darüber zu spre- 3 und Empfindungen vergessen, doch durch das teren vorteil: Dadurch liess sich das (methodische) für sein ganzes Leben prägt: Jemand, der in einer Problem lösen, dass zum Wohnen eigentlich schon Schweizer Stadt gross wird, denkt anders als 1 vgl. Daniels, Inge. «Ethnographies of the Home. Anthropology of the Everyday.» 2 vgl. Bundesamt für Statistik (Hrsg.). «Die Bevölkerung der Schweiz 2009.» 4 vgl. Froböse, Frerk. «Das Bild vom Wandern in der Schweiz.» 3 vgl. miller, Daniel. «Stuff.» 5 vgl. miller, Daniel. «vom Trost der Dinge.» 8 WIE DIE SCHWEIZER WIRKLICH WOHNEN EINE TRENDSTUDIE ZUR ENTWICKLUNG NEUER WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN 9
jemand aus einem walisischen Dorf.6 Diese Prä- Teilnehmer gung entsteht nicht nur durch unterschiedliche Insgesamt haben 16 Informantinnen und religiöse, kulturelle und soziale Einstellungen, Informanten aus der Deutschschweiz an un- sondern auch durch die Dinge, von denen men- serem Projekt teilgenommen. Nicht ihr Pass, schen umgeben sind, draussen wie drinnen. sondern ihr Wohnort machten die Teilnehmer – männer und Frauen im Alter zwischen Durch die Auseinandersetzung mit dem auf den 22 und 85 Jahren – zu Schweizern im Sinne Fotos Abgebildeten liessen sich die Gemeinplätze unserer Studie. umgehen und neue Fragen entwickeln. Ferner haben wir die Teilnehmenden beim Wohnen be- obachtet, mit ihnen Kataloge angeschaut und sie in Einrichtungshäuser begleitet. Um die Fragen und Erkenntnisse, die wir mit Hilfe der Informanten/innen erarbeiten konnten, in einen grösseren Kontext zu betten und unsere Arbeit auf ihre Allgemeingültigkeit zu prüfen, haben wir Zwar waren Einblicke in reelle Wohnsitua- auf der Seite www.meinlieblingsplatz.ch einen tionen und nicht statistische Relevanz das Ziel Fotowettbewerb durchgeführt. Auch daraus er- unserer Arbeit; dennoch sind wir froh, sowohl gaben sich für unsere Fragestellungen relevante via informelle als auch über solche durch Erkenntnisse. Es sind diese Fragen, die anfangs Pfister-Filialen vermittelte Kontakte eine noch eher abstrakt und unvoreingenommen waren grosse Diversität der Informanten erreicht zu WO LIEGT WOHNEN IN DER TRENDLANDSCHAFT? und später konkreter wurden, die die Struktur der haben. Studie bilden. Es sind neue Fragen, sie streben Kinder kleiden sich anders als ihre Eltern. Auch Im Kontext der Schnelllebigkeit unserer Zeit ist danach zu verstehen, wie die Schweizer wirklich kommuniziert eine neue Generation sehr unter- das Wohnen ganz allgemein ein Gegentrend.7 wohnen. Die vorliegende Studie orientiert sich an schiedlich von der ihr vorangegangenen, sie kauft Anders als zum Beispiel bei der verschiebung von diesen Fragen und ist entsprechend aufgebaut. anders ein und hört andere musik. moden, Stile Kommunikation und Konsum ins Internet und und Trends verändern sich selbst innerhalb einer andere technische Entwicklungen vollziehen 6 3 3 1 1 1 1 Generation, oft binnen weniger Jahre, manchmal sich hier die veränderungen sehr langsam. Aus- ZH BL LU AG AI SG ZG jede Saison. Ein wichtiges Kennzeichen der Trend- genommen von saisonalen Anpassungen, verän- forschung ist, dass sie bei aller Konzentration auf dert sich die Art und Weise, wie menschen in der veränderungen und Trends auch Beständiges nicht Schweiz wohnen, auf den ersten Blick kaum. ausser Acht lässt und Gegentrends erfasst. So Ein Stuhl, ein Bett oder ein Sideboard ist ein halbes antwortet die Slow-Food-Bewegung auf immer Jahr nach seinem Erscheinen nicht «out» – stärker vorgefertigtes Essen und dörfliche Bauern- möbelstücke überdauern länger als Technik oder 7 5 4 1 märkte auf globalisierte Wertschöpfungsketten. Kleider. Familie Allein Paar WG 6 vgl. miller, Daniel. «Stuff.» 7 vgl. Bosshart, David, K. Frick, m. Hauser. «Zukunft des Wohnens. Wie wohnt die Schweiz morgen?» 10 WIE DIE SCHWEIZER WIRKLICH WOHNEN EINE TRENDSTUDIE ZUR ENTWICKLUNG NEUER WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN 11
In der Dauerausstellung «möbel und Räume In der Zwischenzeit hat sich in unseren Wohnun- Schweiz» im Landesmuseum Zürich lässt sich be- gen freilich einiges verändert – man denke an die obachten, wie sich zum Ende des 19. Jahrhunderts gute Stube, die mitte des 20. Jahrhunderts nur zu die möbel vom Haus trennten und die Einrichtung besonderen Anlässen benutzt wurde, und heute so eine vom Haus unabhängige Kategorie wurde. Bis kaum mehr existiert. Insgesamt haben sich die dato waren Bank und Tisch fest mit der Wand Wohnformen seither aber nur wenig verändert. Im verbunden gewesen; jedes Zimmer hatte durch die Haushalt gibt es zwar Technik, aber nicht in dem im Haus und auf dem Hof stattfindende Arbeit sei- Ausmass, wie einst prognostiziert wurde. Dies, ob- ne Funktion. Nachdem die menschen zum Arbeiten wohl die Technik bereitstehen würde und in vielen in die Städte gezogen waren und die Wohnung als anderen Lebensbereichen tatsächlich nicht mehr Ort der Erwerbsarbeit ausgedient hatte, wurden wegzudenken ist. die möbel mobil, flexibel und austauschbar. Während ein Smartphone nichts mehr mit einem Telegrafen gemein hat und unsere Art zu kommu- Die Langsamkeit des Wohnens nizieren mehrfach grundlegend verändert wurde, Diese Charts gehen aus der Statistik von ist ein Stuhl, der vor hundert Jahren produziert möbel Pfister hervor. In keiner der Produkte- wurde, heute gut als solcher wieder zu erkennen. kategorien gibt es innerhalb der ersten fünf Abgesehen von leichten Strömungen in der Formen- Jahre viele Wiederholungskäufe. Das bedeu- sprache verändern sich möbel nicht. Das Themen- tet, dass sich die Wohnungen nur langsam feld Wohnen-Einrichten bildet einen Kontrast zu verändern. Einzig in der Kategorie Jugend- schnelllebigen moden und rasanter technischer zimmer kommt es zu einem erhöhten Wert, Entwicklung. WELCHE BEDEUTUNG HAT WOHNEN HEUTE? weil Kinder häufig aufeinander folgen. Gleichzeitig verändert sich die Gesellschaft derzeit Wir haben in Zürich eine Wohnung besucht, die Eine andere Schweizerin, deren Wohnung wir ken- Polstermöbel Wohnregale Jugendzimmer grundlegend, und das Wohnen ist direkt davon jedes Jahr mehrere Wochen leer steht. Ihre nen lernen durften, arbeitet als Trainee bei einer betroffen. So steigt – als eines von vielen Beispie- Bewohner, ein junges Ehepaar, befinden sich oft Grossbank. Sie hat schon in mexiko und Gross- Wiederholungskauf bis 2010 Wiederholungskauf bis 2010 Wiederholungskauf bis 2010 Erstkauf in 2005: (100%) Erstkauf in 2005: (100%) Erstkauf in 2005: (100%) len – die Lebenserwartung. Auch wird viel Er- auf Geschäfts- und Studienreisen. Er arbeitet als britannien gelebt. Ihr derzeitiger Freund wohnt in werbsarbeit (wieder) von zuhause erledigt. Beides Wirtschaftsjournalist, sie als modedesignerin. London; sie fliegt jedes zweite Wochenende dort- verändert die Wohnformen.8 Dennoch gilt: Die Gute Hotels in den metropolen dieser Welt sind hin. Obwohl sie also auch an keinen fixen Ort menschen orientieren sich bei der Bewältigung ihnen nicht fremd, dienen sie doch häufig als gebunden ist und das mobile Leben schätzt, hat dieser veränderungen nicht an Trends und moden, Zuhause auf Zeit. Dennoch kommen beide immer sie anfangs in Zürich – sie war gerade in eine halb- sondern an Altbewährtem, auch bei der Einrich- wieder – und gerne – in ihre eigene Wohnung nach möblierte Wohnung gezogen – sehr darunter tung. Zürich zurück, obwohl sie hier von keinem Hotel- gelitten, keinen persönlich gestalteten «Rück- Service verwöhnt werden. Warum, haben wir zugsort» zu haben. Sie hatte das Gefühl, sich gefragt; und die Antwort war, dass die Wohnung nirgends wirklich ausruhen zu können. Obwohl sie für sie ein «Rückzugsort» sei. Rückzug wovon? lediglich die arbeitsfreien Abende und einige «Reden, Leute, Telefonate», «Ein Ort zum Ballast- Wochenenden dafür Zeit hatte, kam sie mit dem Abwerfen.» Einrichten ihrer Wohnung rasch voran; bei jedem unserer Besuche waren wir erstaunt über die 8 vgl. Häußermann, Hartmut, W. Siebel, «Soziologie des Wohnens. Eine Einführung in Wandel und Ausdifferenzierung des Wohnens.» 12 WIE DIE SCHWEIZER WIRKLICH WOHNEN EINE TRENDSTUDIE ZUR ENTWICKLUNG NEUER WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN 13
veränderungen. mittlerweile ist sie sehr zufrieden geht das Wohnen über die eigenen vier Wände mit ihrem Zuhause. hinaus. In welchem Quartier jemand lebt, welche öffentlichen Angebote und Infrastrukturen er nutzt Nicht nur für menschen, die oft unterwegs sind, – auch das ist Teil des Wohnens und sollte in der ist die eigene Wohnung als Rückzugsort von Debatte nicht zu kurz kommen. Gleichzeitig stimmt Bedeutung. Wir haben alle unsere Informanten Strebel zu, dass sich – abgesehen von der reinen gefragt, was für sie das Wohnen ausmache. Schutzfunktion, die das Wohnen an jedem Ort und «Wohlfühlen» und «Ausruhen» waren Antworten, zu jeder Zeit hat9 –, eine verstärkte Tendenz hin mit denen wir gerechnet hatten und die auch oft zur Wohnung als Rückzugsort ausmachen lässt. vorgebracht wurden. Sie beziehen sich allerdings Auch in seiner Analyse bedeutet das in erster Linie, nicht nur aufs Wohnen, schliesslich lässt es sich dort nach einem langen und harten Arbeitstag die auch beim Reisen ausruhen und wohl fühlen. Batterien aufzuladen.10 Deshalb halfen uns diese Aussagen bei der Frage nach der Bedeutung der eigenen Wohnung nicht Erholsam ist es in der eigenen Wohnung vor allem weiter. Das ebenfalls oft genannte Stichwort deshalb, weil man dort mehr als anderswo «sich «Rückzugsort» – oder gar «Rückzugszimmer», selber» sein kann, also selbstbestimmt ist. Die Art, «Rückzugsstube» – ist aufschlussreicher. Wir wie wir kommunizieren, arbeiten und uns bewe- haben festgestellt, dass sich die menschen in der gen, ist vielfach von aussen vorgegeben. Der Com- Schweiz gerne in ihre Wohnungen zurückziehen puter am Arbeitsplatz, das Natel auf dem Heimweg – nach einem Camping-Urlaub ebenso wie im – wir benutzen beides ganz selbstverständlich, hektischen Berufsalltag. «Rückzugsort» bedeutet aber in der Wohnung können wir besser auf die nicht, dass die menschen zurückgezogen leben eigenen Bedürfnisse hören und so beispielsweise FÜR WEN RICHTEN SICH DIE WOHNENDEN EIN? möchten. vielmehr ist die eigene Wohnung der Ort, aus mal «offline» oder schlicht egoistisch sein. an dem man sich ausruhen kann; sie ist einem Eine Autorin von USA Today hat in Amerika den Bei unseren Besuchen in den verschiedenen Haus- gesehen werden?» Die Antwort auf ihre selbst ganz und gar vertraut, man hat sie ja auch selber Trend ausgemacht, dass mütter sich für den Abend halten haben wir die Informanten gebeten, ein Foto gestellten Fragen gaben sie dann auch selber; sie eingerichtet. Hier befinden sich die persönlichen ein eigenes Zimmer einrichten, weil ihr Alltag in von sich selbst zu komponieren. Das Bild sollte machten Fotos von sich beim Fernsehen, Lesen, Gegenstände und das Regal steht da, wo man es allen Belangen von anderen, meist ihren Kindern, sie in ihrer Wohnung zeigen. Die Teilnehmenden Kochen, Frühstücken, E-mail-Checken. eigenhändig hingestellt hat. Oft hörten wir die bestimmt ist. 11 mussten also selber entscheiden, wie sie sich und Aussage: «mir gefällt an meiner Wohnung, dass ihre Wohnsituation gerne in einem magazin – etwa Darin, dass die Schweizer «normale» Bilder ich sie selber eingerichtet habe.» Einzig zuhause Jeder braucht einen Ort, an dem seine eigenen zum Thema Wohnen – abgebildet sähen. Nicht nur «idealisierten» Bildern vorziehen, zeigt sich eine sind auch die modernen Nomaden von dem um- Bedürfnisse vorrang haben, wo er von fremd- die entstandenen Bilder, auch die Diskussionen, weitere Eigenschaft des zeitgenössischen Woh- geben, was sie mögen. bestimmt auf selbstbestimmt schalten kann. die während der Entscheidungsfindung über motiv nens hierzulande: Die Leute fällen pragmatische, Kein Ort eignet sich dafür besser als die Wohnung, und machart des Fotos stattgefunden haben, sind auf den Alltag und sich selbst zugeschnittene Wie uns Dr. Ignaz Strebel, wissenschaftlicher mit- die man sich selber eingerichtet hat. aufschlussreich. So ging es den Schweizern meist Entscheidungen. Dass sie sich durchaus dafür arbeiter am Wohnforum der ETH Zürich, erklärte, darum, kein «ideales», sondern ein «normales» interessieren, wie andere wohnen und sich ein- Bild abzugeben. Fragen, die sie sich selber stell- richten, läuft dem nicht zuwider. Es dominiert die ten, waren beispielsweise: «Womit verbringe ich meinung, man solle sich in erster Linie für sich 9 vgl. Gysi, Susanne. «Zwischen ‹Lifestyle› und Wohnbedarf. Was der mensch zum Wohnen braucht.» u. Häußermann, Hartmut, W. Siebel, «Soziologie des Wohnens. Eine Einführung in Wandel und Ausdifferenzierung des Wohnens.» beim Wohnen am meisten Zeit?», «Was ist für mich selbst einrichten – Repräsentationsüberlegungen 10 vgl. Lederer, Arno. «Nichts mehr zu verbergen?» Wohnen?» – und nicht: «Wie möchte ich gerne spielen demgegenüber eine untergeordnete Rolle. 11 Scott, megan K. «Women find a space of their own with mom caves.» 14 WIE DIE SCHWEIZER WIRKLICH WOHNEN EINE TRENDSTUDIE ZUR ENTWICKLUNG NEUER WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN 15
Das überrascht nicht, denn bei der Frage, womit Erkenntnisse aus dem Fotowettbewerb I zuhause Zeit verbracht wird, zeigte sich: Auch die menschen, die gerne und viele Gäste haben und so ihre Wohnung häufig zu einem recht öffentlichen Raum werden lassen, verbringen mehr Zeit mit Kleiderwaschen, Kochen oder Fernsehen. Für alle sind diese Aktivitäten Teil des Wohnens und be- anspruchen auch räumlich entsprechend Platz. Obwohl es nach wie vor meist einen «Wohnraum», eine «Wohnstube» oder «Wohnküche» gibt (auch beim Fotowettbewerb wurden 35 % der Lieblings- plätze im Wohnbereich gemacht), werden auch andere Räume mit Wohnen assoziiert. Und das Wie dieses Bild (das die grösste Zustimmung eigentliche Wohnzimmer dient heute vielfältigen erhielt und damit den Publikumspreis ge- Aktivitäten, es wird dort auch gearbeitet und ge- wann) entsprechen viele der hochgeladenen spielt. man ist pragmatisch. Wohnen orientiert sich Fotos einem «Schöner Wohnen»-Ideal, be- am Alltag. kannt aus Katalogen und magazinen. Obwohl diese idealisierten Wohnlandschaften – meist ordentliche und komponierte Situationen mit www.meinlieblingsplatz.ch aufwändigem und teurem mobiliar und ohne Um unsere intimen Einblicke in wenige Schwei- Personen – auf den ersten Blick den Ergeb- zer Wohnungen auf einen breiten Sockel zu nissen der ethnografischen Studie widerspre- Eine starke Trennung zwischen «öffentlich» und Geschichte der «Ausgrenzung und Eingrenzung stellen, führten wir unter www.meinlieblings- chen, zeigt sich auf den zweiten Blick eine «privat» gibt es daher nicht mehr. Besuchende, die von Funktionen und Personen».12 Eine Wohnung platz.ch einen Fotowettbewerb durch. Hier interessante Kohärenz. Wie beschrieben, stellt man kennt, dürfen auch in den Keller schauen kann heute Arbeitsplatz, Kinderspielplatz und stellten mehr als 250 Teilnehmer aus fast allen die Wohnung einen Rückzugsort dar, an dem (Leute, vor denen man die Waschküche verstecken Nachbarschaftstreffpunkt sein; Funktionen, die Kantonen ein Bild ihres Wohn-Lieblingsplatzes man sich nicht nur von der Welt ausruhen, möchte, kommen so gut wie nie zu Besuch). So immer auch ausserhalb der Wohnung erfüllt auf die Seite und beantworteten einige Fragen. sondern seine eigene Individualität mittels der erfüllen Räume heute ganz verschiedene Funk- wurden und werden. Im Gegenzug müssen andere, Aus den Fotos und den Angaben ergaben sich Gestaltung des Wohnraums frei ausdrücken tionen. Dieses Phänomen lässt sich auch bei der etwa die repräsentative, Funktionen aus der aufschlussreiche Kontraste und Parallelen zu kann. Wenn anstelle von Familie, Freunden Einrichtung erkennen: Im eigentlichen Wohn- Wohnung an andere Orte weichen: man trifft sich unseren Erkenntnissen aus der ethnografi- und Bekannten dann die Internet-Öffentlich- zimmer gibt es einen Arbeitstisch, die eigentliche im angesagten Café. Die Wahl des richtigen Cafés schen Arbeit. keit einen Blick in die Wohnung bekommt, Küche ist Treffpunkt für Familie und Freunde, die tritt an die Stelle der guten Stube mit repräsen- dann muss sich der Rückzugsort, den die eigentliche Waschküche soll dekoriert und wohn- tativer Funktion. Da die Wohnung zu anderen re- Drei monate, mehr als Wohnung darstellt, hinter einer idealisierten lich eingerichtet werden. präsentativen Orten einen Kontrast und einen Komposition verbergen, um Rückzugsort zu Rückzugsort darstellt, werden alle Funktionen, 250 Teilnehmer aus allen bleiben. Im Internet stellen die menschen ihre Hartmut Häußermann und Walter Siebel be- die sie erfüllt, pragmatisch in die Einrichtung auf- Kantonen (ausser JU und UR), Wohnungen einer Öffentlichkeit zur Schau, schreiben die Geschichte des Wohnens als eine genommen. Jury- und Publikumspreise die es bei ihnen zu Hause gar nicht gibt. 12 Häußermann, Hartmut, W. Siebel, «Soziologie des Wohnens. Eine Einführung in Wandel und Ausdifferenzierung des Wohnens.» 16 WIE DIE SCHWEIZER WIRKLICH WOHNEN EINE TRENDSTUDIE ZUR ENTWICKLUNG NEUER WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN 17
WELCHE GEGENSTÄNDE SIND DEN mENSCHEN WICHTIG? Dadurch, dass die Personen, die an dieser Studie Gross und Klein teilnahmen, die Aufgabe hatten, ausgewählte Orte Nachdem die Literatur zum Wohnen nicht auf in ihrer Wohnung zu fotografieren, begaben sie eine besondere Rolle der Kleinteile hinge- sich eigenständig auf die Suche nach relevanten wiesen hatte (sowohl Architektur als auch die Fragen – sie waren nicht mit einem vorgegebenen Soziologie beschäftigt sich meist mit dem Fragenkatalog konfrontiert. Als die Fotos schliess- Haushalt an sich), förderte die direkte Ausei- lich vorlagen, fiel auf, wie stark sich die menschen nandersetzung mit den Wohnenden und ihren auf die Dekoration und persönliche Kleinteile, die Fotografien hier Überraschendes zutage. man so nur in der eigenen Wohnung findet, bezo- Zwar kann nicht jedes Detail einer Wohnung gen. Nur wenige Raumansichten, möbelkomposi- eindeutig als «klein» oder «gross» bezeichnet tionen und Idealbilder wurden als Gegenstand der werden. Aber auf den Fotos lassen sich drei Fotos gewählt. Begründet wurde der Fokus auf die Kategorien erkennen: Kleinteile mit deren emotionaler Bedeutung respek- tive damit, dass die Accessoires eine momentan Gross gewünschte, praktische Lösung darstellen. Wir Räume, Kompositionen, Schränke, Tische, werten die Präferenz für Kleinteile, Accessoires Stühle, Bänke, Sideboards, Sofas, Sessel und persönliche Erinnerungsstücke selbst als Klein emotional Resultat: Beim Wohnen in der Schweiz spielen die Fotos, Gemälde, Basteleien, Skulpturen, kleineren Dinge heute die grössere Rolle. Erinnerungsstücke, mitbringsel, Souvenirs Klein praktisch Teppiche, Lampen, Dekoration, Bilder, Pflanzen, Küchengeräte, Kleinmöbel Klein emotional: Das Gemälde eines befreundeten Klein praktisch: Der Platz für das Sofa in der neu- malers bestimmt das Farbschema des Raums, an en Wohnung steht noch leer; Teppich und Bilder dem sich alles andere orientiert. bieten schon ein Gefühl von Zuhause. 18 WIE DIE SCHWEIZER WIRKLICH WOHNEN EINE TRENDSTUDIE ZUR ENTWICKLUNG NEUER WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN 19
Es wurde bereits aufgezeigt, dass die eigene das Reisesouvenir. Die Präferenz für Kleinteile Wohnung primär als Rückzugsort bedeutend ist, geht aber weiter, sie schliesst pragmatische Ele- den man sich selber schafft und gestaltet. Die mente mit ein. möglichkeit, das Zuhause nach eigenen Wünschen einzurichten und es somit auch vollkommen zu Wir haben menschen kennen gelernt, die erst seit verstehen, lässt das Wohnen zu einem Lebensmit- kurzer Zeit in ihren Wohnungen leben. Da wäre telpunkt werden.13 Allerdings ist in der Wohnung zum Beispiel eine kürzlich ins Leben gerufene vieles vorgegeben, vor allem von der Architektur männer-WG in Zürich. Bei unserem ersten Besuch und Struktur, aber auch von möbeln, die man meist lebten die jungen Herren in sehr unfertigen Ein- nicht selber herstellen oder spontan ersetzen richtungen, die sie nach und nach komplettierten. kann. Die für die Wohnenden so wichtige Funktion Sideboards, Regale oder Sofas fehlten lange; des Rückzugs in eine selber gestaltete Umgebung Lampen, Teppiche und Bilder waren aber schon wird also mittels der Kleinteile erfüllt. Zwar ziehen recht früh da. Diese wurden meist aus anderen sich die Wohnenden in ihr von möbeln bestücktes Wohnungen mitgebracht, mit ihnen fühlten sich und von der Architektur vorgegebenes Refugium die jungen menschen vertraut. Kleinteile machten zurück; aber dieses wird erst durch die ausge- für sie den Unterschied; das Sideboard konnte wählten und selber hergestellten Kleinteile zum noch ein wenig warten. Rückzugsort. Denn es sind diese Gegenstände, die der Wohnung das Persönliche und Identitäts- Natürlich definieren sich die Wohnenden nicht nur stiftende geben. über Kleinteile, sondern auch über grössere mö- belstücke – zum Beispiel Billigmöbel vs. Design- Nicht nur auf Fotos, sondern auch in direkten Aus- Klassiker – oder über die Wohngegend – etwa Alt- WIE vERÄNDERT SICH DIE ROLLE vON mÖBELN? sagen haben die Informanten unterstrichen, dass bauloft vs. Siedlungshaus. Diese Entscheidungen es die persönlichen Kleinteile und praktischen hängen aber stark vom Budget der Betreffenden Aus der Erkenntnis, dass Kleinteile beim Wohnen zimmer» oder das «Esszimmer» sei. Dann stellten Accessoires sind, die aus einer Wohnung ihr ab und geben wenig Aufschluss darüber, was ihnen die Hauptrolle spielen, ergibt sich die nächste sie fest, dass sie es im Alltag – immer ganz funk- Zuhause, ihren Rückzugsort machen – also nicht beim Wohnen wirklich wichtig ist. Konfrontiert Frage: Welche Bedeutung wird dann den möbeln tionsneutral – als «grosses Zimmer» titulieren. In das grosse Sofa, sondern das besondere Kissen. man die Teilnehmenden, die in Wohnungen unter- zugesprochen? Was wird erwartet von möbeln und den wenigsten der von uns besuchten Wohnungen Dass Kleinteile zu Protagonisten der Einrichtung schiedlicher Preiskategorien leben, mit genau die- dem Wohnungsbau – die doch «eigentlich», d. h. in existierte eine klare, starre Aufteilung in Wohn- werden und den Unterschied machen, beruht aber ser Frage – was ist Ihnen beim Wohnen besonders der öffentlich geführten Debatte, das Wohnen aus- zimmer, Esszimmer, Küche etc. In der «Küche» nicht alleine auf der besonderen Rolle, die sie wichtig? –, geben alle dieselbe Antwort: kleine, machen? Während der ethnografischen Arbeit in wird nicht mehr nur gekocht und das «Wohnzim- für einen menschen spielen. Natürlich hat ein Fa- persönliche Gegenstände, die ihre Wohnung von den Schweizer Haushalten zeigte sich diesbezüglich mer» ist auch der Ort, wo gegessen und getrunken, milienfoto einen emotionalen mehrwert, ebenso jeder anderen unterscheiden. ein klarer Trend: funktionsgebundene Begriffe und geredet, gespielt, Sport getrieben, gearbeitet, funktionsbedingte Gestaltung lösen sich auf. gelernt, ferngesehen, gemalt, gedacht wird (und vieles mehr). Weil das Wohnen ein Gegentrend zur Ein Ehepaar aus Zürich sollte sagen, wie es das Schnelllebigkeit ist, sind die Begriffe häufig die Zimmer, in dem es sich gerade aufhielt, im Alltag gleichen geblieben, aber die Funktion von Räumen bezeichnet. Es wurde sich sehr lange nicht einig, und Wohnungen hat sich verändert. ob das nun das «Wohnzimmer», das «Arbeits- 13 Schweizer geben im Durchschnitt 21% ihres Einkommens für das Wohnen aus und machen es so zur teuersten Konsumausgabe (Bosshart, David, K. Frick, m. Hauser. «Zukunft des Wohnens. Wie wohnt die Schweiz morgen?») 20 WIE DIE SCHWEIZER WIRKLICH WOHNEN EINE TRENDSTUDIE ZUR ENTWICKLUNG NEUER WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN 21
Das Thema der multifunktionalität macht vor Wenn möbel und Räume verschiedene Funktionen möbeln nicht Halt und ist hier noch spannender erfüllen und gleichzeitig einen Rückzugsort schaf- als bei den Räumlichkeiten, da weniger beachtet. fen sollen, in dem Kleinteile dafür sorgen, dass man Das Ehepaar, das den «multi-Use»-Hauptraum sich zuhause fühlt, dann lässt die Aussage einer seiner Wohnung «grosses Zimmer» nennt, sagt Informantin besonders aufhorchen: «Ich möchte auch zu dem darin stehenden Tisch nicht «Ess- neutrale möbel. Ich möchte ihr Aussehen und ihre tisch» oder «Arbeitstisch», aber ein «Konferenz- Funktion für mich selbst verändern können, abhän- tisch» oder «Spieltisch» ist er auch nicht. Er heisst gig von der jeweiligen Situation.» möbel sollen also schlicht «grosser Tisch». Tv-möbel werden von verschiedene Funktionen zulassen, ohne sich auf- den Bewohnern dieser kategorielosen Wohnung zudrängen. Sie sollen einen Rahmen bieten, in dem ebenfalls nicht geschätzt, also steht der Fernseher ein Rückzugsort entstehen kann. Neutrale möbel auf einer einfachen Schachtel, die Lampen auf werden den heutigen Bedürfnissen gerecht, sie Zeitschriftenstapeln. vasen wurden zu Lampen ermöglichen die individuelle Gestaltung mit Klein- umfunktioniert, das Sofa heisst nur «Ecke» (man teilen und somit das, was «Wohnen» persönlich kann auch nicht darauf sitzen, sondern nur lehnen macht. vielfach sieht ein Küchenschrank nicht mehr oder liegen) und der Teppich wird jeden Abend zur anders aus als ein Schuh- oder Kleiderschrank. Im Yoga-matte. Idealfall ist der Schrank nicht einmal von der Wand zu unterscheiden: beide stellen zusammen die In anderen Wohnungen wird ein Tisch jeden mittag Kulisse oder den Rahmen für das Wohnen. Die gros- vom Esstisch zum Hausaufgaben- und dann zum sen und schlichten Oberflächen der möbel lassen, Spieltisch. Im vorratsraum lagert auch die Skiaus- ohne dass sie sich wandeln müssen, verschiedene rüstung. Wenn die Kinder aus dem Haus sind, wird Nutzungsarten zu. Nicht multifunktionalität, son- ein Jugendzimmer schon mal zum Gästezimmer dern Neutralität in Funktion und Form ist das Diktat oder zum massageraum mit integrierter Sauna. der Stunde. Das Thema der multifunktionalität steht schon eine lange Weile im Raum. Wie die volkskundlerin und Neutral, Rahmen, Kulisse – die Analyse klingt fast Wohnforscherin Dr. Waltraut Bellwald erklärt, ent- so, als wollten die Schweizer das mobiliar am fernt sich der Geschmack der Wohnenden sogar liebsten abschaffen. Aber dem ist nicht so – auch vom so genannten «Allraum» der 1970er-Jahre, wenn beim Wohnen heute zwischen Kulisse wo ein einziger Raum multifunktional für alle (Neutrale möbel und Räume) und Bühne (Rück- anfallenden Aktivitäten bereitstehen sollte. Unsere zugsort durch Kleinteile) unterschieden wird, Beobachtungen bestätigen diese Tendenz: Die vermindert sich der Wert von möbeln in keiner Wohnenden verwenden Raumteiler und Regale, Weise. Im Gegenteil: eine langlebige und hochwer- um aus einem grossen Raum zwei kleine zu ma- tige Kulisse braucht gute möbel. vielfach wurde chen und richten sich zuvor kaum genutzte kleine von den Befragten der Wunsch nach erweiterbaren Zimmer ein. Aus dem komplexen Wohnverhalten und langlebigen möbeln geäussert, die sie durchs der menschen zu schliessen, man brauche grosse Leben begleiten. Auch wird es immer möbel-Stars Allräume und multifunktionale, wandelbare All- geben, die für die Wohnenden Hauptdarsteller und zweckmöbel, wäre also falsch. keinesfalls Kulisse sind. 22 WIE DIE SCHWEIZER WIRKLICH WOHNEN EINE TRENDSTUDIE ZUR ENTWICKLUNG NEUER WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN 23
WIE BEEINFLUSSEN vERÄNDERUNGEN DIE WOHNSITUATION? Das Leben ist eine Abfolge verschiedener Phasen Zwei an unserer Studie teilnehmende Familien – – die Art und Weise, wie jemand wohnt, ist stark die eine in Basel, die zweite im Aargau – haben durch die jeweilige Phase definiert. Braucht ein Kinder im vorschul- bzw. Primarschulalter. Das Baby vorerst nicht viel mehr als ein Bett und einen bedeutet konkret: Kinder ziehen sich in ihre eige- Wickeltisch, dehnt sich der Wohnbereich kontinu- nen Zimmer zurück, die Art zu spielen verändert ierlich aus und aus einem Kinderzimmer wird bald sich, Freunde kommen zu Besuch; der Schreib- einmal das Jugendzimmer. Zunächst bleibt das tisch dient nicht mehr nur als malunterlage, son- Wohnen von den Eltern bestimmt, aber mit dem dern auch als Ort der Hausaufgaben und bald des Auszug aus dem Elternhaus stellen sich Fragen Computers. Obwohl ihre Wohnungen sehr unter- dazu, wie und mit wem man wohnen möchte. schiedlich gestaltet sind, haben beide Familien für Irgendwann wird die erste Wohnung zu klein, die diese wechselreiche Zeit ihrer Kinder ähnliche Wohngemeinschaft zu eng, es kommen eigene Lösungen gesucht und gefunden: möbelstücke, die Kinder zur Welt, werden zu Jugendlichen, ziehen in ihren Funktionen wandelbar sind und nicht wiederum in eine WG und man selber vielleicht ersetzt werden müssen. bald einmal in ein mehr-Generationen-Haus. Kurz: Lebensphasen sind Wohnphasen. Bei der Frage, Da es solche Lösungen nicht beim möbelhändler wie die Schweizer wirklich wohnen, musste das gibt (dort waren sie enttäuscht von strikten Kate- mitberücksichtigt werden. gorien wie «Kinderzimmer», «Jugendzimmer»), fertigten sie sie selber. Betten, vom vater der Auch die ETH-Wohnforscherin Susanne Gysi weist Familie aus einfachem Holz und in simpler Kons- Ein weiteres Beispiel für einen Wohnphasen- diese für ihr derzeit verfügbares Budget nicht gibt, auf die Bedeutung dieser Phasen hin, sind die truktion erstellt, können zusammen- oder überei- umbruch ist die Situation nach dem Studium. Aus behelfen sie sich provisorisch und warten mit dem Bedürfnisse der Wohnenden doch direkt von ihnen nander gestellt werden, sie lassen sich vom beruflichen Gründen zieht man um, der Lebens- Kauf lieber, als sich eine Zwischenlösung zu schaf- bestimmt.14 Dass man diese verschiedenen Pha- einfachen Niedrigbett zum Hochbett mit Rutsche rhythmus verändert sich. Wir haben Bewohner fen, die ihnen später nichts nützt. Ähnlich wie Fa- sen durchlebt, ist allen bewusst – sie sind deshalb wandeln, die Kindermalerei kann vom Holz abge- einer WG und einer Einzimmerwohnung kennen milien mit Kindern sind sie also auf der Suche nach kein unmittelbares Thema für die Personen, die schliffen und durch eine vom Kind ausgewählte gelernt, deren Umgang mit ihrer derzeitigen Le- langfristigen, nachhaltigen Lösungen. sich an dieser Studie beteiligt haben. Selbstver- Farbe ersetzt werden. In der zweiten Familie wird bens- und Wohnphase überraschte: Sie sind sich ständlich hat ein Seniorenehepaar beim Wohnen ein kürzlich neu gekauftes Kinderhochbett «sicher der Kurzlebigkeit ihrer derzeitigen Wohnsituation Beide Situationen eines Phasenwechsels – die andere Ansprüche als die Studenten in einer WG. nicht weiss bleiben». Auch ein Regal wurde neu bewusst und betonen sie im Gespräch immer wie- der wachsenden Kinder und jene der jungen Relevanter schien den Informanten die Frage nach bemalt und mit kindgerechter Dekoration verse- der; jedoch wollen sie sich nicht «kurzlebige» Ein- Erwachsenen – zeigen, wie bedeutend möbel bei den Übergängen von einer Wohnphase in die hen, die aber später wieder entfernt werden kann. richtungsgegenstände anschaffen. Sie sind auf der der Bewältigung des Wechsels sind. Anstatt für nächste: Wie findet man sich in einer neuen Phase Gewünscht werden also möbelstücke, die mit den Suche nach Stücken, die sie mittelfristig zufrieden eine Phase die richtigen möbel zu kaufen, wün- zurecht? Und wie kann man selber für verände- Kindern «wachsen» und sich auf ganz verschiede- stellen und die sie später in ein «richtiges Zuhau- schen sich die menschen in der Schweiz langlebige rung sorgen? ne Situationen einstellen können. se» mitnehmen können. Auf ein solches Zuhause Stücke, die hochwertig sind und sich neutral den arbeiten sie alle hin. Junge Erwachsene suchen veränderungen anpassen. «einfache, klassische» Dinge, die auch in der zu- künftigen Wohnung Bestand haben. Dabei haben sie Anspruch an eine gewisse Qualität. Wenn es 14 Gysi, Susanne. «Zwischen ‹Lifestyle› und Wohnbedarf. Was der mensch zum Wohnen braucht.» 24 WIE DIE SCHWEIZER WIRKLICH WOHNEN EINE TRENDSTUDIE ZUR ENTWICKLUNG NEUER WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN 25
Über Kleinteile und Wandel Wie beschrieben fallen Kleinteilen und möbeln beim Wohnen heute vollkommen unterschied- liche Funktionen zu. Während neutrale möbel in eine neue Wohnphase integriert werden sollen, sind Kleinteile dazu in der Lage, diese zu definieren. Das ist deshalb wichtig, weil veränderungen in der Wohnung nicht immer durch Umbrüche oder externe Gegebenheiten ausgelöst werden, sondern auch mit einem einfachen Umzug oder innerhalb der beste- henden Wohnung erwünscht sein können. Während Grossmöbel über Phasen hinweg überzeugen sollen, gestalten Kleinteile die veränderung. Bei einem Umzug in eine neue Wohnung, in der man noch nicht alle möbel hat oder die alten nicht mehr möchte, sind es diese Klein- Kleinteile bei der Bewältigung von Wandel teile, die einem Lösungen anbieten und ein baldiges Wohlfühlen im neuen Zuhause ermöglichen. Auch wer in seiner Wohnung WIESO «OHNE STIL» UND DOCH NICHT «STILLOS»? bleibt, hat hin und wieder Lust auf verände- rungen. Stimmungen, Jahreszeiten, Lebens- Stil habe für ihn nichts mit mode zu tun, sagte ein- richtung – «das hat Stil!» –, dann meinen wir nicht, abschnitte – selbst wenn das Wohnen nicht mal der bekannte amerikanische modedesigner die Tasche oder das Wohnzimmer folge einem von Trends bestimmt wird, sind Anpassungen Tom Ford. Er sprach sicher nicht vom «Stil» im bestimmten Trend oder einer Richtung. Nein, wenn erwünscht. Da möbel zwar umgestellt werden kunsthistorischen Sinn, weder vom Barock, noch es von einem mitmenschen heisst, er habe Stil, können, aber aufgrund ihrer gewünschten Jugendstil oder Bauhaus. Diese Gattungen haben dann bedeutet das, dass er die Gabe hat, die ma- Langlebigkeit nur selten neu angeschafft nämlich sehr viel mit moden gemein. Wohl meinte teriellen Dinge ansprechend zu gestalten. werden sollen, sind es die Kleinteile, die die er auch kein bestimmtes Design, keine literarische von den menschen gewünschte veränderung Gattung oder rhetorische Figur. Nein, der «Stil», menschen in der Schweiz wohnen «ohne Stil», umsetzen: Bilder werden ausgetauscht, neue von dem Ford sagte, er habe nichts mit mode zu aber nicht «stillos». Sie richten sich gut ein und Textilien angeschafft, ein Erinnerungsstück tun, braucht keinen Artikel, es ist nicht der Stil A gestalten überzeugende Räume. Sich auch ästhe- kommt aus dem Fundus hervor. oder der Stil B, es ist einfach nur Stil, guter Ge- tisch wohl zu fühlen ist ihnen wichtig; sie verfol- schmack. man kann, ohne einem (bestimmten) Stil gen, was über Architektur und Design gesagt und zu folgen, (generell) Stil haben. Die Doppelbedeu- geschrieben wird. Und dennoch folgen sie keiner tung ist, wenn auch unbewusst, jedem bekannt: bestimmten vorgabe, sie können ihren eigenen Stil Wenn wir einer Kollegin ein Kompliment zu ihrer nicht benennen, orientieren sich an ihrem eigenen Kleinteile bei der Umsetzung von Wandel Tasche machen oder einem Freund zu seiner Ein- Geschmack und ihrem Alltag. Sie haben also Stil, 26 WIE DIE SCHWEIZER WIRKLICH WOHNEN EINE TRENDSTUDIE ZUR ENTWICKLUNG NEUER WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN 27
ohne einen Stil zu haben. Oder besser: Sie wohnen bung der «Undecorate»-Bewegung16 für über- mit Stil, gleichzeitig aber mit keinem bestimmten. zeugender: nachdem «Demokratisches Design» lange ein modebegriff war, ist es Realität gewor- Die Teilnehmenden waren gebeten, ihren Wohnstil den. menschen brauchen keine externe Autorität zu beschreiben – die Antworten waren nicht be- in Stilfragen mehr. Da Wohnen bedeutet, sich einen sonders aufschlussreich. Immer wurden dieselben eigenen Rückzugsort zu schaffen, den man auch Begriffe zitiert: etwa «klassisch», «modern», gedanklich vollständig durchdringt, legt man die «zeitgemäss», «jung» – und dies, obwohl die Woh- Regeln selber fest. Die für die Studie Befragten nungen ganz unterschiedlich aussahen. Da jedoch wissen ganz genau, was Stil hat, sie halten sich ersichtlich war, dass diese Personen sehr bewusst aber an keine präzisen vorschläge, sondern su- wohnen, musste das Problem in der Fragestellung chen ihre eigenen Lösungen. Sie interessieren sich liegen. Wenn zwei Leute, die ihre Wohnungen voll- zwar dafür, was auf dem markt erhältlich ist, ma- kommen unterschiedlich eingerichtet haben, bei- chen aber – ganz wörtlich – am Ende «ihr eigenes de ihren Stil als «klassisch» beschreiben, wird der Ding». Begriff «klassisch» entleert. Er, wie jede andere Stilbeschreibung auch, verliert seine Bedeutung, So gibt es in jeder Wohnung, die wir besuchten, weil die Beschreibung mit der gelebten Realität möbelstücke, «die da eigentlich nicht reinpassen.» nicht viel gemein hat. Die menschen antworten auf In einer modernen Eigentumswohnung steht ein die Stilfrage zwar, sie wohnten modern, klassisch antiker Apothekerschrank, in einer älteren und von oder schlicht, weil sie damit auf bekannte Begriffe der Einrichtung her ziemlich zusammengewür- zurückgreifen, für ihren Wohnalltag ist die Frage felten findet sich ein Design-Klassiker, in der jedoch irrelevant. Sie interessieren sich nicht Designer-Wohnung wiederum das Billig-Regal. dafür, wie «ihr» Stil heisst. Denn sie wollen Stil Neutrale Grossmöbel kombinieren gut mit persön- haben, aber keinen bestimmten. lichen Kleinteilen, das Familienerbstück wird zweckentfremdet, ein selbst gemaltes Bild diktiert Diesen Weg von vorgefertigten Kategorien hin zur das Farbschema der ganzen Wohnung. Am deut- Umsetzung des persönlichen Stils könnte man, lichsten drückt sich der Unwille gegenüber vorde- ganz «zeitgemäss», als «Ekklektizismus» oder finierten Stilen in der Tatsache aus, dass vor allem «Individualismus» bezeichnen. Doch damit würde Kleinteile, aber auch grössere möbel selber ange- man nur weitere Kategorien schaffen, die die fertigt oder angepasst werden. Die Lust, selber Realität nicht vollständig erfassen. Ausgehend von Hand anzulegen, zu kreieren, ist beim Wohnen be- der Begegnung mit Wohnenden in der Schweiz sonders stark verbreitet. Denn hier definiert man halten wir Colin Campbells Begriff vom «Craft sich selbst. Und dieses Selbst bedarf keiner Stil- Consumer» und Christiane Lemieuxs Beschrei- 15 vorgaben. 15 Campbell, Colin. «The Craft Consumer: Culture, craft and consumption in a postmodern society.» 16 vgl. Cannell, michael. «Design Well Within Reach.» 28 WIE DIE SCHWEIZER WIRKLICH WOHNEN EINE TRENDSTUDIE ZUR ENTWICKLUNG NEUER WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN 29
Erkenntnisse aus dem Fotowettbewerb II stilfrage Neben den aufschlussreichen Kontrasten Auch sind die Teilnehmer bei der Frage nach zwischen den für den Fotowettbewerb hoch- ihrem Wohnstil auf der Suche nach Begriffen, geladenen und den privat aufgenommenen die möglichst vage und allgemein bekannt Wohnfotos (siehe oben, «Erkenntnisse aus sind – denn sie folgen am liebsten keinem dem Fotowettbewerb I») gibt es zwischen un- ausser ihrem eigenen Stil. serer ethnografischen und der Online-Arbeit So ähneln sich zwar die Begriffe, die die auch wichtige Parallelen. Wohnenden als Stilbeschreibungen kennen [«modern» (85 x), «gemütlich» (45 x) und rückzugsort «klassisch» (18 x) waren die meist genannten Aus einem Drop-Down-menü sollten die Wett- Antworten auf unsere vorgabenfreie Frage], bewerbsteilnehmer auswählen, ob ihr Lieb- zwei «moderne» Stile haben jedoch in der lingsplatz «Raum», «möbelstück», «Aussicht», Umsetzung nur selten Gemeinsamkeiten. «Accessoire», «Atmosphäre» oder «Aktivität» Die Fotos zeigen, dass auch «gemütlich» ganz sei. 37 % der Teilnehmer identifizierten ihren unterschiedlich verstanden werden kann und Lieblingsplatz als eine «Atmosphäre». die Frage nach dem Stil somit ins Leere führt. Im vergleich zu «Raum» oder «möbelstück» Nur mit einem Stil möchten die Schweizer ist eine Atmosphäre etwas, das die Wohnen- wirklich wohnen: ihrem. den selbst kreieren und nachvollziehen kön- nen. Das Ergebnis bestätigt also die Wohnung als Rückzugsort, in dem sich keine äusseren Einflüsse aufdrängen, sondern jeder sich sel- WIE BEURTEILEN DIE mENSCHEN KATALOGE UND mÖBELHÄUSER? ber sein kann. Auch wenn die Schweizer gerne selber Hand an- sprechend konkrete vorstellungen davon, wie das neutralität legen und gestalten: Inputs, um den eigenen Stil Objekt, das sie brauchen, auszusehen hat. So Für die Frage, wo in der Wohnung ihr Lieb- zu kreieren, sind willkommen und nötig. Dies auch suchen sie beispielsweise einen Glastisch, von lingsplatz liege, waren keine Antworten vor- deshalb, weil nicht jeder Hobby-Schreiner oder dem sie ein konkretes Bild im Kopf haben. Weshalb gegeben. Zwar befinden sich die meisten Lieb- «Gemütlich» (1) Polstermacher ist. Sowohl für die Kleinteile als seine Tischbeine nicht aus Aluminium, sondern lingsplätze – ein Drittel – im «Wohnzimmer», auch für die möbel lassen sich die Wohnenden schwarz lackiert sein sollen, das wissen die Leute daneben gab es jedoch keinen weiteren oft deshalb von aussen inspirieren. Um zu erfahren, jedoch nicht. Die Antwort lautet: «Ich mag es ein- genannten Begriff. wie Inspiration abläuft und wirkt, wurde mit den fach.» Geschmack orientiert sich an dem, was man Wie in der ethnografischen Studie deuten auch Informanten eingehend darüber diskutiert. Wir schon kennt – ihn in Worte zu fassen, ist für die hier Beschreibungen wie «Familienzimmer», schauten mit ihnen auch Kataloge an und beglei- meisten unmöglich. «Leseecke» und «ein Tisch für alles» auf eine teten sie in Filialen von möbel Pfister. flexible und neutrale Funktion von Räumen Weil die Wohnenden ihren Geschmack so gut ken- und möbelstücken hin. Nicht die möbel, Dabei zeigte sich, dass die Frauen und männer, nen, ist der Begriff der «Beratung» immer mehr sondern all das, was sie umgibt, wird zum die an dieser Studie teilgenommen haben, ihre veraltet. Denn in dem moment, da sie den Service Wohnen. «Gemütlich» (2) Bedürfnisse und ihren ganz persönlichen des möbelhändlers wahrnehmen, fühlen sie sich Geschmack sehr gut kennen – und sie haben ent- bereits ausreichend informiert. Entsprechend hat 30 WIE DIE SCHWEIZER WIRKLICH WOHNEN EINE TRENDSTUDIE ZUR ENTWICKLUNG NEUER WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN 31
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