Wie die schweizer wirklich wohnen - EINE ETHNOGRAFISCHE STUDIE ZUm WOHN- UND EINRICHTUNGS - vERHALTEN

Die Seite wird erstellt Frank Marx
 
WEITER LESEN
Wie die schweizer wirklich wohnen - EINE ETHNOGRAFISCHE STUDIE ZUm WOHN- UND EINRICHTUNGS - vERHALTEN
wie die schweizer wirklich wohnen
EINE ETHNOGRAFISCHE STUDIE ZUm WOHN- UND EINRICHTUNGS -
vERHALTEN

              EINE TRENDSTUDIE ZUR ENTWICKLUNG NEUER WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN   1
Wie die schweizer wirklich wohnen - EINE ETHNOGRAFISCHE STUDIE ZUm WOHN- UND EINRICHTUNGS - vERHALTEN
Impressum:
Wie die Schweizer wirklich wohnen                                                       vORWORT: DIE WOHNENDEN vERSTEHEN
Eine ethnografische Studie zum Wohn- und Einrichtungsverhalten
Autor: Frerk Froböse; mitarbeit: Judith Schubiger                                       Als grösster möbelfachhändler der Schweiz be-        Es war für uns wichtig, die Fragen, die uns am
Betreuung GDI: Karin Frick (Head of Research, member of the Executive Board)            schäftigen wir uns intensiv mit dem Wohnverhal-      Herzen liegen, direkt an die Wohnenden richten
Betreuung Pfister: Carlos Friedrich (Leiter marketing Kommunikation, mitglied der GL)   ten der hier lebenden menschen. Damit wir ihnen      zu können – wie sich herausstellte, war das eine
Redaktion: Esther Banz, bürobanz, und Alain Egli, GDI                                   ein gutes Angebot an Produkten und Dienstleis-       gute Entscheidung. Heute verstehen wir besser,
© 2011 möbel Pfister AG und GDI Gottlieb Duttweiler Institute                           tungen bieten können, bemühen wir uns, unsere        was die Wohnenden selber für Fragen an ihre
                                                                                        Kunden gut zu kennen und Ihre Bedürfnisse zu         Einrichtung und an uns als möbelhändler haben.
Herausgeber:                                                                            verstehen.
Möbel Pfister AG                                                                                                                             Wir sind einen grossen Schritt weiter. Nun wird es
Bernstrasse Ost 49; CH-5034 Suhr (AG)                                                   Die ethnografische Forschungsarbeit, deren Ergeb-    unsere Aufgabe sein, das neu erlangte verständnis
Tel. +41 (0) 62 855 44 33; info@pfister.ch; www.pfister.ch                              nisse wir in dieser Studie vorstellen, hat uns nah   in Produkt- und Serviceangebote zu übersetzen.
GDI Gottlieb Duttweiler Institute                                                       an die menschen gebracht – nämlich in ihre Woh-      Gedankt sei all denen, die ihre Türen öffneten und
Langhaldenstrasse 21; CH-8803 Rüschlikon (ZH)                                           nungen. Die Forscher, die wir zusammen mit dem       sich für unsere Fragen Zeit nahmen.
Tel. +41 (0) 44 724 61 11; info@gdi.ch; www.gdi.ch                                      GDI auf die Reise schickten, lernten im direkten
                                                                                        Gespräch die aktuellen Bedürfnisse der Schweizer     Carlos Friedrich, Marketingleiter Pfister
Fotos (inkl. Titelbild): Während unserer Forschungsarbeit entstanden.                   an ihr Zuhause und was sich darin befindet kennen.
Die Informantinnen und Informanten unseres Projekts fotografierten selbst.

2   WIE DIE SCHWEIZER WIRKLICH WOHNEN                                                                               EINE TRENDSTUDIE ZUR ENTWICKLUNG NEUER WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN       3
Wie die schweizer wirklich wohnen - EINE ETHNOGRAFISCHE STUDIE ZUm WOHN- UND EINRICHTUNGS - vERHALTEN
«Nicht da ist man daheim, wo man seinen Wohnsitz hat,
                        sondern wo man verstanden wird.»

                 Christian morgenstern, in «Stufen», 1917

                                                                      vORWORT: NEUE WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN

                                                                      Wie werden die menschen morgen wohnen?                umsonst bezeichnete der Kommunikationstheo-
                                                                      Woran orientieren sie sich beim Einrichten? –         retiker marshall mcLuhan Wohnungen als unsere
                                                                      Diese Fragen stellte sich das GDI Gottlieb Dutt-      «dritte Haut» (neben Epidermis und Kleidung).
                                                                      weiler Institut, das den gesellschaftlichen Wandel
                                                                      und seine Auswirkungen auf das Konsumverhalten        So haben wir den Konsumenten beim Wohnen
                                                                      untersucht. Statistische Analysen halfen hier nicht   zugeschaut und lange Gespräche mit ihnen ge-
                                                                      weiter. Denn Durchschnittswerte – etwa über           führt. mit ethnografischen methoden haben wir
                                                                      Haushaltsgrösse, Wohnfläche pro Person oder           erforscht, was Wohnen für die Schweizer bedeutet
                                                                      verweildauer in einer Wohnung – sagen wenig           und wie sich das Wohnverhalten und das verhält-
                                                                      darüber aus, wie menschen wirklich wohnen.            nis zur Einrichtung im Laufe der Zeit ändern.
                                                                                                                            Dadurch gelingt uns hier ein in dieser Form für die
                                                                      Unsere Forscher sind daher dem noch jungen            Schweiz erstmaliger, direkter und vorurteilsfreier
                                                                      Ansatz der «material Culture Studies» gefolgt:        Einblick in die Intimsphäre des Wohnens.
                                                                      Die nützlichen, guten und schönen Dinge, mit de-
                                                                      nen wir uns umgeben, sind nicht bloss Requisiten,     Karin Frick, Forschungsleiterin GDI
                                                                      sondern prägen unser Denken und Handeln – nicht

4   WIE DIE SCHWEIZER WIRKLICH WOHNEN                                                              EINE TRENDSTUDIE ZUR ENTWICKLUNG NEUER WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN        5
Wie die schweizer wirklich wohnen - EINE ETHNOGRAFISCHE STUDIE ZUm WOHN- UND EINRICHTUNGS - vERHALTEN
INHALT

                 Einleitung                                               7

                 Wo liegt Wohnen in der Trendlandschaft?                 11

                 Welche Bedeutung hat Wohnen heute?                      13

                 Für wen richten sich die Wohnenden ein?                 15

                 Welche Gegenstände sind den menschen wichtig?           18

                 Wie verändert sich die Rolle von möbeln?                21

                 Wie beeinflussen veränderungen die Wohnsituation?       24

                 Wieso «ohne Stil» und doch nicht «stillos»?             27

                 Wie beurteilen die menschen Kataloge und möbelhäuser?   31

                 Fragen und Antworten                                    34
                                                                              EINLEITUNG
                 Zusammenfassung                                         35
                                                                              «Wohnen» bezeichnet ein weites Themenfeld.           So verwundert es nicht, dass neben den verschiede-
                 Anhang                                                  36   Architekten beschäftigen sich damit, genau wie       nen Bau- und Ästhetik-Profis auch jeder Einzelne
                                                                              Dekorateure; Designer wie Künstler; auch Geo-        eine menge über das Wohnen weiss. Designmaga-
                 Gewinner Wettbewerb mein Lieblingsplatz                 37   grafen und Soziologen. Jedoch meinen sie mit dem     zine zeigen uns, wie man sich einrichten sollte,
                                                                              Begriff «Wohnen» nicht immer dasselbe. Aus           und bei verwandten, Freunden und im Tv sehen
                                                                              sozialwissenschaftlicher Sicht bedingt die Art und   wir, wie andere ihr Zuhause gestaltet haben.
                                                                              Weise, wie man wohnt, die Zugehörigkeit zu einem
                                                                              Haushalt, einem sozio-ökonomischen milieu, einer     Es ist nicht das Anliegen dieser Studie, den schon
                                                                              Gesellschaft. Architekten und Gestalter suchen       vorhandenen professionellen und persönlichen
                                                                              eher nach neuen Formen, anhand derer sich das        Sichtweisen eine weitere hinzuzufügen. Auch
                                                                              Wohnen entfaltet. Die englische Sprache zeigt, wie   möchten wir mit dem Titel «Wie die Schweizer
                                                                              bedeutend das Wohnen fürs Leben ist: beides          wirklich wohnen» nicht suggerieren, wir hätten die
                                                                              heisst «to live». Die meisten menschen verbringen    Wohnfrage endgültig und abschliessend geklärt.
                                                                              einen grossen Teil ihrer Zeit dort, wo sie gerade    Jedoch bringt das Adjektiv «wirklich» zum Aus-
                                                                              wohnen – entsprechend wichtig ist für sie diese      druck, dass unser Augenmerk auf die gelebte
                                                                              Umgebung, die sie selber (mit-)gestalten können.     Realität der in der Schweiz wohnhaften Personen

6   WIE DIE SCHWEIZER WIRKLICH WOHNEN                                                                     EINE TRENDSTUDIE ZUR ENTWICKLUNG NEUER WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN       7
Wie die schweizer wirklich wohnen - EINE ETHNOGRAFISCHE STUDIE ZUm WOHN- UND EINRICHTUNGS - vERHALTEN
gerichtet ist. Welches sind ihre Wünsche und                             Ethnografie
Bedürfnisse, was ihre Ansprüche und Fragen                               Wie die Namensverwandtschaft verrät, hat die
ans Wohnen? Das bestehende Expertenwissen                                Ethnografie ihren Ursprung in der Ethnologie:
möchten wir aus Sicht der Wohnenden hinter-                              hier bedeutet Ethnografie die holistische
fragen und weiterentwickeln.                                             Beschreibung eines volksstammes oder einer
                                                                         Kulturgruppe durch eine/n Ethnologin/en nach
Zu diesem Zweck haben wir Familien und Allein-                           mehrmonatigem Forschungsaufenthalt.
stehende bei sich zuhause besucht. Da wir keinen                         Heute ist die Ethnografie eine in allen
Fragenkatalog an die Wohnenden herantragen,                              Sozialwissenschaften vielfach angewandte
sondern die Wohnung aus ihrer Sicht erfahren                             Forschungsmethode. Sie ergänzt statistische
wollten, haben wir uns einer ethnografischen                             Auswertungen, indem sie ohne vorformulierte
methode bedient und dafür sowohl die materiellen                         Hypothesen oder modelle in enger Zusammen-
Beschaffenheiten als auch die sozialen Gegeben-                          arbeit mit Informanten ein Phänomen aus
heiten der Wohnung erforscht.1 Das heisst konkret:                       ihrer Sicht hinterfragt.
Wir haben die Personen gebeten, Fotos von ihren                          Aufgrund der möglichkeit in einer sich stetig
Räumen zu machen und festzuhalten, was ihnen                             weiter ausdifferenzierenden Gesellschaft
positiv, negativ oder als momentan im Wandel                             individuelle Erfahrungen ganzheitlich zu
befindliches Detail auffällt. Im weiteren Gespräch                       erforschen, findet die Ethnografie auch in der
– und in mehreren Besuchen – haben wir uns über                          marketing-, markt- und Trendforschung im-
die Fotos, die Gegebenheiten und die persönlichen                        mer grösseren Anklang.
Ansichten unterhalten und das Thema Wohnen
vertieft.                                                                                                                  Betrachten der Fotos werden sie sofort wieder                     alles bekannt ist. Eine Altersresidenz ist anders
                                                                                                                           wach und lassen sich in Worte fassen.                             eingerichtet als eine Studentenwohnung, Banker
Bewusst haben wir auf eine anfängliche Hypothese                      chen, warum sie nun diesen oder jenen Tisch                                                                            haben meist einen anderen Geschmack als Gleis-
verzichtet. Wir wollten nicht bekannte Tatsachen                      mögen oder wie sie ihren Einrichtungsstil nennen     Anders als bei Ferienreisen, wo menschen selber                   arbeiter, das Leben auf dem Land unterscheidet
wie die schrumpfende Haushaltsgrösse über-           2
                                                                      würden. Unser vorgehen bot einen Ausweg aus          Alben anfertigen, ihre Fotos auf Facebook und                     sich von dem in der Stadt – all dies sind Gemein-
prüfen, sondern neue Fragen zum Wohnen entwi-                         dieser Situation: Die Teilnehmenden fotografierten   Flickr mit der Welt teilen4, ist das Wohnen für die               plätze.
ckeln, die in erster Linie für die Frauen und männer                  zuerst die eigene Wohnung; danach unterhielten       meisten Privatsache oder einfach eine Selbst-
selbst eine Rolle spielen. Dadurch, dass wir die                      wir uns über die Bilder. Die Aufnahmen schufen       verständlichkeit, sodass wenige Bilder von der                    Aber die menschen werden ebenso von ihrem
Konversation in keine bestimmte Richtung führten,                     den Boden für die weitere Forschungsarbeit. Denn     Wohnungseinrichtung gemacht werden. Die Fotos,                    materiellen Umfeld (und besonders von ihrer
konnten wir uns von den Ansichten der Wohnenden                       Bilder helfen, Eindrücke und Empfindungen in         die diese Studie zieren und ihre eigene non-verbale               Wohnung) geformt, wie sie es selber formen.5
leiten lassen. Wenn materielle Dinge selbstver-                       Worte zu fassen – beim Betrachten eines Albums       Geschichte erzählen, wurden während unserer                       Der englische Ethnologe und material-Culture-
ständlich werden und den Alltag prägen, ohne dass                     mit Urlaubsfotos spielt es sich ähnlich ab: zehn     Forschungsarbeiten von den Wohnenden gemacht.                     Experte Daniel miller beschreibt, wie das mate-
es auffallen würde, nimmt man sie kaum mehr                           Jahre nach einer Reise sind viele Erinnerungen       Der «Umweg» über diese Fotos hatte einen wei-                     rielle Umfeld, in dem ein mensch aufwächst, ihn
wahr. Es fällt menschen schwer darüber zu spre-
      3
                                                                      und Empfindungen vergessen, doch durch das           teren vorteil: Dadurch liess sich das (methodische)               für sein ganzes Leben prägt: Jemand, der in einer
                                                                                                                           Problem lösen, dass zum Wohnen eigentlich schon                   Schweizer Stadt gross wird, denkt anders als

1
  vgl. Daniels, Inge. «Ethnographies of the Home. Anthropology of the Everyday.»
2
  vgl. Bundesamt für Statistik (Hrsg.). «Die Bevölkerung der Schweiz 2009.»                                                4
                                                                                                                               vgl. Froböse, Frerk. «Das Bild vom Wandern in der Schweiz.»
3
  vgl. miller, Daniel. «Stuff.»                                                                                            5
                                                                                                                               vgl. miller, Daniel. «vom Trost der Dinge.»

8   WIE DIE SCHWEIZER WIRKLICH WOHNEN                                                                                                                           EINE TRENDSTUDIE ZUR ENTWICKLUNG NEUER WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN          9
Wie die schweizer wirklich wohnen - EINE ETHNOGRAFISCHE STUDIE ZUm WOHN- UND EINRICHTUNGS - vERHALTEN
jemand aus einem walisischen Dorf.6 Diese Prä-       Teilnehmer
gung entsteht nicht nur durch unterschiedliche       Insgesamt haben 16 Informantinnen und
religiöse, kulturelle und soziale Einstellungen,     Informanten aus der Deutschschweiz an un-
sondern auch durch die Dinge, von denen men-         serem Projekt teilgenommen. Nicht ihr Pass,
schen umgeben sind, draussen wie drinnen.            sondern ihr Wohnort machten die Teilnehmer
                                                     – männer und Frauen im Alter zwischen
Durch die Auseinandersetzung mit dem auf den         22 und 85 Jahren – zu Schweizern im Sinne
Fotos Abgebildeten liessen sich die Gemeinplätze     unserer Studie.
umgehen und neue Fragen entwickeln. Ferner
haben wir die Teilnehmenden beim Wohnen be-
obachtet, mit ihnen Kataloge angeschaut und sie
in Einrichtungshäuser begleitet.

Um die Fragen und Erkenntnisse, die wir mit Hilfe
der Informanten/innen erarbeiten konnten, in einen
grösseren Kontext zu betten und unsere Arbeit auf
ihre Allgemeingültigkeit zu prüfen, haben wir        Zwar waren Einblicke in reelle Wohnsitua-
auf der Seite www.meinlieblingsplatz.ch einen        tionen und nicht statistische Relevanz das Ziel
Fotowettbewerb durchgeführt. Auch daraus er-         unserer Arbeit; dennoch sind wir froh, sowohl
gaben sich für unsere Fragestellungen relevante      via informelle als auch über solche durch
Erkenntnisse. Es sind diese Fragen, die anfangs      Pfister-Filialen vermittelte Kontakte eine
noch eher abstrakt und unvoreingenommen waren        grosse Diversität der Informanten erreicht zu       WO LIEGT WOHNEN IN DER TRENDLANDSCHAFT?
und später konkreter wurden, die die Struktur der    haben.
Studie bilden. Es sind neue Fragen, sie streben                                                          Kinder kleiden sich anders als ihre Eltern. Auch                      Im Kontext der Schnelllebigkeit unserer Zeit ist
danach zu verstehen, wie die Schweizer wirklich                                                          kommuniziert eine neue Generation sehr unter-                         das Wohnen ganz allgemein ein Gegentrend.7
wohnen. Die vorliegende Studie orientiert sich an                                                        schiedlich von der ihr vorangegangenen, sie kauft                     Anders als zum Beispiel bei der verschiebung von
diesen Fragen und ist entsprechend aufgebaut.                                                            anders ein und hört andere musik. moden, Stile                        Kommunikation und Konsum ins Internet und
                                                                                                         und Trends verändern sich selbst innerhalb einer                      andere technische Entwicklungen vollziehen
                                                        6        3      3      1     1     1        1    Generation, oft binnen weniger Jahre, manchmal                        sich hier die veränderungen sehr langsam. Aus-
                                                       ZH        BL     LU     AG    AI    SG       ZG
                                                                                                         jede Saison. Ein wichtiges Kennzeichen der Trend-                     genommen von saisonalen Anpassungen, verän-
                                                                                                         forschung ist, dass sie bei aller Konzentration auf                   dert sich die Art und Weise, wie menschen in der
                                                                                                         veränderungen und Trends auch Beständiges nicht                       Schweiz wohnen, auf den ersten Blick kaum.
                                                                                                         ausser Acht lässt und Gegentrends erfasst. So                         Ein Stuhl, ein Bett oder ein Sideboard ist ein halbes
                                                                                                         antwortet die Slow-Food-Bewegung auf immer                            Jahr nach seinem Erscheinen nicht «out» –
                                                                                                         stärker vorgefertigtes Essen und dörfliche Bauern-                    möbelstücke überdauern länger als Technik oder
                                                            7           5            4          1        märkte auf globalisierte Wertschöpfungsketten.                        Kleider.
                                                       Familie        Allein        Paar        WG

6
    vgl. miller, Daniel. «Stuff.»                                                                        7
                                                                                                             vgl. Bosshart, David, K. Frick, m. Hauser. «Zukunft des Wohnens. Wie wohnt die Schweiz morgen?»

10 WIE DIE SCHWEIZER WIRKLICH WOHNEN                                                                                                         EINE TRENDSTUDIE ZUR ENTWICKLUNG NEUER WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN                 11
Wie die schweizer wirklich wohnen - EINE ETHNOGRAFISCHE STUDIE ZUm WOHN- UND EINRICHTUNGS - vERHALTEN
In der Dauerausstellung «möbel und Räume                                                                                                                                                      In der Zwischenzeit hat sich in unseren Wohnun-
Schweiz» im Landesmuseum Zürich lässt sich be-                                                                                                                                                gen freilich einiges verändert – man denke an die
obachten, wie sich zum Ende des 19. Jahrhunderts                                                                                                                                              gute Stube, die mitte des 20. Jahrhunderts nur zu
die möbel vom Haus trennten und die Einrichtung                                                                                                                                               besonderen Anlässen benutzt wurde, und heute so
eine vom Haus unabhängige Kategorie wurde. Bis                                                                                                                                                kaum mehr existiert. Insgesamt haben sich die
dato waren Bank und Tisch fest mit der Wand                                                                                                                                                   Wohnformen seither aber nur wenig verändert. Im
verbunden gewesen; jedes Zimmer hatte durch die                                                                                                                                               Haushalt gibt es zwar Technik, aber nicht in dem
im Haus und auf dem Hof stattfindende Arbeit sei-                                                                                                                                             Ausmass, wie einst prognostiziert wurde. Dies, ob-
ne Funktion. Nachdem die menschen zum Arbeiten                                                                                                                                                wohl die Technik bereitstehen würde und in vielen
in die Städte gezogen waren und die Wohnung als                                                                                                                                               anderen Lebensbereichen tatsächlich nicht mehr
Ort der Erwerbsarbeit ausgedient hatte, wurden                                                                                                                                                wegzudenken ist.
die möbel mobil, flexibel und austauschbar.
                                                                                                                                                                                              Während ein Smartphone nichts mehr mit einem
                                                                                                                                                                                              Telegrafen gemein hat und unsere Art zu kommu-
     Die Langsamkeit des Wohnens                                                                                                                                                              nizieren mehrfach grundlegend verändert wurde,
     Diese Charts gehen aus der Statistik von                                                                                                                                                 ist ein Stuhl, der vor hundert Jahren produziert
     möbel Pfister hervor. In keiner der Produkte-                                                                                                                                            wurde, heute gut als solcher wieder zu erkennen.
     kategorien gibt es innerhalb der ersten fünf                                                                                                                                             Abgesehen von leichten Strömungen in der Formen-
     Jahre viele Wiederholungskäufe. Das bedeu-                                                                                                                                               sprache verändern sich möbel nicht. Das Themen-
     tet, dass sich die Wohnungen nur langsam                                                                                                                                                 feld Wohnen-Einrichten bildet einen Kontrast zu
     verändern. Einzig in der Kategorie Jugend-                                                                                                                                               schnelllebigen moden und rasanter technischer
     zimmer kommt es zu einem erhöhten Wert,                                                                                                                                                  Entwicklung.                                           WELCHE BEDEUTUNG HAT WOHNEN HEUTE?
     weil Kinder häufig aufeinander folgen.
                                                                                                                                                                                              Gleichzeitig verändert sich die Gesellschaft derzeit   Wir haben in Zürich eine Wohnung besucht, die       Eine andere Schweizerin, deren Wohnung wir ken-
        Polstermöbel                                                 Wohnregale                                                   Jugendzimmer
                                                                                                                                                                                              grundlegend, und das Wohnen ist direkt davon           jedes Jahr mehrere Wochen leer steht. Ihre          nen lernen durften, arbeitet als Trainee bei einer
                                                                                                                                                                                              betroffen. So steigt – als eines von vielen Beispie-   Bewohner, ein junges Ehepaar, befinden sich oft     Grossbank. Sie hat schon in mexiko und Gross-
                                        Wiederholungskauf bis 2010

                                                                                                                                                                 Wiederholungskauf bis 2010
                                                                                                     Wiederholungskauf bis 2010
             Erstkauf in 2005: (100%)

                                                                          Erstkauf in 2005: (100%)

                                                                                                                                      Erstkauf in 2005: (100%)

                                                                                                                                                                                              len – die Lebenserwartung. Auch wird viel Er-          auf Geschäfts- und Studienreisen. Er arbeitet als   britannien gelebt. Ihr derzeitiger Freund wohnt in
                                                                                                                                                                                              werbsarbeit (wieder) von zuhause erledigt. Beides      Wirtschaftsjournalist, sie als modedesignerin.      London; sie fliegt jedes zweite Wochenende dort-
                                                                                                                                                                                              verändert die Wohnformen.8 Dennoch gilt: Die           Gute Hotels in den metropolen dieser Welt sind      hin. Obwohl sie also auch an keinen fixen Ort
                                                                                                                                                                                              menschen orientieren sich bei der Bewältigung          ihnen nicht fremd, dienen sie doch häufig als       gebunden ist und das mobile Leben schätzt, hat
                                                                                                                                                                                              dieser veränderungen nicht an Trends und moden,        Zuhause auf Zeit. Dennoch kommen beide immer        sie anfangs in Zürich – sie war gerade in eine halb-
                                                                                                                                                                                              sondern an Altbewährtem, auch bei der Einrich-         wieder – und gerne – in ihre eigene Wohnung nach    möblierte Wohnung gezogen – sehr darunter
                                                                                                                                                                                              tung.                                                  Zürich zurück, obwohl sie hier von keinem Hotel-    gelitten, keinen persönlich gestalteten «Rück-
                                                                                                                                                                                                                                                     Service verwöhnt werden. Warum, haben wir           zugsort» zu haben. Sie hatte das Gefühl, sich
                                                                                                                                                                                                                                                     gefragt; und die Antwort war, dass die Wohnung      nirgends wirklich ausruhen zu können. Obwohl sie
                                                                                                                                                                                                                                                     für sie ein «Rückzugsort» sei. Rückzug wovon?       lediglich die arbeitsfreien Abende und einige
                                                                                                                                                                                                                                                     «Reden, Leute, Telefonate», «Ein Ort zum Ballast-   Wochenenden dafür Zeit hatte, kam sie mit dem
                                                                                                                                                                                                                                                     Abwerfen.»                                          Einrichten ihrer Wohnung rasch voran; bei jedem
                                                                                                                                                                                                                                                                                                         unserer Besuche waren wir erstaunt über die
8
    vgl. Häußermann, Hartmut, W. Siebel, «Soziologie des Wohnens. Eine Einführung in Wandel und Ausdifferenzierung des Wohnens.»

12 WIE DIE SCHWEIZER WIRKLICH WOHNEN                                                                                                                                                                                                                                            EINE TRENDSTUDIE ZUR ENTWICKLUNG NEUER WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN       13
Wie die schweizer wirklich wohnen - EINE ETHNOGRAFISCHE STUDIE ZUm WOHN- UND EINRICHTUNGS - vERHALTEN
veränderungen. mittlerweile ist sie sehr zufrieden                 geht das Wohnen über die eigenen vier Wände
mit ihrem Zuhause.                                                 hinaus. In welchem Quartier jemand lebt, welche
                                                                   öffentlichen Angebote und Infrastrukturen er nutzt
Nicht nur für menschen, die oft unterwegs sind,                    – auch das ist Teil des Wohnens und sollte in der
ist die eigene Wohnung als Rückzugsort von                         Debatte nicht zu kurz kommen. Gleichzeitig stimmt
Bedeutung. Wir haben alle unsere Informanten                       Strebel zu, dass sich – abgesehen von der reinen
gefragt, was für sie das Wohnen ausmache.                          Schutzfunktion, die das Wohnen an jedem Ort und
«Wohlfühlen» und «Ausruhen» waren Antworten,                       zu jeder Zeit hat9 –, eine verstärkte Tendenz hin
mit denen wir gerechnet hatten und die auch oft                    zur Wohnung als Rückzugsort ausmachen lässt.
vorgebracht wurden. Sie beziehen sich allerdings                   Auch in seiner Analyse bedeutet das in erster Linie,
nicht nur aufs Wohnen, schliesslich lässt es sich                  dort nach einem langen und harten Arbeitstag die
auch beim Reisen ausruhen und wohl fühlen.                         Batterien aufzuladen.10
Deshalb halfen uns diese Aussagen bei der Frage
nach der Bedeutung der eigenen Wohnung nicht                       Erholsam ist es in der eigenen Wohnung vor allem
weiter. Das ebenfalls oft genannte Stichwort                       deshalb, weil man dort mehr als anderswo «sich
«Rückzugsort» – oder gar «Rückzugszimmer»,                         selber» sein kann, also selbstbestimmt ist. Die Art,
«Rückzugsstube» – ist aufschlussreicher. Wir                       wie wir kommunizieren, arbeiten und uns bewe-
haben festgestellt, dass sich die menschen in der                  gen, ist vielfach von aussen vorgegeben. Der Com-
Schweiz gerne in ihre Wohnungen zurückziehen                       puter am Arbeitsplatz, das Natel auf dem Heimweg
– nach einem Camping-Urlaub ebenso wie im                          – wir benutzen beides ganz selbstverständlich,
hektischen Berufsalltag. «Rückzugsort» bedeutet                    aber in der Wohnung können wir besser auf die
nicht, dass die menschen zurückgezogen leben                       eigenen Bedürfnisse hören und so beispielsweise              FÜR WEN RICHTEN SICH DIE WOHNENDEN EIN?
möchten. vielmehr ist die eigene Wohnung der Ort,                  aus mal «offline» oder schlicht egoistisch sein.
an dem man sich ausruhen kann; sie ist einem                       Eine Autorin von USA Today hat in Amerika den                Bei unseren Besuchen in den verschiedenen Haus-      gesehen werden?» Die Antwort auf ihre selbst
ganz und gar vertraut, man hat sie ja auch selber                  Trend ausgemacht, dass mütter sich für den Abend             halten haben wir die Informanten gebeten, ein Foto   gestellten Fragen gaben sie dann auch selber; sie
eingerichtet. Hier befinden sich die persönlichen                  ein eigenes Zimmer einrichten, weil ihr Alltag in            von sich selbst zu komponieren. Das Bild sollte      machten Fotos von sich beim Fernsehen, Lesen,
Gegenstände und das Regal steht da, wo man es                      allen Belangen von anderen, meist ihren Kindern,             sie in ihrer Wohnung zeigen. Die Teilnehmenden       Kochen, Frühstücken, E-mail-Checken.
eigenhändig hingestellt hat. Oft hörten wir die                    bestimmt ist.   11
                                                                                                                                mussten also selber entscheiden, wie sie sich und
Aussage: «mir gefällt an meiner Wohnung, dass                                                                                   ihre Wohnsituation gerne in einem magazin – etwa     Darin, dass die Schweizer «normale» Bilder
ich sie selber eingerichtet habe.» Einzig zuhause                  Jeder braucht einen Ort, an dem seine eigenen                zum Thema Wohnen – abgebildet sähen. Nicht nur       «idealisierten» Bildern vorziehen, zeigt sich eine
sind auch die modernen Nomaden von dem um-                         Bedürfnisse vorrang haben, wo er von fremd-                  die entstandenen Bilder, auch die Diskussionen,      weitere Eigenschaft des zeitgenössischen Woh-
geben, was sie mögen.                                              bestimmt auf selbstbestimmt schalten kann.                   die während der Entscheidungsfindung über motiv      nens hierzulande: Die Leute fällen pragmatische,
                                                                   Kein Ort eignet sich dafür besser als die Wohnung,           und machart des Fotos stattgefunden haben, sind      auf den Alltag und sich selbst zugeschnittene
Wie uns Dr. Ignaz Strebel, wissenschaftlicher mit-                 die man sich selber eingerichtet hat.                        aufschlussreich. So ging es den Schweizern meist     Entscheidungen. Dass sie sich durchaus dafür
arbeiter am Wohnforum der ETH Zürich, erklärte,                                                                                 darum, kein «ideales», sondern ein «normales»        interessieren, wie andere wohnen und sich ein-
                                                                                                                                Bild abzugeben. Fragen, die sie sich selber stell-   richten, läuft dem nicht zuwider. Es dominiert die
                                                                                                                                ten, waren beispielsweise: «Womit verbringe ich      meinung, man solle sich in erster Linie für sich
9
   vgl. Gysi, Susanne. «Zwischen ‹Lifestyle› und Wohnbedarf. Was der mensch zum Wohnen braucht.»
   u. Häußermann, Hartmut, W. Siebel, «Soziologie des Wohnens. Eine Einführung in Wandel und Ausdifferenzierung des Wohnens.»
                                                                                                                                beim Wohnen am meisten Zeit?», «Was ist für mich     selbst einrichten – Repräsentationsüberlegungen
10
   vgl. Lederer, Arno. «Nichts mehr zu verbergen?»                                                                              Wohnen?» – und nicht: «Wie möchte ich gerne          spielen demgegenüber eine untergeordnete Rolle.
11
   Scott, megan K. «Women find a space of their own with mom caves.»

14 WIE DIE SCHWEIZER WIRKLICH WOHNEN                                                                                                                       EINE TRENDSTUDIE ZUR ENTWICKLUNG NEUER WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN       15
Wie die schweizer wirklich wohnen - EINE ETHNOGRAFISCHE STUDIE ZUm WOHN- UND EINRICHTUNGS - vERHALTEN
Das überrascht nicht, denn bei der Frage, womit       Erkenntnisse aus dem Fotowettbewerb I
zuhause Zeit verbracht wird, zeigte sich: Auch die
menschen, die gerne und viele Gäste haben und so
ihre Wohnung häufig zu einem recht öffentlichen
Raum werden lassen, verbringen mehr Zeit mit
Kleiderwaschen, Kochen oder Fernsehen. Für alle
sind diese Aktivitäten Teil des Wohnens und be-
anspruchen auch räumlich entsprechend Platz.
Obwohl es nach wie vor meist einen «Wohnraum»,
eine «Wohnstube» oder «Wohnküche» gibt (auch
beim Fotowettbewerb wurden 35 % der Lieblings-
plätze im Wohnbereich gemacht), werden auch
andere Räume mit Wohnen assoziiert. Und das           Wie dieses Bild (das die grösste Zustimmung
eigentliche Wohnzimmer dient heute vielfältigen       erhielt und damit den Publikumspreis ge-
Aktivitäten, es wird dort auch gearbeitet und ge-     wann) entsprechen viele der hochgeladenen
spielt. man ist pragmatisch. Wohnen orientiert sich   Fotos einem «Schöner Wohnen»-Ideal, be-
am Alltag.                                            kannt aus Katalogen und magazinen. Obwohl
                                                      diese idealisierten Wohnlandschaften – meist
                                                      ordentliche und komponierte Situationen mit
  www.meinlieblingsplatz.ch                           aufwändigem und teurem mobiliar und ohne
  Um unsere intimen Einblicke in wenige Schwei-       Personen – auf den ersten Blick den Ergeb-
  zer Wohnungen auf einen breiten Sockel zu           nissen der ethnografischen Studie widerspre-      Eine starke Trennung zwischen «öffentlich» und                       Geschichte der «Ausgrenzung und Eingrenzung
  stellen, führten wir unter www.meinlieblings-       chen, zeigt sich auf den zweiten Blick eine       «privat» gibt es daher nicht mehr. Besuchende, die                   von Funktionen und Personen».12 Eine Wohnung
  platz.ch einen Fotowettbewerb durch. Hier           interessante Kohärenz. Wie beschrieben, stellt    man kennt, dürfen auch in den Keller schauen                         kann heute Arbeitsplatz, Kinderspielplatz und
  stellten mehr als 250 Teilnehmer aus fast allen     die Wohnung einen Rückzugsort dar, an dem         (Leute, vor denen man die Waschküche verstecken                      Nachbarschaftstreffpunkt sein; Funktionen, die
  Kantonen ein Bild ihres Wohn-Lieblingsplatzes       man sich nicht nur von der Welt ausruhen,         möchte, kommen so gut wie nie zu Besuch). So                         immer auch ausserhalb der Wohnung erfüllt
  auf die Seite und beantworteten einige Fragen.      sondern seine eigene Individualität mittels der   erfüllen Räume heute ganz verschiedene Funk-                         wurden und werden. Im Gegenzug müssen andere,
  Aus den Fotos und den Angaben ergaben sich          Gestaltung des Wohnraums frei ausdrücken          tionen. Dieses Phänomen lässt sich auch bei der                      etwa die repräsentative, Funktionen aus der
  aufschlussreiche Kontraste und Parallelen zu        kann. Wenn anstelle von Familie, Freunden         Einrichtung erkennen: Im eigentlichen Wohn-                          Wohnung an andere Orte weichen: man trifft sich
  unseren Erkenntnissen aus der ethnografi-           und Bekannten dann die Internet-Öffentlich-       zimmer gibt es einen Arbeitstisch, die eigentliche                   im angesagten Café. Die Wahl des richtigen Cafés
  schen Arbeit.                                       keit einen Blick in die Wohnung bekommt,          Küche ist Treffpunkt für Familie und Freunde, die                    tritt an die Stelle der guten Stube mit repräsen-
                                                      dann muss sich der Rückzugsort, den die           eigentliche Waschküche soll dekoriert und wohn-                      tativer Funktion. Da die Wohnung zu anderen re-
  Drei monate, mehr als                               Wohnung darstellt, hinter einer idealisierten     lich eingerichtet werden.                                            präsentativen Orten einen Kontrast und einen
                                                      Komposition verbergen, um Rückzugsort zu                                                                               Rückzugsort darstellt, werden alle Funktionen,
  250 Teilnehmer aus allen
                                                      bleiben. Im Internet stellen die menschen ihre    Hartmut Häußermann und Walter Siebel be-                             die sie erfüllt, pragmatisch in die Einrichtung auf-
  Kantonen (ausser JU und UR),                        Wohnungen einer Öffentlichkeit zur Schau,         schreiben die Geschichte des Wohnens als eine                        genommen.
  Jury- und Publikumspreise                           die es bei ihnen zu Hause gar nicht gibt.

                                                                                                        12
                                                                                                             Häußermann, Hartmut, W. Siebel, «Soziologie des Wohnens. Eine Einführung in Wandel und Ausdifferenzierung des Wohnens.»

16 WIE DIE SCHWEIZER WIRKLICH WOHNEN                                                                                                       EINE TRENDSTUDIE ZUR ENTWICKLUNG NEUER WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN                         17
Wie die schweizer wirklich wohnen - EINE ETHNOGRAFISCHE STUDIE ZUm WOHN- UND EINRICHTUNGS - vERHALTEN
WELCHE GEGENSTÄNDE SIND DEN mENSCHEN WICHTIG?

Dadurch, dass die Personen, die an dieser Studie         Gross und Klein
teilnahmen, die Aufgabe hatten, ausgewählte Orte         Nachdem die Literatur zum Wohnen nicht auf
in ihrer Wohnung zu fotografieren, begaben sie           eine besondere Rolle der Kleinteile hinge-
sich eigenständig auf die Suche nach relevanten          wiesen hatte (sowohl Architektur als auch die
Fragen – sie waren nicht mit einem vorgegebenen          Soziologie beschäftigt sich meist mit dem
Fragenkatalog konfrontiert. Als die Fotos schliess-      Haushalt an sich), förderte die direkte Ausei-
lich vorlagen, fiel auf, wie stark sich die menschen     nandersetzung mit den Wohnenden und ihren
auf die Dekoration und persönliche Kleinteile, die       Fotografien hier Überraschendes zutage.
man so nur in der eigenen Wohnung findet, bezo-          Zwar kann nicht jedes Detail einer Wohnung
gen. Nur wenige Raumansichten, möbelkomposi-             eindeutig als «klein» oder «gross» bezeichnet
tionen und Idealbilder wurden als Gegenstand der         werden. Aber auf den Fotos lassen sich drei
Fotos gewählt. Begründet wurde der Fokus auf die         Kategorien erkennen:
Kleinteile mit deren emotionaler Bedeutung respek-
tive damit, dass die Accessoires eine momentan           Gross
gewünschte, praktische Lösung darstellen. Wir            Räume, Kompositionen, Schränke, Tische,
werten die Präferenz für Kleinteile, Accessoires         Stühle, Bänke, Sideboards, Sofas, Sessel
und persönliche Erinnerungsstücke selbst als             Klein emotional
Resultat: Beim Wohnen in der Schweiz spielen die         Fotos, Gemälde, Basteleien, Skulpturen,
kleineren Dinge heute die grössere Rolle.                Erinnerungsstücke, mitbringsel, Souvenirs
                                                         Klein praktisch
                                                         Teppiche, Lampen, Dekoration, Bilder,
                                                         Pflanzen, Küchengeräte, Kleinmöbel

Klein emotional: Das Gemälde eines befreundeten        Klein praktisch: Der Platz für das Sofa in der neu-
malers bestimmt das Farbschema des Raums, an           en Wohnung steht noch leer; Teppich und Bilder
dem sich alles andere orientiert.                      bieten schon ein Gefühl von Zuhause.

18 WIE DIE SCHWEIZER WIRKLICH WOHNEN                                                                         EINE TRENDSTUDIE ZUR ENTWICKLUNG NEUER WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN   19
Es wurde bereits aufgezeigt, dass die eigene                       das Reisesouvenir. Die Präferenz für Kleinteile
Wohnung primär als Rückzugsort bedeutend ist,                      geht aber weiter, sie schliesst pragmatische Ele-
den man sich selber schafft und gestaltet. Die                     mente mit ein.
möglichkeit, das Zuhause nach eigenen Wünschen
einzurichten und es somit auch vollkommen zu                       Wir haben menschen kennen gelernt, die erst seit
verstehen, lässt das Wohnen zu einem Lebensmit-                    kurzer Zeit in ihren Wohnungen leben. Da wäre
telpunkt werden.13 Allerdings ist in der Wohnung                   zum Beispiel eine kürzlich ins Leben gerufene
vieles vorgegeben, vor allem von der Architektur                   männer-WG in Zürich. Bei unserem ersten Besuch
und Struktur, aber auch von möbeln, die man meist                  lebten die jungen Herren in sehr unfertigen Ein-
nicht selber herstellen oder spontan ersetzen                      richtungen, die sie nach und nach komplettierten.
kann. Die für die Wohnenden so wichtige Funktion                   Sideboards, Regale oder Sofas fehlten lange;
des Rückzugs in eine selber gestaltete Umgebung                    Lampen, Teppiche und Bilder waren aber schon
wird also mittels der Kleinteile erfüllt. Zwar ziehen              recht früh da. Diese wurden meist aus anderen
sich die Wohnenden in ihr von möbeln bestücktes                    Wohnungen mitgebracht, mit ihnen fühlten sich
und von der Architektur vorgegebenes Refugium                      die jungen menschen vertraut. Kleinteile machten
zurück; aber dieses wird erst durch die ausge-                     für sie den Unterschied; das Sideboard konnte
wählten und selber hergestellten Kleinteile zum                    noch ein wenig warten.
Rückzugsort. Denn es sind diese Gegenstände, die
der Wohnung das Persönliche und Identitäts-                        Natürlich definieren sich die Wohnenden nicht nur
stiftende geben.                                                   über Kleinteile, sondern auch über grössere mö-
                                                                   belstücke – zum Beispiel Billigmöbel vs. Design-
Nicht nur auf Fotos, sondern auch in direkten Aus-                 Klassiker – oder über die Wohngegend – etwa Alt-         WIE vERÄNDERT SICH DIE ROLLE vON mÖBELN?
sagen haben die Informanten unterstrichen, dass                    bauloft vs. Siedlungshaus. Diese Entscheidungen
es die persönlichen Kleinteile und praktischen                     hängen aber stark vom Budget der Betreffenden            Aus der Erkenntnis, dass Kleinteile beim Wohnen      zimmer» oder das «Esszimmer» sei. Dann stellten
Accessoires sind, die aus einer Wohnung ihr                        ab und geben wenig Aufschluss darüber, was ihnen         die Hauptrolle spielen, ergibt sich die nächste      sie fest, dass sie es im Alltag – immer ganz funk-
Zuhause, ihren Rückzugsort machen – also nicht                     beim Wohnen wirklich wichtig ist. Konfrontiert           Frage: Welche Bedeutung wird dann den möbeln         tionsneutral – als «grosses Zimmer» titulieren. In
das grosse Sofa, sondern das besondere Kissen.                     man die Teilnehmenden, die in Wohnungen unter-           zugesprochen? Was wird erwartet von möbeln und       den wenigsten der von uns besuchten Wohnungen
Dass Kleinteile zu Protagonisten der Einrichtung                   schiedlicher Preiskategorien leben, mit genau die-       dem Wohnungsbau – die doch «eigentlich», d. h. in    existierte eine klare, starre Aufteilung in Wohn-
werden und den Unterschied machen, beruht aber                     ser Frage – was ist Ihnen beim Wohnen besonders          der öffentlich geführten Debatte, das Wohnen aus-    zimmer, Esszimmer, Küche etc. In der «Küche»
nicht alleine auf der besonderen Rolle, die sie                    wichtig? –, geben alle dieselbe Antwort: kleine,         machen? Während der ethnografischen Arbeit in        wird nicht mehr nur gekocht und das «Wohnzim-
für einen menschen spielen. Natürlich hat ein Fa-                  persönliche Gegenstände, die ihre Wohnung von            den Schweizer Haushalten zeigte sich diesbezüglich   mer» ist auch der Ort, wo gegessen und getrunken,
milienfoto einen emotionalen mehrwert, ebenso                      jeder anderen unterscheiden.                             ein klarer Trend: funktionsgebundene Begriffe und    geredet, gespielt, Sport getrieben, gearbeitet,
                                                                                                                            funktionsbedingte Gestaltung lösen sich auf.         gelernt, ferngesehen, gemalt, gedacht wird (und
                                                                                                                                                                                 vieles mehr). Weil das Wohnen ein Gegentrend zur
                                                                                                                            Ein Ehepaar aus Zürich sollte sagen, wie es das      Schnelllebigkeit ist, sind die Begriffe häufig die
                                                                                                                            Zimmer, in dem es sich gerade aufhielt, im Alltag    gleichen geblieben, aber die Funktion von Räumen
                                                                                                                            bezeichnet. Es wurde sich sehr lange nicht einig,    und Wohnungen hat sich verändert.
                                                                                                                            ob das nun das «Wohnzimmer», das «Arbeits-
13
     Schweizer geben im Durchschnitt 21% ihres Einkommens für das Wohnen aus und machen es so zur teuersten Konsumausgabe
     (Bosshart, David, K. Frick, m. Hauser. «Zukunft des Wohnens. Wie wohnt die Schweiz morgen?»)

20 WIE DIE SCHWEIZER WIRKLICH WOHNEN                                                                                                                   EINE TRENDSTUDIE ZUR ENTWICKLUNG NEUER WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN       21
Das Thema der multifunktionalität macht vor             Wenn möbel und Räume verschiedene Funktionen
möbeln nicht Halt und ist hier noch spannender          erfüllen und gleichzeitig einen Rückzugsort schaf-
als bei den Räumlichkeiten, da weniger beachtet.        fen sollen, in dem Kleinteile dafür sorgen, dass man
Das Ehepaar, das den «multi-Use»-Hauptraum              sich zuhause fühlt, dann lässt die Aussage einer
seiner Wohnung «grosses Zimmer» nennt, sagt             Informantin besonders aufhorchen: «Ich möchte
auch zu dem darin stehenden Tisch nicht «Ess-           neutrale möbel. Ich möchte ihr Aussehen und ihre
tisch» oder «Arbeitstisch», aber ein «Konferenz-        Funktion für mich selbst verändern können, abhän-
tisch» oder «Spieltisch» ist er auch nicht. Er heisst   gig von der jeweiligen Situation.» möbel sollen also
schlicht «grosser Tisch». Tv-möbel werden von           verschiedene Funktionen zulassen, ohne sich auf-
den Bewohnern dieser kategorielosen Wohnung             zudrängen. Sie sollen einen Rahmen bieten, in dem
ebenfalls nicht geschätzt, also steht der Fernseher     ein Rückzugsort entstehen kann. Neutrale möbel
auf einer einfachen Schachtel, die Lampen auf           werden den heutigen Bedürfnissen gerecht, sie
Zeitschriftenstapeln. vasen wurden zu Lampen            ermöglichen die individuelle Gestaltung mit Klein-
umfunktioniert, das Sofa heisst nur «Ecke» (man         teilen und somit das, was «Wohnen» persönlich
kann auch nicht darauf sitzen, sondern nur lehnen       macht. vielfach sieht ein Küchenschrank nicht mehr
oder liegen) und der Teppich wird jeden Abend zur       anders aus als ein Schuh- oder Kleiderschrank. Im
Yoga-matte.                                             Idealfall ist der Schrank nicht einmal von der Wand
                                                        zu unterscheiden: beide stellen zusammen die
In anderen Wohnungen wird ein Tisch jeden mittag        Kulisse oder den Rahmen für das Wohnen. Die gros-
vom Esstisch zum Hausaufgaben- und dann zum             sen und schlichten Oberflächen der möbel lassen,
Spieltisch. Im vorratsraum lagert auch die Skiaus-      ohne dass sie sich wandeln müssen, verschiedene
rüstung. Wenn die Kinder aus dem Haus sind, wird        Nutzungsarten zu. Nicht multifunktionalität, son-
ein Jugendzimmer schon mal zum Gästezimmer              dern Neutralität in Funktion und Form ist das Diktat
oder zum massageraum mit integrierter Sauna.            der Stunde.
Das Thema der multifunktionalität steht schon eine
lange Weile im Raum. Wie die volkskundlerin und         Neutral, Rahmen, Kulisse – die Analyse klingt fast
Wohnforscherin Dr. Waltraut Bellwald erklärt, ent-      so, als wollten die Schweizer das mobiliar am
fernt sich der Geschmack der Wohnenden sogar            liebsten abschaffen. Aber dem ist nicht so – auch
vom so genannten «Allraum» der 1970er-Jahre,            wenn beim Wohnen heute zwischen Kulisse
wo ein einziger Raum multifunktional für alle           (Neutrale möbel und Räume) und Bühne (Rück-
anfallenden Aktivitäten bereitstehen sollte. Unsere     zugsort durch Kleinteile) unterschieden wird,
Beobachtungen bestätigen diese Tendenz: Die             vermindert sich der Wert von möbeln in keiner
Wohnenden verwenden Raumteiler und Regale,              Weise. Im Gegenteil: eine langlebige und hochwer-
um aus einem grossen Raum zwei kleine zu ma-            tige Kulisse braucht gute möbel. vielfach wurde
chen und richten sich zuvor kaum genutzte kleine        von den Befragten der Wunsch nach erweiterbaren
Zimmer ein. Aus dem komplexen Wohnverhalten             und langlebigen möbeln geäussert, die sie durchs
der menschen zu schliessen, man brauche grosse          Leben begleiten. Auch wird es immer möbel-Stars
Allräume und multifunktionale, wandelbare All-          geben, die für die Wohnenden Hauptdarsteller und
zweckmöbel, wäre also falsch.                           keinesfalls Kulisse sind.

22 WIE DIE SCHWEIZER WIRKLICH WOHNEN                                                                           EINE TRENDSTUDIE ZUR ENTWICKLUNG NEUER WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN   23
WIE BEEINFLUSSEN vERÄNDERUNGEN DIE WOHNSITUATION?

Das Leben ist eine Abfolge verschiedener Phasen                     Zwei an unserer Studie teilnehmende Familien –
– die Art und Weise, wie jemand wohnt, ist stark                    die eine in Basel, die zweite im Aargau – haben
durch die jeweilige Phase definiert. Braucht ein                    Kinder im vorschul- bzw. Primarschulalter. Das
Baby vorerst nicht viel mehr als ein Bett und einen                 bedeutet konkret: Kinder ziehen sich in ihre eige-
Wickeltisch, dehnt sich der Wohnbereich kontinu-                    nen Zimmer zurück, die Art zu spielen verändert
ierlich aus und aus einem Kinderzimmer wird bald                    sich, Freunde kommen zu Besuch; der Schreib-
einmal das Jugendzimmer. Zunächst bleibt das                        tisch dient nicht mehr nur als malunterlage, son-
Wohnen von den Eltern bestimmt, aber mit dem                        dern auch als Ort der Hausaufgaben und bald des
Auszug aus dem Elternhaus stellen sich Fragen                       Computers. Obwohl ihre Wohnungen sehr unter-
dazu, wie und mit wem man wohnen möchte.                            schiedlich gestaltet sind, haben beide Familien für
Irgendwann wird die erste Wohnung zu klein, die                     diese wechselreiche Zeit ihrer Kinder ähnliche
Wohngemeinschaft zu eng, es kommen eigene                           Lösungen gesucht und gefunden: möbelstücke, die
Kinder zur Welt, werden zu Jugendlichen, ziehen                     in ihren Funktionen wandelbar sind und nicht
wiederum in eine WG und man selber vielleicht                       ersetzt werden müssen.
bald einmal in ein mehr-Generationen-Haus. Kurz:
Lebensphasen sind Wohnphasen. Bei der Frage,                        Da es solche Lösungen nicht beim möbelhändler
wie die Schweizer wirklich wohnen, musste das                       gibt (dort waren sie enttäuscht von strikten Kate-
mitberücksichtigt werden.                                           gorien wie «Kinderzimmer», «Jugendzimmer»),
                                                                    fertigten sie sie selber. Betten, vom vater der
Auch die ETH-Wohnforscherin Susanne Gysi weist                      Familie aus einfachem Holz und in simpler Kons-       Ein weiteres Beispiel für einen Wohnphasen-           diese für ihr derzeit verfügbares Budget nicht gibt,
auf die Bedeutung dieser Phasen hin, sind die                       truktion erstellt, können zusammen- oder überei-      umbruch ist die Situation nach dem Studium. Aus       behelfen sie sich provisorisch und warten mit dem
Bedürfnisse der Wohnenden doch direkt von ihnen                     nander gestellt werden, sie lassen sich vom           beruflichen Gründen zieht man um, der Lebens-         Kauf lieber, als sich eine Zwischenlösung zu schaf-
bestimmt.14 Dass man diese verschiedenen Pha-                       einfachen Niedrigbett zum Hochbett mit Rutsche        rhythmus verändert sich. Wir haben Bewohner           fen, die ihnen später nichts nützt. Ähnlich wie Fa-
sen durchlebt, ist allen bewusst – sie sind deshalb                 wandeln, die Kindermalerei kann vom Holz abge-        einer WG und einer Einzimmerwohnung kennen            milien mit Kindern sind sie also auf der Suche nach
kein unmittelbares Thema für die Personen, die                      schliffen und durch eine vom Kind ausgewählte         gelernt, deren Umgang mit ihrer derzeitigen Le-       langfristigen, nachhaltigen Lösungen.
sich an dieser Studie beteiligt haben. Selbstver-                   Farbe ersetzt werden. In der zweiten Familie wird     bens- und Wohnphase überraschte: Sie sind sich
ständlich hat ein Seniorenehepaar beim Wohnen                       ein kürzlich neu gekauftes Kinderhochbett «sicher     der Kurzlebigkeit ihrer derzeitigen Wohnsituation     Beide Situationen eines Phasenwechsels – die
andere Ansprüche als die Studenten in einer WG.                     nicht weiss bleiben». Auch ein Regal wurde neu        bewusst und betonen sie im Gespräch immer wie-        der wachsenden Kinder und jene der jungen
Relevanter schien den Informanten die Frage nach                    bemalt und mit kindgerechter Dekoration verse-        der; jedoch wollen sie sich nicht «kurzlebige» Ein-   Erwachsenen – zeigen, wie bedeutend möbel bei
den Übergängen von einer Wohnphase in die                           hen, die aber später wieder entfernt werden kann.     richtungsgegenstände anschaffen. Sie sind auf der     der Bewältigung des Wechsels sind. Anstatt für
nächste: Wie findet man sich in einer neuen Phase                   Gewünscht werden also möbelstücke, die mit den        Suche nach Stücken, die sie mittelfristig zufrieden   eine Phase die richtigen möbel zu kaufen, wün-
zurecht? Und wie kann man selber für verände-                       Kindern «wachsen» und sich auf ganz verschiede-       stellen und die sie später in ein «richtiges Zuhau-   schen sich die menschen in der Schweiz langlebige
rung sorgen?                                                        ne Situationen einstellen können.                     se» mitnehmen können. Auf ein solches Zuhause         Stücke, die hochwertig sind und sich neutral den
                                                                                                                          arbeiten sie alle hin. Junge Erwachsene suchen        veränderungen anpassen.
                                                                                                                          «einfache, klassische» Dinge, die auch in der zu-
                                                                                                                          künftigen Wohnung Bestand haben. Dabei haben
                                                                                                                          sie Anspruch an eine gewisse Qualität. Wenn es
14
     Gysi, Susanne. «Zwischen ‹Lifestyle› und Wohnbedarf. Was der mensch zum Wohnen braucht.»

24 WIE DIE SCHWEIZER WIRKLICH WOHNEN                                                                                                                  EINE TRENDSTUDIE ZUR ENTWICKLUNG NEUER WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN        25
Über Kleinteile und Wandel
 Wie beschrieben fallen Kleinteilen und möbeln
 beim Wohnen heute vollkommen unterschied-
 liche Funktionen zu. Während neutrale möbel
 in eine neue Wohnphase integriert werden
 sollen, sind Kleinteile dazu in der Lage, diese
 zu definieren. Das ist deshalb wichtig, weil
 veränderungen in der Wohnung nicht immer
 durch Umbrüche oder externe Gegebenheiten
 ausgelöst werden, sondern auch mit einem
 einfachen Umzug oder innerhalb der beste-
 henden Wohnung erwünscht sein können.
 Während Grossmöbel über Phasen hinweg
 überzeugen sollen, gestalten Kleinteile die
 veränderung.

 Bei einem Umzug in eine neue Wohnung, in
 der man noch nicht alle möbel hat oder die
 alten nicht mehr möchte, sind es diese Klein-     Kleinteile bei der Bewältigung von Wandel
 teile, die einem Lösungen anbieten und ein
 baldiges Wohlfühlen im neuen Zuhause
 ermöglichen. Auch wer in seiner Wohnung                                                       WIESO «OHNE STIL» UND DOCH NICHT «STILLOS»?
 bleibt, hat hin und wieder Lust auf verände-
 rungen. Stimmungen, Jahreszeiten, Lebens-                                                     Stil habe für ihn nichts mit mode zu tun, sagte ein-   richtung – «das hat Stil!» –, dann meinen wir nicht,
 abschnitte – selbst wenn das Wohnen nicht                                                     mal der bekannte amerikanische modedesigner            die Tasche oder das Wohnzimmer folge einem
 von Trends bestimmt wird, sind Anpassungen                                                    Tom Ford. Er sprach sicher nicht vom «Stil» im         bestimmten Trend oder einer Richtung. Nein, wenn
 erwünscht. Da möbel zwar umgestellt werden                                                    kunsthistorischen Sinn, weder vom Barock, noch         es von einem mitmenschen heisst, er habe Stil,
 können, aber aufgrund ihrer gewünschten                                                       Jugendstil oder Bauhaus. Diese Gattungen haben         dann bedeutet das, dass er die Gabe hat, die ma-
 Langlebigkeit nur selten neu angeschafft                                                      nämlich sehr viel mit moden gemein. Wohl meinte        teriellen Dinge ansprechend zu gestalten.
 werden sollen, sind es die Kleinteile, die die                                                er auch kein bestimmtes Design, keine literarische
 von den menschen gewünschte veränderung                                                       Gattung oder rhetorische Figur. Nein, der «Stil»,      menschen in der Schweiz wohnen «ohne Stil»,
 umsetzen: Bilder werden ausgetauscht, neue                                                    von dem Ford sagte, er habe nichts mit mode zu         aber nicht «stillos». Sie richten sich gut ein und
 Textilien angeschafft, ein Erinnerungsstück                                                   tun, braucht keinen Artikel, es ist nicht der Stil A   gestalten überzeugende Räume. Sich auch ästhe-
 kommt aus dem Fundus hervor.                                                                  oder der Stil B, es ist einfach nur Stil, guter Ge-    tisch wohl zu fühlen ist ihnen wichtig; sie verfol-
                                                                                               schmack. man kann, ohne einem (bestimmten) Stil        gen, was über Architektur und Design gesagt und
                                                                                               zu folgen, (generell) Stil haben. Die Doppelbedeu-     geschrieben wird. Und dennoch folgen sie keiner
                                                                                               tung ist, wenn auch unbewusst, jedem bekannt:          bestimmten vorgabe, sie können ihren eigenen Stil
                                                                                               Wenn wir einer Kollegin ein Kompliment zu ihrer        nicht benennen, orientieren sich an ihrem eigenen
                                                   Kleinteile bei der Umsetzung von Wandel     Tasche machen oder einem Freund zu seiner Ein-         Geschmack und ihrem Alltag. Sie haben also Stil,

26 WIE DIE SCHWEIZER WIRKLICH WOHNEN                                                                                       EINE TRENDSTUDIE ZUR ENTWICKLUNG NEUER WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN          27
ohne einen Stil zu haben. Oder besser: Sie wohnen                      bung der «Undecorate»-Bewegung16 für über-
mit Stil, gleichzeitig aber mit keinem bestimmten.                     zeugender: nachdem «Demokratisches Design»
                                                                       lange ein modebegriff war, ist es Realität gewor-
Die Teilnehmenden waren gebeten, ihren Wohnstil                        den. menschen brauchen keine externe Autorität
zu beschreiben – die Antworten waren nicht be-                         in Stilfragen mehr. Da Wohnen bedeutet, sich einen
sonders aufschlussreich. Immer wurden dieselben                        eigenen Rückzugsort zu schaffen, den man auch
Begriffe zitiert: etwa «klassisch», «modern»,                          gedanklich vollständig durchdringt, legt man die
«zeitgemäss», «jung» – und dies, obwohl die Woh-                       Regeln selber fest. Die für die Studie Befragten
nungen ganz unterschiedlich aussahen. Da jedoch                        wissen ganz genau, was Stil hat, sie halten sich
ersichtlich war, dass diese Personen sehr bewusst                      aber an keine präzisen vorschläge, sondern su-
wohnen, musste das Problem in der Fragestellung                        chen ihre eigenen Lösungen. Sie interessieren sich
liegen. Wenn zwei Leute, die ihre Wohnungen voll-                      zwar dafür, was auf dem markt erhältlich ist, ma-
kommen unterschiedlich eingerichtet haben, bei-                        chen aber – ganz wörtlich – am Ende «ihr eigenes
de ihren Stil als «klassisch» beschreiben, wird der                    Ding».
Begriff «klassisch» entleert. Er, wie jede andere
Stilbeschreibung auch, verliert seine Bedeutung,                       So gibt es in jeder Wohnung, die wir besuchten,
weil die Beschreibung mit der gelebten Realität                        möbelstücke, «die da eigentlich nicht reinpassen.»
nicht viel gemein hat. Die menschen antworten auf                      In einer modernen Eigentumswohnung steht ein
die Stilfrage zwar, sie wohnten modern, klassisch                      antiker Apothekerschrank, in einer älteren und von
oder schlicht, weil sie damit auf bekannte Begriffe                    der Einrichtung her ziemlich zusammengewür-
zurückgreifen, für ihren Wohnalltag ist die Frage                      felten findet sich ein Design-Klassiker, in der
jedoch irrelevant. Sie interessieren sich nicht                        Designer-Wohnung wiederum das Billig-Regal.
dafür, wie «ihr» Stil heisst. Denn sie wollen Stil                     Neutrale Grossmöbel kombinieren gut mit persön-
haben, aber keinen bestimmten.                                         lichen Kleinteilen, das Familienerbstück wird
                                                                       zweckentfremdet, ein selbst gemaltes Bild diktiert
Diesen Weg von vorgefertigten Kategorien hin zur                       das Farbschema der ganzen Wohnung. Am deut-
Umsetzung des persönlichen Stils könnte man,                           lichsten drückt sich der Unwille gegenüber vorde-
ganz «zeitgemäss», als «Ekklektizismus» oder                           finierten Stilen in der Tatsache aus, dass vor allem
«Individualismus» bezeichnen. Doch damit würde                         Kleinteile, aber auch grössere möbel selber ange-
man nur weitere Kategorien schaffen, die die                           fertigt oder angepasst werden. Die Lust, selber
Realität nicht vollständig erfassen. Ausgehend von                     Hand anzulegen, zu kreieren, ist beim Wohnen be-
der Begegnung mit Wohnenden in der Schweiz                             sonders stark verbreitet. Denn hier definiert man
halten wir Colin Campbells Begriff vom «Craft                          sich selbst. Und dieses Selbst bedarf keiner Stil-
Consumer» und Christiane Lemieuxs Beschrei-
                 15
                                                                       vorgaben.

15
     Campbell, Colin. «The Craft Consumer: Culture, craft and consumption in a postmodern society.»
16
     vgl. Cannell, michael. «Design Well Within Reach.»

28 WIE DIE SCHWEIZER WIRKLICH WOHNEN                                                                                          EINE TRENDSTUDIE ZUR ENTWICKLUNG NEUER WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN   29
Erkenntnisse aus dem Fotowettbewerb II           stilfrage
 Neben den aufschlussreichen Kontrasten           Auch sind die Teilnehmer bei der Frage nach
 zwischen den für den Fotowettbewerb hoch-        ihrem Wohnstil auf der Suche nach Begriffen,
 geladenen und den privat aufgenommenen           die möglichst vage und allgemein bekannt
 Wohnfotos (siehe oben, «Erkenntnisse aus         sind – denn sie folgen am liebsten keinem
 dem Fotowettbewerb I») gibt es zwischen un-      ausser ihrem eigenen Stil.
 serer ethnografischen und der Online-Arbeit      So ähneln sich zwar die Begriffe, die die
 auch wichtige Parallelen.                        Wohnenden als Stilbeschreibungen kennen
                                                  [«modern» (85 x), «gemütlich» (45 x) und
 rückzugsort                                      «klassisch» (18 x) waren die meist genannten
 Aus einem Drop-Down-menü sollten die Wett-       Antworten auf unsere vorgabenfreie Frage],
 bewerbsteilnehmer auswählen, ob ihr Lieb-        zwei «moderne» Stile haben jedoch in der
 lingsplatz «Raum», «möbelstück», «Aussicht»,     Umsetzung nur selten Gemeinsamkeiten.
 «Accessoire», «Atmosphäre» oder «Aktivität»      Die Fotos zeigen, dass auch «gemütlich» ganz
 sei. 37 % der Teilnehmer identifizierten ihren   unterschiedlich verstanden werden kann und
 Lieblingsplatz als eine «Atmosphäre».            die Frage nach dem Stil somit ins Leere führt.
 Im vergleich zu «Raum» oder «möbelstück»         Nur mit einem Stil möchten die Schweizer
 ist eine Atmosphäre etwas, das die Wohnen-       wirklich wohnen: ihrem.
 den selbst kreieren und nachvollziehen kön-
 nen. Das Ergebnis bestätigt also die Wohnung
 als Rückzugsort, in dem sich keine äusseren
 Einflüsse aufdrängen, sondern jeder sich sel-                                                     WIE BEURTEILEN DIE mENSCHEN KATALOGE UND mÖBELHÄUSER?
 ber sein kann.
                                                                                                   Auch wenn die Schweizer gerne selber Hand an-         sprechend konkrete vorstellungen davon, wie das
 neutralität                                                                                       legen und gestalten: Inputs, um den eigenen Stil      Objekt, das sie brauchen, auszusehen hat. So
 Für die Frage, wo in der Wohnung ihr Lieb-                                                        zu kreieren, sind willkommen und nötig. Dies auch     suchen sie beispielsweise einen Glastisch, von
 lingsplatz liege, waren keine Antworten vor-                                                      deshalb, weil nicht jeder Hobby-Schreiner oder        dem sie ein konkretes Bild im Kopf haben. Weshalb
 gegeben. Zwar befinden sich die meisten Lieb-    «Gemütlich» (1)                                  Polstermacher ist. Sowohl für die Kleinteile als      seine Tischbeine nicht aus Aluminium, sondern
 lingsplätze – ein Drittel – im «Wohnzimmer»,                                                      auch für die möbel lassen sich die Wohnenden          schwarz lackiert sein sollen, das wissen die Leute
 daneben gab es jedoch keinen weiteren oft                                                         deshalb von aussen inspirieren. Um zu erfahren,       jedoch nicht. Die Antwort lautet: «Ich mag es ein-
 genannten Begriff.                                                                                wie Inspiration abläuft und wirkt, wurde mit den      fach.» Geschmack orientiert sich an dem, was man
 Wie in der ethnografischen Studie deuten auch                                                     Informanten eingehend darüber diskutiert. Wir         schon kennt – ihn in Worte zu fassen, ist für die
 hier Beschreibungen wie «Familienzimmer»,                                                         schauten mit ihnen auch Kataloge an und beglei-       meisten unmöglich.
 «Leseecke» und «ein Tisch für alles» auf eine                                                     teten sie in Filialen von möbel Pfister.
 flexible und neutrale Funktion von Räumen                                                                                                               Weil die Wohnenden ihren Geschmack so gut ken-
 und möbelstücken hin. Nicht die möbel,                                                            Dabei zeigte sich, dass die Frauen und männer,        nen, ist der Begriff der «Beratung» immer mehr
 sondern all das, was sie umgibt, wird zum                                                         die an dieser Studie teilgenommen haben, ihre         veraltet. Denn in dem moment, da sie den Service
 Wohnen.                                          «Gemütlich» (2)                                  Bedürfnisse und ihren ganz persönlichen               des möbelhändlers wahrnehmen, fühlen sie sich
                                                                                                   Geschmack sehr gut kennen – und sie haben ent-        bereits ausreichend informiert. Entsprechend hat

30 WIE DIE SCHWEIZER WIRKLICH WOHNEN                                                                                            EINE TRENDSTUDIE ZUR ENTWICKLUNG NEUER WOHN- UND EINRICHTUNGSFRAGEN      31
Sie können auch lesen