Klimawandel und Naturgefahren - Veränderungen im Hochgebirge des Berner Oberlandes und ihre Folgen - AG NAGEF - Arbeitsgruppe Naturgefahren des ...

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Klimawandel und Naturgefahren - Veränderungen im Hochgebirge des Berner Oberlandes und ihre Folgen - AG NAGEF - Arbeitsgruppe Naturgefahren des ...
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Klimawandel und Naturgefahren –
Veränderungen im Hochgebirge des
Berner Oberlandes und ihre Folgen

AG NAGEF – Arbeitsgruppe Naturgefahren
des Kantons Bern
Klimawandel und Naturgefahren - Veränderungen im Hochgebirge des Berner Oberlandes und ihre Folgen - AG NAGEF - Arbeitsgruppe Naturgefahren des ...
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    Murgänge und Geschiebeumlagerungen
    im Gasterntal bei Kandersteg
Klimawandel und Naturgefahren - Veränderungen im Hochgebirge des Berner Oberlandes und ihre Folgen - AG NAGEF - Arbeitsgruppe Naturgefahren des ...
Editorial                                                                                             3

Der Klimawandel ist Realität – auch bei uns. In   Fazit der vorliegenden Studie: Naturereignis-
hochalpinen Gebieten des Berner Oberlandes        se werden durch den Klimawandel vereinzelt
treten seit Jahren immer wieder neue Gefah-       grösser oder intensiver, vor allem aber werden
renherde auf, die durch den Rückgang von          sie häufiger vorkommen.
Gletschern und Permafrost entstehen. Sie be-
drohen teilweise die Sicherheit von Siedlungen    Die Gefahrenhinweiskarte GHKperiGlazial liefert
und Infrastrukturen. Der Oberingenieurkreis       wichtige Hinweise; die Ergebnisse sind jedoch
I Oberland (Tiefbauamt des Kantons Bern,          mit Vorsicht zu interpretieren:
TBA) und die Abteilung Naturgefahren (Amt         • Die Identifizierung potenzieller Gefahrenge-
für Wald, KAWA) haben deshalb die Studie             biete basiert einzig auf Computermodellie-
GHKperi­Glazial durchgeführt – eine Pilotstudie      rungen ohne Verifikationen im Feld.
mit wegweisendem Charakter: Sie zeigt auf,        • Zu Gefahren, die erst nach einer Abfolge
wo sich aus Gletscher- und Permafrostgebie-          von mehreren Ereignissen auftreten oder
ten im Berner Oberland die Naturgefahren in          durch deren Kombination Gebäude oder
Folge des Klimawandels verändern und welche          Infrastruktur bedrohen, kann die Gefahren-
­Räume künftig durch Prozesse wie etwa Mur-          hinweiskarte keine Aussagen machen.
gänge oder Eislawinen stärker betroffen sein      • Die grobe Prozessmodellierung wird den
können.                                              mehrheitlich kleinräumigen Gebieten im
                                                     Berner Oberland nicht vollständig gerecht.
Der Begriff periglazial im Namen der Studie
bezeichnet Gebiete, die bisher vergletschert      Aussagen zu generellen Trends und zu grös-
waren oder Permafrost aufweisen. Permafrost       seren Einzugsgebieten sind zulässig, punkt-
ist Boden, der ab einer gewissen Tiefe das        genaue Aussagen für einzelne Gebäude oder
ganze Jahr über gefroren ist. Die vorliegende     Strassenabschnitte hingegen nicht. Hierfür
Broschüre richtet sich an die Gemeinden und       sind im Einzelfall detaillierte Untersuchungen
andere sicherheitsverantwortliche Stellen sowie   notwendig. Die GHKperiGlazial zeigt, wo sol-
interessierte Personen aus der Bevölkerung.       che weitergehenden Untersuchungen sinnvoll
Sie soll Informationen dazu liefern, was in der   sind. Letztlich wird in Zukunft nur ein Bruchteil
Studie untersucht wurde und welche Schlüs-        der untersuchten Gefahrenquellen effektiv zu
se daraus gezogen werden können. Für die          Konflikten führen. Welche das sein werden,
wichtigsten Fachbegriffe besteht am Ende der      lässt sich jedoch zum heutigen Zeitpunkt nicht
Broschüre ein Glossar.                            genau voraussagen.

In der Gefahrenhinweiskarte (GHK) periGlazial     Insgesamt bietet die vorliegende Studie eine
sind die aktuellen und potenziellen Gefahren-     geeignete Grundlage, um potenzielle Gefahren-
quellen der nächsten 50 Jahre erfasst. Bewer-     gebiete im Auge zu behalten und ungünstige
tet werden deren Gefahrenpotenzial und ihr        Entwicklungen frühzeitig zu erkennen.
mutmasslicher Wirkungsbereich. Der Untersu-
chungsperimeter konzentriert sich dabei auf
Einzugsgebiete im Berner Oberland, welche im      Nils Hählen
                                                  Vorsitzender Arbeitsgruppe Naturgefahren
Einflussbereich periglazialer Prozesse liegen,
                                                  (AG Nagef)
also in Zonen rund um die Gletscher- und Per-
mafrostvorkommen. Er reicht vom Saanenland
im Westen bis zum Gadmen- und Haslital im
Osten. Südlich verläuft der Perimeter entlang
der hohen Alpengipfel an der Grenze zum
Wallis; nördlich bilden Thuner- und Brienzersee
sowie das Gental den Abschluss.
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         Inhaltsverzeichnis

     5   Zusammenfassung

     7   Klimawandel trifft auch die Schweiz
         Klima ist nicht gleich Wetter

         Grunddisposition und Auslöser

     9   Auswirkungen auf das Hochgebirge
         Gletscher ziehen sich zurück

         Permafrost degradiert

         Kürzere Schneebedeckung

    10   Gefahrenprozesse verändern sich
         Lawinengefahr geht nicht zurück

         Rutsch-, Sturz- und Murgangprozesse werden häufiger

         Geschiebefrachten in den Gewässern steigen an

    12   Verschiedene Prozessarten und ihre räumliche Ausbreitung
         Sturzgefahren

         Eislawinen

         Rutschungen und Hangmuren

         Murgang

         Hochwasser aus Gletscherseen

    28   Fazit

    31   Umsetzung und Monitoring

    34   Glossar

    35   Ansprechpartner

                                                                Gadmen Triftgletscher, 2007
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Zusammenfassung                                                                                                        5

                                 Die Gefahrenhinweiskarte GHKperiGlazial gibt                auf die Siedlungen und Infrastrukturen er-
                                 für das Berner Oberland erstmals einen Über-                wartet, weil deren Reichweite stark limitiert
                                 blick, wo als Folge der Klimaänderung in von                ist. Insgesamt dürften aber nicht die gefähr-
                                 Frost geprägten Gebieten am ehesten mit Ver-                lichen Naturgefahrenprozesse wie Murgang
                                 änderungen der Naturgefahren zu rechnen                     oder Steinschlag die grosse Herausforderung
                                 ist und welche Prozess­arten davon betroffen                im Zuge der Klimaänderung werden, son-
                                 sind. Es kann aufgezeigt werden, dass die                   dern deren indirekte Folgen auf die Gewäs-
                                 grössten Veränderungen weitab von Siedlun-                  ser. Dadurch dass vermehrt Geschiebe aus
                                 gen in Seitentälern und im Hochgebirge statt-               destabilisiertem Permafrost und Gletscher-
                                 finden. Nur ganz vereinzelt können dauernd                  rückzugsgebieten mobilisiert wird, steigt die
                                 bewohnte Gebäude betroffen sein; die Exis-                  Geschiebefracht in vielen Gewässern im Ber-
                                 tenz ganzer Siedlungen ist aus heutiger Sicht               ner Oberland an. F ­ lache Gewässerabschnitte
                                 nicht in Frage gestellt. Es zeigt sich, dass die            werden so häufiger mit Geschiebe gefüllt und
                                 bestehenden Gefahrenkarten robust sind.                     Geschiebesammler müssen öfter entleert wer-
                                 Durch die Klimaänderung sind im Siedlungs-                  den. Direkt werden dadurch keine Personen
                                 gebiet des Berner Oberlandes kaum neue                      oder Bauten gefährdet. Der Aufwand für den
                                 Gefahrenflächen zu erwarten. Hingegen kann                  Unterhalt der Gewässer kann aber sehr stark
                                 die Häufigkeit oder Intensität von einzelnen                ansteigen und die Bewirtschaftung der gros-
                                 Ereignissen gegenüber der Vergangenheit zu-                 sen Geschiebemengen wird eine schwierige
                                 nehmen. Geographisch liegt der Schwerpunkt                  Aufgabe darstellen. Die vorliegende Studie
                                 der Veränderungen im mittleren und östlichen                liefert zur Lösung dieser Herausforderungen
                                 ­Berner Oberland, bedingt durch die dort höhe-              eine erste Grundlage, indem die potenziell kri-
                                  ren Berge und somit ausgedehnteren Vorkom-                 tischen Gebiete identifiziert werden können.
                                  men von Permafrost und Gletschern.
                                                                                             Die Prävention und der Umgang mit den mög-
                                 Bei den Prozessarten hat der Murgang die                    lichen Risiken erfordern eine enge Zusammen-
                                 grösste Bedeutung, da er aufgrund seiner                    arbeit zwischen Gemeinden, den kantonalen
                                 grossen Reichweite flächenmässig am meisten                 Fachstellen und weiteren sicherheitsverant-
                                 Gebiete betrifft. Stein- und Blockschlag sowie              wortlichen Stellen wie z.B. Strassen- oder
                                 Felsstürze und Eislawinen sind demgegenüber                 Bahnbetreiber. Dabei spielt das Monitoring von
                                 deutlich untergeordnet. Bei den Rutschpro-                  Gebieten, wo grössere Veränderungen erwar-
                                 zessen werden keine direkten Veränderungen                  tet werden, eine wichtige Rolle.

Zusammenfassende Übersicht zu den mutmasslich betroffenen Regionen

                                                                                                                 Innertkirchen

                                                                                             Schwarzhorn
                                                                                                Faulhorn

                                                                                                                             Guttannen
                                                                                                   Grindelwald

                                                                 Griessalp
                                                                  Gamchi     Lauterbrunnen
                                                 Kandergrund                   Stechelberg
                       St. Stephan
                            Färmel

                                                                                             Grad der möglichen Veränderungen pro Prozessart
                                     Adelboden

                                                                                                                          Eislawinen
                                                    Kandersteg
                         Lenk                                                                                             Sturzprozesse
                      Oberried
                                                                                                                          Murgang
                                                                                                                          Gletscherseen, Impulswellen
                                                                                                  keine
                                                                                                geringe
                                                                                               mässige
                                                                                             erhebliche
                                                                                                 grosse

                                                                                                                          Geschiebe
           Gsteig
      Innergsteig
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    Gadmen Triftgletscher, 2007
Klimawandel und Naturgefahren - Veränderungen im Hochgebirge des Berner Oberlandes und ihre Folgen - AG NAGEF - Arbeitsgruppe Naturgefahren des ...
Klimawandel trifft auch die Schweiz                                                                                                7

                         Die globale Erderwärmung trifft das Schwei-         Klima ist nicht gleich Wetter
                         zer Mittelland und den Alpenraum überdurch-
                         schnittlich stark. So stieg z.B. auf der Alpen-     Das Zitat «Climate is what you expect, w
                                                                                                                    ­ eather
                         nordseite die mittlere Jahrestemperatur im          is what you get.» von Robert A. Heinlein zeigt
                         20. Jahrhundert um rund 1,7 Grad Celsius            den Unterschied zwischen Klima und Wetter
                         an. Die Prognosen der Fachspezialisten rech-        sehr anschaulich auf. Beim Wetter handelt
                         nen bis ins Jahr 2060 mit einem weiteren An-        es sich um den Zustand der Atmosphäre an
                         stieg von ein bis drei Grad. Durch die höhere       ­einem bestimmten Ort und zu einem bestimm-
                         Lufttemperatur steigt auch die Nullgradgrenze        ten Zeitpunkt (während Minuten bis Stunden).
                         in den Bergen. Dadurch nimmt die Fläche der          Das Klima hingegen ist der für einen Ort typi-
                         Gletscher ab und der Permafrost wird stärker         sche Wetterzustand während eines längeren
                         auftauen, in tieferen Lagen sogar ganz ver-          Zeitraumes (Monate bis Jahrzehnte).
                         schwinden. Hänge, Moränen und Felswände
                         werden destabilisiert. So steht künftig mehr        Die untenstehende Abbildung zeigt für die
                         Geschiebe zur Verfügung, welches bei Stark­         ­Station Interlaken auf, dass die langjährige
                         niederschlägen in die Täler transportiert wird.      Monatsmitteltemperatur z.B. im Juli bei ca.
                         Gleichzeitig können neue Rutsch- und Sturz-          18 Grad Celsius liegt. Das effektive Wetter
                         prozesse auftreten, die bisher unbekannte            im Juli 2014 zeigte aber starke Temperatur-
                        ­Gefahrengebiete betreffen.                           schwankungen, nämlich zwischen knapp
                                                                              9 und maximal 31 Grad. Das Temperatur­mittel
                        Viele Veränderungen laufen weit entfernt von          entspricht mit rund 18 Grad dennoch dem
                        den Siedlungsräumen ab und haben daher                langjährigen Mittelwert. Das Wetter kann
                        kaum Einfluss auf das Schadenpotenzial. Es            also grosse Ausreisser aufweisen, ohne dass
                        gibt daher keinen Grund, die mögliche Ent-            sich das Klima verändert.
                        wicklung zu dramatisieren. Lokal können sich
                        allerdings grosse Herausforderungen stellen,
                        wenn etwa eine Häufung von Murgängen
                        wichtige Verkehrsverbindungen gefährdet,
                        zu viel Geschiebe die Transportkapazität der
                        ­Bäche und Flüsse übersteigt oder Gletscher-
                         seen zu häufigeren und intensiveren Hoch­
                         wassern führen.

                        Klima und Wetter: Monatsmitteltemperaturen zwischen 1981 und 2010 im
                        Vergleich zu den Tagestemperaturen 2014, Station Interlaken

                   35                                                                                                           Tagestemperaturen 2014

                   30                                                                                                           Monatsmitteltemperaturen
                                                                                                                                1981 – 2010

                   25

                   20

                   15

                   10
                                                                                                         Quelle: MeteoSchweiz
Temperaturen ° C

                    5

                    0

                   –5
                        Jan   Feb   März   April   Mai   Juni   Juli   Aug   Sep   Okt   Nov    Dez
Klimawandel und Naturgefahren - Veränderungen im Hochgebirge des Berner Oberlandes und ihre Folgen - AG NAGEF - Arbeitsgruppe Naturgefahren des ...
8

    Heutzutage sind v.a. mittlere Temperaturen        Dort, wo Niederschlag oft als Schnee fällt,
    häufig, extrem kalte oder extrem heisse sind      sind grundsätzlich Lawinen möglich; wenn
    seltener. Mit dem Klimawandel könnte eine         viel ­Niederschlag als Regen fällt, kann es
    Verschiebung zu höheren Temperaturen hin          Hochwasser geben. In einem Hang oder Ge-
    erfolgen. Die Auswirkungen sind bei Extrem­       rinne bereitliegendes Lockergestein kann eine
    temperaturen besonders stark: Sehr heisses        der Voraussetzungen für Rutschungen oder
    Wetter wird viel häufiger und extrem kaltes      ­Murgänge sein.
    seltener werden.
                                                     Der Auslöser von Gefahrenprozessen ist aber
                                                     fast in jedem Fall ein Wetterereignis, wie z.B.
    Grunddisposition und Auslöser                    ein heftiges Gewitter, das einen Murgang zur
                                                     Folge hat.
    Das Klima beeinflusst den Wasser- und
    Schnee­haushalt, die Vegetation oder auch        Weil das Klima und seine mögliche Entwick-
    die Gesteinsverwitterung. Es ist damit neben­    lung recht gut prognostizierbar sind, lassen
    Geo­logie, Geländeneigung etc. einer der wich­   sich dazu zuverlässigere Aussagen machen
    tigsten Faktoren, welcher auf die allgemeine     als zum Zeitpunkt und Ausmass eines Un­
    Bereitschaft (Grunddisposition) zu gefährli-     wetters.
    chen Hang- und Gerinneprozessen einwirkt.

    Möglicher Einfluss der Klimaänderung auf die Häufigkeit von E
                                                                ­ xtremereignissen am
    Beispiel von Temperaturextremen Basis Grafik: OcCC 2003

    Weniger kaltes Wetter                                        Mehr warmes Wetter

    Weniger extrem                                                   Mehr extrem
    kaltes Wetter                                                    warmes Wetter

                                                                                                       Klima heute
            Kalt                        Mittel                     Warm                                Klima morgen

    Gletscher- und Permafrostvorkommen im Untersuchungsperimeter

                                                                                                       Perimeter GHKperiGlazial

                                                                                                       Gletscherausdehnung
                                                                                                       Gletscher bis 2060 verschwunden
                                                                                                       Gletscher 2060 noch vorhanden

                                                                                                       Permafrostvorkommen heute
                                                                                                       Permafrost möglich
                                                                                                       Permafrost wahrscheinlich
                                                                                                       Permafrost sehr wahrscheinlich
Klimawandel und Naturgefahren - Veränderungen im Hochgebirge des Berner Oberlandes und ihre Folgen - AG NAGEF - Arbeitsgruppe Naturgefahren des ...
Auswirkungen auf das Hochgebirge                                                                        9

Steigende Temperaturen wirken sich auf das       von den steigenden Temperaturen stärker be-
Gletscher- und Permafrostvorkommen sowie         troffen als südexponierte Felsflächen. Nur im
die Schneebedeckung im alpinen Raum aus.         östlichen Berner Oberland gibt es grössere
Was heisst das konkret?                          südexponierte Gebiete, in denen eine starke
                                                 Veränderung zu erwarten ist.

Gletscher ziehen sich zurück                     Im Sommer taut jeweils die oberste Schicht
                                                 auf. Diese Schicht wird aufgrund der Klima­
Rund 7 Prozent des Berner Oberlandes sind        änderung immer mächtiger. Dabei reagiert
von Gletschern bedeckt, wobei ihr Vorkom-        Permafrost im Fels wegen seines tieferen Eis­
men auf lediglich 15 Gemeinden verteilt ist.     anteils schneller auf die Erwärmung als Per-
Als Folge der Klimaänderung wird sich diese      mafrost im Lockermaterial. Je geringer der
Eisfläche von heute 210 voraussichtlich auf      Eisanteil, desto weniger Wärme braucht es,
91 Quadratkilometer im Jahr 2060 reduzieren.     um den Permafrost aufzutauen. Dieses so-
Bis Ende des 21. Jahrhunderts könnten die        genannte Degradieren bewirkt, dass das
Gletscher im Kanton Bern sogar fast vollstän-    aufgetaute Gesteinsmaterial durch Rutsch-,
dig verschwunden sein.                           Sturz- oder Murgangprozesse sehr schnell in
                                                 Bewegung versetzt werden kann.
Bedingt durch diesen Rückgang fliesst im
Sommer weniger Gletscherwasser in die
­Bäche und Flüsse. Der Klimawandel destabi-      Kürzere Schneebedeckung
 lisiert zudem Hängegletscher und beschleu-
 nigt die Bildung neuer Gletscherseen. Einige    Der Klimawandel führt zu höheren Tempera­
 könnten im Falle eines Ausbruchs eine Gefahr    turen und leicht erhöhten Winternieder­
 für Menschen und Infrastrukturanlagen in den    schlägen. Die Nullgradgrenze steigt pro Grad
 Tälern darstellen. Die nach der Eisschmelze     ­Erwärmung um rund 100 bis 150 Meter an.
 freigelegten Moränen und Schuttablagerungen      Bis ins Jahr 2035 werden die Veränderungen
 führen darüber hinaus zu erhöhten Geschiebe-     oberhalb 2000 m ü. M. nur sehr geringfügig
 frachten in den Gewässern.                       sein. Es besteht jedoch ein deutlicher Trend
                                                  hin zu späterem Einschneien und zu frühe-
                                                  rem Aus­apern. Bis Ende des Jahrhunderts
Permafrost degradiert                             wird eine um 5 bis 9 Wochen pro Jahr kür-
                                                  zere Schneebedeckung erwartet, was e      ­ iner
Als Permafrost wird ständig gefrorener Unter-     Höhenverschiebung um 400 bis 800 Meter
grund bezeichnet, der typischerweise ober-        entspricht. Das heisst, dass die Schneever-
halb von 2400 m ü. M. in Lockermaterial und       hältnisse, wie sie heute auf 1000 m ü. M.
Fels zu finden ist. Rund 12 Prozent des Ber-      herrschen, Ende des 21. Jahrhunderts in
ner Oberlandes (350 Quadratkilometer) sind        ­Höhenlagen von 1400 bis 1800 m ü. M. auf-
von Permafrostflächen bedeckt, wobei die           treten werden. Da das Zusammenspiel der
meisten fernab von Siedlungen in hochalpinen       ­klimabeeinflussenden Faktoren jedoch kom-
Regionen liegen. An nordexponierten Flan-           plex ist, wird es auch in Zukunft Perioden mit
ken reichen sie in tiefere Höhenlagen und sind      viel Schnee oder grosser Kälte geben.

                                                                            Permafrostdurchsetzte
                                                                            Nordseite des Schilthorns
Klimawandel und Naturgefahren - Veränderungen im Hochgebirge des Berner Oberlandes und ihre Folgen - AG NAGEF - Arbeitsgruppe Naturgefahren des ...
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     Gefahrenprozesse verändern sich

     Für die Entstehung von Naturgefahren sind       Rutsch-, Sturz- und Murgang-
     primär Temperatur und Niederschlag entschei-    prozesse werden häufiger
     dend. Ihre Auswirkungen können je nach Pro-
     zessart sehr unterschiedlich ausfallen. Was     Als Folge des Klimawandels häufen sich
     heisst das für die einzelnen Naturgefahren?     Extrem­ereignisse und werden intensiver. Stark­
                                                     niederschläge können Murgänge und Erd­
                                                     rutsche auslösen. Durch den Gletscherrück-
     Lawinengefahr geht nicht                        zug und den auftauenden Permafrost werden
     zurück                                          Hänge instabiler und damit anfälliger für Fels-
     Trotz generell abnehmender Schneemengen         stürze und Steinschlag. Vermehrte Rutsch-,
     werden Grosslawinen nicht unbedingt selte­      Sturz- und Murgangprozesse führen zu mehr
     ner. Denn sie werden hauptsächlich durch        Geschiebe in Wildbächen und Gebirgsflüssen.
     witterungsbedingte Extremsituationen aus-       Flussabwärts kann das bei fl­ achem Gelände-
     gelöst und weniger durch klimatische Verän-     verlauf zu Problemen führen.
     derungen. Solche Wetterlagen werden auch
     künftig immer wieder vorkommen. Da es im
     Winter mehr Niederschlag geben wird, nimmt      Geschiebefrachten in den
     das Lawinenrisiko in höheren Lagen allenfalls   Gewässern steigen an
     zu. Auch Eislawinen können durch den Glet-
     scherrückzug oder die Eiserwärmung häu-         Generell dürften intensivere Niederschläge
     figer auftreten – zumindest so lange, bis die   häufiger auftreten und auch in höheren La-
     Gletscher gegen Ende des Jahrhunderts fast      gen vermehrt in Form von Regen statt Schnee
     ­verschwunden sein werden.                      fallen. Durch die erwähnten Rutsch-, Sturz-
                                                     und Murgangprozesse gelangt immer mehr
                                                     Geschiebe in alpine Bäche und Flüsse. Am
                                                     stärksten nehmen die Niederschläge in den
                                                     Berggebieten im Herbst zu, der damit punkto
                                                     Hochwasser und Murgang zur kritischsten
                                                     Jahreszeit wird: Weil im Herbst die Auftau-
                                                     schicht des Permafrosts am mächtigsten ist,
                                                     können dann grosse geschiebeverlagernde
                                                     Prozesse auftreten.

     Die Folgen des Klimawandels

     Sommer                                          Winter

     steigende Temperaturen                          steigende Temperaturen

     weniger Niederschlag                            mehr Niederschlag
11

Gletschervorfeld Lämmerenboden unter
dem Wildstrubelgletscher
12
     Verschiedene Prozessarten und ihre räumliche Ausbreitung

        Sturzgefahren                                  Bildet sich aber nun der Permafrost im Felsen
                                                       zurück, werden vorhandene Trennflächen im
     Als Sturzprozesse werden schnelle Massen-         Gestein aktiviert; zusätzlich entstehen neue
     bewegungen verstanden, bei denen sich das         Entlastungsbrüche, an denen sich das Gestein
     aus dem Gestein losgelöste Material fallend,      ablösen kann. Dadurch ergeben sich neue
     rollend oder springend talwärts bewegt. Den       Fliesswege für das Wasser und neue Druck-
     grössten Teil der Strecke legt es dabei in der    verhältnisse, was den Fels zusätzlich desta-
     Luft zurück, wodurch die Gesteinsmasse hohe       bilisiert. Auch in Gletscherrückzugsgebieten
     Geschwindigkeiten erreichen kann.                 sind künftig durch freigelegte und entlastete
                                                       Talflanken neue statische Bedingungen anzu-
                                                       treffen. Der freigelegte Fels ist der Lufttempe-
     Fels- und Bergsturz                               ratur direkt ausgesetzt und erwärmt sich lang-
     Beim Fels- und Bergsturz lösen sich grössere      sam. Dies kann Bergstürze auslösen, welche
     Gesteinsmassen aus einer Felswand heraus          im Gletschervorfeld zu einem Aufstau eines
     und stürzen ab. Während des Sturzes oder          neuen Sees führen können.
     durch den Aufprall zerschellen sie in kleinere
     Blöcke und einzelne Steine. Der Bergsturz un-     In acht Gemeinden des Berner Oberlandes ­
     terscheidet sich anhand des Volumens vom          finden sich insgesamt 32 potenzielle Berg­
     Felssturz: Ersterer umfasst mehr als 1 Million    sturzgebiete. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein
     Kubikmeter Gestein. Bergstürze sind aber sel-     einzelnes davon tatsächlich aktiv wird, ist aber
     tene Ereignisse und treten in der Schweiz nur     sehr klein. Zudem liegen sie vorwiegend im
     alle paar Jahre bis Jahrzehnte auf. Die letzten   Hochgebirge und gefährden somit nicht unmit-
     waren am 27. Dezember 2011 am Piz Cen-            telbar Siedlungen oder Infrastrukturanlagen.
     galo im Bergell (GR), am 24. Januar 1996 in       Neun potenzielle Bergsturzgebiete dürften aus
     der Sandalp Linthal (GL) oder am 18. April        heutiger Sicht zu keinen direkten Folgen für
     1991 in Randa (VS) zu beobachten. Gut die         Menschen und zivile Nutzungen führen. Bei
     Hälfte der Bergstürze in der Schweiz gehö-        weiteren neun wären Alpgebäude betroffen
     ren zum sogenannten «Grundrauschen», d.h.         und drei könnten zu Schäden an Infrastruk-
     sie treten unabhängig von Veränderungen im        turanlagen wie Strassen in Seitentälern oder
     ­glazialen und periglazialen Bereich auf.         Hochspannungsleitungen führen. Die grössten

     Prozessräume möglicher Bergsturzereignisse im Periglazialgebiet des Berner Oberlandes

                                                                                                          Perimeter GHKperiGlazial
                                                                                                          Bergsturz
13

Auswirkungen haben Fels- und Bergsturzpro-
zesse jedoch indirekt via Gewässer, indem der
erweiterte Feststoffeintrag …

• zu Murgängen und stärkerem Geschiebe-
  trieb führt,
• ein Gewässer staut und so die Gefahr eines
  Dammdurchbruchs fördert,
• durch den Sturz in ein stehendes Gewässer
  Impulswellen auslöst.

> Die Schlossplatte:                                    wenigen Sekunden. Im Fall der Schlossplatte
Beispiel eines Felssturzes                              stützte der darunterliegende Gletscher die
Am 10. Juni 2006 stellte der Wirt der Grindel-          ­abgelöste Felsmasse, was den freien Fall des
walder Bäregghütte in der gegenüberliegen-               Gesteins verhinderte und den Prozess ver-
den Felswand Schlossplatte zwei kleine Fels-             langsamte.
stürze fest und meldete dies dem Geologen.
Bei der Besichtigung vor Ort am nachfolgen-             Die grossen Felsmassen bewegten sich bis
den Tag wurden zwei neue Risse im Felsen                zu 125 Zentimeter pro Tag, was diese stark
entdeckt.                                               zerrüttete. Dadurch kam es immer wieder zu
                                                        grösseren Abbrüchen von einigen 100 bis
Der Gletscherrückgang in den letzten Jahr-              knapp 200 000 Kubikmetern. Der Berg fiel
zehnten hatte an dieser Stelle Druck vom Ge-            langsam in sich zusammen. Zwischen 2006
birge genommen, was zu Mikrorissen führte.              und 2009 betrug die Rutschbewegung der
Heftige Regengüsse im August 2005 bauten                Schlossplatte rund 24 Meter pro Jahr. Seit
in den Klüften grossen Wasserdruck auf und              2009 sind nur noch wenige Abbrüche zu be-
brachen so den Fels auf. Normalerweise ver-             obachten, da fast die ganze oberirdische Fels-
läuft ein Fels- oder Bergsturz innerhalb von            masse bereits zer­brochen ist.

Einfache Handmessung der Kluftöffnung
am 15. Juni 2006
                                                                                                        Grafik: GEOTEST AG

Juli 2006                 Juli 2007             Juli 2008               Oktober 2008

Felsrutschung Schlossplatte in Etappen von Juli 2006 bis Oktober 2008
14

     Felssturz Schlossplatte am
     Unteren Grindelwaldgletscher
     als Folge des Gletscherrückzugs.
     Bild oben Juni 2008
     Bild Mitte August 2008
     Bild unten September 2013
15

                Stein- und Blockschlag                         Ausbruchgebiete von Blockschlägen und klei-
                Stein- und Blockschläge sind Ereignisse, die   neren Felsstürzen sind im Berner Oberland
                im Berggebiet immer wieder auftreten. Im Ge-   räumlich sehr ungleich verteilt – ihr Flächenan-
                gensatz zu Fels- und Bergsturz bestehen sie    teil im Osten ist deutlich höher als im Westen.
                nicht aus einer grossen Masse, sondern aus     Im Zusammenhang mit dem Klimawandel inte-
                einem oder wenigen Steinblöcken. Aufgrund      ressieren jene Sturzereignisse, die aus einem
                der Klimaänderung besteht die Gefahr, dass     Permafrostgebiet stammen, das sich bis 2060
                Steinschlag an Felswänden mit degradieren-     massgeblich verändert, und die dabei gleich-
                dem Permafrost häufiger und intensiver wird.   zeitig dauernd bewohnte Gebäude treffen. Die
                Gelangen die Sturzblöcke in Runsen, werden     übrigen Sturzereignisse können zwar ebenfalls
                sie abgebremst und kommen vielfach inner-      eintreten, gehören aber zu den «normalen»
                halb des Gerinnes zum Stillstand. Da hoch-     Ereignissen, die bereits in der Gefahrenkarte
                gelegenes Gelände generell viele Runsen und    berücksichtigt sind. Insgesamt sind im Berner
                Rinnen aufweist, werden sich die meisten       Oberland in Folge des Klimawandels sieben
                Sturzblöcke aus den periglazialen Ausbruch-    Wohnhäuser resp. Häusergruppen potenziell
                gebieten dort ansammeln und nicht bis in den   stärker oder häufiger durch Steinschlag be-
                Talboden gelangen. Allerdings können sie von   troffen. Diese sind in der Gefahrenkarte aber
                Murgängen weitertransportiert werden und       bereits heute als von Steinschlag gefährdet
                dabei deren Geschiebefracht massgeblich        eingestuft.
               ­erhöhen.

Prozessräume möglicher Stein- und Blockschlagereignisse im Berner Oberland

                                                                                Perimeter GHKperiGlazial
                                                                                Stein- und Blockschlag aus
                                                                                Periglazialraum
                                                                                Stein- und Blockschlag in übrigen
                                                                                Gebieten
16

        Eislawinen                                     reichen schon 25 Grad Neigung aus. Bei Hän-
                                                       gegletschern kann der Temperaturanstieg also
     Unter dem Begriff «Eislawine» versteht man        eine Eislawine auslösen. Auch der Gletscher-
     den unvermittelten und raschen Abgang von         rückzug in steilere, höher gelegene Gebiete
     grossen Eismassen. Auslöser dafür sind soge-      kann den Gletscher instabiler machen oder
     nannte Gletscherstürze, die sehr selten auftre-   Eisabbrüche mit nachfolgenden Lawinen för-
     ten und nur begrenzt durch den Klimawandel        dern. Gleichzeitig kann die Klimaänderung
     beeinflusst werden. Eislawinen können ent-        aber auch heutige Gefahrenquellen eliminieren:
     weder aus Rampen- oder Klippengletschern          Lässt der Gletscherrückzug das Eis in steilen
     entstehen. Bei letzteren kündigen sich grös-      Partien abschmelzen, treten dort künftig keine
     sere Eisabbrüche in der Regel durch mehrere,      Eislawinen mehr auf.
     aufeinanderfolgende kleine Abbrüche an, wäh-
     rend beim Rampentyp solche Vorankündigun-         Die Studie GHKperiGlazial zeigt potenzielle
     gen oft fehlen.                                   Gletscherabbruchgebiete und deren maximale
                                                       Reichweite auf. Es wurde festgestellt, dass im
     Die Stabilität von Gletschern hängt stark vom     Berner Oberland sieben potenzielle Eislawinen
     Temperaturzustand in ihrem Inneren und an         direkt Alpgebäude oder wichtige Infrastruk-
     ihrer Basis ab. Kalte Gletscher haben Eistem-     turanlagen treffen können. Bei weiteren 14
     peraturen von deutlich unter 0 Grad Cel-          möglichen Abbruchstellen besteht die Gefahr,
     sius, temperierte Gletscher solche nahe bei       dass das Eis in Seen stürzt und dadurch eine
     0 Grad und polythermale Gletscher sind eine       Prozesskette auslöst. Bei weiteren 15 poten-
     Mischform. Die meisten Gletscher der Alpen        ziellen Abbruchgebieten könnten sich künftig
     unterhalb von ca. 3000 m ü. M. sind tempe-        im Ablagerungsraum Gletscherseen bilden.
     rierte oder polythermale Gletscher. Durch die     Obwohl im mittleren Berner Oberland weniger
     Klimaänderung können sich kalte Gletscher         Gebiete gletscherbedeckt sind als im östlichen
     oder kalte Teile von polythermalen Gletschern     Teil, sind die Siedlungsräume vielerorts näher
     erwärmen und instabiler werden. Bei kalten        an steilen Gletschergebieten und deshalb eher
     Gletschern treten Eislawinen ab Neigungen         durch Eisabbrüche gefährdet.
     von 45 Grad auf, bei temperierten Gletschern

     Prozessräume möglicher Gletscherabbrüche im Berner Oberland

                                                                                                        Perimeter GHKperiGlazial
                                                                                                        Gletscherabbruchgebiete
17

> Der Altelsgletscher:                             ser zerrissen. Ein Drittel des Waldes sowie
Beispiel einer Eislawine                           ein grosser Teil des Ertrages an Käse, Butter
Am 11. September 1895 ereignete sich auf           und Ziger aus diesem Sommer waren vernich-
3340 m ü. M., an der Altels bei Kandersteg der     tet. Schon früher, am 18. August 1782, trat
wohl grösste Eis­abbruch des Alpenraumes.          ein ähnliches Ereignis ein, bei dem ebenfalls
Rund 5 Millionen Kubikmeter Eis rutschten          mehrere Leute und etliches Vieh ums Leben
aus dem Gipfelbereich der Altels und donner-      ­kamen.
ten auf die darunterliegende Alp. Die Eislawine
brandete am Gegenhang 320 Meter hoch auf          Die Eislawine an der Altels dürfte hauptsäch-
und lagerte sich auf rund 120 Hektaren ab.        lich auf die erwärmte Gletschersohle zurück-
Ihre Wucht war so gross, dass Kühe über hun-      zuführen gewesen sein. Heutzutage ist ein
derte von Metern durch die Luft geschleudert      ähnliches Ereignis nicht mehr möglich, da der
wurden. Sechs Menschen verloren ihr Leben,        Gletscher ein viel kleineres Ausmass hat als
169 Tiere wurden erschlagen und vier Häu-         damals.

                                                                                 Eisablagerungen
                                                                                 auf der Spittel­
                                                                                 matte nach dem
                                                                                 Abbruch 1895

                                                                                 Foto der Altels
                                                                                 heute
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        Rutschungen und Hangmuren                    kunft mit langandauernden resp. generell stär-
                                                     keren Aktivphasen zu rechnen – eine Tendenz,
     Bewegen sich ganze Hangpartien aus Ge-          die in den alpinen Gebieten teilweise schon
     steins- und Bodenmaterial gleitend talwärts,    heute beobachtet wird. Stärkeres resp. häufi-
     spricht man von Rutschungen. Diese Prozess­     geres Voranschreiten permanenter Rutschun-
     art kann in den unterschiedlichsten Formen      gen ist vor allem dort zu erwarten, wo sie
     auftreten und je nach Untergrund, Gesteins-     bereits heute aktiv sind und/oder im Einfluss-
     beschaffenheit oder Wasseranteil anders         bereich von Gletschern und Permafrost liegen.
     ­verlaufen. Nachfolgend werden die Typen        Zu erwarten ist jedoch, dass die Veränderun-
      «permanente Rutschungen» sowie «spontane       gen bei dieser Prozessart eher gering aus­
      Rutschungen» und «Hangmuren» eingehender       fallen.
      betrachtet.
                                                     Spontane Rutschungen und Hangmuren
     Permanente Rutschungen                          In beiden Fällen handelt es sich um ein schnell
     Permanente Rutschungen verschieben sich         abfliessendes Gemisch aus Lockermaterial
     kontinuierlich und gleichmässig über einen      und Wasser, das sich in flacheren Gebieten,
     längeren Zeitraum hinweg (Jahrhunderte oder     Mulden oder Runsen ablagert. Die Unter-
     sogar Jahrtausende) hangabwärts. Sie sind im    schiede zwischen spontanen Rutschprozes-
     Berner Oberland an mehreren Orten zu finden.    sen und Hangmuren liegen im Wassergehalt,
     In höheren Gebieten versorgen sie Murgänge      der daraus entstehenden Verflüssigung sowie
     mit Geschiebematerial. In tieferen Lagen tan-   entsprechend unterschiedlichen Reichweiten.
     gieren sie diverse Siedlungsräume direkt.       Sie treten nach intensiver Schneeschmelze
                                                     oder langanhaltenden Niederschlägen und je
     Die klimatischen Veränderungen werden vor       nach bestehender Durchnässung der B   ­ öden
     allem im Herbst zu intensiveren Niederschlä-    auch bei Gewittern spontan und an relativ
     gen führen, was die Aktivität permanenter       ­steilen Hängen auf.
     Rutschungen begünstigt. Deshalb ist in Zu-

     Prozessräume spontaner Rutschungen und Hangmuren im Berner Oberland

                                                                                           Perimeter GHKperiGlazial
                                                                                           Rutschungen im Periglazialraum
                                                                                           Rutschungen in übrigen Gebieten
19

                                      Gelangen Hangmuren in ein Gerinne, liefern               > Die Stiereggmoräne:
                                      sie potenziellen Murgängen entweder viel                 Beispiel eines Rutschprozesses
                                      ­Geschiebematerial oder lösen diese direkt aus.          Der Untere Grindelwaldgletscher reichte beim
                                       Obschon Hangmuren durch die Druckwirkung                letzten Höchststand im Jahr 1860 noch gut
                                       Häuser beschädigen oder gar zer­stören kön-             zwei Kilometer weiter talabwärts als heute. Im
                                       nen, ist ihr durch die Klimaveränderung be-             Bereich der Stiereggmoräne lag das Eis so-
                                       dingtes Gefahrenpotenzial eher bescheiden.              gar über 200 Meter höher – es war problemlos
                                       Denn ihre Reichweite ist meist auf wenige               möglich, über den Gletscher von einer Talseite
                                       hundert Meter beschränkt. Und da sich im                auf die andere zu gelangen. Durch seinen
                                       ­Periglazialbereich kaum Siedlungsräume und             Rückzug wurde eine über 200 Meter hohe, ex-
                                        Infrastrukturanlagen finden, sind keine direkten       trem steile Moräne freigelegt.
                                        Konflikte zu erwarten.
                                                                                               Der Gletscherrückgang sowie die starke Ero­
                                                                                               sion durch Murgänge im Stieregggraben
                                                                                               ­haben diese Moräne sukzessive destabilisiert.
                                                                                                Am 16. Mai 2005 wurden um die Stieregg­
                                                                                                hütte herum Risse im Boden entdeckt. Die
                                                                                                Kante der Moräne war zu diesem Zeitpunkt
                                                                                                noch 80 Meter vom Gebäude entfernt. Die
                                                                                                Reifezeit der Rutschung betrug vom Erken-
                                                                                                nen der ersten Risse bis zum Absturz ledig-
                                                                                                lich 13 Tage: Am 29. Mai 2005 rutschte eine
                                                                                                Masse von ca. 650 000 Kubikmetern Ge-
                                                                                                steins- und Bodenmaterial ab und lagerte sich
                                                                                                auf dem darunterliegenden Gletscher ab.

                                                                                               Die Abrisskante lag direkt unter einer Ecke der
                                                                                               Hütte, die abzustürzen drohte. Das Gebäude
                                                                                               war nicht mehr bewohnbar und wurde ab-
                                                                                               gesperrt. Damit die Gebäudetrümmer später
                                                                                               nicht auf dem Unteren Grindelwaldgletscher
                                                                                               liegen, wurde die 1952 errichtete Hütte am
                                                                                               3. Juni 2005 von der Feuerwehr kontrolliert
                                                                                               abgebrannt.

Situation der Stieregghütte vor (Bild links) und nach (Bild rechts) des Moränenabbruchs 2005                                               Quelle: Geotest AG
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         Murgang                                        mafrost, in Gletscherrückzugsgebieten mit Lo-
                                                        ckermaterial oder in glazialen Sedimentdepots
     Murgänge (oder Schlammlawinen) sind ein            liegen. Durch die zurückgehenden Gletscher
     Gemisch aus Wasser, Geröll, Steinen und            nimmt die Zahl möglicher Murgang-Anrisse
     Holz, das sich schubweise und schnell ins          bis ins Jahr 2060 um 15 Prozent zu. Bei ent-
     Tal wälzt. Der Feststoffanteil beträgt dabei bis   sprechender Topografie können bisher nicht
     zu 70 Prozent, was diese Prozessart relativ        betroffene Gebiete tangiert werden, die jedoch
     ­gefährlich macht. Damit sich Murgänge über-       meist fernab von Siedlungen liegen.
      haupt bilden, braucht es neben mobilisier-
      barem Geschiebe ein steiles Gewässer und          Weil periglazial geprägte Gesteins- und Fels-
      starke Niederschläge oder sonstige grosse         flächen vorwiegend im östlichen Teil des Ber-
      Wassermassen. Einmal losgelöst, kann ein          ner Oberlandes vorkommen, ist dort mit mehr
      Murgang sehr viel Material umlagern. Das          Murgängen aus dem periglazialen Raum zu
      grösste bekannte neuzeitliche Ereignis im         rechnen als im Westen.
      ­Berner Oberland wurde an der Rotlaui bei
       Guttannen beobachtet: Am 23. August 2005         Von den rund 22 000 dauernd bewohnten
       schüttete ein Murgang mit über 500 000 Ku-       Gebäuden im Studienperimeter sind 5000
       bikmetern Geschiebe die Aare und die             (23 Prozent) durch klimabedingte Murgänge
       ­Grimselstrasse stellenweise über zehn Meter     potenziell betroffen. Die meisten davon lie-
        hoch zu.                                        gen schon heute in einem gekennzeichneten
                                                        Gefahrengebiet. Die anderen hingegen ste-
     Durch auftauenden Permafrost und den Glet-         hen in Regionen, in denen nicht nur Verände-
     scherrückgang nimmt das verfügbare Ge-             rungen im Gletschervorfeld, sondern auch im
     schiebe in hochgelegenen und steilen Ge-           Permafrost stattfinden. Gletscherrückzugs-
     bieten künftig stark zu. So dürften Murgänge       gebiete sind selten allein verantwortlich für
     häufiger und/oder intensiver werden. Steile        eine Zunahme der Murgänge: Zwar ist dort
     Gletscherrückzugsgebiete mit viel leicht mobi-     viel Geschiebematerial vorhanden, aber diese
     lisierbarem Material können daher über Jahr-       Gebiete sind grundsätzlich eher flach. Als viel
     zehnte oder Jahrhunderte hinweg periglaziale       wichtigere Quelle für die Entstehung von Mur-
     Murgänge auslösen. Sehr grosse Murgänge            gängen müssen degradierende Permafrostge-
     (Volumen über 100 000 Kubikmeter) können           biete angesehen werden.
     aber nur dort auftreten, wo die Anrisse im Per-

     Prozessräume von Murgangereignissen im Berner Oberland

                                                                                                          Perimeter GHKperiGlazial
                                                                                                          Murgänge aus Periglazialraum
                                                                                                          Murgänge aus übrigen Gebieten
21

Ablagerungen der Murgänge von Ende Juli 2015 im
Färmelberg in der Gemeinde St. Stephan
22

     > Der Spreitgraben: Beispiel eines               wurde. Durch die grossen Ablagerungen in der
     aktiven Murgang-Gebiets                          Aare ging kontinuierlich Land verloren, da sich
     Von 2009 bis 2011 traten im Spreitgraben bei     das Gerinnebett um ein Mehrfaches verbrei-
     Guttannen mehrere sehr grosse Murgänge           terte. Zudem führten anwachsende Geschie-
     auf, welche insgesamt über 600 000 Kubik­        beablagerungen dazu, dass ein Wohnhaus
     meter Geschiebe in die Aare verfrachtet          und ein Stall abgebrochen werden mussten.
     ­haben. Das Einzugsgebiet umfasst rund 4,7       Als Folge haben die verantwortlichen Stellen
      Quadratkilometer und reicht von der Aare-­      aufwändige bauliche und organisatorische
      mündung (950 m ü. M.) bis zum Gipfel des        Massnahmen umgesetzt, um die Infrastruk-
      Ritzlihorns (3263 m ü. M.) hinauf.              turanlagen (z.B. Kantonsstrasse sowie Hoch-
                                                      druck-Gasleitung und Hochspannungsleitung)
     An der vermutlich mit Permafrost durchsetz-      besser zu schützen.
     ten Nordflanke des Ritzlihorns ereigneten sich
     am 17. Juli 2009 bei starkem Regen mehrere       Das Beispiel Spreitgraben zeigt exemplarisch
     Felsstürze, die grosse Gesteinsmassen auf        auf, wie die Verkettung mehrerer Prozesse zu
     der Schafegg (ca. 2500 m ü. M.) ablagerten.      einem Problem werden kann. Denn der mut-
     Aus diesen Ablagerungen ergaben sich wiede-      massliche Rückgang von Permafrost am Ritz-
     rum mehrere Murgänge in den Spreitgraben.        lihorn löste zunächst den Felssturz aus, ohne
     Sie bedrohten im Sommer immer wieder die         den die grossen Murgänge gar nicht stattge-
     Strasse, die dadurch periodisch unterbrochen     funden hätten.

                                                                                                        Der ursprüngliche
                                                                                                        Aarelauf beim
                                                                                                        Spreitgraben im
                                                                                                        Jahr 2009

                                                                                                        2009 bis 2011 haben
                                                                                                        mehrere Murgänge
                                                                                                        das Flussbett mit Geröll
                                                                                                        aufgefüllt
23

Murgang
Spreitgraben

Schäden durch
Tiefenerosion
bei der Galerie der
Grimselstrasse

                      Terrainaufschüttung durch die Murgänge 2009 – 2011: Die Aaresohle unterhalb des
                      Spreitgrabens liegt heute 15 bis 20 Meter höher als vor den Ereignissen (Blick talabwärts)

                                                                                                            neuer Querschnitt
                                                                                                            alter Querschnitt

                      965

                      945
                                 Grimselstrasse

                                                            neuer Aarelauf
                      925
                                                                                                           Wanderweg

                      905                                                         alter Aarelauf
                            0                     20   40     60             80   100          120   140               160   180
24

     Vatseret-Gletschersee auf der
     Plaine Morte
25

                  Hochwasser aus                                   Im Berner Oberland könnten im Zuge der Kli-
                Gletscherseen                                      maänderung über 100 neue Seen auf insge-
                                                                   samt 39 Gletschern entstehen. Darunter sind
                Mit dem beschleunigten Gletscherrückgang           teils auch potenziell sehr grosse Seen. Rund
                werden Anzahl und Grösse von Gletscherseen         ein Drittel wird voraussichtlich zeitnah (bis
                künftig zunehmen. Deren Entwicklung lässt          2030) entstehen, ein weiteres Drittel bis ins
                sich über Jahre hinweg beobachten, wodurch         Jahr 2050 und das letzte Drittel nach 2050.
                gefährliche Situationen frühzeitig erkannt wer-    Doch bleibt die Unsicherheit, inwieweit sie sich
                den können.                                        effektiv ausbilden oder ob sie rasch wieder
                                                                   mit Geröll zugedeckt werden. Darüber hinaus
                Moränendämme, welche Seen aufstauen, be-           liegen viele dieser potenziellen Gletscherseen
                stehen meist aus losem Lockergestein, das          weit entfernt von Siedlungsräumen oder Infra-
                teilweise mit Toteis durchsetzt ist. Schmilzt      strukturanlagen und werden diese daher nicht
                dieses Eis, wird der Damm zusehends porö-          oder nur marginal tangieren. Sie können je-
                ser und wasserdurchlässiger, was ihn desta-        doch in einer Prozesskette gefährlich werden,
                bilisiert. Als Folge eines kontinuierlich zuneh-   wenn zum Beispiel eine grosse Rutschung ei-
                menden Wasserabflusses kann sich der See           nen See zum Überschwappen bringt und so
                schliesslich entleeren. Eine weitere Gefahr        den Wirkungsraum erweitert. Allerdings liegen
                stellen Impulswellen dar, die durch eine Eis-      27 potenzielle Gletscherseen oberhalb von
                lawine, einen Erdrutsch oder durch Fels- und       Stauseen und stellen im Falle eines spontanen
                Bergstürze ausgelöst werden und Gletscher-         Ausbruchs kaum eine Gefahr für unterliegende
                seen zum Überschwappen bringen. Sie ver-           Siedlungen dar.
                ursachen ein Hochwasser, das bedeutend
                grösser sein kann als ein «normales» durch         Im Rahmen der GHKperiGlazial wurden auch
                Niederschlag verursachtes. Ausserdem bre-          Flutwellenanalysen durchgeführt, jedoch nur
                chen durch Gletschereis gestaute Seen sehr         für bereits heute bestehende Seen. Das Re-
                plötzlich aus. Beispielsweise dann, wenn der       sultat: Bei allen neun betrachteten Seen kann
                steigende Wasserspiegel den Eiskörper auf-         durch eine Eislawine oder einen Bergsturz eine
                schwimmen lässt und das Wasser unter dem           Flutwelle ausgelöst werden. Das verdrängte
                Gletscher hindurch oder durch Spalten und          Wasservolumen ist aber jeweils relativ klein.
                Hohlräume entweicht.                               Somit ist das Gefahrenpotenzial trotz teilweise
                                                                   extrem hoher Abflussspitzen bescheiden.

Lage der potenziellen Gletscherseen

                                                                                        Perimeter GHKperiGlazial
                                                                                        potenzielle Gletscherseen
                                                                                        heutige Gletscher
26

     > Der Faverges-See:                               Die Schneeschmelze im Frühling und der
     Beispiel eines Gletschersees                      ­Regen sowie die Gletscherschmelze im Som-
     Die Plaine Morte ist der grösste Plateauglet-      mer füllen das Seebecken. Unter dem Eis
     scher der Alpen. Er liegt auf einer Hochfläche     bilden sich dann jeweils Abflusskanäle, die
     südwestlich des Wildstrubels (2800 m ü. M.),       immer grösser werden, je mehr Wasser durch-
     auf dem Gebiet der Gemeinde Lenk. Gegen            fliesst. Dieser Prozess dauert so lange an, bis
     Norden hin ist der Gletscher leicht geneigt und    der See schliesslich leer ist. Im Herbst und
     läuft in der schmalen Zunge des Retzliglet-        Winter gehen diese Kanäle durch die Eisbewe-
     schers aus. Hier entspringt der Trüebbach, der     gung wieder zu – und das Schauspiel wieder-
     über mehrere Wasserfälle den steilen Felshang      holt sich im nächsten Jahr.
     hinunter auf den Retzliberg fliesst und sich
     dort mit dem Quellwasser der Siebenbrunnen        Da Wasser immer wärmer ist als Eis, schmilzt
     zur Simme vereinigt.                              das Seebecken kontinuierlich ab, das See­
                                                       volumen wird von Jahr zu Jahr grösser. Da-
     Zwischen 1954 und 2005 hat sich die Fläche        durch nimmt auch das Ausmass eines mög-
     des Plaine-Morte-Gletschers um 16 Prozent         lichen Hochwassers zu. Derzeit liegt dieses
     und sein Volumen um 18 Prozent verringert.        unter der Schadenschwelle. Mit dem weiteren
     Im Jahr 2005 belegte er noch rund 8,4 Quad-       Abschmelzen des Gletschers könnte es je-
     ratkilometer, die Eisdecke war stellenweise bis   doch in Zukunft für das darunterliegende Tal
     zu 235 Metern dick. Seit etlichen Jahren ha-      eine gefährliche Grösse annehmen.
     ben sich am Gletscherrand verschiedene Seen
     gebildet. Der grösste von ihnen, der Faver-
     ges-See im Südosten der Plaine Morte, bricht
     seit 2011 regelmässig einmal pro Jahr aus und
     führt zu Hochwasser in der Simme.

                                                                                                          Hochwasser in der Simme
                                                                                                          beim Seeausbruch 2013
27

                                > Stiereggmoräne:                                  Der Hauptabbruch fand schliesslich am
                                Beispiel einer Impulswelle                         22. Mai 2009 gegen Abend statt. Da die
                                Am 18. Mai 2009 wurden beim Unteren                Moräne in einzelnen Portionen abbrach, er-
                                ­Grindelwaldgletscher frische Anrisse in der       reichten die Wellen nur Höhen von rund zehn
                                 Stiereggmoräne entdeckt (siehe Rutschung          Metern. Der Damm wurde somit nicht über-
                                 auf Seite 19). Schon in den Wochen zuvor          strömt.
                                 ­ereigneten sich kleinere Ab­brüche. Die desta-
                                  bilisierte Moränenmasse betrug zwischen          Vergleichbare Rutschungen an der Stieregg-
                                  500 000 und 800 000 Kubikmetern. Das             moräne sind nach wie vor möglich. Durch
                                  alarmierte die Verantwortlichen. Sie mussten     den neu gebauten Stollen und den rückläufi-
                                  davon ausgehen, dass diese Gesteinsmasse         gen Gletscher weist der See auf dem Unteren
                                  bei einem Absturz in den See Wellen von bis      Grindelwaldgletscher heute aber eine kleinere
                                  zu 17 Metern Höhe auslösen und zu einem          Ausdehnung auf als noch 2009. Dadurch ist
                                  Überschwappen des damals fast randvollen         das Gefahrenpotenzial für das Tal aktuell nicht
                                  Gletschersees führen würde. Da der seeauf-       mehr vorhanden.
                                  stauende, natürliche Damm aus Lockermate-
                                  rial und Eis bestand, hätte eine Erosion zudem
                                  eine grössere Bresche schlagen können, was
                                  den Gletschersee teilweise entleert hätte.

Eintauchen der Rutschmasse
in den Gletschersee

Wellenbildung im Gletschersee
nach dem Abtauchen der
Moränenmasse im See
28
     Fazit

     > Die bestehenden Gefahren-
     karten sind robust
     Die vorhandenen Gefahrenkarten müssen auf-
     grund des heutigen Wissens nicht angepasst
     werden. Denn die meisten Flächen im Sied-
     lungsbereich, die durch Prozesse aus dem pe-
     riglazialen Raum betroffenen werden können,
     sind bereits heute in der Gefahrenkarte ausge-
     schieden. Trotz aller Sorgfalt, mit welcher die
     Studie erstellt wurde, können zukünftige Über-
     raschungen aber nicht ausgeschlossen wer-
     den. Deshalb ist es wichtig, dass die weitere
     Entwicklung des periglazialen Raums aufmerk-
     sam verfolgt wird. Dazu liefert die GHKperi­        > Beispiel Oberer
     Glazial eine wichtige Grundlage. Sie hilft, diese   Grindelwaldgletscher
     sensiblen Gebiete räumlich einzugrenzen und         Ende August 2011 nahm die Geschiebefracht
     deren Entwicklung gezielt zu beobachten.            aus dem Oberen Grindelwaldgletscher schlag-
                                                         artig und massiv zu. Es war eine Phase ohne
                                                         Niederschläge, aber mit sehr hohen Tempera-
     > Beim Murgang sind die                             turen und entsprechend hohem Schmelzwas-
     ­grössten Veränderungen zu                          seranfall. Innerhalb von fünf Tagen wurden aus
      erwarten                                           dem Gletscher und durch Erosionen im Ge-
                                                         rinne 100 000 Kubikmeter Geschiebe in den
     Die durch Sturzprozesse am stärksten betrof-        Talboden von Grindelwald ausgetragen. Dank
     fenen Gebiete liegen in unmittelbarer Umge-         der Intervention mit Baggern konnte verhin-
     bung des Permafrosts, da die Reichweite der         dert werden, dass die Lütschine komplett ver-
     Sturzprozesse nicht so gross ist. Das Gleiche       landete und so Landwirtschaftsland und Ge-
     gilt für die Rutschprozesse. Bei Murgängen          bäude überschwemmt worden wären.
     sind hingegen in einzelnen Einzugsgebieten
     Veränderungen möglich, die zu massiv grös-
     seren Geschiebeverlagerungen führen können.
     Gleichzeitig nimmt die Zahl potenzieller Mur-
     gang-Anrissbereiche in Gletscherrückzugs-
     gebieten und Gebieten mit degradierendem
     Permafrost zu. Beim Murgang sind somit ins-
     gesamt die grössten Veränderungen zu erwar-
     ten.

     > Die Geschiebefracht in den
     Gewässern nimmt zu

     Rutsch-, Sturz- und Murgangprozesse werden
     in Zukunft zu einem viel grösseren Geschie-
     beangebot in Wildbächen und Gebirgsflüssen
     führen. Dadurch nimmt die Geschiebefracht
     zu, was flussabwärts bei Flachstrecken oder
     Schwachstellen zu Problemen führen kann.
29

> Die Gletscher verändern sich

Ein Grossteil der Gletscher wird bis Ende des
21. Jahrhunderts verschwunden sein. Mit den
beschleunigten Veränderungen der Gletscher
wird die Anzahl an Gletscherseen zunehmen.
Steile Gletscher verlieren an Stabilität, was zu
mehr Eisabbrüchen führen kann. Die Entwick-
lung kann aber auch heutige Gefahrenquellen
eliminieren: Wenn der Gletscherrückzug zum
Abschmelzen des Eises in steilen Partien führt,
können dort künftig keine Eislawinen mehr
auftreten.

> Nordexpositionen sind stärker
betroffen als Südexpositionen

In nordexponierten Lagen sind generell grös-
sere Veränderungen zu erwarten als in südex-
ponierten, weil an Nordseiten der Permafrost
heute bis in tiefere Lagen reicht und daher der
Erwärmung stärker ausgesetzt ist.

> Die Hauptveränderungen
geschehen fernab der
Siedlungen

Im Berner Oberland können das Gebiet um
Kandersteg, das Haslital sowie die hinteren
Lütschinentäler als die am stärksten betroffe-
nen Regionen bezeichnet werden. Sehr viele
Veränderungen laufen dort aber weit entfernt
von den Siedlungsräumen ab und erreichen
daher kaum Schadenpotenzial. Deshalb darf
die mögliche Entwicklung nicht dramatisiert
werden. Aus heutiger Sicht ist nicht absehbar,
dass ganze Siedlungen im Berner Oberland
durch die Folgen der Klimaänderung bedroht
wären. Lokal können sich jedoch grosse He-
rausforderungen stellen, wenn beispielsweise
eine Häufung von Murgängen wichtige Ver-
kehrsverbindungen gefährdet oder Gletscher-
seen zu häufigeren und intensiveren Hoch­
wassern führen.
30

     Strubel-Gletschersee auf der
     Plaine Morte
Umsetzung und Monitoring                                                                                                 31

                            Die Studie sorgt dafür, dass potenziellen            In Gebieten, in denen sich risikoträchtige Ver-
                            Konfliktstellen grössere Aufmerksamkeit ge-          änderungen abzeichnen, müssen lokale Ge-
                            schenkt wird und bereits kleine Veränderun-          fahrenbeurteilungen vorgenommen werden.
                            gen hell­hörig machen, bevor die ganz gros-          Sie schaffen die Grundlagen, um entscheiden
                            sen ­Ereignisse auftreten. Handlungsbedarf           zu können, ob Schutzmassnahmen notwendig
                            entsteht in den allermeisten Fällen erst dann,       sind und welcher Art diese sein sollen.
                            wenn Veränderungen beobachtet werden.
                            Dann bietet die GHKperiGlazial gute Grund­
                            lagen für weitere Abklärungen.                            Arten des Monitorings

                            Um mit den Herausforderungen im Periglazial-         Zustands-Monitoring
                            gebiet erfolgreich umzugehen, müssen – wie           Das Zustands-Monitoring überwacht syste-
                            bei Naturgefahren üblich – sämtliche Akteure         matisch die Grunddisposition von Gefahren-
                            effizient zusammenarbeiten. Allen voran sind         prozessen im periglazialen Bereich. Die ge-
                            die kommunalen oder lokalen Sicherheitsver-          sammelten Daten betreffend Gletscher und
                            antwortlichen und die kantonalen Fachstellen         Permafrost helfen den verantwortlichen Stel-
                            in der Pflicht: Sie sollen ihr Wissen und ihre Er-   len, die beobachteten Entwicklungen zu ver-
                            kenntnisse regelmässig untereinander austau-         stehen und daraus Aussagen zum weiteren
                            schen. Dabei spielt auch das Monitoring eine         Verlauf zu formulieren. Das Monitoring erfolgt
                            tragende Rolle, also die systematische Erfas-        jedoch nicht flächendeckend, sondern kon-
                            sung und Beobachtung des Zustands der Ein-           zentriert sich auf ausgewählte, für bestimmte
                            zugsgebiete und der darin ablaufenden Gefah-         Einzugsgebietstypen und Gefahrenprozesse
                            renprozesse. Ein Monitoring ist wiederholt und       repräsentative Regionen. Es beinhaltet eine
                            regelmässig durchzuführen, um zuverlässige           grossräumige Zustandsanalyse der Gletscher
                            Schlussfolgerungen ziehen zu können. Verläuft        resp. des Permafrosts im Berner Oberland.
                            ein beobachteter Prozess nicht wie erwartet          Im Zusammenhang mit dem Permafrost inte-
                            bzw. über- oder unterschreitet er bestimmte          ressieren vor allem, wie sich die Permafrost-
                            Schwellenwerte, greifen die Verantwortlichen         gebiete räumlich entwickeln und wie sich die
                            mit geeigneten Massnahmen ein. Der Haupt-            Mächtigkeit der Auftauschicht im Zeitverlauf
                            wert der GHKperiGlazial besteht darin, dass          verändert. Bezüglich der Gletschervorkommen
                            die Gebiete, in denen ein Monitoring sinnvoll        liegt das Augenmerk darauf, wie schnell sich
                            ist, erkannt und priorisiert werden können.          die Gletscher zurückziehen und wie gross das
                                                                                 Geschiebepotenzial in Gletscherrückzugsge-
                                                                                 bieten ist.

                            > Beispiel Zustands-Monitoring Oberer                nahmen können bei Gletschern Längen- und
                                                                                                  Verlust an Eismächtigkeit zwischen 2009 und 2011
                            Grindelwaldgletscher                                 Dickenänderungen erfasst
                                                                                                       über 40 m    und die Freilegung
                                                                                                       30 bis 40 m
                            Der Obere Grindelwaldgletscher ist im schwei-        grosser Schuttflächen        oder die Bildung neuer
                                                                                                       20 bis 30 m

                            zerischen Gletschermessnetz erfasst. Jährlich        Seen erkannt werden.         Nicht in jedem Fall sind
                                                                                                       10 bis 20 m
                                                                                                       5 bis 10 m

                            werden von seinem Gebiet ein Luftbild und            dazu Luftbilder nötig.bis 5Der
                                                                                                             m     Zustand der Glet-
                            ein Höhenmodell erstellt. Durch den Vergleich        scher kann auch durch periodische Begehun-
                            der Aufnahmen von Jahr zu Jahr kann seine            gen beurteilt werden.
                            Entwicklung verfolgt werden. Mit solchen Auf-

Verlust an Eismächtigkeit
zwischen 2009 und 2011
    über 40 m
    30 bis 40 m
    20 bis 30 m
    10 bis 20 m
    5 bis 10 m
    bis 5 m
32

     Beobachtet wird zudem, wo neue Seen auf,            Ereignis-Monitoring
     an oder vor Gletschern entstehen und ob sich        Seit Jahren erfasst die Abteilung Naturgefah-
     in deren Umfeld Instabilitäten (z.B. labile Morä-   ren des Amts für Wald in einem Ereigniskata-
     nen) abzeichnen.                                    ster systematisch alle Ereignisse von gravita-
                                                         tiven Naturgefahren. Neue Ereignisse werden
     Das Zustands-Monitoring fällt dem Kanton zu         dahingehend beurteilt, ob ihr Auslöser oder
     und wird von der Abteilung Naturgefahren des        Prozessablauf durch Veränderungen im Glet-
     Amts für Wald betrieben. Diese tauscht die er-      scher- oder Permafrostbereich hervorgerufen
     hobenen Daten regelmässig mit dem kantona-          wurden. Ist dies der Fall, so wird zusammen
     len Tiefbauamt aus und hält auch die betroffe-      mit der sicherheitsverantwortlichen Stelle ab-
     nen Gemeinden auf dem Laufenden.                    geklärt, ob weitere Untersuchungen notwen-
                                                         dig sind.

     Gefahren-Monitoring
     Das Gefahren-Monitoring konzentriert sich auf
     bestimmte Gefahrenquellen, die innerhalb kur-
     zer Zeit gefährliche Prozesse hervorbringen
     können oder bereits hervorgebracht haben.
     Diese Art des Monitorings entspricht einem
     Frühwarnsystem. Sobald bestimmte Gefah-
     renquellen aktiv werden, leiten die jeweiligen
     Sicherheitsverantwortlichen allfällig notwen-
     dige Überwachungsmassnahmen ein. Je nach
     Gefahren- und möglichem Schadenpotenzial
     sind dafür technische Überwachungen not-
     wendig. Zuständig für das Gefahren-Moni-
     toring sind die Gemeinden resp. die sicher-
     heitsverantwortlichen Stellen. Die kantonalen
     Fachstellen leisten dabei Unterstützung.

     > Beispiel Gefahren-Monitoring                      zu überwachen. Dieses System erzeugt auch
     Faverges-Gletschersee                               einen Alarm an die Sicherheitsverantwortli-
     Aufgrund der jährlich wiederkehrenden Ent-          chen, so dass diese über einen bevorstehen-
     leerung des Faverges-Gletschersees auf der          den Seeausbruch informiert werden und da-
     Plaine Morte, hat die Gemeinde Lenk ein             durch rechtzeitig vorsorgliche Massnahmen
     Frühwarnsystem auf dem Gletscher eingerich-         wie das Absperren gefährdeter Wanderweg-
     tet, welches den Sicherheitsverantwortlichen        abschnitte veranlassen können.
     erlaubt, den Zustand des Sees kontinuierlich

                      Gletschersee

                Eis

                                                                                   Dorf
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