Kommunikation und Versorgung in der Medizin - Welche Rolle spielt das Geschlecht? - Thieme ...
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Schwerpunkt Kommunikation und Versorgung in der Medizin Welche Rolle spielt das Geschlecht? Julia Schreitmüller1,2, Bettina Pfleiderer1 prozess. Studien bestätigen einen oft unbewussten „Gender Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages. 1 Klinik für Radiologie und Medizinische Fakultät, Westfäli- Bias“, bei dem die Bedeutung von Geschlecht über- oder un- sche Wilhelms-Universität Münster terschätzt wird und damit Fehler während der Diagnose und 2 Institut für Arbeits-, Sozial-, und Umweltmedizin, Behandlung entstehen können. Patienten scheinen Symptome Center for Health and Society, Universität Düsseldorf oft unterschiedlich wahrzunehmen und mitzuteilen. Aber auch Ärzte treffen zuweilen geschlechterabhängig unterschiedliche ZUSA MME N FA SS UN G behandlungsrelevante Entscheidungen. Eine zunehmende Sen- Soziale, aber auch biologische Geschlechteraspekte von Pati- sibilisierung des medizinischen Fachpersonals durch Forschung enten sowie medizinischem Fachpersonal spielen eine wichtige und Lehre, aber auch der breiten Öffentlichkeit ist dringend Rolle im medizinischen Versorgungs- und Kommunikations- notwendig. Einführung len wie Kultur oder Alter. Beispielsweise ist das Östrogen- Unsere Gesellschaft zeichnet sich durch Vielfalt im Hin- defizit nach der Menopause bei Frauen im Gegensatz zu blick auf Merkmale wie Geschlecht, Alter, Religionszuge- Männern einer der häufigsten Gründe für Gesundheitsein- hörigkeit, sozioökonomischer Status und Migrationshin- schränkungen im Alter (wie der Verlust an Knochendich- tergrund aus und ist geprägt von ständiger Veränderung te, kardiovaskuläre Erkrankungen, kognitive Störungen, [4, 10]. Beispielsweise kommt es aufgrund des demogra- Depression oder Inkontinenz) [18]. fischen Wandels zu einer alternden Gesellschaft und einer steigenden Zahl an Ein-Personen-Haushalten vor allem Geschlechteraspekte in der Versorgung bei Frauen [7]. Aber auch die Bevölkerung mit Migrations- hintergrund wird immer heterogener, da verstärkt Men- Epidemiologisch betrachtet machen zunächst die Unter- schen aus Ländern nach Deutschland zuwandern, die dort schiede im Krankenstand und in der Inanspruchnahme bisher nur einen kleinen Teil ausgemacht haben [2]. Di- medizinischer Leistungen zwischen Frauen und Männern versität bedeutet für den Gesundheitsbereich, dass un- den Geschlechterunterschied in der medizinischen Ver- terschiedliche Versorgungsbedürfnisse von Patienten sorgung transparent. So waren im Jahr 2015 Frauen bei- geäußert werden (z. B. hinsichtlich Aufklärung und Kom- spielsweise um 14 % häufiger krankgeschrieben als Män- munikation) und aus medizinischer Sicht häufig ein un- ner, was unter anderem damit zusammenhängt, dass terschiedlicher Versorgungsbedarf bestehen kann (z. B. Frauen deutlich öfter Gesundheitsleistungen in Anspruch hinsichtlich medikamentöser oder psychosozialer Versor- nehmen [25, 26, 33, 35] und häufiger aufgrund von psy- gung) [4]. Agierende im Gesundheitsbereich (Ärzte, Pfle- chischen Erkrankungen krankgeschrieben sind. Des Wei- gepersonal, Psychologen, aber auch die Patienten selbst) teren machen Schwangerschaftskomplikationen 73 % des werden dabei stetig vor neue Herausforderungen gestellt. Geschlechterunterschieds im Krankenstand aus und sind Wird die Diversität der Gesellschaft nicht hinreichend in damit sicherlich als eine der Hauptursachen zu sehen. Müt- den Versorgungsprozess miteingebunden, bleiben Ver- ter melden sich zudem eher als Väter krank, um ihr Kind sorgungsbedürfnisse bzw. medizinischer Bedarf unerfüllt bei Krankheit zu Hause zu versorgen [25]. und nicht nur kommunikative Missverständnisse und Un- zufriedenheit können die Folge sein, sondern auch gravie- Jedoch sind diese Unterschiede im Krankenstand nur ein rende negative Versorgungsergebnisse. Im Folgenden soll (oberflächlicher) Aspekt unter vielen, in dem sich Frau- das Merkmal Geschlecht als wichtiger Aspekt einer diver- en und Männer im Kontext von medizinischer Versorgung sitätssensiblen Versorgung in den Blick genommen wer- unterscheiden. So scheinen sie als Patient oder Patientin den. Besonders ist hier, dass nicht nur sozialgesellschaft- Gesundheit und Krankheit sowie Beschwerden und Sym- liche, sondern auch biologische Unterschiede berück- ptome verschieden wahrzunehmen, sind oft nicht auf die sichtig werden müssen, um eine adäquate Versorgung gleiche Weise bereit und fähig sich diesbezüglich mitzutei- gewährleisten zu können. Zusätzlich muss erkannt wer- len und beschäftigen sich in unterschiedlichem Maße mit den, dass Geschlecht nicht als isolierter Faktor zu sehen Gesundheit und Krankheit [9, 13]. Aber auch als Arzt neh- ist, sondern immer auch zusammenhängt mit Merkma- men sie Symptome manchmal anders wahr und treffen zu- 468 Schreitmüller J, Pfleiderer B. Kommunikation und Versorgung in der Medizin Nervenheilkunde 2020; 39: 468–474
Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages. ▶Abb. 1 Mögliche geschlechterbezogene Einflussfaktoren auf die medizinische Versorgung (eigene Darstellung). weilen unterschiedliche diagnostische und behandlungs- tern sein, obwohl relevante Unterschiede bestehen. Folge relevante Entscheidungen [17, 19]. Im Folgenden soll der ist, dass Geschlechterunterschiede nicht berücksichtigt Einfluss des Geschlechts in der medizinischen Versorgung oder nicht als mögliche Erklärungsvariablen diskutiert genauer betrachtet und biologische, aber auch soziale Ge- werden. Zum anderen werden Geschlechterunterschie- schlechteraspekte aller Beteiligten (Patienten und medizi- de angenommen, wo möglicherweise keine (bzw. weni- nisches Fachpersonal) berücksichtigt werden, um sich der ger ausgeprägte) Unterschiede bestehen. Oder es findet Komplexität dieses Themas nähern zu können (▶Abb. 1). eine Überbetonung der Variable Geschlecht im Vergleich zu anderen Faktoren (z. B. Alter oder Gewicht) statt, die nicht gerechtfertigt ist [16]. Bedeutung des „Gender Bias“ Medizinische Versorgung ist nicht geschlechterneutral. Dabei nimmt nicht nur das Geschlecht des Patienten Ein- Annahme von Gleichheit oder fluss auf den Versorgungsprozess, sondern es kann auch Ähnlichkeit – Medikamentöse entscheidend sein, ob das jeweilige Fachpersonal weib- Behandlung lich oder männlich ist. In diesem Zusammenhang bestä- tigen Studien einen oft unbewussten „Gender Bias“, der Ein Bereich, in dem Geschlechterunterschiede lange Zeit in sich auf das Geschlecht der Patienten und Ärzte sowie auf der Forschung vernachlässigt worden sind und in der Praxis das Geschlechterverhältnis in der Behandlungssituation meist noch unberücksichtigt bleiben, ist die medikamen- bezieht und durch eine systematische Verzerrung zu Feh- töse Behandlung. So wurden bis zum letzten Jahrhundert lern in der Behandlung führen kann. Beispielsweise ergab Frauen und weibliche Versuchstiere systematisch aus me- eine Studie zu Geschlecht und Diabetes, dass Patienten im dikamentösen Forschungsbedingungen ausgeschlossen Vergleich zu Patientinnen mit Typ-2-Diabetes signifikant [27]. Grund war die Annahme, Studienergebnisse würden seltener eine optimale Behandlung zur Vermeidung von durch den weiblichen Hormonzyklus oder die Einnahme möglichen Folgekomplikationen erhalten. Zudem wen- von Kontrazeptiva beeinflusst werden. Zudem befürchtete den Ärztinnen bei Patientinnen und Patienten intensiver man einen frühzeitigen Drop-out aufgrund von Schwan- prognostisch wichtiges Präventionsmanagement als Ärzte gerschaft während des Untersuchungszeitraums. Inzwi- an, und es gelingt ihnen besser als ihren männlichen Kolle- schen besteht die Erkenntnis, dass genau diese hormo- gen, Blutzuckerspiegel und Blutlipidspiegel zu senken [12]. nellen Einflüsse auf Medikamenteneinnahmen notwen- dig zu untersuchen sind. Genauso sollte das Risiko einer Ursache des „Gender Bias“ kann zum einen eine Annahme Medikamenteneinnahme während der Schwangerschaft von Gleichheit oder Ähnlichkeit zwischen den Geschlech- konkreter erforscht werden, wobei zu bestimmten Medi- Schreitmüller J, Pfleiderer B. Kommunikation und Versorgung in der Medizin Nervenheilkunde 2020; 39: 468–474 469
Schwerpunkt kamenten wie Antidepressiva bereits Studienergebnisse krankungen wie Angststörungen oder Depressionen lei- vorliegen [24]. den [5, 28], werden diese Erkrankungen bei Männern häu- fig übersehen oder zu spät erkannt. Deutlich wird das bei- Frauen und Männer unterscheiden sich auf vielfache Weise spielsweise daran, dass Männer sich 3-mal so häufig wie hinsichtlich des Gebrauchs und der Wirkung medikamen- Frauen suizidieren und bei 70 % der Suizide eine depres- töser Behandlungen. Frauen befinden sich nicht nur häufi- sive Erkrankung ursächlich ist [11]. Damit scheinen aktu- ger in medikamentöser Behandlung, sondern leiden auch ell klare Defizite in Diagnostik und Versorgung depressi- öfter als Männer unter deren Nebenwirkungen [26]. So ver Episoden (und psychischer Erkrankungen im Allgemei- besteht für Frauen im Vergleich zu Männern ein um 50 % nen) vor allem bei Männern zu bestehen [40]. Ursächlich bis 70 % höheres Risiko, dass Arzneimittelnebenwirkun- dafür könnte sein, dass zwar depressive Kernsymptome gen auftreten. Zudem kommt es bei Frauen vermehrt zu wie Traurigkeit, Niedergeschlagenheit und Anhedonie von Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages. medikamentös induzierter Lebertoxizität, unerwünsch- beiden Geschlechtern etwa gleich häufig genannt werden, ten gastrointestinalen Ereignissen aufgrund von steroida- sich andere Symptome zwischen den Geschlechtern aber ler entzündungshemmender Medikamente sowie zu me- durchaus unterscheiden können. Zum Beispiel reagieren dikamentös bedingten allergischen Hautausschlägen [31]. Männer bei einer Depression eher aggressiv und risikof- reudig und greifen öfter zu Alkohol und Drogen. Diese ex- Obwohl die Pharmakokinetik (Effekte, denen ein Arznei- ternalen Symptome können besonders zu Beginn häufig mittel im Organismus unterliegt) neuer Substanzen in der die „klassisch“ internalen Symptome wie Selbstwertver- Regel für Männer und Frauen separat beschrieben wird, lust, Antriebslosigkeit oder Verlust an Freude überdecken werden die Behandlungseffekte (pharmakodynamische [40]. Vom Fachpersonal werden solche Verhaltensweisen Effekte) fast nie geschlechtersensibel untersucht [41]. Der dann häufig nicht als mögliche Depressionssymptome er- spezifische Effekt einer hohen Anzahl existierender Me- kannt, sondern als „typisch männliche“ Abwehrstrategi- dikamente auf Frauen ist schlichtweg nicht bekannt. Die en“ eingeordnet [29]. Regel ist, dass bei der medikamentösen Einnahme zwar zwischen Kindern und Erwachsenen unterschieden wird, Ein ähnliches Beispiel findet sich im Bereich der Essstörun- aber nicht zwischen Männern und Frauen. Dabei gilt auch gen. Nur sehr wenige Erkrankungen weisen einen so enor- im Kontext der Arzneimittelwirkung, Geschlecht im Zu- men Geschlechterunterschied auf wie er bei Anorexia und sammenhang mit anderen Einflussfaktoren, z. B. Alter, zu Bulimia nervosa zu beobachten ist. Im Erwachsenenalter sehen. Beispielsweise zeigt sich im Bereich der Psycho- sind bis zu 90 % der an Anorexie oder Bulimie Erkrankten pharmaka, dass prämenopausale Frauen besser als Män- weiblichen Geschlechts [15]. Das hat zur Folge, dass wenig ner auf selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) Wissen zu diesen Erkrankungen bei Jungen und Männern ansprechen, wohingegen trizyklische Antidepressiva bei besteht. So wurde Anorexie bei Männern lange Zeit nicht Männern und postmenopausalen Frauen ähnlich gut wir- (an)erkannt und oft fälschlicherweise als Schizophrenie ken [31]. eingeordnet. Die symptomatische Körperschemastörung wurde dabei im Kontext eines wahnhaften Verhaltens ver- Anders als auf gesellschaftlicher Ebene, setzen sich For- standen. Das DSM-Kriterium einer mindestens seit 3 Mo- scher im Bereich der geschlechtersensiblen Medizin des- naten bestehenden Amenorrhö (Ausbleiben der Menst- halb gegen eine generelle Gleichbehandlung von Frauen ruation) konnte selbsterklärend nicht greifen. Im ICD-10 und Männern ein. Die Forderung nach einer Behandlung, wurde dieses Kriterium deshalb durch das Vorhanden- die die unterschiedlichen biologischen Voraussetzungen sein einer endokrinen Störung (die sich bei Frauen als zwischen den Geschlechtern anerkennt und berücksich- Amenorrhö und Libidoverlust und bei Männern als Libi- tigt, beschränkt sich dabei nicht nur auf die Einnahme von do- und Potenzverlust manifestiert) ersetzt [14]. Medikamenten, sondern bezieht sich auch auf Erkrankun- gen mit unterschiedlichen Prävalenzen, z. B. tritt Osteo- Nicht nur auf psychosozialer Ebene, sondern auch in vie- porose deutlich häufiger bei Frauen auf. Eine zu starke Be- len anderen Bereichen werden bestimmte Diagnosen auf- tonung dieser Geschlechterunterschiede birgt aber auch grund stereot yper Zuordnung zu einem Geschlecht nicht die Gefahr, dass Erkrankungen beim jeweils anderen Ge- oder verspätet gestellt. Beispielsweise wird ein Herzinfarkt schlecht nicht oder zu spät erkannt werden. [30] oder eine HIV-Erkrankung [6] bei Frauen viel später als bei Männern diagnostiziert. Grund dafür ist unter an- derem, dass diese Erkrankungen als „untypisch“ für das Überbetonung der Variable weibliche Geschlecht eingeordnet werden und Frauen Geschlecht – Beispiel psychosoziale deshalb nicht als wahrscheinliche Kandidatinnen gelten. Behandlung Während die Variable Geschlecht einerseits also stereo- typ zu stark betont wird, sind paradoxerweise anderer- Eine solche Überbetonung der Variable Geschlecht findet seits Geschlechterunterschiede in der Symptomatik die- häufig auf psychosozialer und psychiatrischer Ebene statt. ser weitverbreiteten Erkrankungen oft nicht hinreichend Da deutlich mehr Frauen als Männer an psychischen Er- bekannt. Zum Beispiel existiert eine deutliche Chancenun- 470 Schreitmüller J, Pfleiderer B. Kommunikation und Versorgung in der Medizin Nervenheilkunde 2020; 39: 468–474
Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages. ▶Abb. 2 Voraussetzungen auf dem Weg zu einer geschlechtersensiblen Versorgung (eigene Darstellung). gleichheit von Männern und Frauen hinsichtlich kardiolo- Hausärztin bevorzugen würde. Diese geschlechtsspezifi- gischer Behandlungen. Da sowohl Patientinnen also auch sche Präferenz wird unter anderem mit einem patienten- behandelnde Ärzte häufig nicht mit einem Infarkt rech- orientierten Kommunikationsstil erklärt, der häufiger von nen, erhalten Frauen oft nicht rechtzeitig eine adäqua- Ärztinnen praktiziert wird [17]. Während der Konsultation te Behandlung und kommen europaweit meist später ins explorieren Ärztinnen die psychosozialen Umstände der Krankenhaus als Männer [32]. Grund hierfür kann ähnlich Patienten durchschnittlich genauer, spenden dem emoti- wie bei psychischen Erkrankungen sein, dass sich ein Herz- onalen Zustand mehr Beachtung, treffen einen positiveren infarkt bei Frauen häufig symptomatisch anders äußert als Ton, ermöglichen den Betroffenen eine Zusammenarbeit bei Männern, z. B. durch Schmerzen der Kiefergelenke und auf Augenhöhe und ermutigen zu mehr Teilhabe an me- des R ückens sowie vasovagale Beschwerden [34]. dizinischen Entscheidungen. Ärzten wird dagegen häufig ein eher aufgabenorientierter Kommunikationsstil zuge- sprochen, der das Herausarbeiten der Krankheitsgeschich- Kommunikation und Interaktion te sowie das Erklären von Diagnosen und präzisen Behand- Durch fortschreitende Technisierung der Medizin und zu- lungsstrategien beinhaltet [1]. nehmenden Zeitdruck von medizinischem Fachperso- nal tritt die Arzt-Patienten-Kommunikation als eigent- Zudem treffen Ärzte zuweilen unterschiedliche Entschei- lich zentraler Bestandteil des Behandlungsprozesses oft dungen bezüglich Diagnose und Behandlung. Zum Bei- in den Hintergrund [21]. Dabei spielt bei Diagnostik und spiel führen Ärzte bei den gleichen Symptomen häufi- Behandlung, neben (fehlendem) geschlechterbezogenen ger eine Rektaluntersuchung bei männlichen Patienten Wissen, auch der Kommunikationsprozess zwischen Pa- durch als ihre Kolleginnen. Dagegen nehmen Hausärz- tienten und medizinischem Fachpersonal eine tragen- tinnen im Vergleich zu Hausärzten bei Frauen eher eine de Rolle. Vor allem der Hausarzt begleiten die Patienten Vaginaluntersuchung vor [20, 37]. Es scheinen psycholo- häufig über viele Jahre und sind meist erste Anlauf- und gische Barrieren zu existieren, wenn es darum geht, Pa- Koordinationsstelle für die weitere medizinische Versor- tienten des anderen Geschlechts sehr persönliche Fra- gung. Die Freiheit, das Geschlecht des Hausarztes selbst zu gen zu stellen oder intime Behandlungen vorzunehmen. wählen scheint dabei besonders für Frauen entscheidend, Das führt zuweilen dazu, dass notwendige Behandlungen wobei die Mehrheit (z. B. bei sexuellen Problemen) eine nicht stattfinden, Ärzte bezüglich dieser Untersuchun- Schreitmüller J, Pfleiderer B. Kommunikation und Versorgung in der Medizin Nervenheilkunde 2020; 39: 468–474 471
Schwerpunkt gen weniger erfahren sind und seltener relevante Befun- FA ZIT de gemacht werden können. Auch ergeben Studien, dass In der medizinischen Versorgung und Forschung gilt es die Balance Hausärzte und Internisten häufiger und in höheren Dosen zu halten zwischen einer notwendigen Berücksichtigung des Einfluss- Psychopharmaka, Sedativa und Analgetika als ihre Kol- faktors Geschlecht und dem Problem, Geschlechterunterschiede zu leginnen verschreiben (und Patientinnen diese häufiger sehen, wo möglicherweise keine, oder deutlich kleinere als ange- verschrieben bekommen als Patienten) [19, 38]. Ärzte in- nommen, bestehen (Überbetonung von Geschlecht). Beide Herange- terpretieren Gesundheitsbeschwerden bei Frauen öfter hensweisen können eine schlechtere Behandlung und damit negative als psychosomatisch als bei männlichen Patienten. Sie gesundheitliche Konsequenzen für Patienten bedeuten. So führt verschreiben zudem Frauen in der Menopause häufiger zum Beispiel die Annahme von Gleichheit in der medikamentösen hormonelle Ersatztherapien und HIV-positiven Patien- Behandlung bei Frauen zu einem deutlich erhöhten Risiko für Neben- ten häufiger Proteaseinhibitoren als dies bei Ärztinnen zu Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages. wirkungen [8, 26]. Die Überbetonung von Geschlecht kann diagnos- beobachten ist. Aber nicht nur das Geschlecht, sondern tische Fehlentscheidungen zur Folge haben, da bestimmte Erkran- auch die aktuelle Lebensphase kann Einfluss auf medizi- kungen stereotyp einem Geschlecht zugeordnet werden. Nicht nur nische Entscheidungen ausüben. Zum Beispiel verschrei- auf psychosozialer Ebene, z. B. werden Depressionen bei Männern ben Hausärztinnen mit menopausalen Beschwerden Pati- häufiger übersehen, sondern auch in vielen anderen Bereichen, z. B. entinnen im Klimakterium deutlich häufiger hormonelle bei kardiovaskulären Erkrankungen, werden bestimmte Diagnosen Ersatztherapien als ihre männlichen Kollegen oder jün- deshalb nicht oder verspätet gestellt. Lösung auf dem Weg zu einer geren Kolleginnen [1]. geschlechtersensiblen Versorgung und der Vermeidung von diesbe- züglichen Fehlentscheidungen ist sicherlich eine deutliche Sensibi- Darüber hinaus können auch soziale Geschlechtermerk- lisierung des medizinischen Fachpersonals, aber auch der Patienten male der zu behandelnden Person Einfluss auf den versor- (▶Abb. 2). Diese Sensibilisierung erfolgt bereits in ersten Ansätzen gungsrelevanten Kommunikationsprozess nehmen. So un- durch geschlechterbezogene Forschung (z. B. muss Geschlecht bei terscheiden sich Patienten oft in ihrer Einschätzung hin- Förderungen durch die EU in Studien berücksichtigt werden) und sichtlich Gesundheit und Krankheit und präsentieren bzw. Lehre (z. B. bietet die Universität Halle-Wittenberg Handreichungen erklären ihre Symptome in unterschiedlicher Weise oder für die Integration geschlechtssensibler Medizin in die Lehre an, auch versäumen dies. Zum Beispiel sind Männer mehr als Frau- haben einige Universitäten bereits ein entsprechendes Wahlfach en geneigt dazu, gesundheitliche Beschwerden einschließ- eingeführt [22, 23]) sowie entsprechende Fortbildungsmöglichkei- lich psychischer Probleme zu verleugnen oder eigene Lö- ten (z. B. über die Deutsche Gesellschaft für Geschlechtsspezifische sungsversuche zu finden. Frauen berichten dagegen früher Medizin e. V.). Um medizinische Versorgung ausreichend verbessern und häufiger von gesundheitlichen Problemen [1]. Auch zu können, sind jedoch weitere Bemühungen dringend notwendig, können Geschlechterunterschiede bezüglich der Bewäl- z. B. bedarf es einer systematischen Integration von geschlechterbe- tigung von gesundheitsbezogenen und anderen Proble- zogenen Themen in das medizinische Curriculum [22, 36], was nach men beobachtet werden. Wie beschrieben, nehmen Frau- internationalen Bewertungsmaßstäben [39] bisher nur eine medizini- en beispielsweise deutlich häufiger professionelle Hilfe in sche Fakultät in Deutschland erreicht hat. Anspruch. Unklar bleibt dabei, ob Frauen zuweilen „über- Erst wenn sich die medizinische Ausbildung diesbezüglich än- mäßigen“ Gebrauch von Gesundheitsangeboten machen dert, wird die geschlechtersensible Medizin ihr Nischendasein in (Frauen verursachen höhere Gesundheitskosten) oder ob Forschung und Praxis verlassen können. Für zukünftige Ärzte sollte Männer diese „ungenügend“ nutzen. Klar ist allerdings, es als selbstverständlich gelten, dass die Berücksichtigung von dass die deutlich selteneren präventiven Arztbesuche auf sozialem und biologischem Geschlecht ein Teil der personalisier- Seiten der Männer negative Folgen aufweisen. Beispiels- ten, zielgerichteten Diagnostik und Therapie sein muss, um eine weise gehen rund 37 % der Frauen, aber nur 23 % der Män- angemessene Behandlung für Frauen und Männer gewährleisten ner in Deutschland zur Krebsfrühdiagnostik [32]. Die Ein- zu können und die Qualität in der Medizin zu erhöhen. Darüber führung geschlechtersensibler Präventionsprogramme hinaus sollte zukünftig auch eine zunehmende Sensibilisierung scheint dringend notwendig, um die Zielgruppe der Män- dahingehend stattfinden, dass Kommunikation und Behandlung im ner erreichen zu können. Unter anderen erweisen sich die Versorgungsalltag immer mehr in einem „Cross-Cultural Setting“ in medizinischen Praxen ausgelegten Informationen über stattfinden und somit nicht nur von biologischen und sozialen Vorsorgeuntersuchungen oft als problematisch. Aufgrund Geschlechteraspekten geprägt sind, sondern z. B. auch vor sprachli- von sprachlichen Formulierungen und Bildmaterial schei- chen und kulturellen Herausforderungen aufgrund migrationsspezi- nen sich Männer häufig nicht angesprochen zu fühlen. Not- fischer Aspekte stehen [3]. Die Wechselwirkung von Geschlecht mit wendig sind offenbar andere Anreize, um Männer für ihre anderen sozialen Determinanten sollte demnach noch stärker Teil Gesundheit stärker zu sensibilisieren. Letztlich gilt es für der geschlechtersensiblen Medizin werden. Praktizierende im Gesundheitssystem zu berücksichtigen, auf welche Weise Frauen und Männer physische und psy- chische Beschwerden wahrnehmen, interpretieren und präsentieren. Dementsprechend lässt sich das medizini- sche Verhalten so ausrichten, dass die erforderliche indi- viduelle Betreuung gewährleistet werden kann [1]. 472 Schreitmüller J, Pfleiderer B. Kommunikation und Versorgung in der Medizin Nervenheilkunde 2020; 39: 468–474
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CME-Fortbildung Punkte sammeln auf CME.thieme.de Diese Fortbildungseinheit ist bis zu 12 Monate online für die Teilnahme verfügbar. Den genauen Einsendeschluss finden Sie beim Modul auf https://cme.thieme.de/CXERSIH. Sollten Sie Fragen zur Online-Teilnahme haben, finden Sie unter https://cme.thieme.de/hilfe eine ausführliche Anleitung. Wir wünschen viel Erfolg beim Beantworten der Fragen! Unter https://eref.thieme.de/CXERSIH oder über den QR-Code kommen Sie direkt zum Artikel. VNR 2760512020158722310 Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages. Frage 1 Frage 3 Welche Aussage zu Geschlechteraspekten in der medizinischen Welche Aussage zur medikamentösen Behandlung trifft nicht zu? Versorgung trifft nicht zu? A Frauen haben im Vergleich zu Männern ein deutlich höheres A Geschlecht kann nicht als isolierter Faktor gesehen werden, Risiko, dass Arzneimittelnebenwirkungen auftreten. sondern hängt immer auch mit Merkmalen wie Kultur oder B Bis zum letzten Jahrhundert wurden Frauen und weibliche Alter zusammen. Versuchstiere systematisch aus medikamentösen Forschungs- B Frauen sind deutlich häufiger krankgeschrieben als Männer bedingungen ausgeschlossen. (z. B. aufgrund von Schwangerschaftskomplikationen). C Männer befinden sich häufiger als Frauen in medikamentöser C Frauen und Männer melden sich inzwischen fast gleich häufig Behandlung. krank, um ihr Kind bei Krankheit zu Hause zu versorgen. D Pharmakodynamische Effekte werden fast nie geschlechter- D Frauen und Männer beschäftigen sich in unterschiedlichem sensibel untersucht. Maß mit Gesundheit und Krankheit. E Die Pharmakokinetik neuer Substanzen wird in der Regel für E Biologische und soziale Geschlechteraspekte aller Beteiligten Männer und Frauen separat beschrieben. sollten im Behandlungsprozess berücksichtigt werden. Frage 4 Frage 2 Welche Aussage zu psychosozialen Aspekten trifft zu? Welche Aussage trifft nicht auf den sogenannten Gender Bias zu? A Aktuell scheinen keine Defizite in Diagnostik und Versorgung A Sowohl das Geschlecht der Patienten als auch das des Fach- depressiver Episoden bei Männern zu bestehen. personals kann Einfluss auf den Versorgungsprozess nehmen. B Männer zeigen häufig andere externale depressive Symptome B Der Gender Bias kann eine Annahme von Gleichheit oder Ähn- als Frauen. lichkeit zwischen den Geschlechtern sein, obwohl relevante C Anorexie wurde bei Frauen lange Zeit nicht untersucht und Unterschiede bestehen. häufig übersehen. C Folge des Gender Bias können schwerwiegende Fehler in der D Frauen suizidieren sich 3-mal so häufig wie Männer. Behandlung sein. E Deutlich mehr Männer als Frauen leiden an Angststörungen D Eine zu starke Betonung von Geschlechterunterschieden und Depressionen. birgt die Gefahr, dass Erkrankungen beim jeweils anderen Geschlecht zu spät erkannt werden. Frage 5 E Der Gender Bias ist in der Regel nur im psychiatrischen und Welche Aussage zur Überbetonung von Geschlecht trifft zu? psychotherapeutischen Setting zu beobachten. A Eine HIV-Erkrankung wird bei Männern durchschnittlich später diagnostiziert als bei Frauen. B Es existiert keine deutliche Chancenungleichheit von Männern und Frauen hinsichtlich kardiologischer Behandlungen. C Eine Überbetonung der Variable Geschlecht im Vergleich zu anderen Faktoren (z. B. Alter oder Gewicht) ist immer gerecht- fertigt. D Männer mit einem Herzinfarkt kommen europaweit meist später ins Krankenhaus als Frauen. E Ein Herzinfarkt äußert sich bei Frauen häufig symptomatisch anders als bei Männern. ▶Weitere Fragen auf der folgenden Seite … Nervenheilkunde 2020; 39: 475–476 475
Punkte sammeln auf CME.thieme.de Fortsetzung … Frage 6 Frage 9 Welche Aussage bezüglich Interaktion in der Behandlung trifft nicht Welche Aussagen zur Kommunikation von Ärzten trifft nicht zu? zu? A Ärztinnen praktizieren häufiger einen patientenorientierten Dieses Dokument wurde zum persönlichen Gebrauch heruntergeladen. Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verlages. A Hausärztinnen und Internistinnen verschreiben häufiger und Kommunikationsstil. in höheren Dosen Psychopharmaka, Sedativa und Analgetika B Ärztinnen fragen öfter nach psychosozialen Umständen ihrer als ihre männlichen Kollegen. Patienten als ihre männlichen Kollegen. B Vor allem Frauen ist es wichtig, das Geschlecht des Hausarztes C Ärzte tragen dem emotionalen Zustand ihrer Patienten stär- frei wählen zu können. ker Rechnung als Ärztinnen. C Ärztinnen mit menopausalen Beschwerden verschreiben Pati- D Ärzte pflegen häufiger einen aufgabenorientierten Kommuni- entinnen im Klimakterium öfters hormonale Ersatztherapien kationsstil wie zum Beispiel das Erklären von Diagnosen oder als ihre männlichen Kollegen. präzisen Behandlungsstrategien. D Während Ärzte häufiger eine notwendige Rektaluntersuchung E Ein patientenorientierter Kommunikationsstil kann Patienten bei männlichen Patienten durchführen, nehmen Ärztinnen ermutigen, mit ihren Behandlern auf Augenhöhe zu kommu- eher eine indizierte Vaginaluntersuchung bei Frauen vor. nizieren. E Ärzte interpretieren Gesundheitsbeschwerden bei Frauen öfter als psychosomatisch als bei männlichen Patienten. Frage 10 Soziale Geschlechtermerkmale von Patienten können Einfluss auf Frage 7 den behandlungsrelevanten Kommunikationsprozess nehmen. Welche Aussage zu sozialen Geschlechtermerkmalen der Patienten Welche Aussage trifft zu? trifft nicht zu? A Frauen nehmen seltener Präventionsangebote wahr bzw. A Männer sind mehr als Frauen dazu geneigt, gesundheitliche sprechen mit ihrem Arzt seltener über Gesundheitsangebote. Beschwerden zu verleugnen oder eigene Lösungsversuche zu B Frauen und Männer unterscheiden sich nicht in der Häufigkeit, finden. bei ihrem Arzt gesundheitliche Probleme anzusprechen. B In Deutschland nehmen Männer deutlich häufiger als Frauen C Männer, im Vergleich zu Frauen, neigen dazu psychische Prob- das Angebot zur Krebsfrühdiagnostik in Anspruch. leme zu verleugnen und eigene Lösungen zu finden. C Häufig nehmen Frauen und Männer gesundheitliche D Die in Praxen ausliegenden Informationen zu Präventions- Beschwerden unterschiedlich wahr und interpretieren und angeboten scheinen öfters Männer als Frauen zu motivieren präsentieren sie anders. diese auch wahrzunehmen. D Frauen verursachen höhere Gesundheitskosten als Männer. E Ärzte neigen dazu, die Beschwerden von Patientinnen ernster E Frauen nehmen deutlich häufiger als Männer professionelle zu nehmen als die von Patienten. Hilfe in Anspruch. Frage 8 Welcher Schritt zur Sensibilisierung des medizinischen Fachperso- nals wurde in Deutschland bisher nicht gegangen? A Eine systematische Integration von geschlechterbezogenen Themen in das medizinische Curriculum findet an den meisten medizinischen Fakultäten statt. B Bei Förderungen durch die EU muss Geschlecht in Studien be- rücksichtigt werden. C Einige Universitäten haben bereits ein entsprechendes Wahl- fach eingeführt. D Die Deutsche Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin e. V. bietet eine entsprechende Fortbildungsmöglichkeit an. E Die Universität Halle-Wittenberg bietet Handreichungen für die Integration geschlechtssensibler Medizin in die Lehre an. 476 Nervenheilkunde 2020; 39: 475–476
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