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Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXXI (2021), Peter Lang, Bern | H. 1, S. 161–167

Konferenzberichte

Scheitern in der Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit (Interdisziplinäre Tagung in der
Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz v. 11.–13.3.2020)

In ihrer Einführung beleuchteten die Organisato-                   Systemstrukturen begründeten, ‚personalisierten‘
rinnen Sylvia Brockstieger (Germanistik, Heidel-                   Scheitern in der respublica literaria auf.
berg) und Mona Garloff (Neuere Geschichte,                             Helmut Zedelmaier (Halle) (Scheitern als
Stuttgart/Wien) das Problemfeld des Scheiterns in                  historiographisches Konzept. Welche Aufschlüsse
der frühneuzeitlichen Gelehrtenrepublik aus unter-                 ermöglicht es im Blick auf die Frühe Neuzeit?) bot
schiedlichen Perspektiven. Das Scheitern in den                    zunächst einen breiten Überblick über die gegen-
Wissenschaften präsentiere sich als omnipräsentes                  wärtige Publikationslandschaft zum Tagungs-
Phänomen, welches einerseits zu einer sinnvollen                   thema. Ausgehend von der Beobachtung, dass in
Verknüpfung moderner und historischer Problem-                     der Moderne Scheiterns- und Erfolgsnarrative aufs
bestände einlade und sich andererseits aufgrund                    Engste miteinander verknüpft sind, entkräftigte
eines reichen Materialspektrums für interdiszipli-                 Zedelmaier die These, dass es sich beim ‚Schei-
näre Forschungsvorhaben besonders eigne. Neben                     tern‘ um eine spezifische „Signatur der Moderne“
den begriffsgeschichtlichen Präliminarien stellten                 handle. Mit Blick auf die Frühe Neuzeit stellte
die Organisatorinnen außerdem die Leitfragen der                   er sich zudem gegen die reduktionistische These
Konferenz zur Diskussion. Bei der Veranstaltung                    einer universellen Rückführbarkeit des Scheiterns
handelte es sich um die Auftakttagung des durch                    auf die göttliche Ordnung.
die VolkswagenStiftung geförderten Projekts Schei-                     Oliver Bach (München) (Scheitern als Grenz-
tern in den Wissenschaften – historische und systema-              begriff zwischen Tragödie und Utopie) skizzierte die
tische Perspektiven, das u. a. aus der gleichnamigen               konstitutive poetologische Funktion des Scheiterns
interdisziplinären Arbeitsgruppe der Jungen Aka-                   für die literarischen Gattungen der Tragödie
demie der Akademie der Wissenschaften und der                      und der Utopie. Anhand von Fallbeispielen wie
Literatur | Mainz hervorgegangen ist. Eingeladen                   Gryphiusʼ Carolus Stuardus oder Thomas Morusʼ
waren Wissenschaftler*innen aus den Bereichen der                  Utopia zeigte Bach eine enge Verzahnung von
Geschichtswissenschaft, Germanistik, Philosophie                   ethisch-ästhetischer und politischer Funktionali-
und Medienwissenschaft.                                            sierung des Scheiterns in beiden Gattungen in der
    Im Anschluss eröffnete Marian Füssel (Göttin-                  Frühen Neuzeit auf. Eine besondere Rolle wies er
gen) („Erfolgte Widerwärtigkeiten“. Rechtfertigungen               dabei einem auf die poetologische Kategorie des
des gescheiterten Gelehrten) die erste Vortrags-                   Mitleidens gestützten Moralisierungsprozess zu.
sektion. Aus wissensgeschichtlicher Perspektive                    Die Darlegung einer kleinen „Gattungsgeschichte
kategorisierte Füssel das Scheitern zunächst als                   des Scheiterns“ machte deutlich, dass die unter-
Grundelement der conditio humana. Er formulierte                   suchten Gattungsformen in einem diametralen
die These, dass das ‚Scheitern‘ in der Frühen Neu-                 Verhältnis zueinander stehen.
zeit nicht ausschließlich auf strukturelle Gründe                      Im Anschluss referierte Thomas Wallnig
rückführbar sei. Von gleicher Bedeutung sei die                    (Wien) über die Möglichkeit des Scheiterns im
soziale Dimension eines ‚personalisierten‘ Schei-                  studentischen Milieu zu Beginn des 18. Jahrhun-
terns. Füssel zeigte anhand von drei gescheiterten                 derts („Ehe man zu Ehren kommt muß man zuvor
Karrierewegen an der Universität Göttingen die                     leiden“. Eine frühneuzeitliche Erbauungsschrift für
unterschiedlichen Darstellungs- und Perspektivie-                  Studenten mit mangelnder Zukunftsperspektive). In
rungsmodi beim Umgang mit einem nicht durch                        der Erbauungsschrift Gewisser Trost der Studenten

© 2021 The author(s) - http://doi.org/10.3726/92168_161 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0
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zum Besten der studirenden Jugend (1705) des Arztes      im Kontext frühneuzeitlicher Kameralistik eine
Johann Gottfried Toppius werde die Topik mora-           Adaption ökonomischen Wissens auf konkretes
lisch motivierter akademischer Ratgeberliteratur         Handlungswissen dar. Obwohl fünf Jahre nach
weitestgehend verlassen. In Anbetracht prekärer          Marpergers Ableben ein ähnliches Verwaltungs-
Karriereaussichten plädiere Toppius bereits ex ante      organ am kursächsischen Hof realisiert wurde, sei
für eine hohe Frustrationstoleranz und konstatiere       unklar, ob diese Institution in einem Traditions-
Gründe, sich trotz schlechter Perspektiven nicht         zusammenhang zu Marpergers Entwurf stehe und
von einem Studium abbringen zu lassen. Im Sinne          folglich eine Revision seines Status als ‚Gescheiter-
einer Trostschrift funktioniere der Text, insofern       ter‘ zulässig sei.
er individuelle Handlungsmacht gegenüber einem               Auch Stefan Droste (Göttingen) (Offensive
ubiquitären religiösen Determinismus aufwerte.           Engines – Die prekäre Expertise militärtechnischer
    In seinem Beitrag zur Autobiographie Athana-         Projektemacher) widmete sich dem Feld des Pro-
sius Kirchers verwies Andreas Bähr (Frankfurt            jektemachens. Kennzeichnend für seinen Vortrag
a. d. O.) (Gegen das Scheitern. Die „Vita“ Athanasius    war die analytische Herangehensweise, die das
Kirchers) auf eine umfassende Diskrepanz zwischen        Projektemachen als „situative Wissenspraxis“
den providentiellen Erklärungsmomenten und den           verstand und diese perspektivisch in einem Span-
realgeschichtlichen Ereignissen in Kirchers Vita.        nungsfeld von produktiver Innovationskraft und
Besondere Bedeutung wies Bähr dabei der Kircher          probabilistischem Scheitern verortete. Im militär-
widerfahrenen realgeschichtlichen Erfahrung mari-        technischen Kontext erscheinen Projektemacher
timen Scheiterns zu, das zur conditio sine qua non für   als Vermittler eines dezidiert „prekären Wissens“
die Entwicklung seiner Universalgelehrsamkeit und        (Martin Mulsow). Am Projektemacher Nikolaus
die sich dadurch konstituierende Erfolgsgeschichte       Heiliger stellte Droste die vielfältigen Möglich-
als Gelehrter in Rom wurde. Somit handele es sich        keiten des Scheiterns von militärtechnischer Pro-
bei Kirchers Vita nicht nur um die Widerspiegelung       jektemacherei dar, die technologische, ethische,
einer wahrgenommenen Wirklichkeit, sondern sie           (vertrauens-)ökonomische, aber auch ästhetische
präsentiere komplexe narrative Ordnungsstrukturen        Facetten umfassten.
zwischen Providenz und Kontingenz.                           Abgeschlossen wurde der erste Tag mit einer
    Alexander Schunka (FU Berlin) widmete sich           öffentlichen Podiumsdiskussion, bei der Thomas
in seinem Beitrag (Vom Scheitern der Theologen. Be-      Bräuninger (Politikwissenschaft, Mannheim),
merkungen zur protestantischen Irenik um 1700) den       Martin Carrier (Philosophie, Bielefeld), Mecht-
prima facie profanen Gründen für das Scheitern ire-      hild Dreyer (Philosophie, Mainz) und Winfried
nischer Bestrebungen um 1700. Unter der Leitpers-        Schulze (Geschichtswissenschaft, Bochum) zum
pektive des ‚Zu-spät-Kommens‘ als lebensweltlicher       Thema Scheitern und Irrtum in der gegenwärtigen
Form des Scheiterns stellte Schunka die Bedeutung        Wissenschaftskultur diskutierten.
kontingenter Ereignisse dar: Diese hätten mit dazu           Der zweite Konferenztag wurde mit einem
beigetragen, dass die Bemühungen um eine Ver-            Vortrag von Dirk Werle (Heidelberg) (Scheitern
einigung zwischen Reformierten, Lutheranern und          in der Gelehrtenbiographik. Am Beispiel von Fried-
Anglikanern, um die sich kontinentaleuropäische          rich Widebrams „Hodoeporicon exilii“ [1577/1612])
Ireniker bei ihren Englandreisen immer wieder            eröffnet. Widebram thematisiere aus dem Exil die
bemüht hatten, final scheiterten.                        Gründe für sein wissenschaftliches Scheitern im
    Tillman Haug (Duisburg-Essen) (Institutio-           Medium poetischer Reiseliteratur, welche an eine
nalisierte Projektemacherei. Paul Jacob Marpergers       humanistische Tradition anknüpfe. Durch die
Kommerzien-Deputation als gescheiterter Versuch          literarische Behandlung des Scheiterns werde so die
der Ordnung und Operationalisierung ökonomi-             in das Leben getretene Kontingenzerfahrung des
schen Wissens) untersuchte das soziopolitische           Scheiterns in eine narrative Ordnung überführt,
Geflecht nach Gründen für das institutionalisier-        die einer theologischen sowie einer poetologischen
te Scheitern von Marpergers Bemühungen, ein              Logik verpflichtet sei. An Widebrams Reisedich-
Expertengremium zur ökonomischen Evaluation              tung zeigte Werle, wie Literatur auf Krisensitua-
von eingereichten Projekten am kursächsischen            tionen reagieren kann, indem die Erfahrung des
Hof zu etablieren. Marpergers Entwurf stelle             Scheiterns literarisch perspektiviert, allegorisch

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)                                                Peter Lang
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überhöht und in neue Sinnzusammenhänge über-            literaturwissenschaftliche Forschung, die Thoma-
führt wird.                                             sius als ersten Literaturkritiker inszeniert, dieser
    Im Anschluss referierte Tobias Bulang (Hei-         historischen Fremdzuschreibung nicht an.
delberg) (Gelingen und Scheitern bei Leonhard               André Krischer (Münster) verlagerte das Er-
Thurneysser zum Thurn) über polemische Re-              kenntnisinteresse in seinem Beitrag (Praktisch ge-
aktionsmöglichkeiten im Umgang mit der Er-              scheitert. Britische Konsuln in Marokko um die Mitte
fahrung des Scheiterns. Thurneyssers Versuch            des 18. Jahrhunderts) von der Gelehrtenrepublik
der Integration in die bürgerliche Gesellschaft         in die Sphäre frühneuzeitlicher Diplomatie, um
Basels sei vollständig gescheitert. Als Reaktion auf    damit Phänomene des Scheiterns in vergleichender
unterschiedliche Formen übler Nachrede gegen            Perspektive zu beleuchten. Krischers soziologisch
ihn verfasste er eine umfassende Rechtfertigungs-       fundierte Analyse untersuchte die Modalitäten im
und Schmähschrift. Bulang rekonstruierte die            seriellen Scheitern britischer Konsuln im Marokko
motivationale Logik für die Genese der einem            des 18. Jahrhunderts und grenzte unterschiedliche
stark expressiven Äußerungshabitus verpflichteten       Mechanismen bei der Fremdzuweisung des Schei-
Schrift, die zwischen Apologetik und Hassrede           terns in gelehrten und diplomatischen Kontexten
ihren Platz suche.                                      voneinander ab.
    Uwe Maximilian Korn (Heidelberg) (Fried-                Alexander Durben (Münster) behandelte
rich Grick [ca. 1590–1630]: Spiegelfechterei als        in seinem Beitrag (Scheitern von Advokaten vor
literarische Strategie in gelehrten Debatten) schloss   Gericht im England der Sattelzeit) das Problem
einen Beitrag an, der sich mit den Gründen für          des Scheiterns aus rechtshistorischer Perspektive,
das vorgebliche Scheitern Friedrich Gricks aus-         indem er die Mechanismen von Common-Law-
einandersetzte, welcher sich wiederholt unter           Verfahren in den Blick nahm. Anhand der Karriere
Pseudonym in den Diskurs um die Rosenkreu-              des Advokaten Thomas Erskine (1750–1823) iso-
zer-Manifeste einschaltete. Korn distanzierte sich      lierte er die relevanten Faktoren für das Scheitern
von der vorherrschenden Forschungsmeinung,              britischer Advokaten. Erskine zähle trotz eines
welche Grick schlechthin als ‚gescheitert‘ darstellt:   nahezu ausgewogenen Sieg-Niederlage-Verhält-
Grick habe gerade im Modus der ihm attestierten         nisses in den von ihm verhandelten Fällen zu den
‚Spiegelfechterei‘ die Prinzipien des Diskurses,        erfolgreichsten Anwälten seiner Zeit. Durben
der durch anonyme Autorschaft sowie durch die           betonte dabei besonders die Signifikanz unter-
ambivalenten Legitimationsmechanismen und               schiedlicher Selbstdarstellungsmodi, welche für
Diskreditierungsstrategien seiner Akteure geprägt       die Fremdzuschreibung von Erfolg und Scheitern
war, offengelegt und zugleich unterlaufen. Gricks       mitunter relevanter waren als der quantifizierbare
Scheitern präsentiere sich folglich auch als Resultat   Ausgang der jeweiligen Gerichtsverhandlung.
einer literaturhistorischen Fehleinschätzung.               Kerstin Roth (Heidelberg) fragte in ihrem
    Christoph Schmitt-Maass (München/Pots-              sprachgeschichtlichen Beitrag (Maria Sibylla Me-
dam) referierte im Anschluss über das ‚Scheitern‘       rian [1647–1717] und die deutsche Sprache) nach
von Christian Thomasiusʼ literaturkritischer            der Bedeutung Merians für die Entwicklung des
Methode (Die „Monatsgespräche“ des Christian Tho-       Deutschen als Wissenschaftssprache. Durch die
masius und andere literaturkritische ‚Scheitereien‘     Verwendung der deutschen Sprache konnte Merian
zwischen 1690 und 1730). Thomasius’ Methoden-           eine große, z. T. nicht akademische Leserschaft
lehre, welche sich von der gängigen Rezensions-         akquirieren, so dass sich ihre Werke als frühe
praxis durch die Formulierung eines definiten           Dokumente erfolgreicher Populärwissenschaft
– dabei aber dem Prinzip der hermeneutischen            kategorisieren ließen. Roth konstatierte, dass Me-
Billigkeit verpflichteten – Urteils unterscheide,       rians Schriften zwar relevant für die Etablierung
könne zugleich als gescheitert und nicht geschei-       des Deutschen als Wissenschaftssprache waren,
tert betrachtet werden. Obwohl sich Thomasius’          Merian aber aufgrund einer eingeschränkten bzw.
literaturkritische Reflexionen zunächst nicht in        verzögerten Rezeption wissenschaftsgeschichtlich
der Rezensionslandschaft durchsetzen konnten            dennoch als gescheitert zu bewerten sei.
und sein Scheitern in der zeitgenössischen Wahr-            Stefan Benz (Bayreuth) widmete sich in seinem
nehmung ein endgültiges war, schließe sich die          Beitrag (Vom misslingenden Leben des Gelehrten.

Peter Lang                                                        Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
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Johann Adam Bernhards „Kurtzgefasste curieuse          sukzessiven Rezeptionsschwund seiner Schriften
Historie derer Gelehrten“ [1718] neu gelesen) den      andererseits, kam Winnerling zu einem apore-
praxeologischen Dimensionen im Umgang mit der          tischen Fazit: Unbestreitbar sei Braun vergessen
omnipräsenten Möglichkeit des Scheiterns in den        worden, aber sei das Vergessen-Werden wirklich
Wissenschaften. Benz analysierte den enzyklopä-        als Form des Scheiterns zu betrachten?
dischen Wissensgehalt in Bernhards Schrift, die in         Den Abschluss der Tagung bildete die Keynote
vier Büchern insgesamt 224 mögliche Abschnitte         des Medienwissenschaftlers Markus Krajewski
einer stets vom Scheitern bedrohten Gelehrtenvita      (Basel) (Triumphale Fehler. Pedanten zwischen
exponiert. Damit diskutierte Benz zugleich die         Montaigne und Moderne). Zunächst wurde die
ambivalente Dimension frühneuzeitlicher Ge-            konzeptionelle Wandelbarkeit der Pedanterie
lehrsamkeit als Lebensentwurf, der sich in einem       als eines spezifischen Gelehrtenhabitus vom
Spannungsfeld von akademischer ‚Widerfahrnis‘          16. Jahrhundert bis in die Gegenwart dargestellt.
(Neuerungssucht, übermäßige curiositas) und bür-       Anschließend ging Krajewski zur „Darlegung einer
gerlichen Widerständen (allgemeiner Broterwerb,        kleinen Epistemologie pedantischer Handlungs-
gesellschaftliche Integration) bewähren müsse.         weisen“ über, indem er eingehend die Fallbeispiele
    Andreea Badea (Frankfurt a. M.) fragte in          des Technikhistorikers Franz Maria Feldhaus und
ihrem Beitrag (Gescheitert, missverstanden und         des Kristallographen Dan Shechtman gegenüber-
genial? Frühneuzeitliche Gelehrte zwischen indi-       stellte. Er lokalisierte die Rolle des Pedanten in den
viduellen Karriereentwürfen und Werkrezeption)         Wissenschaften hierbei in einem Spannungsfeld
nach dem Scheitern als Phänomen der Selbstzu-          zwischen anti-innovativem Habitus und episte-
schreibung. Anhand dreier Fallbeispiele – Gott-        mischer Tugendhaftigkeit: Als „Zollbeamter und
fried Wilhelm Leibniz, Louis Maimbourg und             Grenzpolizist des Wissens“ agiere er einerseits als
Felice Contellori – betonte Badea zum einen, dass      Prüfer des Neuen mit dem Anspruch absoluter
graduelles, d. h. nicht vollständiges Scheitern        Genauigkeit. Als selbsternannter Widersacher
von Gelehrten stets an die bestehenden System-         des Neuen sei er andererseits sowohl die Zu-
strukturen gekoppelt sei. Zum anderen könne in-        schreibungsinstanz für das Scheitern innovativer
dividuelles Scheitern dann diagnostiziert werden,      Wissensbestände als auch der Bezugspunkt eines
wenn die für den Gelehrten adäquate Belohnung          selbstreferentiellen Scheiterns, falls das Neue sich
innerhalb des Systems ausbleibe. Würden fehlende       gegen die Widerstände des Pedanten durchzu-
Anerkennungsmomente innerhalb des eigenen              setzen vermöge.
Bezugssystems subjektiv wahrgenommen, so er-               Im Programm vorgesehen waren außerdem
folge die Zuweisung des Scheiterns im Modus der        weitere Vorträge von Burkhardt Wolf (Wien)
Selbstzuschreibung.                                    (Scheitern und Erfahrungswissen. Zur Genese nau-
    Tobias Winnerling (Düsseldorf) nahm die            tischer Hintergrundmetaphern), Philipp Redl (Frei-
gegensätzliche analytische Position ein und fragte     burg i. Br.) (Scheitern in der Alchemie) und Arndt
in seinem Beitrag (Schnelles Vergessen-Werden          Brendecke (München) (Humanisten in Amerika?
bedeutet langes Scheitern? Die zwei Karrieren          Strukturelle Widersprüche zwischen humanistischer
des Johannes Braun [1628 –1708]) nach den              Gelehrsamkeit und spanischer Kolonialherrschaft),
Mechanismen des Scheiterns im Modus einer              die im Zuge der Widrigkeiten um die Covid-19-
„absoluten Fremdzuschreibung“. Ausgehend von           Pandemie entfallen mussten.
einer Taxonomie des Scheiterns unternahm der
Referent einen betont ergebnisoffenen Versuch, das                                            Björn Thesing
historische Fallbeispiel des Groninger Theologie-      Universität Heidelberg
professors Johannes Braun auf eine spezielle Form      Germanistisches Seminar
des Scheiterns festzulegen. Aus den Spannungen         Hauptstraße 207–209
zwischen Brauns „zwei Karrierewegen“, einer grad-      D–69117 Heidelberg
linigen Professorenkarriere einerseits und einem       

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)                                               Peter Lang
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Lessing digital? Zur Bilanzierung und konzeptionellen Weiterentwicklung der Lessing-
Editorik (Arbeitsgespräch im Lessinghaus in Wolfenbüttel v. 10.–12.3.2020)

Dass „seit rund 20 Jahren in der Lessing-Philo-       Ausgaben, die den vermeintlichen ‚Autorwillen‘
logie der Konsens [herrscht], dass alle existie-      zum Prinzip ihrer editorischen Tätigkeit erhoben.
renden Lessing-Gesamtausgaben im Hinblick             Er betonte, dass 1. ein Text bzw. eine Ausgabe,
sowohl auf ihre materielle Basis als auch auf ihre    nicht aber der ‚Autorwille‘ zu edieren sei sowie 2.
textkritische Präsentation als defizitär beurteilt    die Wirkungsgeschichte eines Werkes wichtiger
werden müssen“, stellte den Ausgangspunkt des         als derselbe sei und 3. die allseits kritisierte Praxis,
Wolfenbütteler Arbeitsgesprächs dar, das auf Ini-     ein Sprachnormsystem über einen Text zu stülpen,
tiative Kai Bremers (Osnabrück) gemeinsam mit         u. a. Folge eines angenommenen Autorwillens sei.
Cord-Friedrich Berghahn (Braunschweig) und            Niefanger unterstrich die Bedeutung und Ein-
Peter Burschel (Wolfenbüttel) an der Herzog           heit der 6-bändigen „frühzeitigen Werkausgabe“
August Bibliothek stattfand. Die Lessing-Edi-         Lessings, mit der dieser sich erstmals als Autor
tionsgeschichte spiegelt wie kaum eine zweite die     der literarischen Öffentlichkeit präsentierte, und
Geschichte der Editionswissenschaft des 19. und       verdeutlichte deren ungenügende Edition an-
20. Jahrhunderts wider: angefangen mit der großen     hand dreier Erzählungen. Er wies daraufhin, dass
24-bändingen historisch-kritischen Ausgabe Karl       neben dem Autor noch viele weitere wie Verleger,
Lachmanns und Franz Munckers (1886–1924)              Setzer und Kupferstecher an der Herstellung der
über zahlreiche kommentierte Studienausgaben          Lessing’schen Schriften beteiligt waren und diese
mit unterschiedlichen Interessenschwerpunkten         Werkstatt auch editorisch mitbedacht werden
(v. a. Petersen/Olshausen, Rilla, Göpfert) bis hin    müsste.
zur 12-bändigen Ausgabe Wilfried Barners im               Mark-Georg Dehrmann (Berlin) berichtete
Deutschen Klassiker Verlag (1985 ff.). Und so         ausführlich von einem neueren Manuskriptfund
wundert es nicht, dass das Arbeitsgespräch unter      (Von der Aehnlichkeit der Griechischen und Deut-
dem für die gegenwärtige Editionswissenschaft         schen Sprache; 2016 gemeinsam mit Jutta Weber
prägenden Begriff digital stand.                      bei V&R veröffentlicht). Seine Ausführungen
    Das Arbeitsgespräch wurde von den Veranstal-      machten klar, wie wenig zuverlässig die Angaben
tern in vier Panels aufgeteilt, die sich mit 1. den   über Manuskripte bei Lachmann/Muncker bis-
editorischen Herausforderungen, 2. dem Stand der      weilen sind. Dehrmann formulierte die Hoffnung,
Editionsphilologie, 3. den Anforderungen an eine      dass bei genauer Recherche und etwas Finderglück
Lessing-Edition sowie 4. aktuellen Tendenzen der      womöglich noch weitere verschollene Manuskripte
Lessing-Forschung beschäftigten.                      Lessings auftauchen könnten.
    Im ersten von Elke Bauer (Marburg) mode-              Christine Vogl (München/Halle) verdeut-
rierten Panel (Aktuelle Herausforderungen an die      lichte anhand der handschriftlich überlieferten
Lessing-Editorik) verdeutlichte Winfried Woesler      Nachlassstücke zu Lessings Laokoon-Projekt die
(Osnabrück) anhand einer als handschriftlichem        Unzulänglichkeit der bisherigen Editionen der-
Entwurf überlieferten Szene von Lessings Nathan       selben in Bezug auf Transkription und chronolo-
die Notwendigkeit, dass im Zuge einer neuen           gische Ordnung. Sie plädierte dafür, die Methode
Lessing-Ausgabe vor allem die überlieferten           der analytischen Handschriftenforschung auf den
Manuskripte erneut von Grund auf textkritisch         gesamten handschriftlichen Bestand Lessings
durchzusehen seien. Dabei wies Woesler darauf         (1.800 Manuskriptblätter sowie die Briefe) an-
hin, dass es zwar enorme technische Fortschritte      zuwenden, um mittels detaillierter Analysen des
bei der Erschließung und Reproduktion von             Papiers, der Schrift und des Beschreibstoffs valide
Handschriften gebe, gleichzeitig aber Papier und      Datierungen der Materialien vornehmen zu kön-
Beschreibstoff der Lessing’schen Handschriften        nen. Vogl empfahl dabei auch die Anwendung der
zunehmend verfallen.                                  Röntgenfluoreszenzanalyse, mit der sie sehr gute
    In seinem Vortrag zu den Herausforderungen        Erfahrungen bei der Datierung der Materialien
einer Edition von Lessings Schrifften (1753–55)       zum Laokoon-Projekt gemacht habe.
übte Dirk Niefanger (Erlangen) Kritik an

Peter Lang                                                       Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
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    Dass die Editorik den Boden für die weitere            Das dritte Panel widmete sich den Anforderun-
Forschung ebnet, indem sie Fragestellungen er-         gen, den die gegenwärtige Forschung an eine neue
möglicht, aber auch verstellt, führte Carolin          Lessing-Ausgabe stellen könnte und wurde von
Bohn (Braunschweig) anhand dreier ausgewählter         den Vortragenden oft etwas flapsig mit ‚Wunsch-
Forschungsansätze vor und wies dabei darauf hin,       liste‘ betitelt.
dass bei der Konzeption einer digitalen Lessing-           Friedrich Vollhardt (München) rekonstru-
Edition eine flexible Anordnung der Materialien        ierte in seinem Vortrag ausgehend von Lessings
je nach Nutzerinteresse wünschenswert sei.             Jugendkomödie Die Juden eine Vielzahl von
    Am Beispiel des Briefwechsels über das Trauer-     Quellen, die ein Netz von Beziehungen der Dohm-
spiel demonstrierte Michael Multhammer                 Debatte über den Anti-Judaismus offenlegten,
(Siegen), dass sich im Lessing’schen Œuvre auch        und formulierte den Wunsch, dass eine digitale
‚Werke‘ befinden, die nicht von Lessing stammen,       Lessing-Ausgabe die Möglichkeiten intertextuel-
sondern durch einen Editor mittels Selektion erst      ler Einbettung nutzen sollte, um Lessing u. a. in
hergestellt worden sind. Die reichhaltige Wir-         seinen Kontexten darzustellen.
kungsgeschichte des Briefwechsels stelle nunmehr           In seinem Vortrag plädierte Nikolaus Immer
neue Editionen vor die Herausforderung, wie mit        (Kiel) dafür, „theatralischen Mischmasch“ wie
solchen wirkmächtigen Werkkonstrukten umge-            die von Lessing und Mylius gemeinsam heraus-
gangen werden könne.                                   gegebenen Beyträge zur Historie und Aufnahme
    Das zweite Panel (Stand der Editionsphilologie)    des Theaters zukünftig vollständig und nicht bloß
eröffnete Rüdiger Nutt-Kofoth (Wuppertal)              in Auswahl zu edieren, da die Verfasserschaft der
mit einem Überblick über die gegenwärtig vor-          sehr heterogenen Beiträge in der „ersten Theater-
liegenden digitalen Editionsprojekte und die           zeitung Deutschlands“ (Barner) oft unklar sei. Für
unterschiedlichen Konzepte und Konnotatio-             Übersetzungen Lessings schlug Immer am Beispiel
nen der verwendeten Bezeichnungen „Archiv“,            von Riccobonis Die Schauspielkunst eine synopti-
„Source“, „Portal“, „database“, „project“, „research   sche Darstellung mit Absatzverknüpfung vor, um
collection“, „knowledge site“ und „digital scholarly   den Vergleich von Original und Übersetzung zu
edition“. Er plädierte dabei für eine „Digitale        ermöglichen.
historisch-kritische Ausgabe“ (DHKA), die eine             Kai Bremer (Osnabrück) fragte in seinem
umfangreiche Liste editorischer Voraussetzungen        Vortrag anhand konkreter Inszenierungen post-
erfüllen müsse, damit sie nicht hinter die be-         dramatischer Theatermacher wie Philipp Preuss
währten Ansprüche einer gedruckten historisch-         nach den Potentialen einer digitalen Lessing-Aus-
kritischen Ausgabe zurückfalle, sondern einen          gabe für das zeitgenössische Theater und betonte,
tatsächlichen Mehrwert mit sich bringe.                dass ein offener Textbegriff durchaus fruchtbar
    Dietmar Pravida (Frankfurt a. M.) gab aus der      für das moderne Theater sein könnte, das nicht
Erfahrung der Erstellung der digitalen Faust-Edi-      mehr bloß „gebrauchsfertige glatte Texte“ suche.
tion (www.faustedition.net) zu bedenken, dass sich         Das vierte von Steffen Martus (Berlin) mode-
bei digitalen Editionsprojekten oftmals aufgrund       rierte Panel widmete sich den Aktuellen Tendenzen
des hohen technischen Anteils das Verhältnis von       der Literaturwissenschaft und ihren Potentialen für
Marginalem und Zentralem verkehre. Es sei daher        die Lessing-Editorik. Hier machten sich Franziska
wichtig, dass die philologischen Mitarbeiter*innen     Klemstein und Jörg Paulus (beide Weimar) für
direkt mit xml arbeiteten, damit sie auf Augenhöhe     eine medienwissenschaftliche Auseinandersetzung
mit den beteiligten Informatikern textkritische        mit Lessing stark, die über den Laokoon hinaus-
und technische Lösungen erarbeiten könnten.            gehe. Als Beispiel führten sie die sich im Aufbau
    Marcus Baumgarten (Wolfenbüttel) berich-           befindende virtuelle Forschungsumgebung The
tete ausführlich von dem Fragment gebliebenen          Virtual Laboratory (http://vlp.uni-regensburg.de)
Projekt einer digitalen Edition von Lessings Über-     vor.
setzungen und skizzierte den bisherigen Umfang             Erika Thomalla (Berlin) verdeutlichte aus
sowie die Potentiale für eine neue Ausgabe der         pra­xeologischer Perspektive, dass gerade die Pro-
‚Lessing-Datenbank‘ (www.lessing-datenbank.de)         jektzusammenhänge bei Herausgeberschaften, Ge-
der Lessing-Akademie in Wolfenbüttel.                  meinschaftsprojekten oder Übersetzungen in einer

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)                                             Peter Lang
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digitalen Lessing-Ausgabe wesentlich deutlicher     Wolfenbütteler Arbeitsgesprächs der Wunsch nach
dargestellt werden sollten und diese konsequent     einer Hybridausgabe, also einer neuen Buchaus-
chronologisch aufgebaut sein müsse.                 gabe, ergänzt um ein digitales Mehr, das bspw.
   In der ausführlichen Abschlussdiskussion, bei    sämtliche Archivmaterialien und eine Suchfunk-
der neben den Veranstaltern noch Anne Boh-          tion biete sowie die Kontexte erschließe. Das Jahr
nenkamp-Renken (Frankfurt a. M.) auf dem            2029, in dem sich Lessings Geburtstag zum 300.
Podium saß, wurde deutlich, dass für die Projekt-   Mal jähren wird, stand bei allen Überlegungen
konzeption einer neuen digitalen Lessing-Ausgabe    im Hintergrund. Zunächst sollen aber die Vor-
zunächst eine Modularisierung und Priorisierung     träge des Arbeitsgesprächs in einem Sammelband
der Arbeitsschritte notwendig ist. Ein Auf bau      dokumentiert werden.
nach Schichten wäre womöglich sinnvoll, so dass
jeweils abschließbare Teilprojekte angegangen                                         Janina Reibold
werden könnten. Zeitnah müsste dann aber auch       Universität Heidelberg
ein Gespräch mit Informatikern geführt werden,      Germanistisches Seminar
um herauszufinden, was tatsächlich möglich ist      Hauptstr. 207–209
und wie viel personeller und finanzieller Aufwand   D–69117 Heidelberg
sich dahinter verbirgt. Weitgehend Konsens war      
unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des

Peter Lang                                                    Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
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