Konfliktträchtige Einheit - Das Projekt Europa in Zeiten des Ukrainekriegs
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Konfliktträchtige Einheit Das Projekt Europa in Zeiten des Ukrainekriegs Der Plan der Europäischen Union, bis zur vollständigen Umstellung ihrer Ökonomie auf erneuerbare Energien billiges Gas aus Russland zu beziehen, wurde mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine hinfällig. Die Handelsbeziehungen, insbesondere die Liefermengen von Gas und Öl, wurden radikal heruntergefahren. Das gefährdete nicht nur die unmittelbare Energieversorgung in den EU-Staaten, sondern auch die Übergangsstrategie bis zum Erreichen der Klimaneutralität. Die Versu- che der Länder, angesichts der Energiekrise Lösungen zum Schutz der jeweils eigenen Wirtschaft zu finden, gehen potenziell zulasten der anderen EU-Partner und erhöhen das Konfliktpotenzial innerhalb der Europäischen Union. Nathan Weis und Peter Schadt S chon unter Bundeskanzlerin Merkel, näm- hatte die EU-Kommission dafür gesorgt, dass lich spätestens seit dem „Klimaschutzpro- russische Lieferanten wie Gazprom in die Lie- gramm 2030 der Bundesregierung zur ferverträge keinerlei Beschränkungen für den Umsetzung des Klimaschutzplans 2050“ ver- Weiterverkauf des Gases einschrieben und auf folgt Deutschland das Ziel der Dekarbonisie- Gewinnbeteiligungen am Weiterverkauf ver- rung aller Industriezweige und – das Stichwort zichteten. Damit konnte die EU darauf bauen, ist hier Energiesystemwende – die vollständige dass sie einen profitablen Markt darstellte und Versorgung seiner Wirtschaft mit erneuerba- für Russland als Abnehmer unersetzlich sein ren Energien. Im Juni 2021 beschloss der Bun- würde. Deutschland hatte sich damit als Haupt- destag das Erreichen der Klimaneutralität be- abnehmer russischen Gases zur zentralen Ver- reits zum Jahr 2045. teilerstation des Rohstoffs in der EU gemacht und Gazprom auf die Rolle eines Logistikers re- Bis zur vollständigen Umsetzung dieses Plans, duziert, der den Weiterverkauf von Gas organi- so die damalige Kalkulation, sollte der deutsche sierte, ohne selbst davon zu profitieren. Wirtschaftsstandort seinen Energiebedarf un- ter anderem mit billigem Gas aus Russland de- Diese Kalkulation wurde nach dem russischen cken. Diese auch „Brückentechnologie“ genann- Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 neu te Übergangslösung war von Deutschland nicht bewertet. Die Position der Stärke, sich und an- nur zur kostengünstigen nationalen Eigenver- deren europäischen Ländern den Zugriff auf sorgung, sondern auch zur Weiterverteilung in- kostengünstiges russisches Gas sichern und nerhalb Europas vorgesehen. Bereits frühzeitig dessen Weiterverkauf in Europa organisieren Titelthema 49
zu können, wurde mit Beginn des Ukrainekriegs von der deutschen Regierung als Schwäche und Abhängigkeit begriffen, die es schnellstmöglich abzustellen galt. Die bisherige Handelsbezie- hung zu Russland, die nach der Logik des Mark- „Die Handelsbeziehung zu Russland, die nach der Logik des Marktes beide Seiten begünstigte, wurde fortan als Instrument Nathan Weis ist Stipendiat im Promotionskolleg gegen Russland „Gute Arbeit in einer transformativen Welt“ und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungs- eingesetzt“ gruppe Globalisierung, Arbeit und Produktion. In seiner Dissertation beschäftigt er sich mit Digita- tes beide Seiten begünstigte, wurde fortan als lisierung und Elektrifizierung der Automobilin- Instrument gegen Russland eingesetzt. Während dustrie mit einem Schwerpunkt auf regionalen es bisher darum ging, Gasmengen zu sichern Dynamiken. nathan.weis@wzb.eu und auszubauen, griff die Bundesregierung nun Foto: © WZB/Martina Sander, alle Rechte vorbehalten. zum Mittel der Reduzierung der Gasmengen, um die russische Wirtschaft zu schädigen. In Kombination mit anderen wirtschafts- und fi- des aktuellen Wirtschaftskriegs. Diesem Be- nanzpolitischen Sanktionen, die, in den Worten kenntnis zum ökonomischen Angriff folgten von Bundesaußenministerin Annalena Baer- seither zehn Sanktionspakete. bock, „Russland ruinieren“ und, wie EU-Kom- missionspräsidentin Ursula von der Leyen es Die Politik der antizipierten Schädigung der formulierte, „Stück für Stück die industrielle russischen Volkswirtschaft hat jedoch auch Basis Russlands abtragen“ sollten, ist die von ihre Kehrseiten für die Europäische Union. der Bundesregierung geforderte Verringerung Denn so sehr sie sich durch die Sanktionsbe- der Abhängigkeiten von Russland Bestandteil schlüsse als entschlossene weltpolitische Ak- teurin unter Beweis stellt, so sehr verstärken sich seitdem auch die ohnehin vorhandenen Unstimmigkeiten zwischen den Mitgliedsstaa- ten. Dies zeigt sich sowohl bei der Sanktions- politik selbst als auch bei der Bewältigung der daraus resultierenden Energiekrise. Die Wirtschaftssanktionen zur Schwächung Russ- lands bedeuten den Abbau der Handelsbeziehun- gen, die die europäischen Länder mit Russland aufgebaut haben. Die Sanktionen haben also die Kehrseite, dass sie gleichzeitig der eigenen Wirt- schaftstätigkeit schaden. Dies ist der erste grund- legende Konflikt, mit der die sanktionierenden Staaten umzugehen haben. Sie treffen die Sank- Peter Schadt forscht an der Universität Tübingen tionen im Wissen, dass diese für sie selbst Ein- und ist dort Lehrbeauftragter am Institut für So- schränkungen zur Folge haben werden, und un- zialwissenschaften. Zu seinen Fachgebieten gehö- ter der schwierigen Abwägung der Frage, welche ren Digitalisierungsprozesse in der Wirtschaft so- und wie viele Einbußen sie ihrer Wirtschaft und wie die Transformation der Sozialen Arbeit. Er ist Bevölkerung wie lange zumuten können. zudem Autor und Gewerkschaftssekretär. peter.schadt@dgb.de Damit die Sanktionen eine möglichst große Wir- Foto: © WZB/privat, alle Rechte vorbehalten. kung erzielen, der russischen Wirtschaft also 50 | Mitteilungen Heft 179 März 2023
EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola begrüßt den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj am 9. Februar 2023 in Brüssel. Auch ein knappes Jahr nach dem russischen Überfall auf die Ukraine steht Europa zur Ukraine – und zusammen. Foto: © Eric Vidal/REA/laif, alle Rechte vorbehalten.
möglichst viele Geschäftsmöglichkeiten entzo- sem Punkt sorgte auch der französische Präsi- gen werden, braucht es eine gemeinsame Sank- dent Macron vor allem in Deutschland und Ost- tionspolitik, darüber waren und sind sich die europa immer wieder für Irritation mit seiner westlichen Staaten grundsätzlich einig. Doch es Forderung, man dürfe Russland nicht zu sehr schädigen und müsse Sicherheitsgarantien ge- ben. Gleichzeitig witterten andere Mitglieds- „Es gibt eine Konkurrenz staaten Chancen für ihre nationalen Handelsbi- innerhalb der EU, wenn es lanzen. So transportierten Reeder in Griechen- land seit Kriegsbeginn russisches Öl im Wert den einzelnen Mitglieds- von 17,3 Milliarden Dollar. Die Schiffseigner ländern darum geht, den erwarteten durch die Embargos auf russisches Öl und den Preisdeckel eine deutliche Gewinn- eigenen Standort mög- steigerung, und die Frankfurter Allgemeine lichst zu verschonen und Zeitung mutmaßte, dass viele griechische Ree- der „nicht unbedingt genau hinsehen“ würden, die negativen Folgen eher was die Durchsetzung des Boykotts angehe. Das bei den Partnern anfallen dürfte zukünftig wiederum Deutschland als entscheidende Ordnungsmacht der EU auf den zu lassen“ Plan rufen, um dafür zu sorgen, dass die Sank- tionsfront gegen Russland geschlossen steht. ergibt sich daraus ein zweiter Konflikt: Die Sank- Dieses Beispiel zeigt die grundsätzliche Kon- tionen wirken sich sehr unterschiedlich auf die fliktträchtigkeit des europäischen Gemein- einzelnen Staaten aus. Die Forderung nach Ge- schaftsprojekts: Für die Mitgliedsländer soll die schlossenheit in der Sanktionspolitik berührt Reichweite kollektiver europäischer Macht, an also die Konkurrenz innerhalb der EU, wenn es den einzelnen Mitgliedsländern gleichzeitig dar- um geht, den eigenen Standort möglichst zu ver- „Der jeweilige nationale schonen und die negativen Folgen eher bei den Nutzen soll mithilfe von anderen Partnern anfallen zu lassen. Dies lässt sich an den Auseinandersetzungen studieren, die Souveränitätsverzicht das Schnüren der einzelnen Sanktionspakete be- erreicht werden – ein gleiteten. Sie betreffen die unterschiedlichsten wirtschaftlichen Bereiche, von Produktion und Widerspruch“ Warenverkauf bis zu Finanzgeschäften. der sie sich beteiligen, ihrem eigenen nationa- Gerade im Rohstoffreichtum Russlands sahen len Nutzen dienen. Damit verschärft sich ein die europäischen Staaten ein geeignetes Feld Widerspruch, der nicht nur der EU, sondern je- für Sanktionen. So wurde ein Embargo auf die der Staatengemeinschaft innewohnt: dass der Einfuhr russischen Öls über den Seeweg be- nationale Nutzen mithilfe von Souveränitäts- schlossen; besonders auf russisches Erdöl an- verzicht erreicht werden soll. gewiesene Länder wie Ungarn konnten jedoch eine Ausnahme für Lieferungen über Pipelines Die Sanktionspolitik hat bis heute zur Folge, durchsetzen. Bei der Preisobergrenze für russi- dass große Teile der europäischen Wirtschaft in sches Öl plädierten Polen und die baltischen Mitleidenschaft gezogen werden. Der neuralgi- Staaten auf einen Preis von 30 bis maximal 40 sche Punkt ist dabei die Energieversorgung, Dollar pro Barrel, um möglichst große finanzi- deren Krise durch den russischen Entschluss elle Schäden anzurichten. Da es aber gleichzei- verschärft wurde, seinerseits die Exporte zu tig zu verhindern galt, dass Russland die Öllie- drosseln. Es kam zur veritablen Energiekrise. ferungen ganz einstellte, wurde die Obergrenze Energie verteuerte sich, und weil sie notwen- auf 60 Dollar pro Barrel festgelegt. diger Teil sämtlicher Produktion ist und die Warenproduzenten die erhöhten Kosten an ihre So legten die europäischen Staaten bei der ge- Kunden weitergeben, stieg das bereits vor der meinsam betriebenen Sanktionspolitik jeweils russischen Invasion hohe Preisniveau weiter unterschiedliche Maßstäbe bezüglich der auf an. Bei der Bewältigung dieser anhaltenden russischer Seite zu erzielenden wirtschaftli- Krise sind die einzelnen europäischen Staaten chen und finanziellen Schwächung an. In die- nach wie vor sehr unterschiedlich aufgestellt: 52 | Mitteilungen Heft 179 März 2023
Sie verfügen über sehr ungleiche Mittel, um die Andererseits bestand sie darauf, dass nichts da- Schäden von ihren Standorten abzuwenden von ihren Anspruch auf zukünftige Klimaneut- und sich in Fragen der Energieversorgung ralität im In- und Ausland relativierte. Den kurzfristig alternativ einzudecken und lang- deutschen Bedarf nach massenhaft billiger fristig neu aufzustellen. Energie und deren Deckung durch fossile Roh- stoffe wollte sie nicht als Widerspruch verstan- Am Beispiel Deutschlands lassen sich diese den wissen: Die fossilen Energien sollen ausge- Ambivalenzen genauer betrachten: Zur Be- schöpft werden, um die Transformation zur de- kämpfung der Inflation setzte Deutschland sei- karbonisierten Produktion ökonomisch ne Kreditmacht ein, was ihm seitens der euro- profitabel zu bewerkstelligen. Jedoch gerieten mit der von Deutschland als kurzfristig be- trachteten „Lösung“ der Energiekrise durch „Die deutsche Kredit- Aufkauf von Gas und LNG auf dem Weltmarkt die anderen europäischen Länder unter noch macht und ihr Einkauf größeren Druck: Die deutsche Kreditmacht und auf dem Weltmarkt trie- ihr Einkauf auf dem Weltmarkt trieben die ben die Preise für die Preise für die fossilen Energieträger weiter nach oben. fossilen Energieträger nach oben“ Die Geschlossenheit der europäischen Haltung gegenüber Russland ist von inneren Gegensät- zen zwischen den Mitgliedsstaaten gekenn- päischen Partner den Vorwurf einbrachte, es zeichnet. Deutschland hält an seinem Plan fest, rette seine Wettbewerbsfähigkeit auf Kosten die Dekarbonisierung seiner Wirtschaft voran- der anderen Standorte, die nicht über ver- zutreiben. Die Art und Weise, wie dieser Plan gleichbare Mittel verfügten. Ähnliches war bei umgesetzt wird, stellt andere europäische Län- der alternativen Energiesicherung zu beobach- der vor immer größere Herausforderungen. ten: Bei der unmittelbaren Deckung des Ener- Diese lassen sich nicht nur aus der Energiepo- giebedarfs war Deutschland innerhalb kürzes- litik erklären, werden durch sie allerdings wei- ter Zeit in der Lage, Gas auf dem Weltmarkt ter vorangetrieben. Gleiches gilt für die Sankti- großflächig aufzukaufen und neue Verträge zu onspolitik gegen Russland insgesamt. Es steht schließen. Gleichzeitig schloss es weltweit Part- zu vermuten, dass die lange Geschichte von po- nerschaften für die Gewinnung und Nutzung litischen Spannungen und Gegensätzen inner- grüner Energien, insbesondere für Wasserstoff. halb der Union auch in naher Zukunft um wei- Einerseits war also die Bundesregierung in Be- tere Kapitel fortgeschrieben wird. Welche Kon- zug auf den Energieträger nicht wählerisch: Sie sequenzen die Gewinner und Verlierer dieser bezog aus den USA und Katar Flüssigerdgas gegensätzlichen Zusammenarbeit ziehen und (LNG) und ließ die dafür notwendige Terminal- ob sie es zu weiteren Zerreißproben kommen Infrastruktur aufbauen, verlängerte die Lauf- lassen wollen, bleibt abzuwarten. Sprengpoten- zeit einiger Atomkraftwerke und weitete den zial bieten die innereuropäischen wie weltpoli- Ausbau des rheinischen Braunkohlereviers aus. tischen Entwicklungen allemal. Literatur Europäischer Rat: Die EU-Sanktionen gegen Russland im Parthie, Sandra: Doppel-Wumms für eine doppelte politi- Detail. Ein Überblick. 2022a. Online: https://www.consilium. sche Herausforderung. Notes du Cerfa, Nr. 173, ifri, Dezem- europa.eu/de/policies/sanctions/restrictive-measures- ber 2022. Online: https://www.ifri.org/sites/default/files/ against-russia-over-ukraine/sanctions-against-russia- atoms/files/parthie_doppel-wumms_dez22.pdf (Stand explained/ (Stand 21.02.2023). 21.02.2023). Europäischer Rat: Infografik – Anstieg der Energiepreise seit 2021. 2022b. Online: https://www.consilium.europa.eu/ de/infographics/energy-prices-2021/ (Stand 21.02.2023). Der Text ist gemäß der Creative-Commons-Lizenz CC BY 4.0 nachnutzbar: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ Titelthema 53
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