PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
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Menschen, Häuser, Orte, Daten ProgrammZeitung CHF 8.00 | EUR 6.50 Juli | August 2014 | Nr. 297 Kultur im Raum Basel Sommer-Agenda-Partner Cover: Filmstill aus ‹The Way He Looks›, Kultkino u S. 39
Reisen mit Literatur dagm a r bru n n e r Editorial. «Man kann es in Basel nicht immer aushalten, besonders wenn man in Basel geboren ist und seine Jugend dort erduldet hat», schrieb die Schriftstellerin Maria Aeber- sold (1908–1982). Als Missionarsgattin hatte sie zehn Jahre auf einer kleinen indonesischen Insel verbracht und ihre Erlebnisse in einem Buch dokumentiert. Ein Auszug davon ist in einer Anthologie über ‹Basler und Baslerinnen auf Reisen› enthalten. Über 50 weitere Berichte von Reisenden aus allen Schichten und sechs Jahrhunderten schildern Ein- drücke und Erfahrungen von Pilger-, Forschungs- und Ver- gnügungsreisen in alle erdenklichen Weltregionen: Europa, Russland, China, Südsee, Afrika, USA, Lateinamerika. Mit Royaume d'Amour en allerlei Verkehrsmitteln oder zu Fuss waren sie unterwegs, sche Projekte an ungewöhnlichen Orten sowie Reisen für l'Isle de manche voll westlicher Vorurteile und Arroganz, manche Bücherfans realisiert. Aktuell bietet sie eine literarische Cythere, 1650 mit Offenheit und nachhaltigem Engagement für andere Städtereise in ihren Heimatort an, just an Goethes 265. Ge- © Haverford College, Kulturen. burtstag – und es hat noch Plätze frei. Eine charmantere Pennsylvania Neben z.T. berühmten männlichen Reisenden kommen Reisebegleiterin kann man sich nicht wünschen! – (Museum auch neun Frauen zu Wort, darunter die Radiomitarbeite- Dem Thema ‹Inseln› ist die neue Ausstellung im Zürcher Strauhof, Zürich) rin Helene Bossert (1907–1999), der eine Russlandreise Literaturmuseum Strauhof gewidmet. Sie befasst sich mit 1953, mitten im Kalten Krieg, zum Verhängnis wurde, oder der Ambivalenz der Abgeschiedenheit – Paradies und Hölle Elvira Wolf-Stohler (geb. 1920), deren Baselbieter Familie – und führt von inspirierenden, schutzbietenden Inseln auf die Krim ausgewandert war, vertrieben wurde und auf über imaginierte, mythische und utopische Orte bis zu tris- abenteuerlichen Wegen in die Schweiz zurückfand. Die ten Eilanden der Sträflinge und Toteninseln. Das Insel- weitgereiste und allzu früh verstorbene Basler Ethnologin Motiv in der Literatur ist vielfältig und auch für Reise- Barbara Lüem (1953–2008) indes wusste Kleinhüningen muffel entdeckenswert. und das Basler Hafenareal besonders zu schätzen. – Mehr zur Hafenkultur, zu Baobab Books, zu Basler Literaturschaffenden und Der Magie von Hafenanlagen sind auch zwei Frauen erle- -vermittelnden u S. 10, 16/17 und 18 gen, die auf einem Containerschiff von Basel nach Rotter- René Salathé, ‹Basler und Baslerinnen auf Reisen›. Eine Anthologie, 192. Neu- dam, Antwerpen und wieder zurück fuhren. Dabei erhiel- jahrsblatt der GGG. Schwabe Verlag, Basel, 2013. 165 S., 36 Abb., kt., CHF 35 ten sie Einblicke in Leben und Arbeit an Bord, die sie mit ‹Zeit im Fluss. Mit dem Containerschiff von Basel nach Rotterdam›. interessanten Texten und faszinierenden Fotos festhielten. Farbfotos Elke Fischer, Texte Sabine Theil (D/E). Benteli, 2013. 200 S., 135 farb. Abb., Hln., 28 x 21,4 cm, CHF 58 Daraus entstand ein schöner Bildband, der u.a. die Poesie Lit. Weimar-Reise: Do 28. bis So 31.8., www.literaturecho.com der Technik veranschaulicht. – Ausstellung ‹Inseln – Paradies und Hölle›: bis So 7.9., Museum Strauhof, Eine leidenschaftliche Reisende ist auch die junge, in Basel Zürich, www.strauhof.ch ansässige Weimarer Kulturwissenschaftlerin Lydia Zimmer. Neben ihrer Arbeit bei Baobab Books betreibt sie ihr eigenes Unternehmen ‹literaturecho›, mit dem sie literari- Hauskultur trägen (Veranstalterwerbung 36%), Inseraten/ Beilagen (35%), Abos (25%), Spenden (3%) und db. Die ProgrammZeitung ist eine Aktiengesell- Internet (1%). Die ProgrammZeitung erhält kei- schaft, die von rund 70 Menschen getragen wird. ne Subventionen, ist seit 2001 aber als gemein- Inhalt Nun wurden uns in letzter Zeit einige unserer nützige Institution anerkannt, d.h. Spenden von Redaktion 3 Aktien zurückgeschenkt, die wir gerne wieder in mindestens 100 Franken können vom steuer- Umlauf bringen würden. InteressentInnen sind baren Einkommen abgezogen werden. Zuwen- Kulturszene 24 also herzlich willkommen – first come, first dungen in jeder Höhe sind hilfreich und auf Agenda 46 serve! (Nominalwert 500 CHF). Zwar gibt es jeden Fall ein Mehrwert für die Kultur! keine Dividende, aber jährlich die Einladung zu Die Ferienzeit naht – auch für uns. Diese Ausga- Kultursplitter 70 unserer GV, die vertiefte Einblicke in unseren be gilt für zwei Monate (Juli und August) und Kurse 75 Betrieb und Möglichkeit zur Mitgestaltung gibt. enthält wieder eine Fülle von Kulturangeboten Und das abschliessende Gourmetbuffet ist kon- aus der Region. Wir wünschen Ihnen viel Lese-, Impressum 75 junkturresistent! ... Wetter- und Ferienglück! Ab August sind wir Ausstellungen & Museen 76 | 77 Gerne verraten wir auch, wie sich unsere Ein- wieder für Sie da. nahmen zusammensetzen: aus Kulturszene-Bei- Essen & Trinken 78 Juli | August 2014 | ProgrammZeitung | 3
Generationenkonflikt andersrum a l f r e d s c h l i e nge r Ménage à trois a l f r e d s c h l i e nge r Schillers Liebesleben im Kino. Man muss keineswegs ein Fan von Historien- schinken sein, um an diesem Film Gefallen zu finden. Dominik Graf, zehnfacher Grimme-Preis träger und bisher vor allem bekannt als Thriller- Spezialist, erzählt in ‹Die geliebten Schwestern› von den Liebeswirren Friedrich Schillers (Florian Stetter) mit den so ähnlichen und doch so un- gleichen Schwestern Charlotte und Caroline von Lengsfeld. Die jüngere, zurückhaltendere Char- lotte (Henriette Confurius) heiratet er schliess- lich und hat mit ihr Kinder, der älteren, unglück- lich verheirateten Caroline (Hannah Herzsprung) ist er erotisch verfallen. Graf verfilmt den historischen Stoff mit einem star- ken Akzent auf der Unmittelbarkeit der Gefühle Filmstills aus Die Filmkomödie ‹Wir sind die Neuen› spielt gewitzt mit Klischees. ‹Wir sind in dieser unkonventionellen Ménage à trois. Wollen Sie wieder mal (fast) ohne Reue lachen im Kino? Dann sind Sie in die Neuen› Sehr frisch und modern wirken diese leiden- der Generationenkomödie von Ralf Westhoff (‹Shoppen›, ‹Der letzte schöne (oben) und schaftlichen Ausbrüche im gesellschaftlichen ‹Die geliebten Herbsttag›) bestens aufgehoben. Da beschliessen drei Junggebliebene an der Schwestern› Korsett. Das Echte reibt sich am Künstlichen. Das Grenze zum Pensionsalter, sich wieder, verschiedenen Nöten gehorchend, Liebesgeschehen wird parallelisiert mit den poli- zu einer WG zusammenzuraufen – wie damals zu ihren Studienzeiten vor tischen Umbrüchen der Französischen Revolu- bald 40 Jahren. Und so ziehen sie in eine Wohnung direkt unterhalb der tion und ihren Ausläufern bis nach Jena und WG von drei heutigen Studierenden. «Junge Nachbarn, wie schön! – Hallo, Weimar. Der Kampf um Autonomie und Selbst- wir sind die Neuen!», rufen die Alten freudig zur Begrüssung. bestimmung ist ein umfassender. Aber hallo, da treffen verkehrte Welten aufeinander. Die unruhigen Zu Die drei Stunden der wahren Empfindung, die gezogenen feiern feuchtfröhliche Feste bis in alle Nacht und hören laute Graf noch an der Berlinale gezeigt hat, sind in- Musik, den biederen Jungen geht das gehörig auf den Geist, denn sie büf- zwischen für die Kinofassung auf gut zwei Stun- feln auf ihre Prüfungen und müssen morgens früh aus den Federn. Die den gekürzt worden. Der grosse Bogen hat da- Besen klopfen von oben nach unten, von jung zu alt, der Haussegen hängt durch nicht gelitten. Dass zum Beispiel Goethe bald schief. Generationenkonflikt andersrum. So geht das beschwingt und nur kurz und von hinten zu sehen ist, gehört zum munter durch den aufregenden Alltag, und natürlich sind bei diesem Kon- klugen Konzept des Films. Der attraktive Schil- zeptfilm einige der Reibereien auch etwas voraussehbar, aber die gewitz- ler verliert ein wenig von seinem idealistischen ten Dialoge wirbeln derart temporeich und spritzig hin und her, dass das Nimbus, und das ist aufs Ganze gesehen durch- kaum stört. aus ein Gewinn. An Lebendigkeit. Lustvolles Schauspiel. Ralf Westhoff (Regie und Drehbuch) hat bereits Der Film läuft ab Do 7.8. in einem der Kultkinos. in früheren Filmen bewiesen, dass er die Kunst der treffsicheren Pointen beherrscht, die durchaus raffiniert mit den Klischees spielen. Vor allem aber ist diese Komödie ein wahres Fest für SchauspielerInnen. Gisela Schneeberger (bekannt aus den Filmen mit Gerhard Polt) als Anne, die ihr Berufsleben als Biologin den Schleiereulen gewidmet hat, blüht ganz un- eulenhaft auf. Michael Wittenborn kennt man in Basel aus seinen Jahren im Baumbauer-Ensemble als brillanten Bühnenschauspieler; hier gibt er den idealistisch-verkrachten Juristen Johannes so wunderbar linkisch und zerknittert, dass man ihn gleich aufbügeln möchte. Und den notorischen Macho Heiner Lauterbach als Revoluzzer-Eddi hat man kaum je so brüchig, nachdenklich und sympathisch gesehen. Die drei so eifrig wie verzweifelt studierenden Jungen geraten da leicht in Gefahr, gegenüber diesen Alt-Stars etwas zu verblassen. Den Sympathie- Bonus verteilt das Drehbuch eh grosszügiger an sie. Es sind die schrägen Oldies, die letztlich die Probleme der etwas neurotischen Newcomer lösen. Gut möglich, dass also das ältere Publikum in diesem Film etwas mehr zu lachen hat als das jüngere. Der Film läuft ab Do 17.7. in einem der Kultkinos u S. 39 Juli | August 2014 | ProgrammZeitung | 5
Lebenszeichen aus der Todesnähe a l f r e d s c h l i e nge r Sommerkino ‹Miele› heftet sich an Ferse und Seele einer Sterbehelferin. Die junge Irene lebt ein ziemlich abgeschottetes Leben. Fast immer hat sie dagm a r bru n n e r die Kopfhörer im Ohr, schwimmt im Neopren-Anzug ausdauernd im Meer, Festivals und Freilichtkinos. selbst Flirts finden getrennt durch Glasscheiben statt. Mit einem verheira- Spezielle Filmreihen und zahlreiche Vorführun- teten Mann hat die Schöne eine lose Affäre. Ihre Umgebung meint, sie gen unter freiem Himmel kann man auch in die- studiere Medizin. In Wirklichkeit fliegt sie regelmässig nach Mexiko und sem Sommer geniessen. Die Kultkinos zeigen besorgt sich dort veterinärmedizinische Einschläferungsmittel. Zurück in z.B. eine Auswahl aktueller Lieblingsfilme der der Heimat verabreicht Irene sie Todkranken, die nicht mehr leben wollen Filmkritik, die es nicht ins normale Kinopro- und die ihr ein Arzt vermittelt. gramm geschafft haben. Die fünf Filme stam- Sterbehilfe ist in Italien nicht nur verboten, sondern auch als Thema stärker men aus Grossbritannien (‹Shell›), Indien (‹Valley tabuisiert als in manch anderem Land. Irene mit dem Decknamen ‹Miele› of Saints›), Deutschland (‹Finsterworld›), China (Jasmine Trinca) wirkt wie ein klandestiner Todesengel. Sie hat eine Mission, (‹A Touch Of Sin›) und dem Iran (‹Manuscripts aber wir wissen nicht recht, worin die begründet ist. Das macht sie auch Don’t Burn›). Sie entführen mit überraschenden, etwas unheimlich. Da trifft sie auf den Todeskandidaten Grimaldi (Carlo berührenden, skurrilen oder verstörenden Ge- Cecchi), der allerdings keine Sterbebegleitung wünscht. Die Medikamente schichten in andere Welten. – hat sie ihm bereits ausgehändigt, als er ihr gesteht: «Ich bin kerngesund; Seit zehn Jahren wird auch das Bruderholz cine- ich mag einfach nicht mehr leben.» astisch belebt und feiert sein Jubiläum heuer mit Keine einfachen Lösungen. Da revoltiert alles in Irene. So ist ihre Mission einem Openair-Spezialprogramm, das neben Fil- nicht gedacht, sie will nicht dabei behilflich sein, Depressive ins Jenseits zu men exquisite kulinarische Angebote, Musik, befördern. Es entbrennt ein Kampf, der die zwei in eine heftige Auseinan- Slam Poetry, Robi-Spiel-Aktionen, Zirkusdarbie- dersetzung – und bei allen Zynismen, die sie sich an den Kopf werfen, auch tungen, einen ökumenischen Gottesdienst und immer näher zueinander bringt. Beide beginnen sich Sorgen zu machen um einen bäuerlichen Sonntagsbrunch enthält. Die den andern. Es ist der lebendigste Teil des Films, der berührendste. Und drei Filme (‹The Artist›, ‹Die Eiskönigin› und der widersprüchlichste. Einerseits hofft man, dass jetzt der Film nicht die ‹Paulette›) kann man in besonderer Atmosphäre wohlfeile Abkürzung in die Romanze nimmt, anderseits muss man ange- in Nähe des Wasserturms geniessen, auf der sichts des Endes auch fast wieder bedauern, dass er es nicht tut. Das Thema baumbestandenen ehemaligen Militärschanze ist und bleibt schmerzhaft, verweigert sich einfachen Lösungen. Batterie; Kanonenschüsse sind hier nur noch als ‹Miele› ist der Regie-Erstling der Schauspielerin Valeria Golino. Das Dreh- Filmgeräusche hörbar. – buch basiert auf dem Roman ‹Vi perdono›, den Mauro Covachic unter dem Attraktiv sind auch die Kulisse und das Sommer- Pseudonym Angela del Fabbro veröffentlicht hat. Wie das Buch wirkt auch Programm des Neuen Kinos Basel. In luftiger der Film in Teilen quasidokumentarisch. Gleichzeitig sind Bild und Ton Höhe, auf der Ausichtsterrasse des Bernoulli- sehr gekonnt und stimmungsvoll gewählt. Der Sound, den Irene ständig Silos im Hafen, sind 15 Filmperlen zu sehen, dar- im Ohr hat (von Thom Yorke, The Shines und Talking Heads) kontrastiert unter Helvetisches wie Kurt Frühs ‹Bäckerei wirkungsvoll mit den klassischen Klängen, die sich die Todeskandidaten Zürrer›, Fredi Murers ‹Grauzone› und die legen- zum Sterben meist auflegen lassen. Wenn Irene von allem abgekapselt im däre Dokumentation ‹Züri brännt›, ferner u.a. Meer schwimmt, hört man ihren heftigen Herzschlag. Nicht die einzigen Filme von Li Yu, Derek Jarman, Eliseo Subiela, Lebenszeichen aus der Todesnähe. Filmstill Fernando Pérez und Woody Allen sowie Klassi- aus ‹Miele› Der Film läuft ab Do 17.7. in einem der Kultkinos. ker wie ‹Metropolis› von Fritz Lang und ‹A Night in Casablanca› von den Marx Brothers. Kultkino-Spezial: bis 16.7., www.kultkino.ch u S. 39 Bruderholz: 21.–24.8., www.quartieroase.ch Siloterrasse: 16.7. bis 15.8., Info-Tel. 077 421 98 49 (ab 19.30), www.neueskinobasel.ch Ausserdem in Basel: Gerbergässlein: 28.–31.8., www.baselfilmfestival.ch Münsterplatz: 7.–31.8., www.orangecinema.ch Stellwerk St. Johann: bis 13.9., www.hinterdembahnhofgehtdiesonneunter.ch Region: Weil: 31.7.–10.8., www.kieswerk-open-air.de u S. 38 Pratteln: 4.7.–2.8., www.cinema-drive-in.ch Laufen: 21.–30.8., www.openairkinolaufen.ch Reinach: 23.–30.8., www.filmtage-reinach.ch Rheinfelden: 12.–16.8., Feldschlösschenareal, www.openairkino-rheinfelden.ch u S. 38 Überregional: Neuchâtel: 4.–12.7., www.nifff.ch Locarno: 6.–16.8., www.pardo.ch 6 | ProgrammZeitung | Juli | August 2014
Demontage oder Befreiung? a l f r e d s c h l i e nge r Filmstill aus ‹Le Démantèle- ‹Le Démantèlement› reflektiert hoch sinnlich über ihm sein Freund und Buchhalter davon ab: «Die Farm ist ment› Verlust und Abschied. dein Leben. Du hast alles gemacht für deine Töchter, die Wann hat man zum letzten Mal einen Film gesehen, der so müssen jetzt für sich selber schauen.» Dennoch sucht Gaby von den Blicken lebt? Von stillen, anteilnehmenden, trauri- im nahen Städtchen nach einer möglichen Bleibe und einem gen, verwirrten und freudigen Blicken. Und vor allem von neuen Job. Es drückt einem das Herz ab, wenn man den langem, genauem Schauen. In Menschengesichter, in Land- Farmer sich in diesen engen Mini-Wohnungen umschauen schaften, auf Tiere und Gerätschaften. Der Film beginnt sieht. Wird hier das Hohelied auf die selbstvergessene mit der Sicht auf ein frisch geborenes Lamm, wie es zittrig Vaterliebe gesungen? Schauen wir dem Opfer einer emotio- auf seinen Beinchen steht, sich ängstlich aufrichtet. Und nalen Erpressung zu? Oder liegt in dieser Demontage einer dann sehen wir den warmen Blick dieses Schafzüchters in Lebensexistenz auch ein Akt der Befreiung? der Provinz Québec, der liebevoll auf diesen neuen Erden Verlust als Neubeginn? Kaum haben Gabys Geschwister, bewohner schaut. Eigentlich steckt in diesem Auftakt alles die sich 40 Jahre lang nicht um den Hof gekümmert haben, drin, was das Leben dieses Bauern wertvoll macht, seine von den Verkaufsabsichten erfahren, stehen sie auf der Liebe zu Hof und Tier und Landschaft, zu seiner Arbeit, die Schwelle und verlangen ihren Anteil. Im Farmer wächst die er hier seit 40 Jahren Tag für Tag ausübt. Am Ende wird er Erkenntnis, dass der Hof ihn auch einsam gemacht hat. Alle all dies verloren haben. Und dennoch ist dieser stille, herz- haben ihn verlassen, die Geschwister, die Frau, die Kinder. zerreissende Film nicht nur traurig. Dazu ist er viel zu klug, Nicht für diese Farm habe er gelebt, meint er, sondern für zu vielschichtig, zu schön. seine Töchter. Wieviel grossherzige Selbsttäuschung auch Auch hat man keine Sekunde den Eindruck, dass dieser immer darin liegen mag, er verkauft sein Gut und zieht ins Gaby (Gabriel Arcand) ein Schauspieler ist. Zu sehr scheint nahe Städtchen. ihm jeder Handgriff, jede Regung einverleibt zu sein. Null Der Film des Kanadiers Sébastien Pilote ist inspiriert von Getue, die reine Achtsamkeit. Da ist einer mit sich, der Motiven aus Balzacs Roman ‹Le Père Goriot› und Shakes- Arbeit und der Welt um ihn herum im Reinen. Und das peares ‹King Lear›. Gegen Ende besucht die jüngere Tochter nimmt der Film in seinen Bildern und seinem Rhythmus den Vater. Sie ist Schauspielerin geworden und scheint ihm auf. Es ist der Rhythmus der Schafe, der Landschaft und näher als die ältere. Sie erlebt mit ihm die Versteigerung dieses zurückhaltenden Menschen. der Farm. Dabei fallen kaum Worte zwischen ihnen. Aber Emotionale Erpressung? ‹Démantèlement› erzählt von sie reden mit Blicken, die den ganzen Schmerz zeigen und einem schmerzhaften Abschied. Gaby lebt allein, die Frau verstehen. Ist der Abschied vom Hof vielleicht auch ein hat ihn vor 20 Jahren verlassen und ist in die Stadt gezo- Neubeginn? Noch nie hat der durch die Farm angebundene gen. Die beiden erwachsenen Töchter wohnen in Montreal, Vater seine Tochter auf der Bühne gesehen. Nun verspricht sechs Autostunden entfernt, und kommen selten zu Besuch. er, sie im fernen Montreal zu besuchen. Sie probt eben die Als die ältere Tochter sich von ihrem Mann trennt, braucht Rolle der Cordelia in ‹King Lear›, der Lieblingstochter des sie dringend eine stattliche Summe, um mit den beiden alten Königs. Ein stiller, bewegender, grossartiger Film, Kindern ihr Haus behalten zu können. Mit bettelndem Blick gerade auch in seiner schwebenden Uneindeutigkeit. aus grossen Augen bittet sie den Vater um das Geld. Der Film läuft ab Do 3.7. in einem der Kultkinos. Aber Gaby hat nichts Flüssiges. Er kann nur helfen, wenn er seine Farm mit allem Drum und Dran verkauft. Heftig rät Juli | August 2014 | ProgrammZeitung | 7
Gigs im Grünen s t e fa n f r a nz e n Musikerporträt a l f r e d z i lt e n e r Ein Gesprächsband über René Jacobs. ‹Ich will Musik neu erzählen› heisst ein neues Buch, in dem der Sänger und Dirigent René Jacobs über sich selbst Auskunft gibt – und der Titel sagt schon einiges über die Kunst dieses Weltstars der Alten Musik, der mit Basel biogra- fisch verbunden ist. Er macht die Musik so mit- reissend lebendig wie wenig andere und ent- deckt dabei auch vertraute Werke, etwa die Opern W.A. Mozarts, neu. Dabei kann er sich auf eine profunde Kenntnis historischer Auffüh- rungspraktiken stützen. Fat Freddy's Zunächst allerdings machte der 1946 in Gent ge- Das Zeltmusikfestival in Freiburg präsentiert Vielfalt. Drop, borene Pionier der Alten Musik eine internatio- Es zählt zu den Pionieren sommerlicher Musikevents in der Region. Inter- Foto: zVg nale Karriere als Kontratenor und unterrichtete nationalen Stars unter Zeltkuppeln zu lauschen, das war in seiner ersten viele Jahre an der Schola Cantorum Basiliensis Ausgabe 1983 noch eine Innovation. Nach dem Umzug vor die Tore der Barockgesang. Auch davon ist in diesem Buch Stadt wuchs das Zeltmusikfestival (ZMF) schnell auf ein alle Genres um- die Rede. Es enthält die Protokolle einer Reihe fassendes Spektakel. Die Kernkompetenzen von Gründer Alexander Heis- von Gesprächen, welche die Musikwissenschaft- ler, Klassik und Jazz, spielten jedoch immer eine Rolle neben den grossen lerin Silke Leopold mit dem Künstler geführt Pop-Acts, und auch die Weltmusiktupfer sind gerade in den letzten Jahren hat. Die Spezialistin für Alte Musik gibt der Dis- wieder im Kommen. So ist heuer etwa Afrikas Grandseigneur Youssou kussion interessante Impulse und vertritt auch N’Dour eingeladen. Nach seinem kurzen Gastspiel in der Politik als Kultur- schon mal eine Gegenmeinung. So entsteht ein minister tritt der Senegalese mit seinem legendären Orchester Le Super lebendiger Dialog auf Augenhöhe, den Jacobs Étoile de Dakar auf, das den Mbalax, die kochende, rhythmisch komplexe mit Anekdoten und Histörchen würzt. Zudem ist Popmusik aus Dakar zelebriert. Leopold eine erfahrene Pädagogin, und man be- Eröffnet wird das Festival vom Kalifornier Gregory Porter. Er liefert dem wundert schmunzelnd, wie sie in ihren Repliken Vokalfach im Jazz momentan die schönsten und verletzlichsten Balladen unaufdringlich jene Informationen (nach)liefert, zu Last und Lust der Liebe. In den intensivsten Momenten kommt sein Vor- die einem breiten Publikum das Verständnis trag gar an die schmerzliche Verlorenheit einer Billie Holiday heran. Doch erleichtern. Porter lädt seine Musik auch mit viel Soul auf: Mit der knarrenden Wärme Jacobs erzählt von seinen Anfängen als Chor- seines Baritons singt er dann davon, dass der Geist des Herrn den Wasser- knabe in Gent, prägenden musikalischen Ein- tank der Dürstenden auffüllt. Auf der Bühne ist er noch überzeugender als drücken und der Begegnung mit dem Counter auf den Alben, lässt sich von Bläsersätzen und jubilierenden Pianoläufen Alfred Deller, die ihm die Möglichkeiten seiner begleiten. Ob der Schwergewichtige im heissen Zirkuszelt sein Marken eigenen Stimme erschlossen hat. Er spricht über zeichen, die dicke Reitermütze, trotzdem tragen wird? Gesangstechnik und setzt sich pointiert mit den Entdeckungen aus aller Welt. Hitzig wird es auch mit der Combo Fat Arbeitsbedingungen im Theaterbetrieb und mit Freddy’s Drop: Die Shows der sieben Neuseeländer sind packende Drama dem ‹Regietheater› auseinander. Die Kapitel turgien zwischen Reggae, Dub, Soul und Afrojazz. Ihre Stücke dehnen über einzelne Komponisten von Monteverdi bis sie oft zu einer halben Stunde aus, und erst wenn sie live erprobt sind, Schubert und Rossini liefern viele überraschen- kommen sie auf ein Album. Die Experimentierfreudigkeit des Wellingtoner de Einsichten. Jacobs Privatleben allerdings Septetts kennt dabei keine Grenzen – ein anregender Sound vom anderen bleibt weitgehend ausgespart – privat eben –, Ende der Welt. und das ist erfreulich. So ist das Buch ein viel- Entdeckungen lassen sich beim ZMF auch im pittoresken Spiegelzelt schichtiges Künstler-Selbstporträt, das man mit machen, das neben dem Zirkuszelt intimere Acts beherbergt: So wird man Gewinn und Vergnügen liest. in diesem Jahr dort die junge kubanische Pianistin Marialy Pacheco er ‹Ich will Musik neu erzählen›. René Jacobs im Gespräch leben können, flankiert von zwei kolumbianischen Musikern und dem mit Silke Leopold. Bärenreiter/Henschel, Kassel, 2013. deutschen Trompeter Joo Kraus, der seit langem einer heimlichen Latin- 208 S., gb., CHF 37.90 Liebe frönt. Und ein echter Tatort-Kommissar ist auch zugegen: Allerdings wird das Nordlicht Axel Prahl am Mundenhof nicht ermitteln, sondern mit seinem Inselorchester und seiner ungeschliffenen Stimme einen verblüf- fenden Mix zwischen Seemannswalzern, Chansons und gegenwartskriti- scher Ironie kredenzen. 32. ZMF: Mi 16.7. bis So 3.8., Mundenhof, Freiburg i.Br., www.zmf.de 8 | ProgrammZeitung | Juli | August 2014
‹Stimmen› im Aufbruch m ic h a e l b a a s Das Lörracher Festival entdeckt den Charme des Mainstream. ‹Stimmen› 2014 ist nicht mehr das Festival, das es vor vier, fünf Jahren noch war. Jünger und urbaner lauten zwei Begriffe, mit denen der im zweiten Jahrgang verantwort liche Leiter, Markus Muffler, sein Konzept gern umschreibt. «Ich sehe es auch als Aufgabe eines subventionierten Festi- vals an, dem Nachwuchs eine Plattform zu bieten, gerade in einer Zeit, in der kaum noch jemand von CD-Verkäufen leben kann», sagte er vergangenes Jahr im Rückblick auf seine Premiere. Entsprechend bietet die 21. Ausgabe auch jungen Talenten grosse Bühnen an – von der in Hamburg lebenden, aus Nigeria stammenden Nneka und dem Fran- zosen Charles Pasi über die 1988 geborene Norwegerin Thea Hjelmeland bis zum Shooting Star im reiferen Teen- ageralter, Ami Warning. Westlich geprägt. Jenseits der Nachwuchsförderung und der wie stets populär programmierten Marktplatzkonzerte sind aktuell zwei weitere Linien auszumachen: einerseits die etwas ins Abseits geratene rebellische Tradition des Rock bis zum Protestsong, anderseits weibliche Stimmen. Für Erstere stehen der Brite Billy Bragg, dessen softer Countryfolk zur Zeitreise in die Sechzigerjahre einlädt, oder der HIV-Aktivist John Grant aus der US-amerikani- schen Singer/Songwriter-Szene. Im Segment Frauenstim- men finden sich Anna Calvi mit ihrer hymnisch-dramati- schen Bricolage zwischen Romantik, Art-Rock und Punk, die melancholische Camille O’Sullivan oder Alice Russel, die zwischen Elektrosoul und Britpop pendelt. Bei allen Unterschieden aber findet sich doch überall der Geist des popkulturell geformten Musikuniversums. Dieses Mehr an angloamerikanischem Flair, diese Neugier auf westliche Jugendkultur bedeutet freilich auch ein Weniger – dessen, was ‹Stimmen› die ersten zwei Jahrzehnte auch auszeichnete: eine Bereitschaft zum musikalischen Experi- Thea Hjelme- ment, die Begegnung mit Fremdem, der Mut zum ästhe- Einzig Baselland bleibt dem Credo treu, Grenzen transzen- land, Foto: zVg tisch fordernden, mitunter auch missratenden Grenzgang. dierende Projekte zu kreieren, etwa mit der Begegnung der Das fällt umso mehr auf, wenn ein Programm wie heuer Fado-Sängerin Carminho und der Basel Sinfonietta in stark angelehnt ist an den musikindustriellen Mainstream. Augusta Raurica (‹Noites Portuguesas›). Der Festivalleiter Es mag aber auch noch dem Herantasten an eine eigene indes versucht, mit weiteren Gefässen neues Publikum zu Handschrift geschuldet sein. gewinnen: ‹Stimmen on Tour›, die als Prolog vorgeschal Neue Gefässe. ‹Stimmen› ist jedenfalls wieder im Auf- teten Gastspiele an Orten im Kreis Lörrach, oder Aftershow- bruch – das zeigt sich auch im verschärften Modellieren Partys im Burghof nach den Marktplatzkonzerten. Wäh- der Strukturen: Das Festival ist dichter geworden, der Puls rend andere Festivals heuer wegen der Fussball-WM pausie- schlägt schneller und spürbarer. Dafür wurden Ränder ren, gehen ‹Stimmen› die Ideen noch nicht aus, erfindet beschnitten: Die Kooperation mit dem elsässischen Musik- sich das Festival gerade wieder neu. zentrum Les Domincains liegt – zumindest in diesem Jahr 21. Stimmen-Festival: Di 15.7. bis So 3.8., div. Orte u S. 30/31 – auf Eis; auch die Open-Air-Konzerte im Wenkenpark, für www.stimmen.com Riehen einst der Grund, um an ‹Stimmen› anzudocken, wurden durch unverstärkte Konzerte in der Reithalle er- setzt. Der klassische Chorgesang mit grossen Ensembles – das zweite Mal in Folge nicht präsent – scheint gar definitiv abgesetzt. Markus Muffler jedenfalls fokussiert die Stimme als Grundidee auf ein übersichtlicheres Spektrum als der barocke Ansatz seines Vorgängers. Juli | August 2014 | ProgrammZeitung | 9
Gastlicher Hafen d om i n iqu e spi rgi Das Freiraum-Hosting-Projekt ‹Holzpark› des Vereins welches mehrere Jahre im Hof des Kunstmuseums Basel Shift Mode am Klybeckquai nimmt Gestalt an. stattgefunden hat, wieder aufleben lassen könnte. «Das «Am besten ist es, man kommt persönlich vorbei und macht sind die ersten ausgewählten Projekte, die sich ohne Ver- sich an Ort und Stelle selber ein Bild davon, was wir tun», zögerung verwirklichen lassen», sagt Brunner. sagt Tom Brunner vom Verein Shift Mode. Das ist der Ver- Nutzung des Scope-Geländes. Vorerst stehen dem ‹Holz- ein, der im Mai weitum mit Freude aufgenommen wurde, park›, der so heisst, weil alle Bauten auf dem Areal aus Holz weil mit der Übernahme des nicht vom Wagenplatz beset- sein werden, 3000 Quadratmeter zur Verfügung. Das ist zen Teils des Migrol-Areals am Klybeckquai den Gerüchten, mehr, als die 2500 Quadratmeter, die der Wagenplatz be- dass dort Fussballplätze entstehen sollen, ein Ende gesetzt setzen darf, aber um einiges weniger, als die Messe Scope werden konnte. Das ist aber auch der Verein, der Anfang mit ihren 9000 Quadratmetern belegt. Nun braucht die Juni von der autonomen ‹Hafenscharte›-Szene harsch ange- Scope, die neu ebenfalls von Shift Mode gehostet wird, die- feindet wurde, weil der Platz, der ihm und der Messe Scope sen Platz inklusive Auf- und Abbau nur wenige Wochen im zusteht, polizeilich geräumt wurde. Jahr. Die restliche Zeit würde er also für weitere Zwischen- Tom Brunner muss mit dieser Situation leben. Und er will nutzungsprojekte zur Verfügung stehen. nun ab Anfang Juli für insgesamt fünf Jahre den Tatbeweis Allerdings bräuchten auch diese Vorhaben eine gewisse In- antreten, dass Shift Mode potenzielle Nutzende des Areals frastruktur, die flexibel zu handhaben sein muss, weil die nicht verdrängen, sondern im Gegenteil Platz für Freiraum- Scope ihr Zelt ja bis 2019 jedes Jahr wieder aufschlagen Zwischennutzungen und bei Infrastruktur und im Bewilli- wird. Deshalb hat Shift Mode die Errichtung von vier Mo- gungsprozedere Hilfe anbieten will. «Uns geht es nicht dar- dulbauten aus Holz vorgeschlagen, die von der Messe und um, uns selber zu verwirklichen, sondern anderen von anderen Projekten genutzt werden können. Einer da- Projekten bei ihrer Umsetzung dienlich zu sein», sagt er. So von soll beheizbar und somit ganzjährig nutzbar sein. gesehen versteht sich Shift Mode keineswegs als fertiges Freiräume im Freiraum schaffen. Welche weiteren Zwi- und in sich geschlossenes Projekt, sondern als Host für ver- schennutzungsprojekte auf dem ‹Holzpark› ihren Freiraum schiedene Zwischennutzungsprojekte, die alleine nicht zu- bekommen werden, kann Brunner gegenwärtig noch nicht stande kommen würden. sagen. Das Bedürfnis aber scheint da zu sein. «Als die Nach- Erste Projekte ausgewählt. Das klingt zunächst ziemlich richt veröffentlicht wurde, dass wir den Platz verwalten abstrakt. Und auch der Name ‹Holzpark›, der sich aus einem werden, sind rund 45 Projekteingaben gekommen», sagt er. Arbeitstitel heraus zur gängigen Bezeichnung entwickelte, Viele davon seien von InitiantInnen, die sich bereits bei der brachte mitsamt der Illustration, die eine Art Spielplatz für ersten Ausschreibung durch den Kanton für den Platz inte- Erwachsene zeigt, nicht gerade viel Aufschluss. Jetzt aber ressiert haben, oder solche, die mit ihren Ideen u.a. an den kann Brunner erste konkrete Anstoss-Projekte benennen, zahlreichen Auflagen gescheitert sind. unter denen man sich etwas vorstellen kann. «Wir wollen Freiräume innerhalb dieses Freiraums schaf- Dazu gehören etwa ein kleines Openair-Kino mit Bar, ein fen, der wegen den Auflagen eigentlich gar keiner ist», sagt mobiles Theater in einem Flughafenbus, ein Imker samt Brunner. Er spricht aus eigener Erfahrung. Denn mit Rei- Bienenstock, ein Urban Zen Garden, ein Food-Sharing-Pro- chenstein hatte er beim ersten Evaluationsverfahren selber jekt mit Lebensmitteln aus Grossverteilern, die das offiziel- ein Projekt eingereicht, dass schliesslich nicht zustande le Ablaufdatum überschritten haben, und ein Infopavillon, kam, weil sie das ungenutzte Bahngleis, auf dem das mobi- Platz für viel der auch als Bühne genutzt werden kann. Und es gibt das le Radiostudio ‹Perron 4› hätte eingerichtet werden sollen, Neues mit dem ‹Holzpark›- Live-Hafenradio von Brunner und seiner Projektpartnerin nicht nutzen durften. Projekt, Foto: Katja Reichenstein, das sich an das Projekt ‹livingroom.fm› www.shiftmode.ch Dominique anlehnt und das vielleicht auch das Stadtmusik-Festival, Spirgi 10 | ProgrammZeitung | Juli | August 2014
Zyklopen & Bohémiens dagm a r bru n n e r Zirkuskunst belebt u.a. den Basler Hafen. Als Hommage an Jean Tinguely ist das Freiluftspektakel deklariert, das in Lachen & Küssen den Sommermonaten die Basler Hafenpromenade bespielt. Die Show wird dagm a r bru n n e r von einer internationalen Truppe mit einer Mischung aus kunstvoller Akro- Fotoausstellungen. batik, Luftartistik, Pantomime und Livemusik bestritten und erzählt ohne Wenn ein Mensch lacht, sind am ganzen Körper Worte rasant, witzig und anrührend von kraftvoller Fantasie, Kreativität 80 Muskeln in Aktion, innerhalb der Gesichtsre- und Träumen. gion immerhin 17. Lachen stärkt die Funktion Schauplatz ist ein ehemaliger Rummelplatz, in dem Reste eines Karussells, der Lungen, stillt Schmerzen, baut Stress ab und einer Achterbahn und von Schaubuden vor sich hin rosten. Ein tristes und verringert die Gefahr eines Herzinfarkts mar- doch geheimnisvolles Areal, das zum Verkauf steht. Doch die frühere Be- kant. Im frühen Mittelalter galt Lachen als un- wohnerschaft (bzw. die Geister der Gauklerinnen, Clowns und Musiker) christlich (hat Jesus nie gelacht?), und in der kehrt zurück, die verlassenen Gegenstände werden wiederbelebt, und im plastischen Kunst ist es eher selten. Hingegen Zusammenwirken aller entsteht eine gigantische Kopf-Skulptur mit mensch- boomen heute Lachyoga und Lachclubs, in de- lichen Zügen und Gefühlen, die an Tinguelys Eisenplastik ‹Le Cyclope› er- nen man lernen kann, ohne Grund zu lachen. So innert. Auch diese war ein künstlerisches Gemeinschaftswerk, das in der oder so: Die junge Fotografin Stephanie Meier ist Nähe von Paris in einem Wald steht. Das Zirkus-Theater erlebte seine Pre- fasziniert vom Phänomen Lachen und hat daraus miere 2012 am Bielersee, gastierte dann erfolgreich in Winterthur und wird ein Projekt gemacht, das nun in ihrer ersten Aus- gewiss auch in Basel ein begeistertes Publikum jeden Alters finden. Schon stellung im neuen schmucken Lokal von Lisa und das Bühnenbild aus erfinderisch verwendetem ‹Schrott› ist einen Besuch Benedikt Vonder Mühll gipfelt. Dort präsentiert wert, umso mehr die z.T. spektakulären Darbietungen. sie 30 kleinere s/w-Aufnahmen von lachenden Power und Poesie. Mit artistischen Höchstleistungen und bezaubernder Menschen fast jeden Alters, Freunde und Unbe- Atmosphäre weiss auch der Circus Monti zu fesseln. Im Rahmen seiner kannte, die sie darum gebeten hat. Und deren 30. Tournée zeigt er in Basel die neue Inszenierung ‹Bonjour la vie!›, die Lachen auch hörbar ist durch einen winzigen u.a. von der Vorlage zu Puccinis Oper ‹La Bohème› inspiriert ist. Ein Artis- Akustikknopf. Das klingt zwar etwas verfrem- tenteam aus aller Welt präsentiert Wünsche, Ängste und Träume heutiger det, doch man hört die Unterschiede. Es sei gar Bohémiens, das clowneske Duo Kapelle Sorelle bringt sich musiktheatra- nicht so einfach, jemanden zum Lachen zu brin- lisch ein, und auch das Circusorchester bewegt sich freier, wird Teil der gen, sagt die Künstlerin, aber lachende Men- Inszenierung. Poesie und Können machen jedes Programm dieses Zirkus’ schen seien einfach schöner. Ihre Bilder zeigen zu einem besonderen Erlebnis. jedenfalls herzerwärmende Momente. – Virtuose Bewegungskunst ist zudem in den Zirkusbetrieben der Region zu Der Kuss ist das Wahrzeichen der Caffè Kultur erleben, etwa im noch jungen ‹FahrAwaY› oder in den Kinder- und Jugend- Bar von Markuss Engeler. Erneut können sich zirkussen Basilisk und QCB. dort – im Rahmen des Internationalen Tags des ‹Cyclope›: Do 10.7. bis Sa 6.9., Klybeckquai, Uferstr. 84. Di bis So, 90 Min., Eintritt CHF 89, Kusses – küssende Paare durch die Fotografin keine nummerierten Plätze, www.cyclope2014.ch Xenia Häberli fotografieren lassen, erhalten Circus Monti, ‹Bonjour la vie!›: Mi 13. bis So 24.8., Rosentalanlage u S. 42 nach getaner ‹Arbeit› eine Stärkung und können Circus Fahraway, ‹Carakran›: ab Sa 19.7. in der Region Basel, www.zirkusfahraway.ch die Bilder anschliessend bestellen. Übrigens Jugend Circus Basilisk, ‹Die guete alte Zyte›: So 6. bis Do 17.7., Rosentalanlage, dauerte der längste Kuss der Welt, laut Guiness- www.circusbasilisk.ch Buch der Rekorde, über 31 Stunden. Und auch Quartier Circus Bruederholz, ‹Gallartistica›: Fr 8. bis Fr 15.8., beim Wasserturm Bruderholz, die Basel Sinfonietta wirbt mit einem sich zart www.qcb.ch ‹Cyclope›, küssenden Paar für ihren Förderverein. Da muss Foto: André was dran sein ... – Juchli Auf ein bilderreiches Fotografenleben kann Christian Baur zurückblicken. Menschen, Kunst- werke und Landschaften gehören zu seinen Sujets. Nun sind 150 s/w-Fotos (selbst hergestell- te Vintage Prints) aus einer früheren Ausstellung in der Galerie Mäder zu bewundern. ‹Menschen lachen›, fotoakustische Lachsammlung von Stephanie Meier: bis Do 17.7., Café Radius 39, Wielandplatz 8, www.radius39.com Int. Tag des Kusses mit Xenia Häberli: So 6.7., 16–18 h, Caffè Kultur Bar Zum Kuss, Elisabethenstr. 59, www.zumkuss.ch Christian Baur, ‹Ten Years After›: Mi 2. bis Sa 5.7., Galerie Mäder, Claragraben 45, www.galeriemaeder.ch Ausserdem: Jugendfoto-Wettbewerb, Anmeldung bis Mi 20.8., www.projuventute.ch Juli | August 2014 | ProgrammZeitung | 11
Die Welt im Spiegel der Performance i ng o s ta r z v.l.n.r. ‹Iwanow›, Amir Das Theaterfestival Basel lotet das Spektrum ten Augenblick schon sitzen sie korrekt auf zwei strengen Reza Koohe- stani & Mehr der Bühnenkunst aus. Stuhlreihen. So entsteht Dramatik allein schon aus den Theatre Group, Vor zwei Jahren stellten die Kaserne Basel und das Theater Bewegungsabläufen.» (FAZ) Foto: Abbas Roxy nach mehrjähriger Pause wieder ein internationales Das ‹ReiseBüro› des Trios Boijeot/Renauld/Turon macht Kowsari Theaterfestival auf die Beine. Für zwölf Tage trafen sich Basel zum Urlaubsort für Einheimische. Während der zwölf ‹Mystery Theaterbegeisterte aus nah und fern an verschiedenen Festivaltage wird das Kollektiv mit Wohnungsmobiliar Magnet›, Miet Spielorten und genossen die Vielfalt an Theaterformen. Die durch die Stadt ziehen und dieses immer wieder neu plat- Warlop & Campo, Foto: bevorstehende Ausgabe verspricht wiederum eine theatrale zieren. Entlang dieses Parcours sind die PassantInnen zu Reinout Hiel Reise um die Welt. KünstlerInnen und Gruppen aus Austra- Begegnungen eingeladen: zum Kaffeeplausch mit Künstle- lien, Belgien, Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, rInen und Festivalgästen oder dem gemeinsamen Schlafen Iran, Kanada, den Philippinen, Slowenien und Ungarn bie- unter freiem Himmel. Der Clou dabei ist, dass das Publi- ten eine verlockende Fülle an Ästhetiken und Stoffen. Dem kum für 24 Stunden eine Strassenwohnungseinrichtung Festivalteam um Carena Schlewitt ist es wichtig, dass das (Bett, Tisch, Stühle) buchen und also mitreisen kann. Programm unterschiedliche Publikumsschichten anzuspre- Pleiten, Pech und Pannen beherrschen die Performance chen vermag. So fordern gleich zwei Produktionen zum ‹Mystery Magnet› von Miet Warlop. Und das ist so gewollt Mitmachen und Nachdenken über die Stadt auf. wie vergnüglich. Die weisse Wand auf der Bühne scheint Das Herz des Theaterfestivals wird auch in diesem Jahr auf Menschen und Dinge wie ein Magnet anzuziehen und löst dem Kasernengelände schlagen, wo ein zusätzliches kuli- allerlei ver-rückte Situationen aus. «Miet Warlop und ihre narisches Angebot zum Verweilen einlädt. Neben den Auf- Company zaubern ohne Worte, ohne Handlung, allein mit führungen werden Filmscreenings und Gespräche reichlich einer surreal überdrehten Fantasie und quietschender zum Austausch anregen, und auch das Ambiente des Orts Spiellaune einen […] beschwingten, artistischen Abend auf wird zu besonderen Begegnungen beitragen. Die Erfah- die Bühne ....» (FAZ am So) Ein Genuss für jedes Alter. rung zeigt, dass man bei einem Bier auf der Kasernenwiese Ganzkörpereinsatz. Das Berliner Maxim Gorki Theater leicht mit Theaterleuten und andern Gästen ins Gespräch sorgt seit einem Jahr mit kultureller Vielfalt auf der Büh- kommt. Eine Ticketaktion bis 4. Juli gewährt zudem Karten ne für Furore. Sibylle Bergs Stück ‹Es sagt mir nichts, das zu Vorzugspreisen – da sollte man rasch zugreifen! sogenannte Draussen›, das aus Frauenoptik mit unseren Stimmen und Bewegung. Eröffnet wird das Festival mit gesellschaftlichen Wirklichkeiten abrechnet, passt perfekt dem ungewöhnlichen Musiktheater-Projekt ‹When The an diesen Ort. Und als Koproduktion mit dem Jungen The- Mountains Changed Its Clothing›. Der Komponist und ater gehört die Inszenierung von Sebastian Nübling auch Regisseur Heiner Goebbels hat es mit dem 40-köpfigen nach Basel. «Mit der witzig-bösen Suada, die Berg einer Mädchenchor Vocal Theatre Carmina Slovenica erarbeitet. aggressiven jungen Frau in den Mund legt, entfachen [die Die jungen Sloweninnen folgen in Gesang und Spiel den vier Darstellerinnen] ein Feuerwerk der Sprachnuancen bei Jahreszeiten, erzählen aber ebenso vom Ende der Kindheit Ganzkörpereinsatz ...» (Berliner Morgenpost) und einer Region, deren jüngere Geschichte bedrückende Der zeitgenössische Tanz entdeckt gerade den Volkstanz. Verwerfungen aufweist. Das musikalische Spektrum reicht Und der französische Choreograf Christian Rizzo führt ihn von Partisanenliedern über Popsongs bis hin zu Kompo- in seiner Arbeit ‹D’après une histoire vraie› mit acht Tan- sitionen von Goebbels und bildet die Grundlage für eine zenden und zwei Schlagzeugern zu ekstatischen Momen- energiegeladende Performance der Mädchen. «Eben noch ten. Die Produktion riss das Publikum von Avignon bis Paris wirbelten sie tobend über die grosse Szene, im nächs- zu Begeisterungsstürmen hin. 12 | ProgrammZeitung | Juli | August 2014
‹When The Vom Strassentanz aus Abidjan erzählt die Performance Kopfhörer Englischkurse hört, um allenfalls auswandern Mountain Changed Its ‹Logobi 05› des deutschen Kollektivs Gintersdorfer/Klassen, zu können. Was die Inszenierung aber vor allem beschreibt, Clothing›, das den ivorischen Tänzer Franck Edmond Yao und den ist der Zustand des Iran. «Dieser Iwanow […] ist lebendige Heiner Goeb- langjährigen Forsythe-Tänzer Richard Siegal zum Pas de Stagnation. Der Antiheld ist hier nicht nur die Hauptfigur, bels & Carmina Slovenica, deux zusammenbringt. «Der Logobi […] kennt keine Simu- er ist vielmehr ein Statement – das Sinnbild einer gesell- Foto: Wonge lation. Er kommt von der Strasse, will hoch hinaus und schaftlichen Diagnose.» (Nachtkritik) Bergmann für muss sich sein Territorium noch erobern.» (SZ) Da wird All- Mitten in eine von Repression bedrängte Gesellschaft führt die Ruhrtrien- nale, 2012 tag höchst sinnlich jedesmal neu verhandelt. Koohestanis Stück ‹Wo warst du am 8. Januar?› Da verliert Einblicke in den Iran. Einen kleinen Schwerpunkt setzt der Soldat Ali sein Gewehr, und seine Freundin Fati probt das Festival mit zwei Produktionen des iranischen Thea- Genets ‹Die Zofen›. Zahllose Telefonate setzen Mutmassun- termachers Amir Reza Koohestani und seiner Mehr Theatre gen in Gang, die beunruhigende Einblicke in totalitäre Group. Koohestani wurde 1978 geboren und veröffentlichte Mechanismen eröffnen. Theater wie es politischer nicht schon als Jugendlicher Prosatexte. Nach einem kurzen Ver- sein könnte. Eine Podiumsdiskussion ergänzt die beiden such als Performer begann er 1999 mit dem Schreiben von Produktionen. – Eine Vorschau auf weitere Vorstellungen Dramen. Mittlerweile hat er mehrfach im Ausland gearbei- im September folgt. tet, seine Stücke wurden an zahlreichen internationalen Theaterfestival Basel: Mi 27.8. bis So 7.9., Kaserne Basel u S. 36, Festivals gespielt. Roxy, Theater Basel, Junges Theater und Stadtraum, www.theaterfestival.ch Mit Tschechows ‹Iwanow› zeigt uns der Regisseur einen Ticketaktion bis Fr 4.7.: pro Vorstellung CHF 25/15 Menschen, der sich von der Welt zurückzieht und über Musik & mehr Hügel ob Bettingen. Unter dem 250 Meter hohen Im Fluss: 29.7.–16.8., www.imfluss.ch Fernsehturm mit seinen mächtigen drei Beton- Open Air Basel: 15./16.8., www.openairbs.ch dagm a r bru n n e r pfosten lassen das Alphorn-Quartett Hornroh Blues Now!: 15.–17.8., www.bluesnow.ch Festivals und Openairs. und der Trompeter Ruedi Linder, die Gruppe Em Bebbi sy Jazz: 22.8., www.embebbisyjazz.ch Das Elsässer Festival Météo bietet seit 30 Jahren SULP (Swiss Urban Ländler Passion) und der Picknick mit Helden: 22./23.8., ein engagiertes, internationales Programm mit Jodlerclub Echo aus Basel Natur und Kultur, www.theater-augusta-raurica.ch u S. 43 zeitgenössischem Jazz, improvisierter und expe- Traditionelles und Urbanes kreativ aufeinander- Opera Basel: 29.8.–6.9. www.opera-basel.ch rimenteller Musik an. An fünf Tagen erklingen treffen. Rümlingen: evt. Ende August, etwa 25 Konzerte an verschiedenen Orten in Festival Météo: Di 26. bis Sa 30.8., div. Orte, Mulhouse; www.neue-musik-ruemlingen.ch Mulhouse; unter den über 100 Mitwirkenden Gastpiel in Basel: Do 28.8., 19 h, Sud, Burgweg 7 Boswiler Sommer: bis 6.7., www.boswilersommer.ch sind sowohl bekannte Namen wie Newcomer. Im (4 Konzerte), www.festival-meteo.fr Solothurn Classics: 3.–6.7., www.solothurn-classics.ch letzten Jahr war das Festival in Kooperation mit ‹Gipfeltreffen›: Do 21.8., 18–21.30, St. Chrischona Uhuru: 27.7.–3.8., Weissenstein, www.uhuru.ch (beim Fernsehturm), Bettingen dem Basler Verein Rheinkultur erstmals im Bas- Piano à St-Ursanne: 2.–12.8., www.juratourisme.ch ler Sud zu Gast, und dieser erfolgreiche grenz- Ausserdem: Summerblues Basel: 4.7., www.summerblues.ch Tamburi Mundi: 2.–10.8., Freiburg i. Br., überschreitende Austausch wird auch heuer www.tamburimundi.com Hill Chill: 4./5.7., www.hillchill.ch gepflegt. Während des Festivals verkehren Münstersommer: bis 30.9., Freiburg i. Br. u S. 41 Summerstage: 10.–12.7., www.summerstage.ch Shuttle-Busse zwischen den Städten. – Weitere Festivals der Regio: www.rfv.ch Zu einem besonderen ‹Gipfeltreffen› kommt es Basel Tattoo: 18.–26.7., www.baseltattoo.ch bereits zum dritten Mal auf dem Chrischona- Jazz Muttenz: 19.7., www.jazzufemplatz.ch Juli | August 2014 | ProgrammZeitung | 13
In Hof und Baum dagm a r bru n n e r diesem Sommer wird ein abwechslungsreiches Programm wieder Gäste aus nah und fern anziehen, und wer eine Vor- stellung (oder mehr) nicht verpassen will, muss bald reser- vieren, die 150 Plätze sind jeweils schnell besetzt. Theater für alle. Unter den Mitwirkenden sind z.T. pro- minente Namen wie Angela Winkler, die mit ihrer Tochter Nele (einer begabten Schauspielerin mit Down Syndrom) und einer Akkordeonistin Märchen von Hans Christian Andersen vorträgt. – Der Filmer Andrej Tarkovskij wird schauspielerisch-musikalisch geehrt. Eine Collage mit Zita- ten aus Tagebuch, Filmen und Texten gibt Einblick in die Innenwelt eines trotz widrigsten Zeitumständen schöpferi- schen Menschen. – Peter Schneider, in den Sechzigerjahren Politaktivist und Kultautor, stellt sein neues Buch ‹Die Lie- ben meiner Mutter› vor, ein (wahres) Familiendrama voller Lust und Leid. – Auch zwei Konzerte der Extraklasse sind Theater im Hof, Sommertheater im Schwarzwald. angekündigt, beim einen sitzen die Musiker im Baum und Foto: ThiH Als «schönstes Freilicht-Theater im Dreiländereck» hat es lassen ihre Instrumental- und Vokalklänge aufs Publikum ein Kollege beschrieben, was keineswegs übertrieben ist. herabströmen, im andern spielt das Ensemble Kalandos un- Schon äusserlich ist das Theater im Hof bei Kandern ein ter dem Geiger Karel Boeschoten Volks- und Roma-Musik zauberhafter Ort, denn es bespielt den Innenhof eines Bau- aus Vergangenheit und Gegenwart. – Last but not least prä- ernguts aus dem 18. Jahrhundert, in dessen Zentrum eine sentiert das beliebte Figurentheater Vagabu mit ‹Schorschis riesige Kastanie ein wundervolles Blätterdach ausbreitet. Schatz› ein Stück für die ganze Familie. Darunter war in den letzten 20 Jahren professionelles Büh- Theater im Hof: Di 22.7. bis Fr 15.8., Ortsstr. 15, Kandern-Riedlingen (D), nen- und Kunstschaffen aus verschiedenen Sparten zu erle- www.theaterimhof.de ben, meist von Freunden des initiativen Ehepaars Dieter Ausserdem im Freien: Bitterli und Dorothea Koelbing, die selbst jahrelang im The- Lustspiel ‹Weiterspielen›: bis Sa 9.8., Burg Rötteln, Lörrach, www.burgfestspiele-roetteln.de aterbereich gearbeitet haben. Im vergangenen Jubiläums- jahr wurden sie für ihr (ehrenamtliches) Engagement mit ‹Ein Sommernachtstraum›: Fr 22.8. bis Sa 13.9., Muttenz (Matte hinter Hallenbad), www.theatergruppe-rattenfaenger.ch u S. 36 dem renommierten ‹Gutedelpreis› ausgezeichnet. Auch in ‹Leonce und Lena›: Fr 15.8. bis Sa 6.9., Schlosshof Pratteln u S. 37 ‹S Ghaimnis vom Dino-Ei›: Sa 5.7. bis So 17.8., Park im Grünen, Münchenstein, www.theater-arlecchino.ch 19. Römerfest: Sa 30./So 31.8., Augst, www.roemerfest.ch u S. 43 Zürcher Theater Spektakel: Do 14. bis So 31.8., www.theaterspektakel.ch Messerscharf Politiker, der für Süssholzgeraspel nicht bekannt ist, sein Lieblingsgericht sei «Apfelstrudel mit Doch der Falschaussage – sein Lieblingsessen betreffend – kann man ihn dann doch nicht be- a l a i n c l au de s u l z e r viel, viel Vanillesauce». Das lässt angesichts des zichtigen. Denn die Äusserung, die er der Lüer Aus Blochers Mund. Mannes mit den drastisch vorgetragenen An- Wirtin gegenüber machte, war weder unbedacht Kennen Sie Lü? Lü liegt nicht in China, sondern sichten aufhorchen. Apfelstrudel und Vanille- noch zufällig. Während sich die anderen rezept- im Val Müstair und behauptet von sich, ‹il cumün sauce hätten wir von ihm nicht erwartet, eher schreibenden Bundeshausinsassen mit einer ein- politic sitüa il plü ot in Europa› zu sein, was aller- ein Filet saignant oder Zürcher Geschnetzeltes. zigen Speise begnügen, liefert Blocher, unbe- dings nicht stimmt. Die höchstgelegene Gemein- Wir liegen nicht ganz falsch, auch wenn die scheiden wie er ist, nebst dem blutigen Fleisch de Europas heisst Saint-Véran und befindet sich Vanillesauce am Ende bei ihm immer siegt. gleich ein zweites Gericht. Das «beste Dessert in den französischen Alpen. Interessant an der Im Band ‹Das Bundeshaus kocht›, in dem Mitglie- der ganzen Welt!». Nämlich Vanillecrème! Gemeinde Lü ist, abgesehen von ihrer erhabenen der des Bundes-, Stände- und Nationalrates ihre Was der Crème anglaise, wie sie im Fachjargon Lage, die Tatsache, dass Christoph Blocher seit Lieblingsrezepte vorstellen – meist einfache heisst, so einschmeichelnd mangelt, hat dieser 1998 ihr Ehrenbürger ist, nachdem er sechs Gerichte wie die Ofenrösti Widmer-Schlumpfs, Mann, über den man sonst wenig Schmeichel- Jahre zuvor die Renovationskosten des Kirchen- der ‹Chrutwickel› von Corina Eichenberger oder haftes sagen kann, in seinen gastronomischen dachs in der Höhe von 50’000 Franken übernom- der militärisch trockene ‹Energiebarren› Ueli Vorlieben im Überfluss: Konsistenz. men hatte. Maurers –, steht auf Blochers Speisekarte: ‹Gril- Christian Meyer, ‹Das Bundeshaus kocht›. Reinhardt, Interessant an Lü ist auch die (ehemalige?) Wir- liertes Hohrückensteak›. Das Vorurteil wird zu- Basel, 2013. 220 S., Abb., gb., CHF 44.90 tin des Restaurants Hirschen. Ihr gestand der nächst also bestätigt. Der Mann ist karnivor. ‹Messerscharf› verbindet Dicht- und Küchenkunst. 14 | ProgrammZeitung | Juli | August 2014
Poetischer Klangkosmos a l f r e d z i lt e n e r ‹Jakob von Gunten›, ein Raum-Musiktheater zum Diener ausbilden lassen will, hat ja durchaus militäri- mit Jugendlichen in Aarau. sche Züge. Was für ein grandioser Raum! 1400 Quadratmeter misst die Ihr Stück ist aber keine Dramatisierung des Romans, son- rund 150-jährige Alte Reithalle in Aarau, gekrönt von einem dern nimmt vielmehr Bilder und Stimmungen der Vorlage imposanten Dachstuhl. Bis zur Aufhebung der Kavallerie auf. Der Aspekt des Traums spiele dabei eine wichtige Rolle, gehörte der Bau zur Aarauer Kaserne. Nun soll hier in den verrät Schlaefli. Es gibt keine identifizierbaren Figuren. nächsten Jahren eine mittelgrosse Bühne für den Kanton Benjamenta und Jakobs Schwester, die zur Projektions Aargau entstehen. ‹OXER› heisst das Projekt. fläche der pubertierenden Zöglinge wird, sind nur in ihren Ein Oxer ist ein Hindernis beim Pferdesport – und Hinder- Spuren anwesend: Man sieht Benjamentas Zeitung, hört nisse scheint es auf dem Weg zum spartenübergreifenden die Stöckelschuhe der Schwester. Die Darstellenden agie- Kulturzentrum viele zu geben. Zwar wurde 2012 aus einem ren im Raum verteilt: Sie haben einerseits eigene ‹Zimmer›, Wettbewerb ein Umbauprojekt ausgewählt, zwar wurde die die sie individuell gestalten können, anderseits finden sie Eröffnung auf 2013, später auf 2016 angekündigt, doch in- sich zu präzis choreografierten Aktionen, die über Funk ge- zwischen haben Sparzwänge bei Stadt und Kanton das Vor- steuert werden. haben weiter verzögert. Im Moment ist von 2019 die Rede. Raumgreifende Klänge. Der Schauspieler Michael Wolf Immerhin wird das Haus seit 2011 im Sommer bespielt; im hat Passagen des Texts auf Band eingelesen; sie sind über Winter ist es nicht heizbar. Nach einer ersten dreijährigen zahlreiche im Raum verteilte Lautsprecher zu hören. Als Zwischennutzung durch einen eigens gegründeten Verein Grundlage des Musiktheaters hat Schlaefli eine Reihe von Aargauer Theater- und Tanzschaffenden, wird in den kurzer Stücke komponiert, musikalische Skelette quasi, nächsten drei Jahren das Theater Tuchlaube das Programm die sie im Lauf der Proben bearbeitet und instrumentiert. kuratieren. Zum Zug kommen dabei Instrumente, welche die Jungen Bilder und Stimmungen. In diesem Sommer wird das selbst mitbringen und die mit Alltagsgegenständen er- Haus jugendlich belebt. Im August zeigen Astride Schlaefli gänzt werden: Zimmerventilatoren, Spieluhren, mit Was- (Komposition und Regie) und Christian Kuntner (Musik und ser gefüllte Gläser. Diese experimentellen Klänge mischen Performance) das Musiktheater ‹Jakob von Gunten› nach sich mit dem Gesang der MusikerInnen. So entfalten sich Robert Walser, das sie mit etwas mehr als zwanzig Jugend- in der Kathedralen-Akustik der Reithalle poetische, oft fili- lichen zwischen 12 und 20 Jahren mit unterschiedlichen grane, raumgreifende Klangwelten. Das Publikum wird von musikalischen Kenntnissen erarbeitet haben. Sie habe beim jugendlichen ‹Dienern› durch diesen Kosmos geführt. Alte Reithalle, ersten Blick in die Halle an Walsers Roman gedacht, erzählt ‹Jakob von Gunten›: Sa 23.8., 20.15 (Premiere), bis Fr 5.9., Aarau, Foto: Astride Schlaefli. Und das Institut Benjamenta, in dem Jakob sich Alte Reithalle, Aarau, www.tuchlaube.ch Schlaefli Juli | August 2014 | ProgrammZeitung | 15
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