PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
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Menschen, Häuser, Orte, Daten ProgrammZeitung CHF 8.00 | EUR 6.50 November 2013 | Nr. 289 Kultur im Raum Basel Cover: Peter Greenaway, ‹The Dance of Death – Der Tanz mit dem Tod. Ein Basler Totentanz› u S. 5
Theatertiere und Weibervolk dagm a r bru n n e r Editorial. Keineswegs furchteinflössend, aber wachsam Bei all diesen Neuerungen gibt es einen Wermutstropfen: präsentierten sich Mitte Oktober zwei neue Theaterleiter, Frauen bleiben auch in der Leitung von Kultureinrichtun- die beide aus dem Ruhrpott stammen, den Medien: Sven gen deutlich in der Minderheit. Das ist nicht a priori männ- Heier vom Roxy, der seine Arbeit mit einem ganz jungen, licher Ignoranz anzulasten, aber u.a. fehlenden Netzwer- höchst motiviert auftretenden Team bereits aufgenom- ken. Immerhin wehren sich Frauen zunehmend gegen ihre men hat, und Andreas Beck, der erst ab 2015 Intendant des Untervertretung, wie etwa der Aufstand gegen die SRG Theater Basel sein wird. Letzterer ein stilbewusst und gut- zeigte, die sich in ihrer TV-Reihe ‹Die Schweizer› und in der artig wirkendes ‹Theatertier› mit einer eher leisen Stimme. Kinder-Serie ‹Helveticus› für ein konventionell einseitiges Dass die Findungskommission sich für diesen Mann des Geschichtsbild entschied. Selbst wenn angeblich «in jenen Sprechtheaters (er leitet derzeit das Wiener Schauspiel- Epochen keine Frau im Vordergrund stand» – wie der Pro- haus) entschieden hat, wurde von Fachleuten zumeist als jektleiter sich etwas dümmlich rechtfertigte – hätten die zwar überraschende, aber gute und mutige Wahl taxiert. Helden an der Front ohne ‹Weiber- und Fussvolk› keine Überraschend, weil dieser Name m.W. im Vorfeld nie er- Geschichte geschrieben. Und auch die InitiantInnen der wähnt wurde; gut, weil er das hiesige darbende Schauspiel Bild- und Tonshow, die derzeit farbenprächtig das Bundes- bestimmt stärken wird und im Übrigen explizit sparten- haus beleuchtet und von Helvetia erzählt, haben es sich be- übergreifend und teamorientiert wirken will; mutig, weil quem gemacht: Sie setzten gleich auf märchenhafte statt er in der Führung eines grossen Hauses sowie in Oper und reale (Frauen-)Figuren … Tanz weniger erfahren ist. Die Frauen und Männer, über deren Kulturarbeit wir auf Natürlich sind Statements von neuen Köpfen im Vorfeld im- den folgenden Seiten berichten, sind weder Prinzen noch mer mit Vorsicht zu geniessen, doch es ist erfreulich, dass Hexen, sie haben auch (noch) keine Geschichte, aber viele es nach einer langen Zeit der Ungewissheit – wie es am The- Geschichten geschrieben, die sie auf Bühnen und Leinwän- ater Basel nach Delnon weitergehen wird – jetzt wieder den, in Foren und Büchern vorstellen. Darunter Preis- nach Aufbruch ‹riecht›. Diese Aufbruchstimmung ist auch würdiges wie etwa Edgar Hagens neuer Film (S. 6/7). dem Basler Marionettentheater zu wünschen, wo sich nach Als preiswürdig erkannt wurden auch die Leistungen ande- einer schweren Krise mit Abgängen des Leiters und des Be- rer Kulturschaffender. Angefangen bei der Künstlerin triebsbüros nun Entspannung abzeichnet. Nach einer Inte- Miriam Cahn, die jüngst den ersten Basler Kunstpreis in rimsleitung von Karin Wirth (Theater xl) wird ab August Empfang nehmen konnte (eine überfällige Ehrung!), über 2014 Denis Marcel Bitterli zum Intendanten des Hauses, das den Autor Alain Claude Sulzer, der den Basler Kulturpreis in der aktuellen Saison sein 70-jähriges Bestehen feiern erhält, bis zum Bassisten Stephan Kurmann, der mit dem kann. Ebenfalls eine neue Geschäftsleitung hat nach einer Jazzpreis der Fondation Suisa ausgezeichnet wird. Wir Umstrukturierungsphase die Basel Sinfonietta. Mit Eva gratulieren herzlich! Ruckstuhl und Felix Heri konnte sie mit zwei jungen inter- Kulturpreis an Alain Claude Sulzer: Mo 11.11., 18.15, Rathaus Basel nen Kräften besetzt werden. Jazzpreis an Stephan Kurmann: Fr 15.11., 18.30, Bird’s Eye Jazz Club Hauskultur einem Unternehmen nicht höher «als das Zwölf- fache des tiefsten vom gleichen Unternehmen be- Inhalt db. «Alles sinnlos», befand Albert Camus – aber zahlten Lohnes» ist. Bei uns ist das kein Thema, Redaktion 3 resignieren kam für ihn nicht in Frage. Zum 100. weil Unterschiede und Lohnsumme bescheiden Kulturszene 24 Geburtstag des französischen Schriftstellers und sind. Aber dass in der Schweiz endlich über ein Philosophen finden auch in Basel Gedenkabende Tabu gesprochen und vielleicht etwas Transpa- Kultursplitter 53 statt; am einen wirkt u.a. unsere Autorin Anne- renz geschaffen wird, ist zu begrüssen. ‹Gerech- Agenda 54 marie Pieper mit. Ihre Kolumne zu Alltags- tigkeit› wird es hierbei wohl eh nie geben. weisheiten erscheint zweimonatlich (wieder im Nur das Beste für die Zukunft wünschen wir Ausstellungen & Museen 76 | 77 Dezemberheft). unseren Luzerner KollegInnen vom ‹041 Kultur- Kurse 78 Camus erhielt 1957 bekanntlich den Literatur- magazin› zum 25-jährigen Bestehen. Gefeiert Nobelpreis. Heuer ging diese Auszeichnung wie- wird mit einem rauschenden Fest und einer Jubi- Impressum 78 der einmal an eine Frau, die Kanadierin Alice läumsausstellung (www.kulturluzern.ch). Die Munro. Ein seltenes Ereignis, wurden doch seit Kulturtipps der Kulturpool-Partnerzeitschriften 1901 gerade mal 13 Frauen berücksichtigt, davon stehen auf S. 53. 7 in den letzten 25 Jahren. Kein Zufall, dass im Lesungen zu Albert Camus’ 100. Geb.: Do 7.11., 19.30, Zentrum von Munros Erzählungen oft Frauen- Kleines Literaturhaus Basel, Bachlettenstr. 7. schicksale und -diskriminierung stehen. Neue Mit G. Antonia und H.-Dieter Jendreyko Literatur aus Basel, die kein Blatt vor den Mund ‹Die Freiheit leben›: Di 12.11., 19 h, Literaturhaus Basel. Mit Martin Meyer (Autor einer neuen Camus-Biografie) nimmt, finden Sie auf S. 16/17. und Annemarie Pieper, Moderation Barbara Bleisch, Ende November stimmen wir über die 1:12-Inita- danach Filmporträt über Camus tive ab, die verlangt, dass der höchste Lohn in November 2013 | ProgrammZeitung | 3
JAPANtage im Herbstmond Donnerstag, 7. bis Samstag 23. November 2013 Neuerwerbungen der diesjährigen Japanreise. Lackwaren aus Kanazawa Jap. Möbel aus verschiedenen Epochen Papierlampen und Laternen Setokeramik und Porzellan aus Kyushu Bildrollen und Tuschzeichnungen Bambusobjekte und Kleinode Japanische Inneneinrichtungen Dieter Joerin Gerbergässlein 12, 1. Stock, Basel, T/F: 061 261 55 97. Di–Fr 10–12, 14–18.30 Uhr, Sa 10–17 Uhr + So 12–17 Uhr
Pixel statt Pinsel t i l o r ic h t e r Der Basler Totentanz wird multimedial wiederbelebt. Den Rang des Sterbens erläutert der prominenteste Schöp- fer eines neuen Basler Totentanzes gleich selbst: «Zwei Dinge halten uns alle in ihrem Bann: Eros und Thanatos – Sex und Tod. Sie sind nicht verhandelbar, wir entkommen ihnen nicht. Der allererste Anfang und das allerletzte Ende.» So der britische Regisseur Peter Greenaway, der mit seinen ebenso durchkonstruierten wie epischen Kinofilmen ‹Der Kontrakt des Zeichners›, ‹Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber›, gesteigert noch vom bildstarken ‹Prospero’s Books›, international bekannt wurde. Nun lässt der Künstler den Totentanz am Rheinknie aufer- stehen. Auf 18 Vertikal-Bildschirmen in und bei der Predi- gerkirche zeigt er mehr als 50 einminütige Filme, die im italienischen Lucca u.a. mit Tanzschaffenden gedreht wur- den. Greenaway soll eine halbe Stunde nach Eintreffen der Anfrage des Basler Vereins Totentanz (initiiert von Carmen Bregy, Matthias Buschle und Pfarrer Michael Bangert) seine Mitarbeit zugesagt haben und freut sich darauf, mit den Mitteln der visuellen Sprache vom Tod zu erzählen. Das Kino sieht er, wie er bei einem Besuch in Basel erläuterte, als würdigen Nachfolger der historischen Wandmalerei, glaubt jedoch, dass wir heute das erkennende Sehen kaum Peter beherrschen. Wir dürfen gespannt sein, was uns das an Festivals, das Beiträge aus Kunst und Musik neben solche Greenaway und ein Motiv aus gekündigte Bilderspektakel – begleitet von Kompositionen aus der Wissenschaft stellt – eben: Der Tod hält uns alle ‹The Dance of Marco Robinos – bringen wird. Immerhin wurden dafür im Bann. Death› in der von verschiedenen Seiten mehr als eine halbe Million Fran- Predigerkirche, Peter Greenaway, ‹The Dance of Death – Der Tanz mit dem Tod. Foto: Tilo ken eingesetzt. Ein Basler Totentanz›: Do 31.10., 18 h (Vernissage), Richter Seelen- und Wandbilder. Nur wenige Jahre nach den frü- bis Sa 30.11., täglich bis 22 h, in und bei der Predigerkirche, Hintergründe und Rahmenprogramm: www.baslertotentanz.ch hesten Totentanz-Wandgemälden in Frankreich entstanden Gleichnamiger Katalog, Christoph Merian Verlag, 2013. um 1440 die Urbilder des Basler Totentanzes an der Innen- 92 S., 100 farb. Abb., br., D/E, CHF 32 seite der Friedhofsmauer der Predigerkirche als 60 Meter Ausserdem: ‹Der Tod und das Ich des Menschen›, 4. Tagung zur Sterbe langer Fries eines Künstlers aus dem Umfeld von Konrad kultur: Fr 15. bis So 17.11., Goetheanum, Dornach, www.goetheanum.org Witz. Der als Knochenmann personifizierte Tod tanzte dar- Zum Thema siehe auch u S. 16, 36 auf mit Lebenden aller Stände, ob reich oder arm, jung oder alt, vom Papst über die Adlige bis zum Bauern. Breitere Bekanntheit fanden die Darstellungen mit den von Hans Holbein d.J. um das Jahr 1525 in Holz geschnittenen ‹Bildern des Todes› und im 17. Jahrhundert durch eine Serie Besondere Filme des Kupferstechers Matthäus Merian d.Ä. 1805 schliesslich db. Erneut hat Patrick Bühler eine bunte Auswahl von Filmen, die wurde der zu dieser Zeit schon mehrfach überarbeitete kaum in ‹normalen› Kinoprogrammen zu sehen sind, für sein Originalfries abgerissen, der Friedhof aufgelöst. kleines, einzigartiges Festival ‹Clair-obscur› zusammengestellt. Festivalreigen. Greenaways Filminstallation wird von Musikvideos, Kurz-, Experimental- und Dokumentarfilme the- einem umfangreichen Rahmenprogramm begleitet. Das matisieren Schattenseiten der Gesellschaft sowie Utopien und Projekt ‹crossover Totentanz› etwa lässt quer durch Stile innovative künstlerische Ansätze. Zwischen den Filmen gibt es und Zeiten Musik rund um den Tod erklingen – gerade auch Live-Elektronik und -Performances. Der Eintritt gilt ab 16 Jahren jenseits der Kirchenmusik. Hier verbinden sich Volkslied- und ist frei. Arrangements, Jazz und Uraufführungen zeitgenössischer 16. Clair-Obscur Filmfestival: Do 14. bis Sa 16.11., Mitte, Safe u S. 45, Kompositionen. In den Festivalreigen der Basler ‹Toten www.clair-obscur.ch. Do ab 20 h, Fr ab 19 h, Sa ab 18.15 tänzer› reihen sich auch grosse Häuser ein: Das Historische Ausserdem: 7. Swikos Kurzfilmfestival für Jungtalente: Fr 15./Sa 16.11., Museum bietet Stadtführungen zu Basler Totentänzen an, Stadtcasino Basel, www.swikos.com das Kunstmuseum zeigt ‹Bilder des Todes›, das Museum Die besten Natur-Dokumentarfilme des int. Festivals ‹NaturVision›: Tinguely präsentiert Jean Tinguelys ‹Mengele – Totentanz› Sa 23./So 24.11., 10–17 h, Naturhistor. Museum, www.nmb.bs.ch von 1986 und die Unibibliothek stellt einige ihrer Totentanz- ‹Augenblick›, 9. Festival des deutschsprachigen Films im Elsass: Di 12. bis Fr 29.11., div. Kinos, www.festival-augenblick.fr Bücher aus. Bemerkenswert sind Dichte und Bandbreite des 17. Int. Kurzfilmtage Winterthur: Di 5. bis So 10.11., www.kurzfilmtage.ch November 2013 | ProgrammZeitung | 5
Chronologie einer unheimlichen Verdrängung d ok u m e n tat ion e d g a r h age n Eine Zeittafel zu Edgar Hagens neuem Film ‹Die Reise 1998 Die rot-grüne deutsche Regierung verfügt einen zehn- zum sichersten Ort der Erde› (s. Text nebenan) jährigen Erkundungsstopp von Gorleben und beginnt (im 1945 Erster Atombombenabwurf über Hiroshima. Charles Jahr 2000) mit dem Ausstieg aus der Atomenergie. McCom- McCombie wird in Aberdeen, Schottland, als Sohn eines bie und Partner planen in Westaustralien geheim das erste Soldaten der Royal Air Force geboren. internationale hochradioaktive Endlagerprojekt ‹Pangea›, 1953 US-Präsident Eisenhower propagiert vor der UN-Gene- finanziert von der Schweiz, Grossbritannien und Kanada. ralversammlung die zivile Nutzung der Atomenergie. Die Pläne fliegen auf und scheitern am Widerstand der 1956 Queen Elizabeth II. weiht in Sellafield (GB) das erste Umweltbewegung. kommerziell genutzte AKW der Welt ein. 1999 McCombie wird ins internationale Expertengremium 1957 Die Endlagerung von Atommüll in ‹geologischen Tiefen zur Rettung der hochradioaktiven Endlagerpläne in Gor lagern› wird von der Amerikanischen Akademie der Wissen- leben berufen. schaften als machbare Lösung propagiert. 2002 ‹Pangea› wird liquidiert. McCombie entwickelt das 1976 Beginn der geheimen Planung eines hochradioaktiven erste multinationale Endlagerkonzept unter Beteiligung Endlagers auf der Hanford Site in Washington State (USA). von zehn europäischen Staaten. 1977 Aufgrund von Protesten muss der hochradioaktive 2008 Die Schweiz gibt drei mögliche Standorte für ein hoch- Atommüll aus der Wiederaufbereitung in Sellafield in die radioaktives Endlager bekannt. Das Wirtsgestein soll jetzt Ursprungsländer zurückgebracht werden, unter anderem Ton sein. Einer der Standorte liegt unmittelbar vor McCom- in die Schweiz. Gorleben wird als deutscher Endlagerstand- bies Haustür auf dem Bözberg (AG). ort und Ort einer Wiederaufbereitungsanlage bekannt ge- 2010 Das Yucca-Mountain-Projekt wird nach 23 Jahren Bau- geben. Heftiger Widerstand in der Bevölkerung. Die Schweiz zeit von Barack Obama gestoppt. Obama plant dennoch lehnt das Angebot von Jimmy Carters Regierung ab, Atom- neue AKWs. McCombie wird als internationaler Experte müll und abgebrannte Brennelemente in die USA zu ent- vor die US-Kommission geladen, die berät, was nun mit sorgen. dem hochradioaktiven Atommüll geschehen soll. Die Idee 1978 Charles McCombie erhält von der NAGRA den Auftrag eines internationalen Endlagers in Australien taucht wie- zur Entwicklung des Endlagerprogramms der Schweiz, das der auf. Die schwarz-gelbe deutsche Regierung lässt gegen ‹Projekt Gewähr›. den Widerstand der lokalen Bevölkerung die Erkundung in 1979 Reaktorkatastrophe im AKW Three Mile Island in Har- Gorleben wiederaufnehmen. Die Laufzeit der AKWs wird risburg (USA). 200’000 Menschen sind auf der Flucht. verlängert. 1985 McCombie vollendet das ‹Projekt Gewähr›, das erste 2011 Die schwedische Endlagerorganisation (SKB) reicht Schweizer Endlagerkonzept für hochradioaktiven Atom- das Gesuch für den Bau eines hochradioaktiven Endlagers müll. Es soll nachweisen, dass Atommüll sicher entsorgt in der Gemeinde Östhammar ein. Die Sicherheitsanalysen werden kann – sonst müssen die AKWs in der Schweiz ab- der Atomfirma SKB werden von unabhängigen Wissen- gestellt werden. Das ausgewählte Granitgestein erweist sich schaftlern infrage gestellt. Die Atomkatastrophe in Fuku- als ungeeignet. Die AKWs bleiben dennoch in Betrieb. shima vom 11. März erschüttert den Glauben an die Atom- 1986 Reaktorkatastrophe in Tschernobyl (Ukraine). Hoch- energie weltweit. Mehrere Länder geben ihre Atomener- radioaktive Stoffe geraten weiträumig in die Umwelt und gieprogramme auf. Nicht so China, wo sich gegenwärtig 26 machen breite Landstriche zur unbewohnbaren Zone. Über AKWs im Bau befinden. das wahre Ausmass der Katastrophe wird heute noch ge- 2013 In England entscheiden sich zwei Gemeinden dagegen, stritten. Die Int. Atomenergie-Organisation IAEO spricht von sich weiter als freiwillige Standorte für ein hochradioakti- 58, unabhängige Stellen von über 300’000 Toten. ves Endlager zur Verfügung zu stellen. McCombie ist per- 1987 Das US-Endlagerprojekt Hanford Site scheitert. Jetzt sönlicher Berater des Direktors des britischen Endlagerpro- wird Yucca Mountain, Nevada, als Endlagerstandort für hoch- gramms. Die Planung neuer britischer AKWs geht dennoch radioaktive Stoffe bekannt gegeben. 2000 Wissenschaftler weiter. Am 13. August entscheidet ein Gericht in den USA, sollen die Eignung des Berges beweisen. dass das abgebrochene Bewilligungsverfahren um das 1995 McCombie wird in die Endlagerkommission der Ame- hochradioaktive Endlager in Yucca Mountain wiederaufge- rikanischen Akademie der Wissenschaften berufen. In der nommen werden muss. Die IAEO lädt McCombie mehrmals Schweiz scheitert er mit den schwach- und mittelaktiven nach Wien ein. Sie begrüsst sein Engagement für multi Endlagerplänen der NAGRA am Widerstand der Bevölke- nationale und internationale hochradioaktive Endlager. Bis rung am Wellenberg. heute ist weltweit noch keines in Betrieb. Es ist unklar, 1996 Scheitern der hochradioaktiven Endlagerpläne in wann, wo und ob überhaupt das erste eröffnet werden kann. Kanada. 1997 Scheitern der mittelaktiven Endlagerpläne der Briten in Sellafield. 6 | ProgrammZeitung | November 2013
Der moderne Sisyphos a l f r e d s c h l i e nge r Edgar Hagen greift ein verdrängtes Tabu auf: Atomkraftwerke im Bau. Wo die sichere Toilette hinkom- Wohin mit dem ganzen Atommüll? men soll, ist auch dort weiterhin unklar. In den USA war ein Diesen Film hält man eigentlich im Kopf nicht aus. Obwohl Endlager in einem Indianerreservat geplant, direkt neben er die Problematik ganz sachlich und sehr ausgewogen auf- einem nicht mehr aktiven Vulkan. In New Mexico sieht ein rollt. Oder vielleicht gerade deswegen. Edgar Hagens neuer Bürgermeister ein Geschäftsmodell darin, das Arbeitsplätze Dokumentarfilm ‹Die Reise zum sichersten Ort der Erde› schafft, wenn er seine Gemeinde für viel Geld als Endlager- konfrontiert uns mit der Tatsache, dass wir mit unseren stätte anbietet. In Westaustralien wird ein Gebiet erkundet, Atomkraftwerken tagtäglich Unmengen hochradioaktiven das den Atommüll aus der ganzen Welt aufnehmen soll. Sondermülls produzieren – und bis heute nicht wissen, wo- Es ist ein faustischer Pakt, den die Gesellschaft da mit der hin damit. Seit dem Beginn der zivilen Nutzung der Atom- Wissenschaft und der Atomlobby eingegangen ist. energie im Jahr 1956 haben sich weltweit 350’000 Tonnen Wann, wenn nicht jetzt? Hagen behandelt das Thema angesammelt, und jährlich kommen 10’000 weitere Tonnen bemerkenswert unaufgeregt, aber höchst eindringlich. Er hinzu. Provisorisch deponiert ist der gefährliche Stoff in nimmt uns buchstäblich mit auf die Reise in das selbstge- Zwischenlagern, welche die geforderten Sicherheitsstan- schaffene Dilemma. Er macht dabei seine Rolle als Reise- dards nicht erfüllen. Und die AKWs dampfen kräftig weiter. führer sicht- und hörbar, spricht den Kommentar selber ein Wissenschafts-Optimist. Edgar Hagen ist ein Coup ge- und erscheint einige Male auch im Bild. Ein nicht ganz un- lungen. Er hat mit dem Nuklearphysiker Charles McCombie heikles Verfahren bei Dokumentarfilmen, aber hier wirkt einen der weltweit führenden Endlagerexperten für sein es als Transparenz schaffende Qualität. Gefolg- und Gegner- Filmprojekt gewonnen, der ihm viele sonst verschlossene schaft der Atomenergie kommen zu Wort, von England über Türen öffnete. Seit 35 Jahren sucht McCombie im Auftrag Schweden bis Japan geht die Reise. Und immer wieder zu- verschiedener Nationen und internationalen Organisati- rück in die Schweiz. onen nach sicheren Orten für den strahlenden Abfall, der Hier wurden nach dem Wellenberg-Debakel die gesetz unser Leben für Hunderttausende von Jahren gefährdet. lichen Grundlagen geändert: Die Standortkantone der aus- Dieser Aufgabe hat er sein gesamtes Berufsleben gewidmet. erwählten Endlager haben ihr Veto-Recht verloren. Genau McCombie ist ein faszinierender Mensch. Als überzeugter in solchen ‹Anpassungen› lauert die grosse Gefahr. Vor Befürworter der zivilen Nutzung von Kernenergie erforscht allem wenn das brisante Thema wie derzeit in der gesell- er mit wissenschaftlicher Akribie Standort um Standort – schaftlichen Verdrängung zwischengelagert bleibt. Aktuell und ist noch nie fündig geworden. Und dennoch glaubt er träumen rechtsnationale Kräfte in der Schweiz tatsächlich ungebrochen daran, dass das Problem lösbar ist. Der Mann, vom St. Florians-Prinzip: Weit weg mit dem ganzen Müll in nüchtern, unideologisch und sympathisch, kommt einem ein fernes Land! Wir zahlen ja mit unserem guten Geld da- vor wie eine moderne Form des Sisyphos. In Abwandlung für. Die Sache gehört aber hier auf den Tisch. Wann, wenn des berühmten Camus-Wortes: Man muss sich Sisyphos als nicht jetzt? Edgar Hagens Film ist ein wichtiger Anstoss für einen wissenschaftlichen Optimisten vorstellen. diese dringend notwendige Diskussion. Faustischer Pakt. Aber natürlich braucht es solche Men- Der Film läuft ab Do 31.10. in einem der Kultkinos u S. 42 schen. Denn das Problem muss gelöst werden und zwar Vorpremiere: Di 29.10., 18.30, mit dem Regisseur und Gästen ohne Absenkung der Sicherheitsnormen. Hagen reist mit Ausserdem: Ausstellung ‹Langzeit und Endlager›: bis So 23.3., McCombie um die Welt. In China sagt ihm der Direktor des Museum zu Allerheiligen, Schaffhausen. Gleichnamige Publikation von Peter Jezler und Urs Weibel (Hg.), Endlagerprogramms, das in der Wüste Gobi angesiedelt Filmstill aus Verlag Neue Zürcher Zeitung, ca. 200 S. mit zahlr. Abb., CHF 48 werden soll: «Wenn man ein Haus baut, darf man die Toilet- ‹Die Reise zum sichersten Ort te nicht vergessen.» Aktuell befinden sich in China 26 neue der Erde› November 2013 | ProgrammZeitung | 7
Der Geheimnisverlust a l f r e d s c h l i e nge r Der Erfolgsroman ‹Am Hang› – jetzt verfilmt human» – wirkt der lässig Zerzauste auch zu getrieben und und vergröbert. cholerisch. Max Simonischek als Clarin, der intellektuell, Als Markus Werners Roman ‹Am Hang› vor knapp einem rhetorisch und bezüglich emotionaler Tiefe schon im Buch Jahrzehnt erschien, wurde er von Publikum und Kritik ge- keine Chance gegen Loos hat, bleibt zudem erstaunlich liebt und gelobt und war für ein Schweizer Buch erstaun- charmefrei. Martina Gedeck als Ehefrau und Geliebte hin- lich schnell eine Viertelmillion Mal verkauft. Bald folgten gegen bringt mit ihrem zurückhaltenden Spiel jene Dosis auch verschiedene Bühnenfassungen, was weniger er- Geheimnis ein, die sonst fehlt. staunt, denn das Buch besteht fast zur Gänze aus höchst Ein Geheimnis in Buch und Film bleibt der Gehalt dieser elegant ineinander verwobenen Dialogen in direkter und Liebe. Fast klingt es so, als gelinge sie nur in der Behaup- indirekter Rede. Darin unterhalten sich zwei Zufalls tung; schillernde Projektionen einer ewigen Sehnsucht. bekannte, der etwa fünfzigjährige Altphilologe Loos und Dieser schwebenden Offenheit hat das Filmteam nicht ver- der eine Generation jüngere Scheidungsanwalt Clarin, auf traut. Anfang und Schluss des Films sind frei und nicht un- einer Tessiner Hotelterrasse über Liebe, Ehe, Treue und all bedingt stimmig dazuerfunden. Vieles wird ins Überdeut die Freuden und Widrigkeiten, die damit verbunden sind. liche gehoben. Wahrscheinlich geht man am gelassensten Ein grandioser Diskurs, z.T. etwas konstruiert, aber doch aus dem Kino, wenn man das Buch nicht gelesen hat. Aber über ein Thema, das niemanden kalt lassen kann. ob das wirklich genügt? Loos und Clarin vertreten absolut konträre Lebensauf Der Film läuft derzeit in einem der Kultkinos. fassungen. Der Ältere trauert seiner offenbar verstorbenen Ehefrau nach, mit der er das Wunder der glücklichen Ehe erlebt haben will. Der Jüngere ist diesbezüglich nicht nur durch seinen Beruf desillusioniert, sondern lebt ganz be- wusst ein hedonistisch orientiertes, unverbindliches Liebes- leben mit häufig wechselnden Partnerinnen. Auf Loos’ Drängen hin berichtet Clarin über die Erfahrungen mit einer seiner letzten Geliebten, einer verheirateten Frau Anfang vierzig. Der Clou des Buches besteht nun darin, dass erst ganz am Schluss klar wird, dass dies Loos’ Gemahlin war. Unklar bleibt, ab wann Loos selber bemerkt, dass er hier mit dem Verführer seiner Frau redet. Nicht wenige werden deshalb, um den möglichen Andeutungen wenigstens nachträglich auf die Spur zu kommen, den Roman gleich ein zweites Mal gelesen haben. Projektionen einer Sehnsucht. Dieser Schwebecharakter ist ein Grundmerkmal des Romans, und wer sich an eine Verfilmung wagt, muss sich einiges überlegen, ob und wie dieser Zustand zu erreichen ist. Regisseur Markus Imbo- den und seine beiden Drehbuchautoren Klaus Richter und Martin Gypkens entscheiden sich für ein paar radikale Änderungen. Da ein Grossteil der Kinogäste das Buch ken- nen dürfte, ist die Entscheidung, die Identität der Frau (für die Zuschauenden) früher zu lüften, wahrscheinlich nicht falsch. Noch etwas tumber als im Buch erscheint allerdings der Scheidungsanwalt, der es als Einziger erst am Schluss begreift. Kein Schwebezustand also, weder fürs Publikum noch für Loos, der hier offensichtlich als Inszenator der Enthüllung wirkt. Mehr als die halbe Miete eines Films, erst recht bei literari- schen Vorlagen, ist die Besetzung. Die Buchfans wollen ihre Figuren wiedererkennen. Das fällt bei Loos nicht ganz leicht. Der kleine, fast zarte Henry Hübchen ist ein hinreis- sender Schauspieler mit einem spitzbübischen Charme und wunderbar schlenkerndem Gang, der leicht ins Komische kippt, aber er ist natürlich nicht der mächtige, zeitgeistkri- Filmstill aus ‹Am Hang›, tische Bär aus dem Buch. Seine wilden Tiraden gegen den Martina Gedeck und Henry Hübchen Weltwahnsinn sind ohnehin weitgehend gestrichen. Und für seinen Leitsatz in Buch und Film – «Nur das Zögern ist 8 | ProgrammZeitung | November 2013
Oper zum Mitspielen a l f r e d z i lt e n e r Die ‹Journées contemporaines› stellen unterschied- liches Musiktheater vor. ‹Votre Faust› nannten der belgische Komponist Henri Pous- seur (1929–2009) und sein Librettist, der französische Roman cier Michel Butor, ihre 1969 in der Mailänder Piccola Scala uraufgeführte ‹Fantaisie variable genre opéra›. Und es ist in der Tat bis zu einem gewissen Grad ‹Euer Faust›: jener des Publikums nämlich, welches das Stück mitgestalten kann. Es darf mehrfach darüber abstimmen, wie der Abend weiter- gehen soll und entscheidet so, ob er als Komödie oder als Tragödie endet. Dieser Versuch, die Form der Oper von innen her aufzubre- chen und zu demokratisieren, war damals revolutionär und hat m.W. bis heute keine Nachfolge gefunden. Natürlich schwingt da viel vom 68er-Zeitgeist mit. Das Stück stehe – erklärt der Musikwissenschaftler Robert Piencikowski von der Paul Sacher-Stiftung, wo Pousseurs Nachlass aufbe- wahrt wird – im Zusammenhang mit der Suche des Kompo- nisten nach einer ‹linken› Musik, die nichts zu tun haben sollte mit dem von Stalin verordneten ‹Sozialistischen Rea- ‹Madrigali lismus›. Inzwischen ist das aufwändige und daher kaum Trio Steamboat Switzerland komponiert, Grenzgängern Notturni›, vlnr. Agnieszka Ko- gespielte Werk in Vergessenheit geraten. Nun ist es erfreu- zwischen Jazz, Rock und Moderne, und ein ‹klassisches› walczyk, Leslie licherweise im Rahmen der diesjährigen ‹Journées contem- Streichquartett. Dazu kommen drei Sängerinnen, ein Spre- Leon, Sylvia poraines›, die das Theater Basel und der Gare du Nord zum cher, Schlaginstrumente und Elektronik. Nopper, Svea Schildknecht, zweiten Mal veranstalten, an zwei Abenden zu erleben. Im Gare du Nord gastiert ‹Madrigali Notturni›, ein gemein- Foto: Katharina Vorläufer der Postmoderne. Im Zentrum des Stücks ste- sames Projekt der Komponistin Katharina Rosenberger, des Rosenberger hen der Komponist Henri (der nicht zufällig den gleichen Choreografen und Kostümbildners Ric Schachtebeck und Vornamen trägt wie Pousseur) und ein mephistophelischer der Lichtdesignerin Christa Wenger. Ort, Bewegung sowie Impresario, der ihn überredet, eine ‹Faust›-Oper zu schrei- Vokalmusik der Renaissance und der Gegenwart verbinden ben. Mit diesem Pakt hat Henri auch seine Seele verloren, sich zu einem Raum-Klang-Labor, das dem Publikum neue d.h. seine Musik kommerzialisiert. Das Libretto zitiert nicht Möglichkeiten der sinnlichen Wahrnehmung öffnet. nur Goethes ‹Faust› (und Gérard de Nervals französische 2. ‹Journées contemporaines›: Fr 8. bis So 10.11., Theater Basel und Übersetzung), sondern auch das viel ältere ‹Puppenspiel Gare du Nord u S. 33, 37 vom Doktor Faust›, ein Sonett von Petrarca und anderes mehr. Auch Pousseurs in der Basis serielle Partitur wim- melt von Zitaten, die aber beim ersten Hören nur teilweise Vielstimmig zu erkennen sind. Der Komponist habe – so Piencikowski db. Zwei professionelle Basler Vokalensembles, die administrativ – die Musikgeschichte als grosses Kontinuum gesehen, auf zusammenarbeiten, sind im November gleich mehrfach zu hören. dem er nach Belieben gleiten konnte, dabei aber den Ein- Im Rahmen von Culturescapes Balkan präsentiert eine erweiter- satz der Stile systematisiert, zur Charakterisierung sozialer te Formation der auf zeitgenössische Musik fokussierten Solo Schichten etwa. Damit gehörte er zu den Vorläufern der Voices diverse Uraufführungen, ferner lässt sie in der Musik- heutigen Postmoderne. Das Gastspiel wird ergänzt durch theaterproduktion ‹Lümpfftümpff› u.a. Kurt Schwitters ‹Ur- eine von Piencikowski kuratierte Ausstellung zu Pousseur sonate› erklingen. Die Gruppe Thélème, spezialisiert auf Inter- im Foyer des Schauspielhauses und ein Gespräch mit dem pretationen Alter Musik, stellt Kompositionen eines Renaissance- mittlerweile 87-jährigen Michel Butor. musikers vor und lädt zu einem Bankett mit allerlei Klängen und Zeitgenössisches. Neben ‹Votre Faust›, einem ‹Klassiker› Küchenkünsten ein. – des Musiktheaters, bringen die ‹Journées contemporaines› Keine Profis, aber leidenschaftliche Sängerinnen sind die Damen neue Werke nach Basel. So ist in Georges Delnons Urauf- von Canto Donne. In ihrem nächsten Konzert bringen sie, beglei- führungsinszenierung für das Lucerne Festival ‹Anschlag› tet von einem Blockflötenensemble, ebenfalls Renaissancemusik von Michael Wertmüller auf ein Libretto von Lukas Bärfuss zu Gehör. zu sehen. Der Erfolgsdramatiker hat zwölf Texte zu einem Solo Voices: Mo 4.11., 20 h, Gare du Nord u S. 33, Panoptikum des Schreckens geformt, das um den gesell- und Fr 15.11., 19.30, Maison 44 u S. 29 schaftlichen Missbrauch des menschlichen und tierischen Thélème: Sa 23.11., 19.30, Maison 44 u S. 29, Körpers kreist. Wertmüller hat dafür eine Musik geschrie- und Mi 27.11., 20 h, Kantine Musikerwohnhaus, Lothringerstr. 165 ben, deren Spektrum von aggressiver Motorik bis zu lyri- Canto Donne: Sa 2.11., 19 h, Zinzendorfhaus, Leimenstr. 10; scher Schönheit reicht. Noch entschiedener als Pousseur und So 3.11., 17 h, Dorfkirche Kleinhüningen, Dorfstr. 39 verbindet er unterschiedliche Stile. Seine Musik ist für das November 2013 | ProgrammZeitung | 9
Da geh’ ich hin a nge l a bu dde c k e Haifisch & Co. Zum Weltaidstag erklingen Kreisler-Chansons. «Nebenan – man muss nur wissen, wie man hinkommt ...» Nebenan – das a l f r e d z i lt e n e r ist im Schauspielhaus, Ende November. Dann singt Tim Fischer zum Welt- Das SOB spielt Zappa. aidstag Lieder von Georg Kreisler. Wie man da hinkommt, ist hinreichend Seit das Sinfonieorchester Basel (SOB) sich aus bekannt. Aber ‹Nebenan› ist mehr als nur ein Ort. Es ist der schillernde der Umklammerung der AMG befreit hat und Kosmos eines Genies. «Nebenan», so heisst es weiter in dem hinreissenden selbständig geworden ist, öffnet es sich konse- Tango, «ist gleich um’s Eck und dann gradaus. Nebenan, in einer flüchtigen quent der zeitgenössischen Musik. Offenbar mit Kulisse spielt sich das Leben langsam ein, wie bei Papageien, nur dass man Erfolg: Um rund ein Viertel ist die Zahl der Kon- ein Mensch ist, aber das den ganzen Tag.» zertabos angewachsen. Solche und ähnliche Liedzeilen von Georg Kreisler haben mich, als ich Nun widmet das Orchester in Zusammenarbeit ganz jung war, ständig begleitet und unumkehrbar auf die Spur der inneren mit der Kaserne Basel einen Abend Frank Zappa, Freiheit gesetzt. Ich stand nicht auf Popstars. Ich schwärmte für den be- dem legendären amerikanischen Wanderer zwi- brillten Mann am Klavier mit seinem anarchischen Humor und seiner schen Jazz, Rock und Avantgarde, für den Ironie, grossen Zärtlichkeit für den Menschen an sich, die oft unverstanden blieb, Parodie und musikalische Ernsthaftigkeit zusam- worunter er sehr litt. Es war ihm nicht recht, nur der schwarzhumorige mengehörten. Das Konzert ist eine Hommage ‹Taubenvergifter› zu sein. zum 20. Todestag Zappas am 4. Dezember. Zu Mir hat sein gesamtes Liedgut einst das geistige Leben gerettet. Seine herr- hören sind u.a. Auszüge aus seinem letzten Opus liche Drastik hat mich in todtraurigen Zeiten zum Lachen gebracht, er hat ‹The Yellow Shark›. Das Stück ist für das Frank- mir als Pianistin neue Dimensionen eröffnet (Spielen ohne Hingucken, eine furter Ensemble Modern entstanden; Zappa hat Kunst für sich!) und für mich als Song-Schreiberin die Messlatte himmel- hierfür sowohl ältere Musik orchestriert, als hoch gehängt. auch Neues komponiert. Die Uraufführung fand Uns verband bis zu seinem Tod vor fast zwei Jahren eine treue Brieffreund- im September 1992 in der Alten Oper Frankfurt schaft, die ich in den 80ern mit einem glühenden Fan-Bekenntnis (ach was statt, in Anwesenheit des Komponisten, der aber – es war ein Liebesbrief!) keck angezettelt hatte. Und hier in Basel stand er bereits so krank war, dass er nur Teile des Werks Pate, als ich seinerzeit im Teufelhof in seiner Anwesenheit mit dem Kreis- dirigieren konnte. Es wurde sein letzter öffent ler-Programm ‹Am besten nichts Neues› meinen Berufsstand als Klavier- licher Auftritt. Kabarettistin aus der Taufe hob: Der Chef gab mir persönlich gratulierend Die zweite grosse Komposition ‹The Adventures den Segen. Das brachte mir viel Glück, mein Herz zum Jubeln und endlich of Greggery Peccary› für Sprecher/Sänger und den Mut, auch meine eigenen Lieder unter die Leute zu bringen. Instrumentalensemble erzählt sodann die schrä- Nun trägt Tim Fischer die Fackel mit den Liedern dieses unsterblichen Frei- gen Abenteuer eines Schweins, das in einer gros- geistes und grandiosen Musikers weiter. Nix wie hin! Frank Zappa, sen Firma arbeitet und einen roten VW fährt. Foto: Mark Weltaidstag: Tim Fischer singt Georg Kreisler-Chansons: Sa 30.11., ab 19 h, Schauspielhaus Der Komponist Ali N. Askin hat für das Ensemble Sullivan-Getty Basel. Mit Benefiz-Suppe, Konzert und Afterparty. Infos: www.weltaidstag-basel.ch Modern die entsprechenden Materialien aus Images (links) Angela Buddecke ist ‹Lebens-Gesamtkünstlerin› und wohnt mit ihrer Familie in Weil a.Rh., Zappas Nachlass gesichtet und daraus eine www.angelabuddecke.com Tim Fischer Orchesterfassung erstellt. Die ‹Revised Music for (links) und Ausserdem: Hommage zum 2. Todestag von Georg Kreisler: Christine Lather & Jean Hoffmann Low-Budget-Orchestra› von 1975 ergänzt das Georg Kreisler, spielen Kreislers Musical ‹Lola Blau›: Do 21. bis Sa 23.11., Theater Teufelhof u S. 39 Foto: Stefan Programm. Malzkorn Zappa, erzählt Hans-Georg Hofmann, der beim SOB für Dramaturgie und künstlerische Planung zuständig ist, habe Edgar Varèse und Igor Stra- winsky besonders verehrt, was seiner Musik an- zuhören sei. Von Letzterem beeinflusst sind etwa die raschen rhythmischen Wechsel, die den Stücken etwas Collagenhaftes geben; Varèse war das Vorbild für den Einbezug von Geräu- schen, in ‹Greggery Peccary› z.B. dem Knallen eines Luftgewehrs und dem Klappern und Bim- meln von drei Schreibmaschinen. Die Leitung hat der Zappa-erfahrene Dirigent Jonathan Stockhammer, der auch schon mit der Basel Sinfonietta zusammengearbeitet hat. Als sprechender und singender Erzähler in ‹Greg gery Peccary› tritt der US-Vokalkünstler und Performer David Moss auf. SOB spielt Zappa: Sa 9.11., 21 h (20 h Türöffnung), Kaserne Basel u S. 35 10 | ProgrammZeitung | November 2013
Bambi allein im Wald i ng o s ta r z Dialog der Künste dagm a r bru n n e r Performing Arts. Alle zwei Jahre tourt die Initiative ‹Tanzfaktor Interregio› durchs Land und bietet Einblick in zeitgenössisches Tanzschaffen. Das ursprüng- lich vom Tanzbüro Basel ins Leben gerufene Pro- jekt hat sich von der lokalen zur nationalen Nachwuchsplattform entwickelt, die von einer Fachjury bewertet, vom Schweizer Tanznetz- werk Reso koordiniert und von Kantonen und Bund unterstützt wird. Es will zur Professionali- sierung und Vernetzung der Szene beitragen und ihre Leistungen sichtbar machen. Für die fünfte Ausgabe haben sich über neunzig Tanzschaffen- de beworben. Fünf Choreografien wurden aus- ‹Bambi›, gewählt, die nun auf acht Bühnen der Schweiz Das Vorstadttheater Basel entdeckt einen Klassiker. Foto: Grafik- gastieren. Die Kurzstücke werden von elf Per büro Hauser Wer von Bambi spricht, denkt wohl zuerst an den Zeichentrickfilm von Schwarz formerInnen präsentiert. – 1942. Die von Walt Disney umgesetzte Geschichte vom Erwachsenwerden Ein ‹Performing Arts Project› findet sich auch im eines Hirschs prägt bis heute unser Bild von der Figur. Geradezu berühmt Programm der diesjährigen Martinu-Festtage, die geworden ist die Szene, in der Bambis Mutter auf der Flucht von einem ebenfalls den Dialog der Kunstgattungen för- Jäger erlegt wird. Die Vorlage des Romans von Felix Salten (1923) geht dern. Die Basler Künstlerin Hildegard Spielhofer, meist vergessen. Umso überraschender ist die Begegnung mit dem Buch, der Filmschaffende Hanspeter Giuliani und die das so gar nichts von kindlich-lieblicher Erzählweise an sich hat, sondern Tänzerin Rebecca Weingartner kreierten als im Gegenteil im Lauf der Handlung eine zunehmend düstere Szenerie ent- Hommage für den tschechischen Komponisten, wirft und in Gesprächen zwischen den Tieren existenzielle Fragen verhan- der 1959 in Liestal starb, die Performance delt. ‹Bambi, eine Lebensgeschichte aus dem Walde› erweist sich als ein ‹Etudes Fragiles› – eine Auseinandersetzung mit vielschichtiger Roman, der ebenso vom Heranwachsen eines Rehbocks er- dessen ‹Dualitäts›-Prinzip –, die von der Geigerin zählt, wie er im Wandel der Jahreszeiten den Zyklus des Lebens darstellt. Malwina Sosnowski begleitet wird. Bohuslav Nebenbei skizziert Salten, wie es ein Rezensent der 2012 im Unionsverlag Martinu, ein begeisterter Anhänger von Jazz erschienenen Neuausgabe formulierte, eine «Schule des Alleinseins». und Tanztheater, schrieb auch eine köstliche Das Vorstadttheater hat sich unter seinem künstlerischen Leiter Matthias ‹Küchenrevue›, in der sich Topf und Deckel nach Grupp des Romans angenommen. Mit den SchauspielerInnen Alireza Bay- einigen Komplikationen vermählen. Jungtalente ram, Gina Durler und Michael Schwager bringt es eine Geschichte auf die des Chronos Movement Tanzstudios bringen das Bühne, in der Bedrohung, Gewalt und Tod zum Alltag gehören. Einige der Jazzballett zur Aufführung. In drei weiteren Kon- tiefsinnigen Dialoge des Buchs, etwa derjenige zwischen zwei absterben- zerten erklingen Kompositionen von Martinu den Blättern, fliessen in die Aufführung mit ein. Wie bei Salten, aber an- und andern – u.a. mit Improvisationen des Jazz- ders als im Film, hat Bambis Freundin Faline einen Bruder. Der schwäch pianisten Enrico Pieranunzi –, abschliessend liche Rehbock Gobo wird erst von Menschen gesund gepflegt und später, spielt die Camerata Salzburg unter der Leitung nach seiner Rückkehr in den Wald, von einem Jäger getötet. Die Figur der von Christopher Hogwood. – Elster wird aus- und umgebaut: Sie kommt als skurrile Oma daher, beglei- Das musikalische Schauspiel-/Tanzstück ‹ELFe tet das Geschehen und übermittelt schlechte Nachrichten. Und der als (11e – ein Schreibprozess)› von Fidelio Lippuner Jäger auftretende Mensch ist nicht einfach Gegensatz zum (gar nicht so und Doris Egger thematisiert den Umgang mit friedlichen) Tierleben. In ihm klingt auch der Erste Weltkrieg nach. ‹psychischer Beeinträchtigung›. In der Koproduk- Welttheater für alle. Was uns die neue Hausproduktion im Vorstadt tion des sozialpsychiatrischen Vereins Mobile mit theater erzählen will, ist nichts weniger als ein kleines Welttheater für dem Theater Basel treten Betroffene und Profis auf. Menschen ab 6 Jahren. Mit Humor und Ernst, mit Saltens Sprache und reiz- ‹Tanzfaktor Interregio›: Mi 27.11., 20 h, Kaserne u S. 35 vollen Bildern bringt uns das Ensemble die Geschichte von Bambi nahe. 19. Martinu Festtage: So 10. bis Sa 23.11., div. Orte, Kriegerische Momente, die das Tierleben wie die Begegnung der Tiere mit www.martinu.ch den Menschen prägen, bleiben nicht ausgespart: Der Tod gehört schliess- ‹ELFe›: Mi 20.11., 20.30, Foyer Schauspielhaus, lich zum Leben. Der von Michael Studer besorgte Sound zur Bühnenfas- Infos: www.mobilebasel.ch sung unterstreicht diese Perspektive: Mit dem Rückgriff auf Barockmusik bekommt das gezeigte Werden und Vergehen einen stimmigen Kontext. ‹Bambi›: Fr 15.11. bis Di 31.12., Vorstadttheater Basel u S. 37 November 2013 | ProgrammZeitung | 11
Erinnerung wagen i ng o s ta r z Selma Spahic, ‹Hypermnesia›, Foto: zVg Culturescapes präsentiert Theater vom Westbalkan. Spuren des Kriegs. Der in Bosnien geborene und in Kroa Am Theaterfestival MESS in Sarajevo wurde 2011 eine Drama- tien arbeitende Regisseur Oliver Frljic hat sich in seinen tisierung des jugoslawischen Spielfilms ‹Papa ist auf Dienst- Bühnenarbeiten schon wiederholt mit der jüngeren Ge- reise› gezeigt. Emir Kusturicas Meisterwerk 1985 in Cannes schichte seiner Region befasst. In ‹I hate the Truth› zeigt mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde und schil- er eine serbo-kroatische Familiengeschichte in den Zeiten dert aus der Perspektive des Jungen Malik menschliche und vor und während der Balkankriege. Sie schildert den Alltag politische Wirren der frühen 1950er-Jahre. Es geht vor dem und aufkeimende ethnische Konflikte. Die vier Performe- Hintergrund stalinistischer Gewalt um die politische Gefan- rInnen wechseln in diesem Setting zwischen ihren Rollen genschaft des Vaters Mehmed, um den Fussball und um die als Familienmitglieder und Theaterleute. Sie stellen den Heimatstadt Sarajevo. Die Theaterfassung von Oliver Frljic Regisseur zur Rede, diskutieren die Mittel des Theaters und wurde vor vollem Haus im Nationaltheater gezeigt und vom hinterfragen die Wahrheit des Berichteten. Auf bemerkens- Publikum mit grosser Begeisterung aufgenommen. Den werte Weise macht diese Produktion darauf aufmerksam, Reaktionen war die genaue Kenntnis des populären Films dass Erinnerung immer viele Wahrheiten kennt. anzumerken, ebenso eine gewisse Nostalgie. Wie obsessiv die Rückschau die Menschen in den ex-jugos- Das Jugoslawien Marschall Titos wird rückblickend gern lawischen Staaten beherrscht, thematisiert Selma Spahic in als Epoche friedvollen Zusammenlebens gezeichnet. Eine ihrem Stück ‹Hypermnesia›. Die Autorin und Regisseurin solche Perspektive mag sich weniger objektiven Fakten als aus Sarajevo hat mit DarstellerInnen aus Bosnien-Herzego- der prekären Situation der Gegenwart verdanken, wo nati- wina, Serbien und dem Kosovo Kindheitsbilder zu einem onalistische Regierungen einander das Leben schwer ma- aufwühlenden Theaterereignis geformt. chen. Die serbischen Theaterleute Maja Pelevic und Milan Erinnerung in schwierigen Zeiten. In Ergänzung zu den Markovic erkunden mit ihrer Lecture Performance ‹They Performances befasst sich ein Thementag mit den Erinne- live (in search of text zero)› das politische Terrain. Sie tra- rungskulturen auf dem Westbalkan. Dabei kommen neben ten im vergangenen Jahr sieben Parteien in Serbien bei und Wissenschaftlern auch der Schriftsteller Miljenko Jergovic reichten bald darauf ein Dossier mit ihren Vorstellungen zu (s. Spalte S. 13), die bildende Künstlerin Adela Jušic, der einer Kultur-Marketing-Strategie ein. Der Text wurde all- Schweizer Theatermann Mats Staub und das Ensemble seits positiv aufgenommen, unbemerkt blieb, dass er auf Oliver Frljic zu Wort. Ausserdem wird der Film ‹Cinema Joseph Goebbels Vortrag ‹Erkenntnis und Propaganda› von Komunista› gezeigt. Den Programmschwerpunkt rundet 1928 beruht. In der berüchtigten Rede heisst es: «Die Volks- ein Gastspiel der slowenischen ‹EnKnapGroup› ab, die mit versammlung ist dazu da, den Menschen die allerprimitivs- Tanz, Musik und Medienkunst eine ungewöhnliche Sicht ten Grundlagen zu übermitteln.» Schliesst dies, so werden auf Igor Strawinskys ‹Oktett› aus dem Jahr 1923 auf die sich die Bühnenprofis gefragt haben, auch das Wecken pri- Bühne bringt. mitiver Instinkte mit ein? Balkan-Theater, Kaserne Basel u S. 35 12 | ProgrammZeitung | November 2013
Sorgfältiges Wachstum m ic h a e l b a a s Balkan-Literatur Die Saison am Freiburger Theater im Marienbad. In einer Epoche, in der betriebswirtschaftliches Denken im Kulturbetrieb f r a nz i sk a m a z i konstitutiv und Auslastungszahlen so wichtig sind wie künstlerische Quali- Miljenko Jergovićs Roman ‹Wolga, Wolga›. tät, sind Theater, Sprechtheater zumal, in die Defensive geraten. Das Frei- «Die Dinge bekommen erst dann Gewicht, wenn burger Kinder- und Jugendtheater, das sich inzwischen Theater im Marien- sie gut erzählt sind», heisst es in Miljenko bad nennt und so signalisiert, dass es dieses Genre als eigenständige Jergovics Erzählsammlung ‹Sarajevo Marlboro›. Disziplin pflegt, als Kunstform, die auch Erwachsene fesselt, steht wie oft Der bosnisch-kroatische Autor, der 1966 in Sara- seit der Gründung vor exakt 40 Jahren indes quer zu solchem Zeitgeist – jevo geboren wurde und seit dem Krieg in Zag- zum Quotenzwang wie zu dessen Verwandtem, der Beschleunigung aller reb lebt, ist diesem Motto stets treu geblieben, Lebensbereiche. Im Gegenteil: Das 13-köpfige Ensemble um den Leiter so auch in seinem Roman ‹Wolga, Wolga›. Der Hubertus Fehrenbacher, das Ende 2014 das 25-Jährige in dem zum Theater- Text erzählt auf virtuose Weise von Jugoslawien, haus umgebauten früheren Marienbad feiern kann, hält beharrlich an einer einem Land, das grausam und menschlich, unter Bühnenkunst fest, die auf «langsames Wachsen, geduldiges Entwickeln drückend und wohlwollend, real und fiktiv zu- und beständiges Befragen» setzt und so Gesamtkunstwerke kreiert. gleich sein konnte. Parabel und Persiflage. Dieser Ansatz gilt auch für die aktuelle Saison. Jergovic bedient sich oft sowohl fiktiver Ge- Und nachdem die Stadt ihren Barzuschuss für 2013/14 um fast 30 Prozent schichtsschreibung als auch historischer Fiktion. auf 463’000 Euro im Jahr angehoben hat, kann das Theater unter besse- Letzteres überwiegt im ersten Teil von ‹Wolga, ren finanziellen Bedingungen arbeiten. Eröffnet hat es die Spielzeit mit der Wolga›, der Ich-Erzählung von Dželal Pljevljak, neuen Produktion ‹Eins Zwei Drei Vorbei›. Das Drei-Personen-Stück aus der einem einsamen Chauffeur der Jugoslawischen Feder Frauke Jakobis kreist um eine Kernfamilie – Vater, Mutter, Kind. Auf Volksarmee, der jeden Freitag mit seinem ‹Wolga› der Folie dieser Konstellation beschreibt die Autorin Existenzielles, thema- von Split zur Moschee in Livno fährt. Der zweite tisiert Grundfragen jeder Eltern-Kind-Beziehung – bis zum Tod, im Gehalt Teil, eine Art pseudohistorische Rekonstruktion philosophisch, aber ohne abzuheben. Vielmehr ist der Stoff reduziert auf von Dželals Leben, ist eine Parodie auf die jugos- das Einfachste und an die Entwicklung der Jahreszeiten gekoppelt. Statt lawische Medienwelt und Historiografie der grosser Worte gibt’s vor allem starke Bilder. Regisseurin Antonia Brix und 70er-Jahre. Das Geschehen wird aus Sicht einer Bühnenbildnerin Margrit Schneider übersetzen den schweren Stoff so in Zeitungsredaktion geschildert, die nach dem Zer eine schwebendleichte Parabel auf das Leben. fall Jugoslawiens den ‹Fall› Dželal Pljevljak – der Als weitere Neuinszenierung steht im April 2014 Rebekka Kricheldorfs am Ende seines Lebens wegen Mordes an einer Stück ‹Rosa und Blanca›, eine komisch-skurrile Persiflage des Grimm- Familie verurteilt worden war, die er in schwer Märchens ‹Schneeweisschen und Rosenrot› auf dem Spielplan. Davor aber alkoholisiertem Zustand überfahren haben soll greift das Theater sein bewährtes Repertoire aus grossen Ensemblestücken – wieder aufrollt. Die Zeitung verwendet für ihre und Erzähltheater in kleiner Besetzung auf. Diesen Monat etwa ‹FlussPferde›, Nachforschungen Archivmaterial von damals – die Geschichte einer Identitätsfindung, die ums Selbst- und Anderssein lauter irrelevante Berichte. Somit liefern auch kreist, sowie das 2009 uraufgeführte Musiktheaterstück ‹Eine Odyssee›, die Recherchen keine Antwort auf die Frage, das den antiken Stoff aus der Perspektive des Sohnes erzählt, den Mythos wie ein tugendhafter und herzensguter Mensch ‹Eins Zwei auf seine Aktualität befragt und diese z.B. in zerrissenen Familien und fähig war, eine so grausame Tat zu begehen. Die Drei Vorbei›, fragwürdigen (väterlichen) Helden findet. Foto: Matthias Auflösung wird erst im dritten Teil gegeben, und Lange Theater im Marienbad, Freiburg i.Br., www.marienbad.org zwar wieder von Dželal selbst. Die Geschichte kann als eine Parabel auf das Schicksal Jugoslawiens gelesen werden. Auch bei den jüngsten Balkankriegen fragt man sich, wie es eigentlich dazu kommen konnte. Jergovic würde wohl antworten, dies sei unmöglich zu erfahren, weil Historie aus vielen verschiedenen AkteurInnen besteht, deren Lebensgeschichten höchstens ihnen selbst bekannt sein können, und das auch nur, wenn sie über ein ausseror- dentlich gutes Erinnerungsvermögen verfügen. Miljenko Jergović, ‹Wolga, Wolga›, Schöfflin & Co. Verlag 2011, 336 S., gb., CHF 31.50; Heyne TB, CHF 14.90 Lesung des Autors im Rahmen von Culturescapes Balkan: Mi 20.11., 19 h, Literaturhaus Basel. Deutsche Moderation Andrea Zink (Uni Innsbruck), Übers. Tatjana Simeunović (Uni Basel), Lesung Vincent Leittersdorf November 2013 | ProgrammZeitung | 13
Den Himmel sehen dagm a r bru n n e r Backlist In der Theatergarage erklingt Becketts letzter Text. «Es ist alles gesagt, es geht nur darum, es kürzer zu sagen», notierte Samuel a dr i a n p ort m a n n Beckett einmal. Kaum eine halbe Stunde benötigt etwa die Lektüre seines Neid und Vorzugssucht. letzten Textes, und doch steckt ein ganzes Leben darin bzw. dessen Rest- «Geh zum Fegefeuer mit deinen Predigten, ‹Zuckungen›, wie der französische Titel ‹Soubresauts› verrät. Ein Lebens Wahnwitziger! – rief die schöne Akante mit dem ende, beschrieben von einem, der selbst kurz davor stand: Samuel Beckett jachzornigsten Tone, und warf den erstaunten, verfasste das rund 2000 Worte zählende Werkchen zwischen 1986 und 1988 halb sinnlosen Belphegor nach zween wohlabge- in englischer Sprache (‹Stirrings Still›), die von ihm übersetzte französische zielten Stössen mit dem rechten Fusse zur Thüre Ausgabe erschien im November 1989, einen Monat vor seinem Tod. Die hinaus.» So beginnt ein erstaunlicher Roman aus deutsche Version wurde 1991 unter dem Titel ‹Immer noch nicht mehr› dem Jahr 1776. Den ersten Fusstritten folgen publiziert. Beckett schrieb den Text im Altersheim in Paris. Er war damals bald weitere und schlimmere. Denn Belphegor über 80 und erzählte, was viele verdrängen und doch erleiden: von der gerät nach dieser unsanften Verabschiedung auf Befindlichkeit eines Menschen, dem das Diesseits entschwindet. Vom stil- eine Irrfahrt, die ihn und seine Freunde Fromal len Kampf gegen den «Lärm in seinem Kopf», von Verlusten aller Art und und Medardus durch alle Kontinente, in reale einem Abschied ohne Bedauern. Wollte er einst «den Himmel sehen», und fantastische Länder und jedenfalls in vieler- möchte er nun nur noch «enden, einerlei wie und wo». lei Notlagen führt: Er wird ausgeraubt und fin- Diesen wunderbaren, lakonisch-präzisen und anrührenden Text (der nur det sich auf dem Schlachtfeld wieder, ein Auge noch antiquarisch zu erwerben ist) hat Serena Wey als junge Schauspiele- wird ihm ausgeschlagen, er gerät in Sklaverei rin von ihrer berühmten Kollegin Monika Koch geschenkt bekommen und und wird zum Tod verurteilt. stellt ihn nun zusammen mit Marianne Schuppe und Mauro Talamini als Belphegor, ein guter und etwas einfältiger Mensch ‹szenisch-musikalische Skizze› vor, Regie führt Irmgard Lange. Neben der ohne Falsch und sichtlich ein Verwandter des deutschen Übersetzung wird auch das englische Original in Auszügen zu Candide, ist entsetzt über die Grausamkeiten hören sein, begleitet von klanglichen Intermezzi. Mit einer schlichten und Ungerechtigkeiten, deren Zeuge er wird. Raumgestaltung (Heini Dalcher) soll das Publikum «zur Ruhe gebracht» Dennoch glaubt er unbeirrbar an die Güte des und der Text auch atmosphärisch erfahrbar werden. Menschen – anders als sein Gefährte Fromal, der Intime Kulturabende. Ausser dieser Produktion sind in Serena Weys in «Neid und Vorzugssucht» die wichtigsten ‹Theatergarage› weitere Veranstaltungen zu erleben, die von ihr oder Gast- Wesenszüge des Menschen sieht. künstlerInnen gestaltet werden. Die Sängerin und Performerin Marianne Erörterungen über solche Fragen nehmen brei- Schuppe etwa bringt mit einem neunstimmigen Ensemble eigens kon- ten Raum ein. Denn Johann Carl Wezel hat nicht zipierte Musik zum Stummfilm ‹La Chute de la Maison Usher› von Jean nur ein irrwitziges Abenteuerbuch verfasst, son- Epstein (1928) zur Aufführung. Der Film, bei dem Luis Bunuel assistierte, dern zugleich einen philosophischen Thesen- gründet auf einer Erzählung von Edgar Allan Poe und schildert den Unter- Roman. Er behandelt anthropologische Grund- gang eines degenerierten Adelsgeschlechts. fragen und traktiert naturrechtliche Argumente, Dem Filmkonzert folgt ein Abend mit spanischer Hofmusik und Flamenco er lässt seine Protagonisten allerlei Unbill erle- sowie Texten aus der Renaissance. Jon Fosses Liebesgeschichte ‹Schlaflos› ben und sieht dann zu, wie sie sich einen Reim Marianne kommt als szenische Lesung vor dem eingeheizten grossen Eisenofen zur darauf machen – ist es Zufall, Schicksal, Vorse- Schuppe (links) Geltung. Gespräche mit Verpflegung beschliessen die Anlässe. hung, gibt es ein Ziel in alldem? und Serena Becketts ‹Stirrings Still oder Immer noch nicht mehr›: Mi 30.10., 20 h (Premiere), bis So 19.1., Wey, Foto: Fromal führt das grosse Wort. Dass der Mensch Theatergarage, Bärenfelserstr. 20, Hinterhaus, www.theatergarage.ch Heini Dalcher des Menschen Wolf sei, belegt er mit Beispielen aus der Weltgeschichte und aus jenen weniger blutrünstigen Lebensbereichen, in denen sich der Neid als Tugend verkleidet, etwa der Philosophie («die edlen Ritter der Wahrheit sind jederzeit die treflichsten Kanonirer gewesen»). Belphegor hat dem argumentativ wenig entgegenzusetzen, weiss aber in seinem Herzen, dass es so nicht sein kann, während sich Medardus vor allem nach dem heimischen Apfelwein sehnt. Gut, die Figuren sind ein wenig schematisch ge- zeichnet, und ob all der gelehrten und etwas pa- thetischen Dialoge werde ich manchmal etwas müde. Aber dann folgt zum Glück bereits das nächste Abenteuer. Johann Carl Wezel, ‹Belphegor oder die wahrschein- lichste Geschichte unter der Sonne›, Leipzig 1776 ‹Backlist› stellt besondere Bücher aus allen Zeiten vor. 14 | ProgrammZeitung | November 2013
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