PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN

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PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
Menschen, Häuser, Orte, Daten

 ProgrammZeitung
                                                                                                               CHF 8.00 | EUR 6.50

                                                                                                November 2013 | Nr. 289
                                                             Kultur   im Raum Basel
Cover: Peter Greenaway, ‹The Dance of Death – Der Tanz mit
dem Tod. Ein Basler Totentanz› u S. 5
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Theatertiere und Weibervolk
dagm a r bru n n e r

                     Editorial. Keineswegs furchteinflössend, aber wachsam                   Bei all diesen Neuerungen gibt es einen Wermutstropfen:
                 präsentierten sich Mitte Oktober zwei neue Theaterleiter,                   Frauen bleiben auch in der Leitung von Kultureinrichtun-
                 die beide aus dem Ruhrpott stammen, den Medien: Sven                        gen deutlich in der Minderheit. Das ist nicht a priori männ-
                 Heier vom Roxy, der seine Arbeit mit einem ganz jungen,                     licher Ignoranz anzulasten, aber u.a. fehlenden Netzwer-
                 höchst motiviert auftretenden Team bereits aufgenom-                        ken. Immerhin wehren sich Frauen zunehmend gegen ihre
                 men hat, und Andreas Beck, der erst ab 2015 Intendant des                   Untervertretung, wie etwa der Aufstand gegen die SRG
                 Theater Basel sein wird. Letzterer ein stilbewusst und gut-                 zeigte, die sich in ihrer TV-Reihe ‹Die Schweizer› und in der
                 artig wirkendes ‹Theatertier› mit einer eher leisen Stimme.                 Kinder-Serie ‹Helveticus› für ein konventionell einseitiges
                 Dass die Findungskommission sich für diesen Mann des                        Geschichtsbild entschied. Selbst wenn angeblich «in jenen
                 Sprechtheaters (er leitet derzeit das Wiener Schauspiel-                    Epochen keine Frau im Vordergrund stand» – wie der Pro-
                 haus) entschieden hat, wurde von Fachleuten zumeist als                     jektleiter sich etwas dümmlich rechtfertigte – hätten die
                 zwar überraschende, aber gute und mutige Wahl taxiert.                      Helden an der Front ohne ‹Weiber- und Fussvolk› keine
                 Überraschend, weil dieser Name m.W. im Vorfeld nie er-                      Geschichte geschrieben. Und auch die InitiantInnen der
                 wähnt wurde; gut, weil er das hiesige darbende Schauspiel                   Bild- und Tonshow, die derzeit farbenprächtig das Bundes-
                 bestimmt stärken wird und im Übrigen explizit sparten-                      haus beleuchtet und von Helvetia erzählt, haben es sich be-
                 übergreifend und teamorientiert wirken will; mutig, weil                    quem gemacht: Sie setzten gleich auf märchenhafte statt
                 er in der Führung eines grossen Hauses sowie in Oper und                    reale (Frauen-)Figuren …
                 Tanz weniger erfahren ist.                                                  Die Frauen und Männer, über deren Kulturarbeit wir auf
                 Natürlich sind Statements von neuen Köpfen im Vorfeld im-                   den folgenden Seiten berichten, sind weder Prinzen noch
                 mer mit Vorsicht zu geniessen, doch es ist erfreulich, dass                 Hexen, sie haben auch (noch) keine Geschichte, aber viele
                 es nach einer langen Zeit der Ungewissheit – wie es am The-                 Geschichten geschrieben, die sie auf Bühnen und Leinwän-
                 ater Basel nach Delnon weitergehen wird – jetzt wieder                      den, in Foren und Büchern vorstellen. Darunter Preis-
                 nach Aufbruch ‹riecht›. Diese Aufbruchstimmung ist auch                     würdiges wie etwa Edgar Hagens neuer Film (S. 6/7).
                 dem Basler Marionettentheater zu wünschen, wo sich nach                     Als preiswürdig erkannt wurden auch die Leistungen ande-
                 einer schweren Krise mit Abgängen des Leiters und des Be-                   rer Kulturschaffender. Angefangen bei der Künstlerin
                 triebsbüros nun Entspannung abzeichnet. Nach einer Inte-                    Miriam Cahn, die jüngst den ersten Basler Kunstpreis in
                 rimsleitung von Karin Wirth (Theater xl) wird ab August                     Empfang nehmen konnte (eine überfällige Ehrung!), über
                 2014 Denis Marcel Bitterli zum Intendanten des Hauses, das                  den Autor Alain Claude Sulzer, der den Basler Kulturpreis
                 in der aktuellen Saison sein 70-jähriges Bestehen feiern                    erhält, bis zum Bassisten Stephan Kurmann, der mit dem
                 kann. Ebenfalls eine neue Geschäftsleitung hat nach einer                   Jazzpreis der Fondation Suisa ausgezeichnet wird. Wir
                 Umstrukturierungsphase die Basel Sinfonietta. Mit Eva                       gratulieren herzlich!
                 Ruckstuhl und Felix Heri konnte sie mit zwei jungen inter-                  Kulturpreis an Alain Claude Sulzer: Mo 11.11., 18.15, Rathaus Basel
                 nen Kräften besetzt werden.                                                 Jazzpreis an Stephan Kurmann: Fr 15.11., 18.30, Bird’s Eye Jazz Club

            Hauskultur                             einem Unternehmen nicht höher «als das Zwölf-
                                                   fache des tiefsten vom gleichen Unternehmen be-
                                                                                                                 Inhalt
db. «Alles sinnlos», befand Albert Camus – aber    zahlten Lohnes» ist. Bei uns ist das kein Thema,              Redaktion                                                  3
resignieren kam für ihn nicht in Frage. Zum 100.   weil Unterschiede und Lohnsumme bescheiden                    Kulturszene                                              24
Geburtstag des französischen Schriftstellers und   sind. Aber dass in der Schweiz endlich über ein
Philosophen finden auch in Basel Gedenkabende      Tabu gesprochen und vielleicht etwas Transpa-                 Kultursplitter                                           53
statt; am einen wirkt u.a. unsere Autorin Anne-    renz geschaffen wird, ist zu begrüssen. ‹Gerech-              Agenda                                                   54
marie Pieper mit. Ihre Kolumne zu Alltags-         tigkeit› wird es hierbei wohl eh nie geben.
weisheiten erscheint zweimonatlich (wieder im      Nur das Beste für die Zukunft wünschen wir                    Ausstellungen & Museen                             76 | 77
Dezemberheft).                                     unseren Luzerner KollegInnen vom ‹041 Kultur-                 Kurse                                                    78
Camus erhielt 1957 bekanntlich den Literatur-      magazin› zum 25-jährigen Bestehen. Gefeiert
Nobelpreis. Heuer ging diese Auszeichnung wie-     wird mit einem rauschenden Fest und einer Jubi-               Impressum                                                78
der einmal an eine Frau, die Kanadierin Alice      läumsausstellung (www.kulturluzern.ch). Die
Munro. Ein seltenes Ereignis, wurden doch seit     Kulturtipps der Kulturpool-Partnerzeitschriften
1901 gerade mal 13 Frauen berücksichtigt, davon    stehen auf S. 53.
7 in den letzten 25 Jahren. Kein Zufall, dass im   Lesungen zu Albert Camus’ 100. Geb.: Do 7.11., 19.30,
Zentrum von Munros Erzählungen oft Frauen-         Kleines Literaturhaus Basel, Bachlettenstr. 7.
schicksale und -diskriminierung stehen. Neue       Mit G. Antonia und H.-Dieter Jendreyko

Literatur aus Basel, die kein Blatt vor den Mund   ‹Die Freiheit leben›: Di 12.11., 19 h, Literaturhaus Basel.
                                                   Mit Martin Meyer (Autor einer neuen Camus-Biografie)
nimmt, finden Sie auf S. 16/17.
                                                   und Annemarie Pieper, Moderation Barbara Bleisch,
Ende November stimmen wir über die 1:12-Inita-     danach Filmporträt über Camus
tive ab, die verlangt, dass der höchste Lohn in

                                                                                                                                         November 2013 |   ProgrammZeitung | 3
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JAPANtage im Herbstmond
          Donnerstag, 7. bis Samstag 23. November 2013
          Neuerwerbungen der diesjährigen Japanreise.

          Lackwaren aus Kanazawa
          Jap. Möbel aus verschiedenen Epochen
          Papierlampen und Laternen
          Setokeramik und Porzellan aus Kyushu
          Bildrollen und Tuschzeichnungen
          Bambusobjekte und Kleinode

          Japanische Inneneinrichtungen Dieter Joerin
          Gerbergässlein 12, 1. Stock, Basel, T/F: 061 261 55 97.
          Di–Fr 10–12, 14–18.30 Uhr, Sa 10–17 Uhr + So 12–17 Uhr
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Pixel statt Pinsel
t i l o r ic h t e r

    Der Basler Totentanz wird multimedial wiederbelebt.
Den Rang des Sterbens erläutert der prominenteste Schöp-
fer eines neuen Basler Totentanzes gleich selbst: «Zwei
Dinge halten uns alle in ihrem Bann: Eros und Thanatos –
Sex und Tod. Sie sind nicht verhandelbar, wir entkommen
ihnen nicht. Der allererste Anfang und das allerletzte
Ende.» So der britische Regisseur Peter Greenaway, der mit
seinen ebenso durchkonstruierten wie epischen Kinofilmen
‹Der Kontrakt des Zeichners›, ‹Der Koch, der Dieb, seine
Frau und ihr Liebhaber›, gesteigert noch vom bildstarken
‹Prospero’s Books›, international bekannt wurde.
Nun lässt der Künstler den Totentanz am Rheinknie aufer-
stehen. Auf 18 Vertikal-Bildschirmen in und bei der Predi-
gerkirche zeigt er mehr als 50 einminütige Filme, die im
italienischen Lucca u.a. mit Tanzschaffenden gedreht wur-
den. Greenaway soll eine halbe Stunde nach Eintreffen der
Anfrage des Basler Vereins Totentanz (initiiert von Carmen
Bregy, Matthias Buschle und Pfarrer Michael Bangert) seine
Mitarbeit zugesagt haben und freut sich darauf, mit den
Mitteln der visuellen Sprache vom Tod zu erzählen. Das
Kino sieht er, wie er bei einem Besuch in Basel erläuterte,
als würdigen Nachfolger der historischen Wandmalerei,
glaubt jedoch, dass wir heute das erkennende Sehen kaum                                                                                                 Peter
beherrschen. Wir dürfen gespannt sein, was uns das an­          Festivals, das Beiträge aus Kunst und Musik neben solche                                Greenaway und
                                                                                                                                                        ein Motiv aus
gekündigte Bilderspektakel – begleitet von Kompositionen        aus der Wissenschaft stellt – eben: Der Tod hält uns alle                               ‹The Dance of
Marco Robinos – bringen wird. Immerhin wurden dafür             im Bann.                                                                                Death› in der
von verschiedenen Seiten mehr als eine halbe Million Fran-                                                                                              Predigerkirche,
                                                                Peter Greenaway, ‹The Dance of Death – Der Tanz mit dem Tod.
                                                                                                                                                        Foto: Tilo
ken eingesetzt.                                                 Ein Basler Totentanz›: Do 31.10., 18 h (Vernissage),
                                                                                                                                                        Richter
    Seelen- und Wandbilder. Nur wenige Jahre nach den frü-      bis Sa 30.11., täglich bis 22 h, in und bei der Predigerkirche,
                                                                Hintergründe und Rahmenprogramm: www.baslertotentanz.ch
hesten Totentanz-Wandgemälden in Frankreich entstanden
                                                                Gleichnamiger Katalog, Christoph Merian Verlag, 2013.
um 1440 die Urbilder des Basler Totentanzes an der Innen-
                                                                92 S., 100 farb. Abb., br., D/E, CHF 32
seite der Friedhofsmauer der Predigerkirche als 60 Meter
                                                                Ausserdem: ‹Der Tod und das Ich des Menschen›, 4. Tagung zur Sterbe­
langer Fries eines Künstlers aus dem Umfeld von Konrad
                                                                kultur: Fr 15. bis So 17.11., Goetheanum, Dornach, www.goetheanum.org
Witz. Der als Knochenmann personifizierte Tod tanzte dar-
                                                                Zum Thema siehe auch u S. 16, 36
auf mit Lebenden aller Stände, ob reich oder arm, jung oder
alt, vom Papst über die Adlige bis zum Bauern. Breitere
Bekanntheit fanden die Darstellungen mit den von Hans
Holbein d.J. um das Jahr 1525 in Holz geschnittenen
‹Bildern des Todes› und im 17. Jahrhundert durch eine Serie                                                      Besondere Filme
des Kupferstechers Matthäus Merian d.Ä. 1805 schliesslich                            db. Erneut hat Patrick Bühler eine bunte Auswahl von Filmen, die
wurde der zu dieser Zeit schon mehrfach überarbeitete                                kaum in ‹normalen› Kinoprogrammen zu sehen sind, für sein
Originalfries abgerissen, der Friedhof aufgelöst.                                    kleines, einzigartiges Festival ‹Clair-obscur› zusammengestellt.
    Festivalreigen. Greenaways Filminstallation wird von                             Musikvideos, Kurz-, Experimental- und Dokumentarfilme the-
einem umfangreichen Rahmenprogramm begleitet. Das                                    matisieren Schattenseiten der Gesellschaft sowie Utopien und
Projekt ‹crossover Totentanz› etwa lässt quer durch Stile                            innovative künstlerische Ansätze. Zwischen den Filmen gibt es
und Zeiten Musik rund um den Tod erklingen – gerade auch                             Live-Elektronik und -Performances. Der Eintritt gilt ab 16 Jahren
jenseits der Kirchenmusik. Hier verbinden sich Volkslied-                            und ist frei.
Arrangements, Jazz und Uraufführungen zeitgenössischer                               16. Clair-Obscur Filmfestival: Do 14. bis Sa 16.11., Mitte, Safe u S. 45,
Kompositionen. In den Festivalreigen der Basler ‹Toten­                              www.clair-obscur.ch. Do ab 20 h, Fr ab 19 h, Sa ab 18.15
tänzer› reihen sich auch grosse Häuser ein: Das Historische                          Ausserdem: 7. Swikos Kurzfilmfestival für Jungtalente: Fr 15./Sa 16.11.,
Museum bietet Stadtführungen zu Basler Totentänzen an,                               Stadtcasino Basel, www.swikos.com

das Kunstmuseum zeigt ‹Bilder des Todes›, das Museum                                 Die besten Natur-Dokumentarfilme des int. Festivals ‹NaturVision›:
Tinguely präsentiert Jean Tinguelys ‹Mengele – Totentanz›                            Sa 23./So 24.11., 10–17 h, Naturhistor. Museum, www.nmb.bs.ch

von 1986 und die Unibibliothek stellt einige ihrer Totentanz-                        ‹Augenblick›, 9. Festival des deutschsprachigen Films im Elsass:
                                                                                     Di 12. bis Fr 29.11., div. Kinos, www.festival-augenblick.fr
Bücher aus. Bemerkenswert sind Dichte und Bandbreite des
                                                                                     17. Int. Kurzfilmtage Winterthur: Di 5. bis So 10.11., www.kurzfilmtage.ch

                                                                                                                                   November 2013 |   ProgrammZeitung | 5
PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
Chronologie einer unheimlichen Verdrängung
d ok u m e n tat ion e d g a r h age n

    Eine Zeittafel zu Edgar Hagens neuem Film ‹Die Reise       1998 Die rot-grüne deutsche Regierung verfügt einen zehn-
    zum sichersten Ort der Erde› (s. Text nebenan)             jährigen Erkundungsstopp von Gorleben und beginnt (im
1945 Erster Atombombenabwurf über Hiroshima. Charles           Jahr 2000) mit dem Ausstieg aus der Atomenergie. McCom-
McCombie wird in Aberdeen, Schottland, als Sohn eines          bie und Partner planen in Westaustralien geheim das erste
Soldaten der Royal Air Force geboren.                          internationale hochradioaktive Endlagerprojekt ‹Pangea›,
1953 US-Präsident Eisenhower propagiert vor der UN-Gene-       finanziert von der Schweiz, Grossbritannien und Kanada.
ralversammlung die zivile Nutzung der Atomenergie.             Die Pläne fliegen auf und scheitern am Widerstand der
1956 Queen Elizabeth II. weiht in Sellafield (GB) das erste    Umweltbewegung.
kommerziell genutzte AKW der Welt ein.                         1999 McCombie wird ins internationale Expertengremium
1957 Die Endlagerung von Atommüll in ‹geologischen Tiefen­     zur Rettung der hochradioaktiven Endlagerpläne in Gor­
lagern› wird von der Amerikanischen Akademie der Wissen-       leben berufen.
schaften als machbare Lösung propagiert.                       2002 ‹Pangea› wird liquidiert. McCombie entwickelt das
1976 Beginn der geheimen Planung eines hochradioaktiven        erste multinationale Endlagerkonzept unter Beteiligung
Endlagers auf der Hanford Site in Washington State (USA).      von zehn europäischen Staaten.
1977 Aufgrund von Protesten muss der hochradioaktive           2008 Die Schweiz gibt drei mögliche Standorte für ein hoch-
Atommüll aus der Wiederaufbereitung in Sellafield in die       radioaktives Endlager bekannt. Das Wirtsgestein soll jetzt
Ursprungsländer zurückgebracht werden, unter anderem           Ton sein. Einer der Standorte liegt unmittelbar vor McCom-
in die Schweiz. Gorleben wird als deutscher Endlagerstand-     bies Haustür auf dem Bözberg (AG).
ort und Ort einer Wiederaufbereitungsanlage bekannt ge-        2010 Das Yucca-Mountain-Projekt wird nach 23 Jahren Bau-
geben. Heftiger Widerstand in der Bevölkerung. Die Schweiz     zeit von Barack Obama gestoppt. Obama plant dennoch
lehnt das Angebot von Jimmy Carters Regierung ab, Atom-        neue AKWs. McCombie wird als internationaler Experte
müll und abgebrannte Brennelemente in die USA zu ent-          vor die US-Kommission geladen, die berät, was nun mit
sorgen.                                                        dem hochradioaktiven Atommüll geschehen soll. Die Idee
1978 Charles McCombie erhält von der NAGRA den Auftrag         eines internationalen Endlagers in Australien taucht wie-
zur Entwicklung des Endlagerprogramms der Schweiz, das         der auf. Die schwarz-gelbe deutsche Regierung lässt gegen
‹Projekt Gewähr›.                                              den Widerstand der lokalen Bevölkerung die Erkundung in
1979 Reaktorkatastrophe im AKW Three Mile Island in Har-       Gorleben wiederaufnehmen. Die Laufzeit der AKWs wird
risburg (USA). 200’000 Menschen sind auf der Flucht.           verlängert.
1985 McCombie vollendet das ‹Projekt Gewähr›, das erste        2011 Die schwedische Endlagerorganisation (SKB) reicht
Schweizer Endlagerkonzept für hochradioaktiven Atom-           das Gesuch für den Bau eines hochradioaktiven Endlagers
müll. Es soll nachweisen, dass Atommüll sicher entsorgt        in der Gemeinde Östhammar ein. Die Sicherheitsanalysen
werden kann – sonst müssen die AKWs in der Schweiz ab-         der Atomfirma SKB werden von unabhängigen Wissen-
gestellt werden. Das ausgewählte Granitgestein erweist sich    schaftlern infrage gestellt. Die Atomkatastrophe in Fuku-
als ungeeignet. Die AKWs bleiben dennoch in Betrieb.           shima vom 11. März erschüttert den Glauben an die Atom-
1986 Reaktorkatastrophe in Tschernobyl (Ukraine). Hoch-        energie weltweit. Mehrere Länder geben ihre Atomener-
radioaktive Stoffe geraten weiträumig in die Umwelt und        gieprogramme auf. Nicht so China, wo sich gegenwärtig 26
machen breite Landstriche zur unbewohnbaren Zone. Über         AKWs im Bau befinden.
das wahre Ausmass der Katastrophe wird heute noch ge-          2013 In England entscheiden sich zwei Gemeinden dagegen,
stritten. Die Int. Atomenergie-Organisation IAEO spricht von   sich weiter als freiwillige Standorte für ein hochradioakti-
58, unabhängige Stellen von über 300’000 Toten.                ves Endlager zur Verfügung zu stellen. McCombie ist per-
1987 Das US-Endlagerprojekt Hanford Site scheitert. Jetzt      sönlicher Berater des Direktors des britischen Endlagerpro-
wird Yucca Mountain, Nevada, als Endlagerstandort für hoch-    gramms. Die Planung neuer britischer AKWs geht dennoch
radioaktive Stoffe bekannt gegeben. 2000 Wissenschaftler       weiter. Am 13. August entscheidet ein Gericht in den USA,
sollen die Eignung des Berges beweisen.                        dass das abgebrochene Bewilligungsverfahren um das
1995 McCombie wird in die Endlagerkommission der Ame-          hochradioaktive Endlager in Yucca Mountain wiederaufge-
rikanischen Akademie der Wissenschaften berufen. In der        nommen werden muss. Die IAEO lädt McCombie mehrmals
Schweiz scheitert er mit den schwach- und mittelaktiven        nach Wien ein. Sie begrüsst sein Engagement für multi­
Endlagerplänen der NAGRA am Widerstand der Bevölke-            nationale und internationale hochradioaktive Endlager. Bis
rung am Wellenberg.                                            heute ist weltweit noch keines in Betrieb. Es ist unklar,
1996 Scheitern der hochradioaktiven Endlagerpläne in           wann, wo und ob überhaupt das erste eröffnet werden kann.
Kanada.
1997 Scheitern der mittelaktiven Endlagerpläne der Briten
in Sellafield.

6 | ProgrammZeitung | November 2013
PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
Der moderne Sisyphos
a l f r e d s c h l i e nge r

   Edgar Hagen greift ein verdrängtes Tabu auf:               Atomkraftwerke im Bau. Wo die sichere Toilette hinkom-
   Wohin mit dem ganzen Atommüll?                             men soll, ist auch dort weiterhin unklar. In den USA war ein
Diesen Film hält man eigentlich im Kopf nicht aus. Obwohl     Endlager in einem Indianerreservat geplant, direkt neben
er die Problematik ganz sachlich und sehr ausgewogen auf-     einem nicht mehr aktiven Vulkan. In New Mexico sieht ein
rollt. Oder vielleicht gerade deswegen. Edgar Hagens neuer    Bürgermeister ein Geschäftsmodell darin, das Arbeitsplätze
Dokumentarfilm ‹Die Reise zum sichersten Ort der Erde›        schafft, wenn er seine Gemeinde für viel Geld als Endlager-
konfrontiert uns mit der Tatsache, dass wir mit unseren       stätte anbietet. In Westaustralien wird ein Gebiet erkundet,
Atomkraftwerken tagtäglich Unmengen hochradioaktiven          das den Atommüll aus der ganzen Welt aufnehmen soll.
Sondermülls produzieren – und bis heute nicht wissen, wo-     Es ist ein faustischer Pakt, den die Gesellschaft da mit der
hin damit. Seit dem Beginn der zivilen Nutzung der Atom-      Wissenschaft und der Atomlobby eingegangen ist.
energie im Jahr 1956 haben sich weltweit 350’000 Tonnen           Wann, wenn nicht jetzt? Hagen behandelt das Thema
angesammelt, und jährlich kommen 10’000 weitere Tonnen        bemerkenswert unaufgeregt, aber höchst eindringlich. Er
hinzu. Provisorisch deponiert ist der gefährliche Stoff in    nimmt uns buchstäblich mit auf die Reise in das selbstge-
Zwischenlagern, welche die geforderten Sicherheitsstan-       schaffene Dilemma. Er macht dabei seine Rolle als Reise-
dards nicht erfüllen. Und die AKWs dampfen kräftig weiter.    führer sicht- und hörbar, spricht den Kommentar selber ein
   Wissenschafts-Optimist. Edgar Hagen ist ein Coup ge-       und erscheint einige Male auch im Bild. Ein nicht ganz un-
lungen. Er hat mit dem Nuklearphysiker Charles McCombie       heikles Verfahren bei Dokumentarfilmen, aber hier wirkt
einen der weltweit führenden Endlagerexperten für sein        es als Transparenz schaffende Qualität. Gefolg- und Gegner-
Filmprojekt gewonnen, der ihm viele sonst verschlossene       schaft der Atomenergie kommen zu Wort, von England über
Türen öffnete. Seit 35 Jahren sucht McCombie im Auftrag       Schweden bis Japan geht die Reise. Und immer wieder zu-
verschiedener Nationen und internationalen Organisati-        rück in die Schweiz.
onen nach sicheren Orten für den strahlenden Abfall, der      Hier wurden nach dem Wellenberg-Debakel die gesetz­
unser Leben für Hunderttausende von Jahren gefährdet.         lichen Grundlagen geändert: Die Standortkantone der aus-
Dieser Aufgabe hat er sein gesamtes Berufsleben gewidmet.     erwählten Endlager haben ihr Veto-Recht verloren. Genau
McCombie ist ein faszinierender Mensch. Als überzeugter       in solchen ‹Anpassungen› lauert die grosse Gefahr. Vor
Befürworter der zivilen Nutzung von Kernenergie erforscht     allem wenn das brisante Thema wie derzeit in der gesell-
er mit wissenschaftlicher Akribie Standort um Standort –      schaftlichen Verdrängung zwischengelagert bleibt. Aktuell
und ist noch nie fündig geworden. Und dennoch glaubt er       träumen rechtsnationale Kräfte in der Schweiz tatsächlich
ungebrochen daran, dass das Problem lösbar ist. Der Mann,     vom St. Florians-Prinzip: Weit weg mit dem ganzen Müll in
nüchtern, unideologisch und sympathisch, kommt einem          ein fernes Land! Wir zahlen ja mit unserem guten Geld da-
vor wie eine moderne Form des Sisyphos. In Abwandlung         für. Die Sache gehört aber hier auf den Tisch. Wann, wenn
des berühmten Camus-Wortes: Man muss sich Sisyphos als        nicht jetzt? Edgar Hagens Film ist ein wichtiger Anstoss für
einen wissenschaftlichen Optimisten vorstellen.               diese dringend notwendige Diskussion.
   Faustischer Pakt. Aber natürlich braucht es solche Men-    Der Film läuft ab Do 31.10. in einem der Kultkinos u S. 42
schen. Denn das Problem muss gelöst werden und zwar           Vorpremiere: Di 29.10., 18.30, mit dem Regisseur und Gästen
ohne Absenkung der Sicherheitsnormen. Hagen reist mit         Ausserdem: Ausstellung ‹Langzeit und Endlager›: bis So 23.3.,
McCombie um die Welt. In China sagt ihm der Direktor des      Museum zu Allerheiligen, Schaffhausen.
                                                              Gleichnamige Publikation von Peter Jezler und Urs Weibel (Hg.),
Endlagerprogramms, das in der Wüste Gobi angesiedelt                                                                                                Filmstill aus
                                                              Verlag Neue Zürcher Zeitung, ca. 200 S. mit zahlr. Abb., CHF 48
werden soll: «Wenn man ein Haus baut, darf man die Toilet-                                                                                          ‹Die Reise zum
                                                                                                                                                    sichersten Ort
te nicht vergessen.» Aktuell befinden sich in China 26 neue                                                                                         der Erde›

                                                                                                                                November 2013 |   ProgrammZeitung | 7
PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
Der Geheimnisverlust
a l f r e d s c h l i e nge r

    Der Erfolgsroman ‹Am Hang› – jetzt verfilmt                  human» – wirkt der lässig Zerzauste auch zu getrieben und
    und vergröbert.                                              cholerisch. Max Simonischek als Clarin, der intellektuell,
Als Markus Werners Roman ‹Am Hang› vor knapp einem               rhetorisch und bezüglich emotionaler Tiefe schon im Buch
Jahrzehnt erschien, wurde er von Publikum und Kritik ge-         keine Chance gegen Loos hat, bleibt zudem erstaunlich
liebt und gelobt und war für ein Schweizer Buch erstaun-         charmefrei. Martina Gedeck als Ehefrau und Geliebte hin-
lich schnell eine Viertelmillion Mal verkauft. Bald folgten      gegen bringt mit ihrem zurückhaltenden Spiel jene Dosis
auch verschiedene Bühnenfassungen, was weniger er-               Geheimnis ein, die sonst fehlt.
staunt, denn das Buch besteht fast zur Gänze aus höchst          Ein Geheimnis in Buch und Film bleibt der Gehalt dieser
elegant ineinander verwobenen Dialogen in direkter und           Liebe. Fast klingt es so, als gelinge sie nur in der Behaup-
indirekter Rede. Darin unterhalten sich zwei Zufalls­            tung; schillernde Projektionen einer ewigen Sehnsucht.
bekannte, der etwa fünfzigjährige Altphilologe Loos und          Dieser schwebenden Offenheit hat das Filmteam nicht ver-
der eine Generation jüngere Scheidungsanwalt Clarin, auf         traut. Anfang und Schluss des Films sind frei und nicht un-
einer Tessiner Hotelterrasse über Liebe, Ehe, Treue und all      bedingt stimmig dazuerfunden. Vieles wird ins Überdeut­
die Freuden und Widrigkeiten, die damit verbunden sind.          liche gehoben. Wahrscheinlich geht man am gelassensten
Ein grandioser Diskurs, z.T. etwas konstruiert, aber doch        aus dem Kino, wenn man das Buch nicht gelesen hat. Aber
über ein Thema, das niemanden kalt lassen kann.                  ob das wirklich genügt?
Loos und Clarin vertreten absolut konträre Lebensauf­            Der Film läuft derzeit in einem der Kultkinos.
fassungen. Der Ältere trauert seiner offenbar verstorbenen
Ehefrau nach, mit der er das Wunder der glücklichen Ehe
erlebt haben will. Der Jüngere ist diesbezüglich nicht nur
durch seinen Beruf desillusioniert, sondern lebt ganz be-
wusst ein hedonistisch orientiertes, unverbindliches Liebes-
leben mit häufig wechselnden Partnerinnen. Auf Loos’
Drängen hin berichtet Clarin über die Erfahrungen mit
einer seiner letzten Geliebten, einer verheirateten Frau
Anfang vierzig. Der Clou des Buches besteht nun darin,
dass erst ganz am Schluss klar wird, dass dies Loos’
Gemahlin war. Unklar bleibt, ab wann Loos selber bemerkt,
dass er hier mit dem Verführer seiner Frau redet. Nicht
wenige werden deshalb, um den möglichen Andeutungen
wenigstens nachträglich auf die Spur zu kommen, den
Roman gleich ein zweites Mal gelesen haben.
    Projektionen einer Sehnsucht. Dieser Schwebecharakter
ist ein Grundmerkmal des Romans, und wer sich an eine
Verfilmung wagt, muss sich einiges überlegen, ob und wie
dieser Zustand zu erreichen ist. Regisseur Markus Imbo-
den und seine beiden Drehbuchautoren Klaus Richter und
Martin Gypkens entscheiden sich für ein paar radikale
Änderungen. Da ein Grossteil der Kinogäste das Buch ken-
nen dürfte, ist die Entscheidung, die Identität der Frau (für
die Zuschauenden) früher zu lüften, wahrscheinlich nicht
falsch. Noch etwas tumber als im Buch erscheint allerdings
der Scheidungsanwalt, der es als Einziger erst am Schluss
begreift. Kein Schwebezustand also, weder fürs Publikum
noch für Loos, der hier offensichtlich als Inszenator der
Enthüllung wirkt.
Mehr als die halbe Miete eines Films, erst recht bei literari-
schen Vorlagen, ist die Besetzung. Die Buchfans wollen ihre
Figuren wiedererkennen. Das fällt bei Loos nicht ganz
leicht. Der kleine, fast zarte Henry Hübchen ist ein hinreis-
sender Schauspieler mit einem spitzbübischen Charme und
wunderbar schlenkerndem Gang, der leicht ins Komische
kippt, aber er ist natürlich nicht der mächtige, zeitgeistkri-   Filmstill aus ‹Am Hang›,
tische Bär aus dem Buch. Seine wilden Tiraden gegen den          Martina Gedeck
                                                                 und Henry Hübchen
Weltwahnsinn sind ohnehin weitgehend gestrichen. Und
für seinen Leitsatz in Buch und Film – «Nur das Zögern ist

8 | ProgrammZeitung | November 2013
PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
Oper zum Mitspielen
a l f r e d z i lt e n e r

    Die ‹Journées contemporaines› stellen unterschied-
    liches Musiktheater vor.
‹Votre Faust› nannten der belgische Komponist Henri Pous-
seur (1929–2009) und sein Librettist, der französische Roman­
cier Michel Butor, ihre 1969 in der Mailänder Piccola Scala
uraufgeführte ‹Fantaisie variable genre opéra›. Und es ist in
der Tat bis zu einem gewissen Grad ‹Euer Faust›: jener des
Publikums nämlich, welches das Stück mitgestalten kann.
Es darf mehrfach darüber abstimmen, wie der Abend weiter-
gehen soll und entscheidet so, ob er als Komödie oder als
Tragödie endet.
Dieser Versuch, die Form der Oper von innen her aufzubre-
chen und zu demokratisieren, war damals revolutionär und
hat m.W. bis heute keine Nachfolge gefunden. Natürlich
schwingt da viel vom 68er-Zeitgeist mit. Das Stück stehe –
erklärt der Musikwissenschaftler Robert Piencikowski von
der Paul Sacher-Stiftung, wo Pousseurs Nachlass aufbe-
wahrt wird – im Zusammenhang mit der Suche des Kompo-
nisten nach einer ‹linken› Musik, die nichts zu tun haben
sollte mit dem von Stalin verordneten ‹Sozialistischen Rea-                                                                                           ‹Madrigali
lismus›. Inzwischen ist das aufwändige und daher kaum           Trio Steamboat Switzerland komponiert, Grenzgängern                                   Notturni›, vlnr.
                                                                                                                                                      Agnieszka Ko-
gespielte Werk in Vergessenheit geraten. Nun ist es erfreu-     zwischen Jazz, Rock und Moderne, und ein ‹klassisches›                                walczyk, Leslie
licherweise im Rahmen der diesjährigen ‹Journées contem-        Streichquartett. Dazu kommen drei Sängerinnen, ein Spre-                              Leon, Sylvia
poraines›, die das Theater Basel und der Gare du Nord zum       cher, Schlaginstrumente und Elektronik.                                               Nopper, Svea
                                                                                                                                                      Schildknecht,
zweiten Mal veranstalten, an zwei Abenden zu erleben.           Im Gare du Nord gastiert ‹Madrigali Notturni›, ein gemein-                            Foto: Katharina
    Vorläufer der Postmoderne. Im Zentrum des Stücks ste-       sames Projekt der Komponistin Katharina Rosenberger, des                              Rosenberger
hen der Komponist Henri (der nicht zufällig den gleichen        Choreografen und Kostümbildners Ric Schachtebeck und
Vornamen trägt wie Pousseur) und ein mephistophelischer         der Lichtdesignerin Christa Wenger. Ort, Bewegung sowie
Impresario, der ihn überredet, eine ‹Faust›-Oper zu schrei-     Vokalmusik der Renaissance und der Gegenwart verbinden
ben. Mit diesem Pakt hat Henri auch seine Seele verloren,       sich zu einem Raum-Klang-Labor, das dem Publikum neue
d.h. seine Musik kommerzialisiert. Das Libretto zitiert nicht   Möglichkeiten der sinnlichen Wahrnehmung öffnet.
nur Goethes ‹Faust› (und Gérard de Nervals französische         2. ‹Journées contemporaines›: Fr 8. bis So 10.11., Theater Basel und
Übersetzung), sondern auch das viel ältere ‹Puppenspiel         Gare du Nord u S. 33, 37
vom Doktor Faust›, ein Sonett von Petrarca und anderes
mehr. Auch Pousseurs in der Basis serielle Partitur wim-
melt von Zitaten, die aber beim ersten Hören nur teilweise                                                         Vielstimmig
zu erkennen sind. Der Komponist habe – so Piencikowski                               db. Zwei professionelle Basler Vokalensembles, die administrativ
– die Musikgeschichte als grosses Kontinuum gesehen, auf                             zusammenarbeiten, sind im November gleich mehrfach zu hören.
dem er nach Belieben gleiten konnte, dabei aber den Ein-                             Im Rahmen von Culturescapes Balkan präsentiert eine erweiter-
satz der Stile systematisiert, zur Charakterisierung sozialer                        te Formation der auf zeitgenössische Musik fokussierten Solo
Schichten etwa. Damit gehörte er zu den Vorläufern der                               Voices diverse Uraufführungen, ferner lässt sie in der Musik-
heutigen Postmoderne. Das Gastspiel wird ergänzt durch                               theaterproduktion ‹Lümpfftümpff› u.a. Kurt Schwitters ‹Ur-
eine von Piencikowski kuratierte Ausstellung zu Pousseur                             sonate› erklingen. Die Gruppe Thélème, spezialisiert auf Inter-
im Foyer des Schauspielhauses und ein Gespräch mit dem                               pretationen Alter Musik, stellt Kompositionen eines Renaissance-
mittlerweile 87-jährigen Michel Butor.                                               musikers vor und lädt zu einem Bankett mit allerlei Klängen und
    Zeitgenössisches. Neben ‹Votre Faust›, einem ‹Klassiker›                         Küchenkünsten ein. –
des Musiktheaters, bringen die ‹Journées contemporaines›                             Keine Profis, aber leidenschaftliche Sängerinnen sind die Damen
neue Werke nach Basel. So ist in Georges Delnons Urauf-                              von Canto Donne. In ihrem nächsten Konzert bringen sie, beglei-
führungsinszenierung für das Lucerne Festival ‹Anschlag›                             tet von einem Blockflötenensemble, ebenfalls Renaissancemusik
von Michael Wertmüller auf ein Libretto von Lukas Bärfuss                            zu Gehör.
zu sehen. Der Erfolgsdramatiker hat zwölf Texte zu einem                             Solo Voices: Mo 4.11., 20 h, Gare du Nord u S. 33,
Panoptikum des Schreckens geformt, das um den gesell-                                und Fr 15.11., 19.30, Maison 44 u S. 29
schaftlichen Missbrauch des menschlichen und tierischen                              Thélème: Sa 23.11., 19.30, Maison 44 u S. 29,
Körpers kreist. Wertmüller hat dafür eine Musik geschrie-                            und Mi 27.11., 20 h, Kantine Musikerwohnhaus, Lothringerstr. 165

ben, deren Spektrum von aggressiver Motorik bis zu lyri-                             Canto Donne: Sa 2.11., 19 h, Zinzendorfhaus, Leimenstr. 10;
scher Schönheit reicht. Noch entschiedener als Pousseur                              und So 3.11., 17 h, Dorfkirche Kleinhüningen, Dorfstr. 39

verbindet er unterschiedliche Stile. Seine Musik ist für das
                                                                                                                                 November 2013 |   ProgrammZeitung | 9
PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
Da geh’ ich hin
                                                                        a nge l a bu dde c k e

           Haifisch & Co.                                                   Zum Weltaidstag erklingen Kreisler-Chansons.
                                                                        «Nebenan – man muss nur wissen, wie man hinkommt ...» Nebenan – das
                a l f r e d z i lt e n e r                              ist im Schauspielhaus, Ende November. Dann singt Tim Fischer zum Welt-
               Das SOB spielt Zappa.                                    aidstag Lieder von Georg Kreisler. Wie man da hinkommt, ist hinreichend
Seit das Sinfonieorchester Basel (SOB) sich aus                         bekannt. Aber ‹Nebenan› ist mehr als nur ein Ort. Es ist der schillernde
der Umklammerung der AMG befreit hat und                                Kosmos eines Genies. «Nebenan», so heisst es weiter in dem hinreissenden
selbständig geworden ist, öffnet es sich konse-                         Tango, «ist gleich um’s Eck und dann gradaus. Nebenan, in einer flüchtigen
quent der zeitgenössischen Musik. Offenbar mit                          Kulisse spielt sich das Leben langsam ein, wie bei Papageien, nur dass man
Erfolg: Um rund ein Viertel ist die Zahl der Kon-                       ein Mensch ist, aber das den ganzen Tag.»
zertabos angewachsen.                                                   Solche und ähnliche Liedzeilen von Georg Kreisler haben mich, als ich
Nun widmet das Orchester in Zusammenarbeit                              ganz jung war, ständig begleitet und unumkehrbar auf die Spur der inneren
mit der Kaserne Basel einen Abend Frank Zappa,                          Freiheit gesetzt. Ich stand nicht auf Popstars. Ich schwärmte für den be-
dem legendären amerikanischen Wanderer zwi-                             brillten Mann am Klavier mit seinem anarchischen Humor und seiner
schen Jazz, Rock und Avantgarde, für den Ironie,                        grossen Zärtlichkeit für den Menschen an sich, die oft unverstanden blieb,
Parodie und musikalische Ernsthaftigkeit zusam-                         worunter er sehr litt. Es war ihm nicht recht, nur der schwarzhumorige
mengehörten. Das Konzert ist eine Hommage                               ‹Taubenvergifter› zu sein.
zum 20. Todestag Zappas am 4. Dezember. Zu                              Mir hat sein gesamtes Liedgut einst das geistige Leben gerettet. Seine herr-
hören sind u.a. Auszüge aus seinem letzten Opus                         liche Drastik hat mich in todtraurigen Zeiten zum Lachen gebracht, er hat
‹The Yellow Shark›. Das Stück ist für das Frank-                        mir als Pianistin neue Dimensionen eröffnet (Spielen ohne Hingucken, eine
furter Ensemble Modern entstanden; Zappa hat                            Kunst für sich!) und für mich als Song-Schreiberin die Messlatte himmel-
hierfür sowohl ältere Musik orchestriert, als                           hoch gehängt.
auch Neues komponiert. Die Uraufführung fand                            Uns verband bis zu seinem Tod vor fast zwei Jahren eine treue Brieffreund-
im September 1992 in der Alten Oper Frankfurt                           schaft, die ich in den 80ern mit einem glühenden Fan-Bekenntnis (ach was
statt, in Anwesenheit des Komponisten, der aber                         – es war ein Liebesbrief!) keck angezettelt hatte. Und hier in Basel stand er
bereits so krank war, dass er nur Teile des Werks                       Pate, als ich seinerzeit im Teufelhof in seiner Anwesenheit mit dem Kreis-
dirigieren konnte. Es wurde sein letzter öffent­                        ler-Programm ‹Am besten nichts Neues› meinen Berufsstand als Klavier-
licher Auftritt.                                                        Kabarettistin aus der Taufe hob: Der Chef gab mir persönlich gratulierend
Die zweite grosse Komposition ‹The Adventures                           den Segen. Das brachte mir viel Glück, mein Herz zum Jubeln und endlich
of Greggery Peccary› für Sprecher/Sänger und                            den Mut, auch meine eigenen Lieder unter die Leute zu bringen.
Instrumentalensemble erzählt sodann die schrä-                          Nun trägt Tim Fischer die Fackel mit den Liedern dieses unsterblichen Frei-
gen Abenteuer eines Schweins, das in einer gros-                        geistes und grandiosen Musikers weiter. Nix wie hin!
                                                      Frank Zappa,
sen Firma arbeitet und einen roten VW fährt.          Foto: Mark        Weltaidstag: Tim Fischer singt Georg Kreisler-Chansons: Sa 30.11., ab 19 h, Schauspielhaus
Der Komponist Ali N. Askin hat für das Ensemble       Sullivan-Getty    Basel. Mit Benefiz-Suppe, Konzert und Afterparty. Infos: www.weltaidstag-basel.ch
Modern die entsprechenden Materialien aus             Images (links)    Angela Buddecke ist ‹Lebens-Gesamtkünstlerin› und wohnt mit ihrer Familie in Weil a.Rh.,
Zappas Nachlass gesichtet und daraus eine                               www.angelabuddecke.com
                                                      Tim Fischer
Orchesterfassung erstellt. Die ‹Revised Music for     (links) und       Ausserdem: Hommage zum 2. Todestag von Georg Kreisler: Christine Lather & Jean Hoffmann
Low-Budget-Orchestra› von 1975 ergänzt das            Georg Kreisler,   spielen Kreislers Musical ‹Lola Blau›: Do 21. bis Sa 23.11., Theater Teufelhof u S. 39
                                                      Foto: Stefan
Programm.                                             Malzkorn
Zappa, erzählt Hans-Georg Hofmann, der beim
SOB für Dramaturgie und künstlerische Planung
zuständig ist, habe Edgar Varèse und Igor Stra-
winsky besonders verehrt, was seiner Musik an-
zuhören sei. Von Letzterem beeinflusst sind
etwa die raschen rhythmischen Wechsel, die den
Stücken etwas Collagenhaftes geben; Varèse
war das Vorbild für den Einbezug von Geräu-
schen, in ‹Greggery Peccary› z.B. dem Knallen
eines Luftgewehrs und dem Klappern und Bim-
meln von drei Schreibmaschinen.
Die Leitung hat der Zappa-erfahrene Dirigent
Jonathan Stockhammer, der auch schon mit der
Basel Sinfonietta zusammengearbeitet hat. Als
sprechender und singender Erzähler in ‹Greg­
gery Peccary› tritt der US-Vokalkünstler und
Performer David Moss auf.
SOB spielt Zappa: Sa 9.11., 21 h (20 h Türöffnung),
Kaserne Basel u S. 35

10 | ProgrammZeitung | November 2013
Bambi allein im Wald
i ng o s ta r z

                                                                                                   Dialog der Künste
                                                                                                            dagm a r bru n n e r
                                                                                                               Performing Arts.
                                                                                             Alle zwei Jahre tourt die Initiative ‹Tanzfaktor
                                                                                             Interregio› durchs Land und bietet Einblick in
                                                                                             zeitgenössisches Tanzschaffen. Das ursprüng-
                                                                                             lich vom Tanzbüro Basel ins Leben gerufene Pro-
                                                                                             jekt hat sich von der lokalen zur nationalen
                                                                                             Nachwuchsplattform entwickelt, die von einer
                                                                                             Fachjury bewertet, vom Schweizer Tanznetz-
                                                                                             werk Reso koordiniert und von Kantonen und
                                                                                             Bund unterstützt wird. Es will zur Professionali-
                                                                                             sierung und Vernetzung der Szene beitragen und
                                                                                             ihre Leistungen sichtbar machen. Für die fünfte
                                                                                             Ausgabe haben sich über neunzig Tanzschaffen-
                                                                                             de beworben. Fünf Choreografien wurden aus-
                                                                             ‹Bambi›,        gewählt, die nun auf acht Bühnen der Schweiz
    Das Vorstadttheater Basel entdeckt einen Klassiker.                      Foto: Grafik-   gastieren. Die Kurzstücke werden von elf Per­
                                                                             büro Hauser
Wer von Bambi spricht, denkt wohl zuerst an den Zeichentrickfilm von         Schwarz         formerInnen präsentiert. –
1942. Die von Walt Disney umgesetzte Geschichte vom Erwachsenwerden                          Ein ‹Performing Arts Project› findet sich auch im
eines Hirschs prägt bis heute unser Bild von der Figur. Geradezu berühmt                     Programm der diesjährigen Martinu-Festtage, die
geworden ist die Szene, in der Bambis Mutter auf der Flucht von einem                        ebenfalls den Dialog der Kunstgattungen för-
Jäger erlegt wird. Die Vorlage des Romans von Felix Salten (1923) geht                       dern. Die Basler Künstlerin Hildegard Spielhofer,
meist vergessen. Umso überraschender ist die Begegnung mit dem Buch,                         der Filmschaffende Hanspeter Giuliani und die
das so gar nichts von kindlich-lieblicher Erzählweise an sich hat, sondern                   Tänzerin Rebecca Weingartner kreierten als
im Gegenteil im Lauf der Handlung eine zunehmend düstere Szenerie ent-                       Hommage für den tschechischen Komponisten,
wirft und in Gesprächen zwischen den Tieren existenzielle Fragen verhan-                     der 1959 in Liestal starb, die Performance
delt. ‹Bambi, eine Lebensgeschichte aus dem Walde› erweist sich als ein                      ‹Etudes Fragiles› – eine Auseinandersetzung mit
vielschichtiger Roman, der ebenso vom Heranwachsen eines Rehbocks er-                        dessen ‹Dualitäts›-Prinzip –, die von der Geigerin
zählt, wie er im Wandel der Jahreszeiten den Zyklus des Lebens darstellt.                    Malwina Sosnowski begleitet wird. Bohuslav
Nebenbei skizziert Salten, wie es ein Rezensent der 2012 im Unionsverlag                     Martinu, ein begeisterter Anhänger von Jazz
erschienenen Neuausgabe formulierte, eine «Schule des Alleinseins».                          und Tanztheater, schrieb auch eine köstliche
Das Vorstadttheater hat sich unter seinem künstlerischen Leiter Matthias                     ‹Küchenrevue›, in der sich Topf und Deckel nach
Grupp des Romans angenommen. Mit den SchauspielerInnen Alireza Bay-                          einigen Komplikationen vermählen. Jungtalente
ram, Gina Durler und Michael Schwager bringt es eine Geschichte auf die                      des Chronos Movement Tanzstudios bringen das
Bühne, in der Bedrohung, Gewalt und Tod zum Alltag gehören. Einige der                       Jazzballett zur Aufführung. In drei weiteren Kon-
tiefsinnigen Dialoge des Buchs, etwa derjenige zwischen zwei absterben-                      zerten erklingen Kompositionen von Martinu
den Blättern, fliessen in die Aufführung mit ein. Wie bei Salten, aber an-                   und andern – u.a. mit Improvisationen des Jazz-
ders als im Film, hat Bambis Freundin Faline einen Bruder. Der schwäch­                      pianisten Enrico Pieranunzi –, abschliessend
liche Rehbock Gobo wird erst von Menschen gesund gepflegt und später,                        spielt die Camerata Salzburg unter der Leitung
nach seiner Rückkehr in den Wald, von einem Jäger getötet. Die Figur der                     von Christopher Hogwood. –
Elster wird aus- und umgebaut: Sie kommt als skurrile Oma daher, beglei-                     Das musikalische Schauspiel-/Tanzstück ‹ELFe
tet das Geschehen und übermittelt schlechte Nachrichten. Und der als                         (11e – ein Schreibprozess)› von Fidelio Lippuner
Jäger auftretende Mensch ist nicht einfach Gegensatz zum (gar nicht so                       und Doris Egger thematisiert den Umgang mit
friedlichen) Tierleben. In ihm klingt auch der Erste Weltkrieg nach.                         ‹psychischer Beeinträchtigung›. In der Koproduk-
    Welttheater für alle. Was uns die neue Hausproduktion im Vorstadt­                       tion des sozialpsychiatrischen Vereins Mobile mit
theater erzählen will, ist nichts weniger als ein kleines Welttheater für                    dem Theater Basel treten Betroffene und Profis auf.
Menschen ab 6 Jahren. Mit Humor und Ernst, mit Saltens Sprache und reiz-                     ‹Tanzfaktor Interregio›: Mi 27.11., 20 h, Kaserne u S. 35
vollen Bildern bringt uns das Ensemble die Geschichte von Bambi nahe.                        19. Martinu Festtage: So 10. bis Sa 23.11., div. Orte,
Kriegerische Momente, die das Tierleben wie die Begegnung der Tiere mit                      www.martinu.ch
den Menschen prägen, bleiben nicht ausgespart: Der Tod gehört schliess-                      ‹ELFe›: Mi 20.11., 20.30, Foyer Schauspielhaus,
lich zum Leben. Der von Michael Studer besorgte Sound zur Bühnenfas-                         Infos: www.mobilebasel.ch
sung unterstreicht diese Perspektive: Mit dem Rückgriff auf Barockmusik
bekommt das gezeigte Werden und Vergehen einen stimmigen Kontext.
‹Bambi›: Fr 15.11. bis Di 31.12., Vorstadttheater Basel u S. 37

                                                                                                                     November 2013 |   ProgrammZeitung | 11
Erinnerung wagen
i ng o s ta r z

Selma Spahic,
‹Hypermnesia›,
Foto: zVg

    Culturescapes präsentiert Theater vom Westbalkan.                 Spuren des Kriegs. Der in Bosnien geborene und in Kroa­
Am Theaterfestival MESS in Sarajevo wurde 2011 eine Drama-        tien arbeitende Regisseur Oliver Frljic hat sich in seinen
tisierung des jugoslawischen Spielfilms ‹Papa ist auf Dienst-     Bühnenarbeiten schon wiederholt mit der jüngeren Ge-
reise› gezeigt. Emir Kusturicas Meisterwerk 1985 in Cannes        schichte seiner Region befasst. In ‹I hate the Truth› zeigt
mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde und schil-             er eine serbo-kroatische Familiengeschichte in den Zeiten
dert aus der Perspektive des Jungen Malik menschliche und         vor und während der Balkankriege. Sie schildert den Alltag
politische Wirren der frühen 1950er-Jahre. Es geht vor dem        und aufkeimende ethnische Konflikte. Die vier Performe-
Hintergrund stalinistischer Gewalt um die politische Gefan-       rInnen wechseln in diesem Setting zwischen ihren Rollen
genschaft des Vaters Mehmed, um den Fussball und um die           als Familienmitglieder und Theaterleute. Sie stellen den
Heimatstadt Sarajevo. Die Theaterfassung von Oliver Frljic        Regisseur zur Rede, diskutieren die Mittel des Theaters und
wurde vor vollem Haus im Nationaltheater gezeigt und vom          hinterfragen die Wahrheit des Berichteten. Auf bemerkens-
Publikum mit grosser Begeisterung aufgenommen. Den                werte Weise macht diese Produktion darauf aufmerksam,
Reaktionen war die genaue Kenntnis des populären Films            dass Erinnerung immer viele Wahrheiten kennt.
anzumerken, ebenso eine gewisse Nostalgie.                        Wie obsessiv die Rückschau die Menschen in den ex-jugos-
Das Jugoslawien Marschall Titos wird rückblickend gern            lawischen Staaten beherrscht, thematisiert Selma Spahic in
als Epoche friedvollen Zusammenlebens gezeichnet. Eine            ihrem Stück ‹Hypermnesia›. Die Autorin und Regisseurin
solche Perspektive mag sich weniger objektiven Fakten als         aus Sarajevo hat mit DarstellerInnen aus Bosnien-Herzego-
der prekären Situation der Gegenwart verdanken, wo nati-          wina, Serbien und dem Kosovo Kindheitsbilder zu einem
onalistische Regierungen einander das Leben schwer ma-            aufwühlenden Theaterereignis geformt.
chen. Die serbischen Theaterleute Maja Pelevic und Milan              Erinnerung in schwierigen Zeiten. In Ergänzung zu den
Markovic erkunden mit ihrer Lecture Performance ‹They             Performances befasst sich ein Thementag mit den Erinne-
live (in search of text zero)› das politische Terrain. Sie tra-   rungskulturen auf dem Westbalkan. Dabei kommen neben
ten im vergangenen Jahr sieben Parteien in Serbien bei und        Wissenschaftlern auch der Schriftsteller Miljenko Jergovic
reichten bald darauf ein Dossier mit ihren Vorstellungen zu       (s. Spalte S. 13), die bildende Künstlerin Adela Jušic, der
einer Kultur-Marketing-Strategie ein. Der Text wurde all-         Schweizer Theatermann Mats Staub und das Ensemble
seits positiv aufgenommen, unbemerkt blieb, dass er auf           Oliver Frljic zu Wort. Ausserdem wird der Film ‹Cinema
Joseph Goebbels Vortrag ‹Erkenntnis und Propaganda› von           Komunista› gezeigt. Den Programmschwerpunkt rundet
1928 beruht. In der berüchtigten Rede heisst es: «Die Volks-      ein Gastspiel der slowenischen ‹EnKnapGroup› ab, die mit
versammlung ist dazu da, den Menschen die allerprimitivs-         Tanz, Musik und Medienkunst eine ungewöhnliche Sicht
ten Grundlagen zu übermitteln.» Schliesst dies, so werden         auf Igor Strawinskys ‹Oktett› aus dem Jahr 1923 auf die
sich die Bühnenprofis gefragt haben, auch das Wecken pri-         Bühne bringt.
mitiver Instinkte mit ein?                                        Balkan-Theater, Kaserne Basel u S. 35

12 | ProgrammZeitung | November 2013
Sorgfältiges Wachstum
                                                           m ic h a e l b a a s

        Balkan-Literatur                                                         Die Saison am Freiburger Theater im Marienbad.
                                                                             In einer Epoche, in der betriebswirtschaftliches Denken im Kulturbetrieb
               f r a nz i sk a m a z i                                       konstitutiv und Auslastungszahlen so wichtig sind wie künstlerische Quali-
 Miljenko Jergovićs Roman ‹Wolga, Wolga›.                                    tät, sind Theater, Sprechtheater zumal, in die Defensive geraten. Das Frei-
«Die Dinge bekommen erst dann Gewicht, wenn                                  burger Kinder- und Jugendtheater, das sich inzwischen Theater im Marien-
sie gut erzählt sind», heisst es in Miljenko                                 bad nennt und so signalisiert, dass es dieses Genre als eigenständige
Jergovics Erzählsammlung ‹Sarajevo Marlboro›.                                Disziplin pflegt, als Kunstform, die auch Erwachsene fesselt, steht wie oft
Der bosnisch-kroatische Autor, der 1966 in Sara-                             seit der Gründung vor exakt 40 Jahren indes quer zu solchem Zeitgeist –
jevo geboren wurde und seit dem Krieg in Zag-                                zum Quotenzwang wie zu dessen Verwandtem, der Beschleunigung aller
reb lebt, ist diesem Motto stets treu geblieben,                             Lebensbereiche. Im Gegenteil: Das 13-köpfige Ensemble um den Leiter
so auch in seinem Roman ‹Wolga, Wolga›. Der                                  Hubertus Fehrenbacher, das Ende 2014 das 25-Jährige in dem zum Theater-
Text erzählt auf virtuose Weise von Jugoslawien,                             haus umgebauten früheren Marienbad feiern kann, hält beharrlich an einer
einem Land, das grausam und menschlich, unter­                               Bühnenkunst fest, die auf «langsames Wachsen, geduldiges Entwickeln
drückend und wohlwollend, real und fiktiv zu-                                und beständiges Befragen» setzt und so Gesamtkunstwerke kreiert.
gleich sein konnte.                                                              Parabel und Persiflage. Dieser Ansatz gilt auch für die aktuelle Saison.
Jergovic bedient sich oft sowohl fiktiver Ge-                                Und nachdem die Stadt ihren Barzuschuss für 2013/14 um fast 30 Prozent
schichtsschreibung als auch historischer Fiktion.                            auf 463’000 Euro im Jahr angehoben hat, kann das Theater unter besse-
Letzteres überwiegt im ersten Teil von ‹Wolga,                               ren finanziellen Bedingungen arbeiten. Eröffnet hat es die Spielzeit mit der
Wolga›, der Ich-Erzählung von Dželal Pljevljak,                              neuen Produktion ‹Eins Zwei Drei Vorbei›. Das Drei-Personen-Stück aus der
einem einsamen Chauffeur der Jugoslawischen                                  Feder Frauke Jakobis kreist um eine Kernfamilie – Vater, Mutter, Kind. Auf
Volksarmee, der jeden Freitag mit seinem ‹Wolga›                             der Folie dieser Konstellation beschreibt die Autorin Existenzielles, thema-
von Split zur Moschee in Livno fährt. Der zweite                             tisiert Grundfragen jeder Eltern-Kind-Beziehung – bis zum Tod, im Gehalt
Teil, eine Art pseudohistorische Rekonstruktion                              philosophisch, aber ohne abzuheben. Vielmehr ist der Stoff reduziert auf
von Dželals Leben, ist eine Parodie auf die jugos-                           das Einfachste und an die Entwicklung der Jahreszeiten gekoppelt. Statt
lawische Medienwelt und Historiografie der                                   grosser Worte gibt’s vor allem starke Bilder. Regisseurin Antonia Brix und
70er-Jahre. Das Geschehen wird aus Sicht einer                               Bühnenbildnerin Margrit Schneider übersetzen den schweren Stoff so in
Zeitungsredaktion geschildert, die nach dem Zer­                             eine schwebendleichte Parabel auf das Leben.
fall Jugoslawiens den ‹Fall› Dželal Pljevljak – der                          Als weitere Neuinszenierung steht im April 2014 Rebekka Kricheldorfs
am Ende seines Lebens wegen Mordes an einer                                  Stück ‹Rosa und Blanca›, eine komisch-skurrile Persiflage des Grimm-
Familie verurteilt worden war, die er in schwer                              Märchens ‹Schneeweisschen und Rosenrot› auf dem Spielplan. Davor aber
alkoholisiertem Zustand überfahren haben soll                                greift das Theater sein bewährtes Repertoire aus grossen Ensemblestücken
– wieder aufrollt. Die Zeitung verwendet für ihre                            und Erzähltheater in kleiner Besetzung auf. Diesen Monat etwa ‹FlussPferde›,
Nachforschungen Archivmaterial von damals –                                  die Geschichte einer Identitätsfindung, die ums Selbst- und Anderssein
lauter irrelevante Berichte. Somit liefern auch                              kreist, sowie das 2009 uraufgeführte Musiktheaterstück ‹Eine Odyssee›,
die Recherchen keine Antwort auf die Frage,                                  das den antiken Stoff aus der Perspektive des Sohnes erzählt, den Mythos
wie ein tugendhafter und herzensguter Mensch               ‹Eins Zwei        auf seine Aktualität befragt und diese z.B. in zerrissenen Familien und
fähig war, eine so grausame Tat zu begehen. Die            Drei Vorbei›,     fragwürdigen (väterlichen) Helden findet.
                                                           Foto: Matthias
Auflösung wird erst im dritten Teil gegeben, und           Lange             Theater im Marienbad, Freiburg i.Br., www.marienbad.org
zwar wieder von Dželal selbst.
Die Geschichte kann als eine Parabel auf das
Schicksal Jugoslawiens gelesen werden. Auch
bei den jüngsten Balkankriegen fragt man sich,
wie es eigentlich dazu kommen konnte. Jergovic
würde wohl antworten, dies sei unmöglich zu
erfahren, weil Historie aus vielen verschiedenen
AkteurInnen besteht, deren Lebensgeschichten
höchstens ihnen selbst bekannt sein können,
und das auch nur, wenn sie über ein ausseror-
dentlich gutes Erinnerungsvermögen verfügen.
Miljenko Jergović, ‹Wolga, Wolga›, Schöfflin & Co.
Verlag 2011, 336 S., gb., CHF 31.50; Heyne TB, CHF 14.90
Lesung des Autors im Rahmen von Culturescapes
Balkan: Mi 20.11., 19 h, Literaturhaus Basel. Deutsche
Moderation Andrea Zink (Uni Innsbruck), Übers. Tatjana
Simeunović (Uni Basel), Lesung Vincent Leittersdorf

                                                                                                                                       November 2013 |   ProgrammZeitung | 13
Den Himmel sehen
                                                           dagm a r bru n n e r

                    Backlist                                                     In der Theatergarage erklingt Becketts letzter Text.
                                                                             «Es ist alles gesagt, es geht nur darum, es kürzer zu sagen», notierte Samuel
               a dr i a n p ort m a n n                                      Beckett einmal. Kaum eine halbe Stunde benötigt etwa die Lektüre seines
              Neid und Vorzugssucht.                                         letzten Textes, und doch steckt ein ganzes Leben darin bzw. dessen Rest-
«Geh zum Fegefeuer mit deinen Predigten,                                     ‹Zuckungen›, wie der französische Titel ‹Soubresauts› verrät. Ein Lebens­
Wahnwitziger! – rief die schöne Akante mit dem                               ende, beschrieben von einem, der selbst kurz davor stand: Samuel Beckett
jachzornigsten Tone, und warf den erstaunten,                                verfasste das rund 2000 Worte zählende Werkchen zwischen 1986 und 1988
halb sinnlosen Belphegor nach zween wohlabge-                                in englischer Sprache (‹Stirrings Still›), die von ihm übersetzte französische
zielten Stössen mit dem rechten Fusse zur Thüre                              Ausgabe erschien im November 1989, einen Monat vor seinem Tod. Die
hinaus.» So beginnt ein erstaunlicher Roman aus                              deutsche Version wurde 1991 unter dem Titel ‹Immer noch nicht mehr›
dem Jahr 1776. Den ersten Fusstritten folgen                                 publiziert. Beckett schrieb den Text im Altersheim in Paris. Er war damals
bald weitere und schlimmere. Denn Belphegor                                  über 80 und erzählte, was viele verdrängen und doch erleiden: von der
gerät nach dieser unsanften Verabschiedung auf                               Befindlichkeit eines Menschen, dem das Diesseits entschwindet. Vom stil-
eine Irrfahrt, die ihn und seine Freunde Fromal                              len Kampf gegen den «Lärm in seinem Kopf», von Verlusten aller Art und
und Medardus durch alle Kontinente, in reale                                 einem Abschied ohne Bedauern. Wollte er einst «den Himmel sehen»,
und fantastische Länder und jedenfalls in vieler-                            möchte er nun nur noch «enden, einerlei wie und wo».
lei Notlagen führt: Er wird ausgeraubt und fin-                              Diesen wunderbaren, lakonisch-präzisen und anrührenden Text (der nur
det sich auf dem Schlachtfeld wieder, ein Auge                               noch antiquarisch zu erwerben ist) hat Serena Wey als junge Schauspiele-
wird ihm ausgeschlagen, er gerät in Sklaverei                                rin von ihrer berühmten Kollegin Monika Koch geschenkt bekommen und
und wird zum Tod verurteilt.                                                 stellt ihn nun zusammen mit Marianne Schuppe und Mauro Talamini als
Belphegor, ein guter und etwas einfältiger Mensch                            ‹szenisch-musikalische Skizze› vor, Regie führt Irmgard Lange. Neben der
ohne Falsch und sichtlich ein Verwandter des                                 deutschen Übersetzung wird auch das englische Original in Auszügen zu
Candide, ist entsetzt über die Grausamkeiten                                 hören sein, begleitet von klanglichen Intermezzi. Mit einer schlichten
und Ungerechtigkeiten, deren Zeuge er wird.                                  Raumgestaltung (Heini Dalcher) soll das Publikum «zur Ruhe gebracht»
Dennoch glaubt er unbeirrbar an die Güte des                                 und der Text auch atmosphärisch erfahrbar werden.
Menschen – anders als sein Gefährte Fromal, der                                  Intime Kulturabende. Ausser dieser Produktion sind in Serena Weys
in «Neid und Vorzugssucht» die wichtigsten                                   ‹Theatergarage› weitere Veranstaltungen zu erleben, die von ihr oder Gast-
Wesenszüge des Menschen sieht.                                               künstlerInnen gestaltet werden. Die Sängerin und Performerin Marianne
Erörterungen über solche Fragen nehmen brei-                                 Schuppe etwa bringt mit einem neunstimmigen Ensemble eigens kon-
ten Raum ein. Denn Johann Carl Wezel hat nicht                               zipierte Musik zum Stummfilm ‹La Chute de la Maison Usher› von Jean
nur ein irrwitziges Abenteuerbuch verfasst, son-                             Epstein (1928) zur Aufführung. Der Film, bei dem Luis Bunuel assistierte,
dern zugleich einen philosophischen Thesen-                                  gründet auf einer Erzählung von Edgar Allan Poe und schildert den Unter-
Roman. Er behandelt anthropologische Grund-                                  gang eines degenerierten Adelsgeschlechts.
fragen und traktiert naturrechtliche Argumente,                              Dem Filmkonzert folgt ein Abend mit spanischer Hofmusik und Flamenco
er lässt seine Protagonisten allerlei Unbill erle-                           sowie Texten aus der Renaissance. Jon Fosses Liebesgeschichte ‹Schlaflos›
ben und sieht dann zu, wie sie sich einen Reim             Marianne
                                                                             kommt als szenische Lesung vor dem eingeheizten grossen Eisenofen zur
darauf machen – ist es Zufall, Schicksal, Vorse-           Schuppe (links)   Geltung. Gespräche mit Verpflegung beschliessen die Anlässe.
hung, gibt es ein Ziel in alldem?                          und Serena        Becketts ‹Stirrings Still oder Immer noch nicht mehr›: Mi 30.10., 20 h (Premiere), bis So 19.1.,
                                                           Wey, Foto:
Fromal führt das grosse Wort. Dass der Mensch                                Theatergarage, Bärenfelserstr. 20, Hinterhaus, www.theatergarage.ch
                                                           Heini Dalcher
des Menschen Wolf sei, belegt er mit Beispielen
aus der Weltgeschichte und aus jenen weniger
blutrünstigen Lebensbereichen, in denen sich der
Neid als Tugend verkleidet, etwa der Philosophie
(«die edlen Ritter der Wahrheit sind jederzeit die
treflichsten Kanonirer gewesen»). Belphegor hat
dem argumentativ wenig entgegenzusetzen, weiss
aber in seinem Herzen, dass es so nicht sein kann,
während sich Medardus vor allem nach dem
heimischen Apfelwein sehnt.
Gut, die Figuren sind ein wenig schematisch ge-
zeichnet, und ob all der gelehrten und etwas pa-
thetischen Dialoge werde ich manchmal etwas
müde. Aber dann folgt zum Glück bereits das
nächste Abenteuer.
Johann Carl Wezel, ‹Belphegor oder die wahrschein-
lichste Geschichte unter der Sonne›, Leipzig 1776
‹Backlist› stellt besondere Bücher aus allen Zeiten vor.

14 | ProgrammZeitung | November 2013
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