PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
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Cover: Notenblattumschlag, Ausstellung ‹Mode und Musik der Zwanziger Jahre›, Museum für Musik u S. 26 Agenda-Partner Foto: Historisches Museum Basel des Monats Kultur im Raum Basel Februar 2016 | Nr. 314 CHF 8.40 | EUR 8.00 ProgrammZeitung Menschen, Häuser, Orte, Daten
Zeiten des Umbruchs dagm a r bru n n e r Editorial. Ihre Namen werden in diesem Jahr besonders gewürdigt: Hugo Ball und Emmy Hennings, die vor 100 Jahren in Zürich die Künstlerbeiz Cabaret Voltaire und mit unkonventionellen Soireen die Dada-Bewegung ins Leben riefen. Mitbeteiligt waren zu Beginn auch Tristan Tzara, Marcel Janco, Richard Huelsenbeck, Hans Arp und Sophie Taeuber – alle zwischen 20 und 30 Jahre alt und ausser der Bündnerin Sophie Taeuber Exilanten aus Deutschland, Frankreich, Rumänien. Dem Wahnsinn des ersten Welt- kriegs entflohen, heimat-, arbeits- und mittellos geworden, z.T. krank und desillusioniert, liessen sie die Traditionen hinter sich und erschufen mit Wahn- und Wortwitz das sub- versive Dada-Universum – mit weitreichenden Folgen. Auf das abenteuerliche und bewegende Leben des Gründer- paars Ball/Hennings, zu dem auch neue Biografien erschie- nen sind, fokussiert der ‹Dada-Abend› in Basel. Weiteren Dadaistinnen, die allzu lange im Schatten ihrer männli- chen Kollegen standen, ist Ina Boesch vor einem Jahr in einer Ausstellung in Aarau und im Buch ‹Die Dada› (Schei- degger & Spiess) nachgegangen, das den wichtigen Anteil der Frauen an dieser Bewegung ins Licht rückt – drei von ihnen werden nun im Haus Konstruktiv präsentiert. Nicht zuletzt spielten auch Basler Mäzeninnen eine schicksals- hafte Rolle, etwa für Hans Arp und Sophie Taeuber, die u.a. Nic Aluf, Porträt von von Maja Sacher und vor allem von Arps späterer Frau Einen Rückblick auf die zweite Dekade des letzten Jahrhun- Sophie Taeuber Marguerite Hagenbach nachhaltig gefördert wurden. Mehr derts wirft zudem eine Ausstellung im Musikmuseum. mit Dada-Kopf, zum Dada-Jubiläum S. 16, 17. ‹Mode und Musik der Zwanziger Jahre› werden unter die 1920, Galerie Berinson, Bln. Als der Dadaismus entstand, war der Kampf ums Frauen- Lupe genommen, die nach dem grossen Krieg (wenn auch © Nachlass stimm- und Wahlrecht bereits in vollem Gange, etwa in nicht für alle) eine Phase der Entspannung brachte. Ein Nic Aluf. England, wo sich die ‹Suffragetten› (suffrage = Wahlrecht) neues Frauenbild kündigte sich an, die Bekleidung wurde ‹Dadaglobe auch für bessere Lebensbedingungen der Arbeiterinnen Reconstructed› locker und sportlich, die Schlager- und Jazzmusik lockte Kunsthaus einsetzten. An deren oft grausames Los erinnert ein neuer, zum Tanz und war nun auch auf Tonträgern zu hören. Doch Zürich eindrücklicher Film, und eine kleine Artikelserie beleuch- schon 1929 endeten die ‹Goldenen Zwanziger› mit der Welt- tet den Kampf um die Frauenrechte in der Schweiz und in wirtschaftskrise. Mehr zum Geschehen in Basel S. 26. Basel S. 19. ‹Dada-Abend: Emmy Hennings und Hugo Ball›: Mi 10.2., 19 h, Literaturhaus Basel. Mit Bernhard Echte, Bärbel Reetz und ihren neuen Biografien (Nimbus Verlag), www.literaturhaus-basel.ch Hauskultur überwiegend in den Bereichen Bildung und Kul- tur tätig. Und sie sind zur Hälfte selber kulturell Inhalt db. Mit Spannung haben wir sie erwartet, die aktiv, vor allem musikalisch, gefolgt von Kunst, Redaktion 5 Antworten auf unsere Umfrage zum Leseverhal- Literatur, Theater. Kultursplitter 6 ten unserer Leserschaft. Angefragt haben wir Alle 3 Heftteile – Redaktion, Kulturszene, Agenda 1600 AbonenntInnen mit E-Mail-Adressen, weil – werden häufig, die Agenda am meisten genutzt. Kulturszene 30 eine postalische Befragung zu aufwändig und Die redaktionellen Beiträge zu Film, Kulturpoli- Agenda 49 nicht zeitgemäss gewesen wäre. Wir bedanken tik, Musik, Ausstellungen, Literatur, Theater und uns bei allen, die geantwortet und z.T. ausführli- Stadtentwicklung erfreuen sich besonderer Be- Impressum 72 che Kommentare geschickt haben. Das Erstaun- achtung. Meist dauert die Lektüre des Hefts bis zu Kurse 73 lichste zuerst: Mehr als 400 Formulare wurden einer Stunde, und die Ausgaben werden mehr- ausgefüllt, das sind über 25% – grandios! heitlich von zwei Personen gelesen. Die Gestal- Ausstellungen & Museen 74–77 Hier eine Kurzfassung der wichtigsten Ergebnis- tung gefällt gut, eine Printausgabe wird deutlich Bars & Restaurants 78–79 se: 65% Frauen und 35% Männer lesen die Pro- bevorzugt. grammZeitung. Sie sind 40 bis über 65 Jahre Auf weitere Befunde und Kommentare werden alt, meist angestellt, ein Drittel selbständig und wir gerne in den nächsten Ausgaben eingehen. Februar 2016 | ProgrammZeitung | 3
Redaktion Ein sympathischer Treffpunkt des ‹anderen› Kinos Unterwegs im Büchermeer dagm a r bru n n e r 17 m ic h a e l b a a s 7 Zwischen Bespitzeln und Verschweigen China-Geflüster dagm a r bru n n e r 7 n a n a b a de n be rg 18 Der heilige Rausch des Urwalds a l f r e d s c h l i e nge r 8 Zeitfragen dagm a r bru n n e r 18 Vatersuche a l f r e d s c h l i e nge r 8 Die heisse Kartoffel l i n da s t i bl e r 19 Die Wucht des Unspektakulären a l f r e d s c h l i e nge r 9 ‹Never give up› dagm a r bru n n e r 19 Murers Berg-Trilogie dagm a r bru n n e r 9 Berühren lassen! n a n a b a de n be rg 21 Schubert neu gedacht a l f r e d z i lt e n e r 10 Freier Wille? i r i s k r e t z s c h m a r 21 My Billie & Me ol i v e r lü di 10 Ein Leben für die Kunst i r i s k r e t z s c h m a r 22 Annäherung an eine Tanzlegende a l f r e d z i lt e n e r 11 Kunst & Natur dagm a r bru n n e r 22 Ohrenschmaus dagm a r bru n n e r 11 Wie ein Kind werden h e i nz s ta h l h u t 23 Hilflos vor dem Rätsel des eigenen Lebens Vielschichtige Raumkonzepte f r a nç oi se t h e i s 24 a l f r e d z i lt e n e r 12 Kunstprojekt ‹Euphorie› dagm a r bru n n e r 24 Wir sind hier pav e l b. j i r ac e k 12 Drei Verwandlungen i r i s k r e t z s c h m a r 25 Filmstill aus ‹Suffragette› u S. 19, 38 Mehrgleisig unterwegs a l f r e d z i lt e n e r 13 Grünewald & Hansi pe t e r bu r r i 25 Mutiger Mahner j u l i a voe ge l i n 14 Tanzen mit der Bubikopf-Dame t hom a s oe h l e r 26 Life or style ru d ol f bus sm a n n 14 Profan sakral dagm a r bru n n e r 26 Auf feinem Grat d oro t h e a koe l bi ng 15 Mit alter Technik Neues schaffen dagm a r bru n n e r 27 Poesie-Labors dagm a r bru n n e r 15 Wider die Wegwerfmentalität dagm a r bru n n e r 28 Erstlingssätze c or i n a l a n f r a nc h i 16 Stadtwanderer wa lt e r be u t l e r 28 Dadasophie dagm a r bru n n e r 17 Aufbruch ins nächste Leben t i l o r ic h t e r 29
Kultursplitter Kälte und Berechnung geprägt, Sex ist Macht- diente Grössen wie Pianist Christoph Bau- spiel. Dusty, eine junge Frau, die dazu ge- mann (Bild). Einzigartige Musik im einzig- hören will, versucht Empathie und Wärme artigen Mullbau – das ist eine Reise wert. aufrecht zu erhalten, scheitert jedoch. Das Mullbau-Mini-Festival: Fr 19. & Sa 20.2., 20 h, Mullbau, Theater Karussell stellt sich einer neuen Luzern, Detailprogramm: www.mullbau.ch Herausforderung und hat dem Stück ‹Party- Time› von Harold Pinter eigene Figuren hin- zugefügt. ‹Party-Time›: Premiere Fr 12.2., 20 h, TaKino, Schaan Hans Arp. Wer das Kunstmuseum und die klassische Moderne gut kennt, dem wer- den weder der Name Hans Arp noch die Tatsache, dass dieser mit verschiedenen Werken im Museum unseres Vertrauens Monatstipps der Magazine aus Aarau | Bern | Olten | Luzern | St. Gallen | Vaduz | Winterthur vertreten ist, neu sein. Er war einer der be- deutendsten Vertreter des Dadaismus und Surrealismus, in erster Linie in den Diszip- Kopfleerete. ‹Neues aus dem Kopf›, so heisst linen der Malerei, Bildhauerei und Lyrik. das neue Programm des Lieblings-Ostschwei- Das Kunstmuseum Winterthur widmet ihm zers, Kabarettisten, Sängers und Comiczeich- nun verdientermassen eine ganze Ausstel- Einblicke in den Lageralltag. Die Schweizer ners Manuel Stahlberger. Und wie bereits lung, chronologisch gegliedert in drei Teile Rotkreuzschwester Elsbeth Kasser (1910– bei seinem ersten Soloprogramm ‹Inner- und somit in drei Epochen seines Schaf- 1992) war von 1940–1943 im berüchtigten orts› geht es um sehr schweizerische The- fens. Und wessen Herz sich erst mit einer Flüchtlings- und Internierungslager Gurs in men wie Jassen, missratene Familienferien Prise Promigossip für Kunst erwärmt, voilà: Südfrankreich tätig, wo sie ein Hilfsprojekt oder Cremeschnitten in Kölliken-Nord. Stahl- Arp war ein Onkel des 2014 verstorbenen aufbaute. Aus Dankbarkeit bekam sie viele berger findet immer die richtigen Worte für Udo Jürgens. Zeichnungen geschenkt, die sie in die Schweiz unsere geheimen Sehnsüchte und biederen ‹Hans Arp›: Sa 30.1. bis So 22.5., Kunstmuseum schmuggelte. Kassers Sammlung umfasst Lebensentwürfe. Winterthur, www.kmw.ch etwa 150 Zeichnungen, Aquarelle und Foto- Manuel Stahlberger, ‹Neues aus dem Kopf›: Fr 19. und grafien, die Einblick in den Lageralltag ge- Sa 20.2., 21.30, Café Kairo, Bern. www.cafe-kairo.ch ben und von den schwierigen Umständen dort künden. ‹Ceux de Gurs – Kunst aus dem Internierungslager der Tango Argentino mit Sandra. Die argentinische Sammlung Elsbeth Kasser›: bis So 10.4., Museum im Sängerin Sandra Rehder gilt als eine der Lagerhaus, St. Gallen, museumimlagerhaus.ch wichtigsten Stimmen des musikalischen Pano- ramas von Barcelona. Sie repräsentiert den Tango der jetzigen Generation, den Tango der selbstbewussten und wilden Frauen von heute und interpretiert ihn kraftvoll mit enormer Variationsbreite, zärtlich bis vul- gär, verhalten bis dramatisch, witzig und verspielt. Ausserdem ist sie mit ihrer aus- drucksstarken Stimme auch eine ‹Bühnen- Ein stiller Aarauer im Kunsthaus. Jos Nünlist figur›, die die Gefühle, die sie interpretiert, (1936–2013) war zu Lebzeiten nur einem sichtbar körperlich ausdrückt. kleinen Publikum bekannt. Das lag vor al- ‹Sandra Rehder›: Sa 13.2., 21 h, Galicia Olten lem an seiner stillen und zurückhaltenden Art. Er lebte und arbeitete auf diese Weise seit 1976 in Aarau, bewusst abseits des zeit- genössischen Kunstbetriebes. Es entstan- den vorwiegend kleinformatige, poetische Arbeiten von grosser Prägnanz sowie lyri- sche Texte. Das Aargauer Kunsthaus wid- met dem Einzelgänger jetzt eine intime Ausstellung mit dem Titel ‹Andere Wege› Impro-Jazz-Festival in Luzern. Luzern ist ein und zeigt neben bildnerischen Arbeiten und Mekka der improvisierten Jazzmusik – man Lyrik auch erstmals Auszüge aus seinen denke an Christy Doran, Fredy Studer oder Tagebüchern. Hanspeter Pfammatter – und der Mullbau ist ‹Jos Nünlist. Andere Wege›: Sa 30.1. bis So 10.4., das Haus in Luzern, wo Fans dieser Musik Aargauer Kunsthaus, Aarau, www.aargauerkunsthaus.ch hinpilgern. Am dritten Februarwochenen- Ein Spiel um Macht und Einfluss. Party in einem de findet hier ein Mini-Festival statt. Mit Klub für die gehobene, geschlossene Gesell- dabei sind viele junge Talente wie Corina schaft, in der Affären und Intrigen Zwischen- Schranz (voc), Franziska Brücker (voc) und menschlichkeit vorspiegeln. Die Beziehun- Vincent Glanzmann (dr), aber auch altge- gen zwischen Männern und Frauen sind von 6 | ProgrammZeitung | Februar 2016
Ein sympathischer Treffpunkt des ‹anderen› Kinos m ic h a e l b a a s Das Koki Freiburg erhielt erneut einen Kinopreis. Es entstammt dem Geist der 1968er-Jahre und hat den damals ausgerufe- nen Marsch durch die Institutionen vorbildlich bewältigt: das Kommunale Kino in Freiburg, kurz Koki. Ende 2015 wurde das auf Vereinsbasis operie- rende Haus vom Kinematheksverbund «für ein hervorragendes Programm, das mit Filmreihen zu gesellschaftlichen Themen punktet» ausgezeichnet – und das nicht zum ersten Mal. Seit 2005 taucht die im Alten Wiehrebahn- hof im bürgerlich-alternativen Stadtteil Wiehre verankerte Einrichtung re- gelmässig unter den Preisträgern dieser einzigen Auszeichnung in Deutsch- land auf, um die sich Kommunale Kinos und Filminitiativen bewerben können; mehrfach gab’s gar einen ersten Preis. Der Anspruch kritisch-emanzipativer Begleitung gesellschaftlicher Prozes- se zieht sich wie ein roter Faden durch das Programm. Das beginnt schon in der Gründungzeit. Ende 1972, in einer Phase, in der die Bundesrepublik be- seelt war von Aufbruchsstimmung und dem Mehr-Demokratie-Wagen des damaligen SPD-Bundeskanzlers Willy Brandt, keimte das Koki vor allem in Kreisen der Jungsozialisten. Nach eher erfolglosen Versuchen, die Arbeiter- schaft politisch zu sozialisieren, verlagerte diese Szene ihr Engagement aufs Kulturelle. Das Ziel aber blieb: Es ging um Räume für Reflexion, und den Rahmen dazu boten «besondere Filme», die «klischeehafte, konventio- nelle Seh- und Erzählweisen» sprengen, wie es damals hiess. Dieser Zeit- geist ist inzwischen zwar verflogen, das «andere Kino» – der Anspruch, ästhetischen Wagemut mit politischer Relevanz zu verbinden – wird aber nach wie vor hoch gehalten. Kluge Kooperationen. Der Alte Wiehrebahnhof ist seit nunmehr 35 Jah- ren ein Refugium für Filmkunst ab- und jenseits des Mainstreams. Hier sind Filme zu sehen, die zwar mitunter noch eine Festivalkarriere schaf- fen, aber ansonsten oft im Nirwana des kommerziellen Kulturbetriebs verschwinden. Innovatives, Experimentelles, Sperriges, Provokantes, Un- bekanntes, Vergessenes, Vernachlässigtes, Historisches, Ausgegrabenes, Wiederentdecktes – all das gibt’s noch in dem ehemaligen Bahnhof und das auch systematisch: etwa Reihen zu Themen, Ländern, Personen der Filmgeschichte, Wieder- und Erstaufführungen, und zwar über alle Genres des Filmschaffens und im synchronisationssüchtigen Deutschland auch in den oft seltenen Originalfassungen. In Zusammenarbeit mit anderen Institutionen entstanden zudem Festivals wie die Lesbenfilmtage oder Cine Latino, das lateinamerikanisches Film- schaffen spiegelt, sowie das zweijährliche ‹freiburger film forum›, das 1985 Alter Wiehrebahnhof, Freiburg als Festival des ethnografischen Films begann und heute ein weit über die Leitungsteam des Kokis: Wolfgang Dittrich-Windhüfel, Stadt hinaus relevantes Forum für interkulturellen Dialog ist. Auf Basis Neriman Bayram, Fotos: Klaus Polkowski einer institutionellen Förderung der Stadt von inzwischen rund 260’000 Euro im Jahr sowie davon abhängig weiteren rund 130’000 Euro von der Filmförderung Baden-Württemberg haben fünf festangestellte Teilzeitmit- China-Geflüster arbeitende, eine Reihe Honorar- und Aushilfskräfte und viele leidenschaft- db. Ende der Siebzigerjahre begann Uli Sigg, sich mit chinesi- liche Kino- und Filmfans das Koki zu einem Multiplikator und Motor der scher Gegenwartskunst zu befassen und diese als erster systema- Freiburger Kulturlandschaft gemacht. Und in Verbindung mit dem kleinen, tisch zu sammeln. Der Wirtschaftsjournalist, Unternehmer und kommunikativen Café zu einem sympathischen Treffpunkt, der mit rund Schweizer Botschafter in China (1995–1998) trug die heute welt- 300 Programmen und 750 Vorstellungen im Jahr deutlich über 25’000 Zu- weit bedeutendste Kollektion zusammen, mehr als 2200 Werke schauende erreicht. von etwa 350 Kunstschaffenden. Ein Teil wird nun in einer gros- Kommunales Kino, Urachstr. 40, Freiburg, Filmprogramm: www.koki-freiburg.de sen Schau in Bern gezeigt, zudem kommt ein Dokfilm über Sigg Ausserdem im Alten Wiehrebahnhof, Galerie: Eva Rosenstiel, ‹Paradiesformat 05–15›: (von Michael Schindhelm) ins Kino. Und Herzog & De Meuron bis Mo 29.2. Als Masse inszenierte Massenfotografie, mit Filmprogramm. bauen in Hongkong derzeit das passende Museum (Eröffnung ‹Dada Simultan – 100 Jahre Dada›: Di 23.2., 20 h. 2019), denn Siggs Idee war immer, seine Sammlung ins Ursprungs- Mit Urs Allemann, Michael Braun und Norbert Lange land zurückzubringen. Dokfilm ‹The Chinese Lives of Uli Sigg›: Do 11.2., 12 h, Kultkino Atelier Ausstellung ‹Chinese Whispers›: Fr 19.2. bis So 19.6., Kunstmuseum Bern und Zentrum Paul Klee, Bern, www.zpk.org Februar 2016 | ProgrammZeitung | 7
Der heilige Rausch des Urwalds a l f r e d s c h l i e nge r Vatersuche a l f r e d s c h l i e nge r Spielfilm ‹Die Schwalbe›. Dem aus dem syrischen Kurdistan stammenden Mano Khalil verdanken wir zwei vielfach preis- gekrönte Dokumentarfilme, ‹Unser Garten Eden› und ‹Der Imker›. Nun legt der 51-Jährige mit ‹Die Schwalbe› seinen ersten Spielfilm vor, dem zu- gleich die Ehre zukam, die diesjährigen Solo- thurner Filmtage zu eröffnen. Darin reist eine junge Schweizerin auf der Suche nach ihrem Va- ter ins irakische Kurdistan. Denn zufällig ist sie auf Briefe gestossen, die darauf hinweisen, dass ihr Vater noch lebt – und nicht, wie ihre Mutter sie glauben machte, im Kampf gegen Saddam Hussein als Held gefallen ist. Auch von ihrem Freund, der sie für verrückt erklärt, lässt sie sich Der Spielfilm ‹El abrazo de la serpiente› dokumentiert Filmstills aus nicht aufhalten. Dieser entschiedene Aufbruch ‹El abrazo de kunstvoll eine versunkene Zeit. la serpiente› der gelernten Fotografin hat Kraft. Kann ein Schwarzweiss-Film die Sinnlichkeit seines Sujets noch steigern? (oben) und Die Dramaturgie des Films wirkt allerdings et- Aber sicher – falls man so filmen kann, wie es der Kolumbianer Ciro Guerra ‹Die Schwalbe› was holzschnittartig. Die Verhältnisse im Irak tut. In ‹Der Kuss der Schlange› dringt er mit seiner Kamera tief in einen sind erwartbar undurchsichtig, aber das Dreh- Amazonas-Urwald ein, wie es ihn heute nicht mehr zu erleben gibt. In einer buch sorgt dafür, dass Mira (Manon Pfrunder) in kunstvoll stilisierten Form der Reportage folgt der 35-jährige Filmer zwei Ramo (Ismael Zagros) sofort einen hilfsbereiten Forschungsreisenden, die zu unterschiedlichen Zeiten in dieser grünen deutschsprachigen Fahrer und Übersetzer fin- Lunge der Erde nach der verborgenen Wunder- und Heilpflanze Yakruna det. Dass dieser ganz andere Ziele verfolgt, als suchen. Um 1909 ist es der deutsche Anthropologe Theodor Koch-Grün- sie ihrem Vater zuzuführen, sorgt für ein Quan- berg, der hier an Malaria erkrankt, woran er später sterben wird. 1940 folgt tum Spannung – und dass sich die beiden nach der Amerikaner Richard Evans Schultes, der Vater der Ethnobotanik, die- ein paar Neckereien auch menschlich näher sen Spuren, begleitet vom gleichen Schamanen Karamakate, der schon den kommen, für eine Brise Romantik. Deutschen durch diesen Dschungel geführt hat. Der Film streift die archaischen Strukturen des Der Film ist inspiriert von den Tagebüchern dieser beiden Forscher, nimmt gebeutelten Landes und wirkt phasenweise wie aber einen entscheidenden Perspektivwechsel vor, indem er ganz aus der ein Doku-Roadmovie durch die wunderbar kar- Optik der Indigenen erzählt wird. ‹Der Kuss der Schlange› ist nicht nur ein gen Landschaften. Manon Pfrunder überzeugt berückend schönes empathisches Dokument, sondern nimmt uns auch mit mit ihrer frischen, hartnäckigen Art als neues auf einen wahren Trip, bei dem sich die Zeiten und Räume vermischen wie Gesicht im Schweizer Film. Den voraussehbaren in einem halluzinogenen Traum. Schluss hätte man sich allerdings gerne etwas Teilnehmender Blick. Da sind der Klang des Urwalds, das Rauschen des dilemmaartiger gewünscht. omnipräsenten Flusses, das geschmeidige Gleiten der Kanus, das Pirschen Der Film läuft ab Do 4.2. in den Kultkinos u S. 38 des imposanten Schamanenkörpers durchs Dickicht, die Nacht und der Tag, Krankheit und Erschöpfung, der wütende Missionar in der ‹christlichen› Umerziehungsstation, das räuberische Geschäft der Kautschuk-Barone, ein durchgeknallter Messias mit seiner Sekte, die unbeschwerte Fröhlichkeit der Einheimischen, die dunkle Macht der eindringenden Zivilisation – dies alles und mehr fängt Ciro Guerra mit einem unverstellt teilnehmenden Blick ein, als wäre er der Erste, der hier vorbeischaut, oder besser: als wäre die Kamera immer schon vor Ort gewesen. Karamakate ist der letzte Überlebende seines von den Weissen massakrier- ten Stammes. Seine zwiespältige Führerrolle stürzt ihn über die Jahrzehn- te in tiefe Identitätszweifel, die ihm sein Erinnerungsvermögen rauben. ‹Der Kuss der Schlange› schafft den Zauber, ihm – und damit auch uns – diese Erinnerungen zurückzugeben. In der Quinzaine des Réalisateurs von Cannes wurde das Werk als bester Film ausgezeichnet und steht nun auch auf der Shortlist für den besten nicht englischsprachigen Film im Oscar- Rennen. Ein Seh-Abenteuer, ob mit oder ohne Preis. Der Film läuft ab Do 4.2. in den Kultkinos. 8 | ProgrammZeitung | Februar 2016
Die Wucht des Unspektakulären a l f r e d s c h l i e nge r Der Spielfilm ‹La loi du marché› taucht in die Kampf- zonen am unteren Ende der Gesellschaftspyramide ein. Das Besondere dieses Films ist nicht das Schicksal, das er uns präsentiert. Davon gibt es Hunderttausende. Das Be- sondere ist die Art und Weise, wie er es einfängt. Stéphane Brizé (bei uns spätestens bekannt seit seiner subtilen ‹Ma- demoiselle Chambon› von 2009) begibt sich in die Niede- rungen eines Langzeitarbeitslosen auf Jobsuche und folgt seiner Figur auf Schritt und Tritt. Thierry (Vincent Lindon) ist ein 51-jähriger Familienvater, der seit 20 Monaten ohne Arbeit ist, sich Weiterbildungs- programmen unterzieht, die sich als nutzlos erweisen, und von all den Absagen so erschöpft und gedemütigt ist, dass er sich auch nicht mehr am Kampf der Gewerkschaftskum- pels für mehr Gerechtigkeit beteiligen mag. Schliesslich nimmt er einen Job weit unter seinem Niveau als Waren- haus-Detektiv an. Hier hat er nicht nur die Kundschaft zu überwachen, sondern auch seine Kolleginnen an den Kas- sen. Für Bagatellvergehen im Mikro-Bereich, die Thierry an seinen Überwachungskameras dokumentieren muss, wer- den diese Frauen entlassen. Die Hilfs-Chargen werden be- nutzt für die Denunzierung der noch tiefer Klassierten. Das stürzt Thierry in ein stummes Dilemma. Kunst der Beobachtung. Stéphane Brizé zeigt die Gesetze des Marktes auf seiner untersten Stufe. Das macht er ganz unaufgeregt, indem er diese Prozesse kühl und schmucklos Filmstill aus ‹La loi de dokumentiert, ohne sie direkt zu kommentieren. Die schlei- Stéphane Brizés ‹La loi du marché› praktiziert einen extre- marché› chende Empörung muss sich ganz in der Zuschauerin, im men Realismus unter Verzicht auf jede Poetisierung und ist Zuschauer selber aufbauen. Es gibt wenige Filmer, die sich doch keine Sekunde langweilig, wenn man sich auf dieses thematisch mit diesen fast banal erscheinenden Vorgängen Konzept einlassen kann. Das Unspektakuläre wird zum Er- am unteren Ende der Gesellschaftspyramide beschäftigen. eignis. Ein Bewerbungsgespräch wird über Skype geführt Ken Loach gehört zu ihnen oder die Brüder Dardenne, etwa und so gefilmt, dass der Chef nicht als Person, sondern nur in ‹Deux jours, une nuit› (2014) mit Marion Cotillard in der als Maschine erlebbar wird. Im Kurstraining zur Auftritts- Hauptrolle. kompetenz geben die Teilnehmenden selber ihr Feedback Aber sowohl Loach wie die Dardennes bauen deutlich mehr an Thierry und überbieten sich dabei in Negativkaskaden. Geschichte, mehr Dramaturgie ein, als es sich Brizé erlaubt. So sind wir am Schluss dieses Films alle wieder auf uns Er scheint mit oft etwas unruhiger Kamera nur zu beobach- selbst zurückgeworfen und auf die unangenehme Frage, in- ten, einzufangen, was sich scheinbar zufällig ergibt. Das ist wiefern wir selber dazu beitragen, menschenverachtende natürlich grosse, karge Kunst. Die Orte sind so unattraktiv, Gesetze des Marktes mit aufrechtzuerhalten. Eine bittere wie sie eben sind, enge Wohnung, trostlose Büros, unan- Bilanz. Sofern man sich ihr stellen will. sehnliche Warenhausgänge, beklemmender Verhörraum. Der Film läuft ab Do 4.2. in den Kultkinos u S. 38 Selbst das Tanzstudio hat nichts Befreiendes. Die Personen auf den verschiedenen Hierarchiestufen – übrigens alles Laien, die umwerfend echt agieren – sind keine Unmen- schen. Und auch die Verhöre laufen formell korrekt ab. Alle machen ihren Job – aber ohne ihn zu hinterfragen. Verzicht auf Poetisierung. Dadurch liegt sehr viel Last Murers Berg-Trilogie auf den Schultern von Vincent Lindon als Thierry, der prak- db. Er gilt unter Fachleuten als der beste Schweizer Film aller tisch in jedem Bild präsent ist. Die Regie erliegt nicht dem Zeiten, Fredi M. Murers ‹Höhenfeuer› von 1985. Nun hat Trigon- Fehler, ihn zum Helden oder zum reinen Opfer zu stilisie- Film-Direktor Walter Ruggle dieses Meisterwerk in einer DVD- ren. Sie lässt ihn seine Figur mit äusserster Zurückhaltung Box jüngst neu herausgegeben, kombiniert mit Murers Bergbau- spielen. Man muss die Regungen in seinem Gesicht fast ern-Doku ‹Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, mehr erahnen, als man sie sieht – und spürt doch hautnah, dass wir da sind› von 1974 und ‹Der grüne Berg› von 1990 über wie es in ihm brodelt. Am Filmfestival von Cannes wurde den wachsenden Widerstand gegen ein geplantes Atommüll- Vincent Lindon für diese eindrückliche Leistung als bester Endlager in Nidwalden. Begleitet wird die Edition, die zum Hauptdarsteller ausgezeichnet. 75. Geburtstag Murers erschien, von einem informativen Booklet. Fredi M. Murer, ‹Die Berg-Trilogie›, Atalante Filmedition, CHF 49 Februar 2016 | ProgrammZeitung | 9
Schubert neu gedacht a l f r e d z i lt e n e r Das Kammerorchester Basel vollendet unter Mario Venzago Schuberts ‹Unvollendete›. «Wow!» – ein Ruck sei durch das Ensemble gegangen, als das Kammerochester Basel (KOB) vor zwei Jahren erstmals nach langer Zeit wieder von Mario Venzago dirigiert wurde, erzählt KOB-Geschäftsführer Marcel Falk, und die MusikerInnen seien sich einig gewesen, dass sie diese Zusammenarbeit unbedingt fortsetzen wollten. Auch dem Publikum und der Kritik ist das Konzert vom Januar 2014 in Erinnerung geblieben, vor allem die Wiedergabe von Schu- berts Sinfonie C-Dur D 944, der sogenannten ‹Grossen›. Auf der Grundlage der historisch informierten Aufführungs- praxis dirigierte Venzago damals einen aufregenden Schu- bert von heute, die energetisch aufgeladene Musik eines aufmüpfigen Feuerkopfs. Der 1948 in Zürich geborene Venzago war u.a. Chefdirigent des Sinfonieorchesters Basel (1997–2003); seit 2010 steht er dem Berner Symphonieorchester vor und dirigiert an der Berner Oper. Venzago ist kein Pultstar – dafür fehlt ihm das Talent, sich selbst zu vermarkten –, doch er hat musikalisch mehr zu sagen als mancher seiner hochgehypten Kollegen. Er setzt sich intensiv mit der Musik auseinander, die er diri- giert, begegnet ihr aber auf dieser Basis mit der Freiheit eines eigenständigen (Quer-)Denkers, der in Bern etwa Carl Maria von Webers ‹Freischütz› mit den Rezitativen auf- führte, die Hector Berlioz für die Pariser Oper nachkompo- Mario Venzago, Foto: Remo niert hat. Und er vermag der Musik mitreissendes Leben komponierte Zwischenakt aus der Schauspielmusik ‹Rosa- Neuhaus einzuhauchen. munde› ursprünglich als Schlusssatz gedacht war. Den Verlorene Viersätzigkeit hörbar machen. Nun kehrt Ven- meist sehr langsam dirigierten Kopfsatz sieht Venzago als zago zum KOB zurück – wieder mit Schubert und einem dramatische Einleitung nach dem Modell Beethovens. Es ungewöhnlichen Projekt, nämlich seiner Vollendung der wird spannend sein, die scheinbar allzu bekannte Sinfonie sogenannten ‹Unvollendeten›, der Sinfonie h-Moll D 759, ganz neu zu hören. von der nur die ersten beiden Sätze ganz erhalten sind. Werke von Schubert und W.A. Mozart ergänzen das Pro- Das Autograph des dritten bricht plötzlich ab. Einzelne gramm. Solistin ist die junge Luzerner Sopranistin Regula Fachleute behaupten, dass Schubert nur zwei Sätze geplant Mühlemann, die am Anfang einer grossen Karriere steht. habe; die Handschrift ist für Venzago der Beweis des Ge- ‹Unvollendet vollendet›: Fr 4.3., 19.30, Stadtcasino (KOB-Konzert 6), genteils. Wie andere vor ihm nimmt er an, dass der etwa Einführung 18.45 mit Florian Hauser u S. 43 gleichzeitig in derselben Tonart und Instrumentierung My Billie & Me knüpfen. In diesen wird u.a. nach Schätzen im Regal oder Fehlkäufen gefragt, nach Büchern falls, der sich, wie schön, auch in deren Lese- und Lauschfrüchten widerspiegelt. Seien es ol i v e r lü di und Platten für die Ewigkeit oder mit Scham Frank Spilker von ‹Die Sterne› oder Françoise Über Bücher, Platten und Regale. behafteten Jugendsünden, welchen Einfluss Cactus von ‹Stereo Total› auf Musikseite bzw. 20 Bücher- und Plattenregale, 20 Interviews über Bücher aufs Musikschaffen bzw. Musik aufs Vea Kaiser (‹Blasmusikpop›; Platz 1 der ORF-Bes- nichts als Bücher und Platten – kann daraus ein Schreiben haben. Dabei zeigt sich, dass die Be- tenliste) oder Franz Dobler (Deutscher Krimi gescheites Buch werden? Aber ja, wenn es so fragten im Sprechen über Bücher und Platten Preis 2015) auf jener der Schreibenden, bei allen schön, einfach und mit Liebe gemacht ist wie (oder Kassetten, CDs, Tondateien) natürlich über finden sich Betrachtungen über das sinnvolle dieses: ‹About My Shelf›. sich selbst sprechen, wir den Menschen vor dem Ordnen von Büchern und Platten, Liebeser- Die Schönheit liegt dabei in der klaren, stilsiche- Regal kennen lernen, vielleicht exemplarisch in klärungen und Geständnisse über das Scheitern ren Gestaltung, und Einfachheit finden wir im der Frage, wie die Interviewten ihre Biografie (an Lektüren); Hymnen auf die Schallplatte und Konzept, das eben darin besteht, 10 Musikerin- nach Alben darstellen würden. eben jede Menge Anregungen. Noch selten habe nen und Musiker über ihre Bücher und 10 Schrei- Bei den Künstlerinnen und Künstlern handelt es ich mir Fotos so genau angeschaut … und so viele bende über ihre Platten sprechen zu lassen, ihre sich nicht um die Kehlmanns und Grönemeyers unbekannte Titel notiert. Dann über das eigene Regale als doppelseitige Fotos abzubilden (es ist deutschsprachigen Text- und Musikschaffens. Regal sinniert – wo es noch Platz gibt. erstaunlich, wie viel ein Regal über einen Men- Sondern um teils schon etablierte Avantgarde, ‹About My Shelf›, Verlag von Wegen, Köln 2015. schen aussagt!) und daran Interviews anzu- falls das kein Widerspruch ist, ein Befund jeden- 164 S., br., Euro 15, www.verlagvonwegen.de 10 | ProgrammZeitung | Februar 2016
Annäherung an eine Tanzlegende a l f r e d z i lt e n e r Chris Leuenberger und Marcel Schwald zeigen das Tanztheater ‹Kreutzberg›. Ohrenschmaus Mit Harald Kreutzberg kam 1955 die tänzerische Avantgarde nach Bern. dagm a r bru n n e r Zusammen mit der Choreografin Hilde Baumann gründete der internatio- Von Barock bis Rock. nal gefeierte Star des deutschen Ausdruckstanzes hier eine Schule, in der Das kleine Aargauer Dorf Boswil verfügt seit lan- neben klassischem Ballett auch zeitgenössischer Tanz gelehrt wurde – was gem über eine Kulturperle, die einen Ausflug damals höchst ungewöhnlich war. Gelegentlich arbeitete er auch als Cho- dorthin allemal lohnt. Im Künstlerhaus und der reograf, etwa mit einem ‹Berner Totentanz› vor dem Münster, in dem er Alten Kirche gastieren arrivierte und talentierte selber als gespenstischer Tod mitwirkte. Berühmt geworden war er aber Musikschaffende der Klassikszene, die am vor allem mit Soloauftritten, die durch ihre emotionale Tiefe und ihren ‹Boswiler Sommer› oder an ‹Meisterkonzerten› künstlerischen Ernst fesselten. 1968 starb er 65-jährig in Muri. auftreten, zudem werden verschiedene Jugend- In ihrem Tanztheater ‹Kreutzberg›, das im vergangenen September in der orchesterprojekte gefördert. Die Reihe ‹Meister- Dampfzentrale Bern erstmals gezeigt wurde und nun in der Kaserne Basel konzerte› bietet bis Ende Jahr 7 hochkarätige An- gastiert, versuchen der Basler Regisseur Marcel Schwald und der Berner lässe mit Musik aus verschiedenen Epochen, die Tänzer und Choreograf Chris Leuenberger eine Annäherung an die kom- von bekannten Ensembles und Namen wie Julia plexe Persönlichkeit des Tanzpioniers. Dafür haben sie vier ehemalige Fischer (Geige), Tine Thing Helseth (Trompete) Berner Schülerinnen Kreutzbergs gewinnen können. Die 83-jährige Hilde oder der jungen Mariam Batsashvili (Piano) ge- Niederer steht selbst auf der Bühne; die Aussagen der anderen kommen, spielt wird. Begleitveranstaltungen beleuchten von Schauspielerinnen gesprochen, vom Band. Sie erzählen von ihrer nai- Aspekte des Programms, und nach den Konzer- ven Verehrung für den Lehrer, von seiner Bereitschaft, undogmatisch auf ten kann man bei Bedarf vor Ort köstlich spei- die Individualität jeder einzelnen Schülerin einzugehen und von seiner be- sen; frühzeitige Reservation empfohlen. – dingungslosen Hingabe an die Kunst, die er auch von ihnen forderte: «Wir Die Basler Camerata variabile unter der Leitung waren schrecklich idealistisch. Und schrecklich rein.» von Helena Winkelman hat die aktuelle Saison Vorzeigekünstler. Doch die «reine Kunst» hatte ihre Kehrseite: Presse- den Elementen gewidmet und tourt damit auszüge dokumentieren die Vereinnahmung des ‹unpolitischen› Kreutzberg durchs Land. Mit Feuer und isländischer Musik durch die Nazis, die ihn als Vorzeigekünstler durch die Welt schickten. Die begann es im letzten November, nun kommt es Gräuel des Dritten Reichs werden wie in Schnappschüssen evoziert – «der noch vor Luft, Wasser und Erde zu einem Abend Blick in die Welt aus der Enge des Tanzstudios» kommentiert polemisch über den Äther, die ‹Quinta Essentia›. Zu hören eine Stimme. sind Kompositionen von Zeitgenossen und Musik Zwar gibt es (wenige) Filmdokumente von Kreutzbergs Kunst, doch Leuen- des 18. Jahrhunderts. – berger verzichtet in seiner Choreografie auf Zitate und formt aus dem Be- Als Bordkapelle im Film ‹Titanic› (1997) sind sie wegungsmaterial ein neues Stück für die Tänzerin Jenny Beyer, sich selbst breit bekannt geworden, seit 1981 konzertieren und Hilde Niederer, die ihnen gelegentlich die Gesten ihres Lehrers zu ver- sie im Quintett: I salonisti. Das Berner Ensemble mitteln scheint. Die Jungen tanzen ausgezeichnet. Doch es ist die alte ist enorm vielseitig und kombiniert seine Musik- Dame, die eigentlich die Aufführung trägt, mit ihrer tänzerischen Anmut, programme gerne mit literarischen Kommenta- ihrem feinen Humor und ihrer menschlichen Ausstrahlung. Mit einem kur- ren. Nun sind I salonisti mit ‹Orient Express› in zen Solo ganz ohne Musik oder Geräusche setzt sie den berührenden unserer Region und lassen die ‹Belle Epoque› Schlusspunkt des Abends. ‹Kreutzberg›, aufleben, mit Texten und Kompositionen der ‹Kreutzberg›: Do 25. bis Sa 27.2., 20 h, Kaserne Basel u S. 44 Foto: Adam vorletzten Jahrhundertwende (19./20. Jh.). – Beyer Im April wird uns das Jazzfestival Basel erneut mit Rhythmen aus aller Welt beglücken, davor aber macht noch ein Gitarrenvirtuose seine Auf- wartung, der schon lange erfolgreich und in verschiedenen Formationen unterwegs ist: Al di Meola. Der sympathische US-Amerikaner mit italienischen Wurzeln stellt sein ‹Elysium›- Projekt vor, in dem er mit seiner Gruppe souve- rän Jazz-, Rock- und Latin-Elemente zu einem komplexen Sound verwebt. ‹Boswiler Meisterkonzerte›; ab So 21.2., 17 h (Vivaldi- Programm), www.kuensterhausboswil.ch ‹Quinta Essentia – Äther›: Do 4.2., 20 h, Gare du Nord u S. 40, www.camerata-variabile.ch I salonisti, ‹Orient Express›: Do 4.2., 20 h, Goetheanum, Dornach u S. 46, www.salonisti.ch Off Beat mit Al di Meola Group, ‹Elysium›: Di 23.2., 20 h, Volkshaus u S. 42 Februar 2016 | ProgrammZeitung | 11
Hilflos vor dem Rätsel des eigenen Lebens a l f r e d z i lt e n e r Der Regisseur Antonio Latella arbeitet erstmals am Theater Basel. Der 1967 in Kampanien geborene Theatermann Antonio Latella ist ein Wan- Wir sind hier derer zwischen der italienischen und der deutschsprachigen Kultur. Er lebt pav e l b. j i r ac e k in Berlin, arbeitet regelmässig in Italien, u.a. mit seiner eigenen Compagnia Kolumne Theater Basel. stabilemobile in Neapel, mehrere seiner Arbeiten wurden mit dem italieni- Neulich habe ich mich in der Altstadt verlaufen. schen Theaterpreis Premio Ubu ausgezeichnet; er hat in Köln inszeniert – Die Proben im Theater hatten länger gedauert, und bei Andreas Beck am Schauspielhaus Wien. Dieser holte ihn ans Thea- es war schon dunkel geworden und ich – nach ter Basel, wo er nun ‹Ödipus› nach Sophokles erarbeitet und seine Wiener vier Monaten in der Stadt immer noch ein ‹Neu- Inszenierung ‹Die Wohlgesinnten› nach dem Roman von Jonathan Littell Basler› – hatte gedankenversunken die Orientie- wieder aufnimmt. rung verloren. Als ich kurz innehielt, um mich zu Latellas Theater gilt als sehr körperlich. Er selbst relativiert jedoch: Er habe sammeln, durchbrach völlig unvermittelt ein zwar früher eine ‹Medea› fast ohne Worte inszeniert, doch je älter er werde, ohrenbetäubender Klang aus dem Haus gegen- desto wichtiger werde ihm die Sprache; diese habe ihren Sitz aber nicht im über die Stille. Heerscharen von Piccolo-Flöten Intellekt, sondern im Körper, der sei ihr Resonanzraum. Es brauche also schienen jäh aus einem Dornröschenschlaf er- eine Einheit von Sprache und Körper, selbst wenn dieser bewegungslos sei. wacht zu sein, um nun frech-fröhlich ihr Dasein Wesentlich ist in seinen Arbeiten auch die Musik – nicht als Begleitung, zu verkünden. Das kannte ich bislang nur vom präzisiert er, sondern als Mitspielerin. Hörensagen! Just an diesem Morgen hatte mir Heilsame Mythen. Für ‹Ödipus› hat er mit dem Dramaturgen Federico meine Nachbarin noch zugeraunt: «Bald ist Fas- Bellini «mit grossem Respekt vor Sophokles» eine neue Textfassung er- nacht. Das wird ein grosses Fest!» und dabei ge- stellt. Ödipus sei für ihn nicht schuldig, betont er, sondern ein Mensch, heimnisvolle Worte wie ‹Schnitzelbängg›, ‹Gugge- der ratlos vor dem Geheimnis seines Lebens steht, dem ersten Rätsel, das muusig› oder ‹Clique› verwendet. der Sphinx-Besieger nicht lösen kann. Aufgewertet wird die Mutter/Gattin Und wie ich der Musik lauschte, überfiel mich Iokaste. Sie ist von Anfang an auf der Bühne, einem bürgerlichen Schlaf- plötzlich ein überbordendes Gefühl von Glück, zimmer, und erlebt alles mit. Aus dem Weg des Ödipus zur Katastrophe denn ich (als nomadischer Operndramaturg) wird der gemeinsame Weg des Paars. Das Paar sei ein Mysterium, sagt fühlte mich erstmals seit langen Jahren daheim. Latella, denn die Treue sei im Menschen ursprünglich nicht angelegt. Mit grosser Dankbarkeit dachte ich an die wun- Das Motiv des Inzests verbindet ‹Ödipus› mit den ‹Wohlgesinnten›. Latella derbaren Begegnungen und Eindrücke der ers- und Bellini haben Littells figurenreichen Roman auf drei Personen redu- ten Monate in Basel. Und ich war berührt von der ziert und erzählen ausführlich von der inzestuösen Liebe zwischen Maxi- Tatsache, dass es lediglich ein paar Töne ver- milian Aue und seiner Schwester. Mit dem Freund Thomas bilden sie ein mocht hatten, derart starke Emotionen in mir Dreieck, das dem von Orestes, Iphigenie und Pylades im griechischen My- auszulösen. Aber war dies verwunderlich? Ist thos entspricht. Medea – Ödipus – Orestes: Die Mythen sind für Latella nicht genau dies die Magie von Musik: dass sie Spiegel, in denen er sich selbst findet und Klarheit über seine Position in der uns emotional öffnet und Empfindungen hervor- Welt erhält. «Alle paar Jahre einen Mythos zu inszenieren, spart den The- bringt, die in uns schlummern? Gerade in der rapeuten», flachst er am Schluss unseres Gesprächs. Oper können die Gefühle überwältigend sein! ‹Ödipus›: ab Fr 5.2., 20 h, Theater Basel, Schauspielhaus Ist die Oper vielleicht genau deswegen das ge- ‹Die Wohlgesinnten›: ab Do 11.2., 19 h, Kleine Bühne u S. 45 eignetste Gegenmittel für eine emotional ab- stumpfende, nüchterne, empathielose Gegen- wart? Bräuchten wir alle nicht viel mehr Oper in unserem Leben? Mehr Pathos? Ich ging ein paar Schritte weiter und schloss die Augen. In der Fer- ne vernahm ich das Quietschen einer Tram und fragte mich, ob sie wohl grün oder gelb war und ihr Weg nach Frankreich oder Deutschland führ- te. Es war mir egal, weil ich wusste, wo ich mich befand: mitten in Basel. Mitten in einer unfass- bar schönen Stadt mit grosser Geschichte, die voller Geschichten steckt, die erzählt werden wollen. Und darum sind wir hier. Pavel B. Jiracek (34) ist seit der Spielzeit 2015/16 Operndramaturg am Theater Basel. In ‹Wir sind hier› gibt das neue Team am Theater Basel Einblicke in seine Arbeit und Ansichten. Antonio Latella, Foto: Brunella Giolivo 12 | ProgrammZeitung | Februar 2016
Mehrgleisig unterwegs a l f r e d z i lt e n e r Das Neue Theater beim Dornacher Bahnhof wird 15 Jahre alt. Es war ein Risiko, als Georg Darvas und Stefan Weishaupt in einem ehemaligen Kino in Dornach vor 15 Jahren, am 8. Februar 2001, mit Shakespeares Komödie ‹Was ihr wollt› ihre eigene Bühne eröffneten, das Neue Theater am Bahn- hof. Das Wagnis lohnte sich: Heute ist ‹neuestheater.ch›, wie es jetzt heisst, eine feste Grösse im regionalen Kultur- leben und verfügt seit Herbst 2015 über ein technisch her- vorragend eingerichtetes Haus mit rund 200 Sitzplätzen. Die Leitung teilen sich Darvas und Johanna Schwarz. Sie betonen, dass das Theater im Lauf der Jahre viel Unter- stützung erhalten hat von den Gemeinden, den Kantonen Solothurn und Baselland, von Sponsoren und Stiftungen. Auch hervorragende, in der Region verankerte Kunstschaf- fende – wie Urs Bihler, Hubert Kronlachner, Nikola Weisse, Jörg Schröder – haben das intime Haus für sich entdeckt und sind regelmässig aufgetreten. Bald wurde das Angebot erweitert. Magnet Musiktheater. Im Mai 2003 zeigte das neu ge- gründete Jugendtheater Neues Theater am Bahnhof unter Darvas Shakespeares ‹Sommernachtstraum›; seither ist jede Spielzeit eine Produktion mit jungen Darstellenden entstanden. Heute heisst die Einrichtung Jugendtheater ‹Youth›, Junges M und wird von der Schauspielerin und Regisseurin Foto: Cornelius Sandra Löwe geleitet. Hunziker In der Saison 2004/5 machte das Haus zudem erfolgreich den Schritt zum Musiktheater, mit der Operette ‹Die Fle- Darüber hinaus wird ‹neuestheater.ch› Kooperationen mit dermaus› von Johann Strauss. Es folgten Opern wie Doni- anderen Kulturbetrieben eingehen, etwa mit dem Theater zettis ‹Don Pasquale›, Glucks ‹Orfeo ed Euridice› und jüngst Orchester Biel Solothurn (TOBS). Doch auch in der engeren die Uraufführung des Mozart-Pasticcios ‹Da Ponte in New Region interessieren sich mögliche Partner für das Haus, York›. Für Kontinuität sorgt dabei der Dirigent und Arran- denn ein Spielort dieser Grössenordnung fehlte bisher. So geur Bruno Leuschner, der die Partituren jeweils für ein will das Theaterfestival Basel im Herbst hier drei Auffüh- kleines Instrumentalensemble bearbeitet und die Auffüh- rungen zeigen. Schwarz bringt es auf den Punkt: «Das Haus rungen leitet. «Erstaunlicherweise kam zu Beginn mehr als wurde für uns gebaut, nun zeigt sich, dass es ein Bedürfnis die Hälfte des Publikums aus der Stadt», ergänzt Schwarz, der ganzen Region abdeckt.» «erst das Musiktheater hat das Interesse des regionalen Theater-Tagträume. Der Februar bringt zunächst die Pro- Publikums geweckt.» duktion des Jugendtheaters. ‹Youth. Containing dreams Koproduktionen, Kooperationen. Und wo steht das The- No. 2› heisst der Abend, den Sandra Löwe mit dem Ensem- ater heute? «Wir waren nie ein ausgesprochener Gastspiel. ble erarbeitet hat. Während sich ‹No. 1› von 2011 um nächt- betrieb», sagt Darvas, «wir haben keine Produktionen ein- liche Träume drehte, geht es nun um Tagträume, Visionen, gekauft, ausgewählte Gastspiele waren die Ausnahme. Da- Utopien. Ein halbes Jahr arbeitet Löwe jeweils mit den Mit- für gab es Koproduktionen.» Das soll so bleiben. In jeder wirkenden im Alter von 14 bis 28 Jahren in einem Theater- Saison sind eine Musiktheaterproduktion, ein Schauspiel kurs. Im zweiten Vierteljahr finden dann die eigentlichen und eine Aufführung des Jugendtheaters vorgesehen. Proben statt. Dabei wird immer von existenziellen Fragen Daneben soll das Haus Gruppen zur Verfügung stehen, die ausgegangen: Wer bin ich? Wo stehe ich in der Welt? In den hier Neues, Experimentelles ausprobieren wollen. Dazu sehr persönlichen Diskussionen schält sich mit der Zeit das gehört die ‹Stückbox›: Viermal im Jahr erarbeitet ein Thema des kommenden Stücks heraus. Manchmal wird Team um die Regisseurin Ursina Greuel die szenische Auf- schliesslich ein bestehender Text genommen; diesmal wer- führung eines neuen Theatertexts, aktuell etwa Dmitrij den u.a. Texte der Lyrikerin Erika Burkart, aber auch von Gawrischs ‹Brachland› um zwei Brüder, die in der Schweiz den Teilnehmenden collagiert. Asyl suchen, und eine Ärztin, die sich für sie einsetzt. Un- Im Frühling gastiert dann die Johann Strauss-Operette gewöhnliches bringt die Konzert-Reihe ‹Steinklang›. In ‹Wiener Blut› der Komischen Oper Leipzig. Und ein kurzer unterschiedlichen Besetzungen bis hin zum Zürcher Stone ‹Tanzsommer› rundet die Saison ab. Orchestra, wird die Klangvielfalt der Steine hörbar ge- ‹Youth›, Junges M: Do 25.2., 20 h, bis So 6.3., Dornach u S. 47 macht. Auch I Pelati delicati und das Theaterkabarett Open House zum 15. Geburtstag: Mi 3.2., 19.30, www.neuestheater.ch Birkenmeier sind vor Ort präsent. Februar 2016 | ProgrammZeitung | 13
Mutiger Mahner j u l i a voe ge l i n stöbert: Es gibt z.B. Speere, Blasrohre, Matten und Lenden- schürze, die der engagierte Naturschützer während der sechs Jahre bei den Penan angefertigt hat. Aber auch un- zählige Stunden Dschungelgeräusche hat er auf Tonband festgehalten, die von der Musikerin Séverine Cayron künst- lerisch aufbereitet werden. Von der Natur leben. Um diese hörbaren und dinglichen Erinnerungen windet sich nun ein Theatertext, den der Regisseur mit der Autorin und Dramaturgin Renata Burck- hardt verfasst hat. Grundlage und Herzstück der Doku-Per- formance bilden Teile der kunstvoll gestalteten Tagebücher des Urwaldaktivisten. «Ich möchte wissen, ob es möglich ist, nur von der Natur zu leben», schreibt Manser im ers- ten der insgesamt 16 Tagebücher, die der Christoph Merian Verlag 2004 in vier Bänden veröffentlicht hat. Schon früh faszinierte ihn die Überlebenskunst eines autarken Vol- kes, weshalb er sämtliche Handwerke erlernte. So stieg er kurz nach der Matur auf eine Alp und wusste schon bald zu Bruno Manser, melken, gerben und drechseln. Fähigkeiten, die sein Leben Foto: Bruno Manser Fond im Urwald sicherten, das er auf ein Minimum reduzierte – ohne Geld, mit praktisch nichts. Ein Stück über den Urwaldschützer Bruno Manser. ‹Kunst der Bedürfnislosigkeit› nennt sich denn auch die Pro- Bei den Penan auf Borneo hatte er in den 1980er-Jahren duktion, die Mansers Biografie chronologisch aufrollt und sein Paradies gefunden, für das er später sein Leben riskie- damals wie heute dringliche Fragen des Konsums, der Un- ren sollte: Regenwaldschützer und Menschenrechtsaktivist abhängigkeit, überhaupt der Lebensform unserer Gesell- Bruno Manser. Der vielseitig talentierte Naturliebhaber ist schaft stellt. Dabei beleuchten die Theaterleute auch sein in Basel aufgewachsen und vor 15 Jahren spurlos im Urwald weltweites politisches Engagement für die Penan, deren von Malaysia verschwunden. Hinterlassen hat er ein um- Lebensgrundlage durch die Holzindustrie mehr denn je be- fangreiches Archiv, das der 1991 gegründete und nach ihm droht ist. Gesucht hatte Manser ein einfaches Leben in der benannte Fonds betreut und Mansers Kampf gegen die Ab- Natur, das sich mit den ersten auffahrenden Bulldozern zu holzung des ältesten Regenwaldes der Erde fortführt. einem gefährlichen Unterfangen entwickelte und einen Ein Teil dieses Archivs spielt nun in einer Theaterproduk- schillernden Einzelkämpfer ins Rampenlicht rückte. Unbe- tion eine Rolle. Kaspar Geiger, Regisseur der freien Gruppe irrbar und unvergessen. Statt-Theater, hat mit den Theaterleuten Annina Polivka ‹Bruno Manser. Kunst der Bedürfnislosigkeit›: Di 23.2. bis Sa 5.3., 20 h, und Oliver Zgorelec sowie Martin Vosseler, einem Freund Roxy, Birsfelden, www.statt-theater.ch Mansers, diese wertvolle ethnografische Sammlung durch- Life or style erfolgreich bestanden haben, die E-Mail-Scree- ning, Überprüfung und Klärung unserer Zahl- Mister Help hilft mit seinen Geschichten, wo er kann, meistens hilft er einer grösseren Geldsum- ru d ol f bus sm a n n stelle, Ihren Scheck ausgegeben wurden.» me an den richtigen Ort zu kommen. Fiktion und Mister Help. Andere mögen seine Schreiben als Spam empfin- Realität gehen dabei gewagte Synthesen ein, in Ich hätte die E-Mail nicht öffnen sollen. Er ist es. den und angewidert wegklicken. Sie übersehen welche Leserinnen und Leser gekonnt als poten- Schon nach wenigen Worten hab ich ihn er- dabei, was für erzählerische Qualitäten in ihnen zielle Protagonisten mit einbezogen sind. Dass kannt. «Wir können Sie zuverlässige Garantie liegen. Die Mails warten mit Geschichten auf, ich Mister Help bisher nicht geantwortet habe, Darlehen anbieten zu einem Zinssatz von 1,5% die das Leben geschrieben haben könnte: Ein liegt daran, dass er nach abgeschlossenem Ge- für die Garantie erschwinglichen Zeitraum von Mann ist im Hurrikan Katrina umgekommen. schäft keinen Grund mehr hätte, mich anzu- – ». Sachlich wie immer. Schnörkellos und den- Auch seine gesamte Familie verlor dabei ihr Le- schreiben. Ich verzichte auf die Millionen, die er noch barock, ein klar wiedererkennbarer Stil, ben. Er war Multimillionär, und nun wartet sein anbietet, um weiterhin in den Genuss seiner originell bis zur Schmerzgrenze. Irgendwie bin Vermögen auf einen würdigen Erben. Und der Briefe zu kommen. Bei jedem von ihnen warnt ich diesem Stil verfallen. Meine Schwäche mag Erzähler ist hautnah dabei. «Bis heute weiss nie- mich die Stimme der Vernunft. Nicht öffnen. in Richtung Fetischismus gehen. Wie ein Kopro- mand über sein Bankkonto mit NatWest Bank. Spare deine Zeit für Sinnvolleres. Doch die Fin- phage fresse ich mich durch die Absonderungen, Mit meiner Position in der Bank, ich habe alle ger sind schneller. «Wir sind für Ihre Antwort die er mir via Übersetzungsprogramm vorsetzt. Zugang, geheime Details und notwendigen Kon- warten, während wir Ihnen unsere Rechtshilfe Gestern schrieb er: «Im Auftrag des Screening- takte für die Ansprüche der Fonds ohne Haken.» versichern.» Ausschusses des Oxfam Lottery Vorstands möch- Dem Ordner, in den ich seine Texte gewissenhaft ‹Life or style› verknüpft Poesie, Politik und Alltag. te ich offiziell verkünden, um Ihnen, dass Sie ablege, habe ich den Titel ‹Mister Help› gegeben. 14 | ProgrammZeitung | Februar 2016
Auf feinem Grat d oro t h e a koe l bi ng Familie Flöz erzählt die neue alte Geschichte vom Flüchtlingskind. Welche Schwierigkeiten habe ich, mich einer solchen Geschichte zu öff- Poesie-Labors nen? Wo ist in jedem von uns die persönliche tiefe Möglichkeit, mitzuemp- dagm a r bru n n e r finden? Wie können wir der Flüchtlingsfigur begegnen? Literatur und Sprache. Seit drei Jahren stellt sich die (Theater-)Familie Flöz für ihre aktuelle Pro- Acht poetische Sonntags-Soiréen laden zum Ken- duktion ‹Haydi!› diesen Fragen. «Wir sind erschrocken darüber, dass die nenlernen von heute vergessener und z.T. wenig Thematik immer aktueller wird», sagt Hajo Schüler, Schauspieler und Mas- bekannter Dichtung ein. Den Auftakt macht eine kenbauer, und beschreibt es so: «Das Stück ist nicht Abbildung dessen, was Lebensskizze mit kleiner Ausstellung zu Ludwig ist, von Tatsachen, sein Kern ist das Aufspüren der Empathie, des wirk- Jacobowski (1868–1900), einem jüdischen Lyri- lichen Mitfühlens.» ker und Publizisten, der u.a. in Freiburg studier- Die Eltern sind weg, das Mädchen alleine beim Grossvater. Als er stirbt, te. In Berlin gründete er den Künstlerzirkel Die bricht es auf ... In einer internationalen Grenzbehörde beginnt voller Ambi- Kommenden, in dem z.B. Peter Hille, Erich Müh- tionen Pedro Solano den Dienst. Bei seinem ersten Einsatz an der Aussen- sam, Else Lasker-Schüler und Rudolf Steiner grenze stirbt ein junges Mädchen in seinen Armen. Dieses Schicksal reisst verkehrten. Dieser übernahm nach Jacobowskis ihn aus seinen Gedanken, sein Engagement für eine bessere und gerechtere frühem Tod die Leitung der Kommenden und Zukunft wird vom Kopf auf die Füsse gestellt, er steht gänzlich unvorberei- gab die nachgelassenen Gedichte und Prosa- tet in der Behörde. Dort schnorchelt am Morgen der erste Kaffee, der Alltag werke des Freundes heraus. – der Beamten-Crew nimmt gespenstisch seinen Lauf. Oberste Priorität: Die Mit gesprochener Sprache, vorwiegend Lyrik, eigene Unantastbarkeit erhalten, Grenzen ziehen, schützen und verwalten. setzt sich auch Christiane Moreno auseinander, Und Grenzen sind überall. Ob draussen im Schneesturm vor Stacheldraht etwa als Sprecherin und Initiantin von Sprach- oder tief im Inneren des eigenen Herzens. Jeder bleibt in seinen eigenen projekten. An ihrem neuen Domizil, das sie mit Problemen verhaftet. Im Kampf durch die Instanzen erkennt Pedro seine einer Therapeutin und einer Soziologin teilt, bie- Ohnmacht und die Gewissheit, dass es weitere Tote geben wird. Was ihm tet sie Gruppen und Einzelnen ihre Erfahrungen bleibt, ist ein empathischer Akt der Verwandlung des Erlebten. an: Mittels ‹poetischer Alphabetisierung› diffe- Vielschichtiges Erzählen. Familie Flöz, bekannt für ihr poetisch verzau- renzieren sich Sprechen und Hören, was auch berndes Maskentheater (z.B. ‹Infinita› und ‹Hotel Paradiso›), präsentiert die Dialogfähigkeit fördert. mit ‹Haydi!› auch dieses ernste Thema in komödiantischer Spielweise. Und Poetische Soirée zu Ludwig Jacobowski, ‹Rastlos, bewegt sich damit auf feinem Grat und souverän zwischen den Genres. Be- selbstlos, furchtlos›: So 14.2., 16.30, Rudolf Steiner sitzstandwahrer und Heimatlose treffen hier aufeinander – komplett ver- Halde, Dornach, www.goetheanum.ch schieden sind ihre Welten, unendlich weit voneinander weg. Spielerisch Christiane Moreno, Raum 204, Rakete, Münchensteinerstr. 274, Dreispitzareal verdeutlichen Andrés Angulo, Björn Leese und Hajo Schüler das, indem sie die Flüchtlingswelt mit Masken und die Ebene von Behörde und Amt – Ausserdem: Lese-Wochenenden (Reading Retreats) im Bauernhaus, mit Wunschbüchern und Gesprächen. unerwartet bei Familie Flöz – mit unverhüllten Gesichtern und mit Sprache In Deutsch und neu auch in Englisch, Leitung Lydia darstellen. «So zeigen und schaffen wir eine grosse Distanz – damit kann Zimmer, www.literaturecho.com Familie Flöz, man ehrlich sein», sagt Hajo Schüler. Puppen, Masken, filmische und mu- ‹Haydi!›, Fotos: Gianni Betucci sikalische Mittel, Schauspiel und Sprache werden lebendig ausbalanciert. und Silke Meyer Familie Flöz, ‹Haydi!›: Fr 19.2., 20 h, Burghof Lörrach u S. 41 (rechts) Februar 2016 | ProgrammZeitung | 15
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