Kulturwandel auf dem Teller - Pflanzliche Alternativen zu Lebensmitteln tierischen Ursprungs - eine ernährungsökologische Einschätzung von ...
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Verbraucher und Ernährungskultur ( Schwerpunkt »Welt im Fieber – Klima & Wandel« Kulturwandel auf dem Teller Pflanzliche Alternativen zu Lebensmitteln tierischen Ursprungs – eine ernährungsökologische Einschätzung von Franz-Theo Gottwald Während der Corona-Krise hat der Verkauf von vegetarischen und veganen Lebensmitteln als Alter- native zu Fleisch deutlich zugelegt. In dem Maße, wie Fleisch und die Gewinnung von Lebensmitteln tierischer Herkunft in die Kritik geraten, werden Fleischersatzprodukte nicht nur in Deutschland immer beliebter. Aber sind diese pflanzlichen Alternativen wirklich ein Beitrag für eine nachhaltige Entwicklung im Ernährungssektor? Der folgende Beitrag beleuchtet die verschiedenen Dimensionen einer ernährungsökologischen Bewertung: allen voran die Gesundheits- und Umweltverträglichkeit eines vegetabilen Ernährungsstils, aber auch seine ökonomischen und sozialen Aspekte. Nicht für alle Aspekte liegen für eine umfassende Bewertung bereits wissenschaftlich hinreichend fundier- te Daten und Fakten vor. Doch insgesamt zeigen sich vielfältige Nachhaltigkeitspotenziale einer pflanzenbasierten Ernährung, die bei der anstehenden Transformation unseres Ernährungssystems eine zentrale Rolle spielen werden. Der Markt für genießbare, nährstoffreiche, pflanzli- sortiment. Zwar befindet sich die Umsatzbedeutung che Alternativen zu Produkten tierischen Ursprungs der Käsealternativen innerhalb des SB-Käse noch im wächst dynamisch. So setzte beispielsweise die Rügen- Promillebereich. Der Vegantrend bei den Käsepro- walder Mühle, einer der Pioniere und Trendtreiber für dukten (»Gelbe Linie«) zeigt jedoch eine Wachstums- Fleisch- und Wurstwarenersatz in Deutschland, im geschwindigkeit, die beeindruckend ist: Im überprüf- ersten Halbjahr 2020 50 Prozent mehr von diesen Pro- ten Zeitraum von zwölf Monaten bis Mai 2020 stiegen dukten ab als im Vorjahreszeitraum. Die Alternativer- Absatz und Umsatz nach Kilogramm um 60 Prozent. zeugnisse dieses Unternehmens sind mit 53 Prozent Im Vergleich mit dem Vorjahr bedeutet dies mehr als vom Umsatzanteil sogar erstmals größer als das klas- eine Verdopplung. Dabei sind die Preise für die Er- sische, fleischbasierte Sortiment. Bei vegetarischem satzprodukte im Durchschnitt doppelt so hoch wie bei Geschnetzeltem und bei vegetarischen Hamburgern SB-Käse tierischen Ursprungs.3 gab es eine Absatzsteigerung von über 300 Prozent.1 Jüngst hat auch Nestlé sein pflanzenbasiertes Sor- Ein zweites Beispiel für die Ernährungswende hin timent um eine vegane Alternative für Thunfisch er- zu pflanzlichen Erzeugnissen: Die Aktie des ersten gänzt. Mit »Sensational Vuna« beginnt der multinati- börsennotierten Herstellers von Fleischersatzpro- onale Lebensmittelkonzern den Markt für Fischersatz- dukten, Beyond Meat, konnte im ersten Quartal 2020 produkte auszuloten und mitzugestalten. Der Vertrieb enorm zulegen. Der Umsatz wurde um 141 Prozent auf erfolgt zunächst in den Filialen der Schweizer Coop. 97 Millionen US-Dollar gesteigert, ein Gewinn von Die Erschließung anderer Märkte ist in Planung.4 1,8 Millionen US-Dollar eingefahren und der Aktien- Diese Schlaglichter zeigen eine Marktentwicklung wert gemessen am Tiefststand verdreifacht.2 im deutschsprachigen Raum, die ihresgleichen sucht. Auch im Bereich der Milch- und Molkereipro- Sie wird noch unterstützt von zunehmend breiter dukte ändert sich der Markt. Nahezu jede Molkerei werdender medialer Kommunikation, die als Thema führt pflanzenbasierte Milchersatzprodukte wie Ha- den kleineren ökologischen Fußabdruck ins Zentrum fermilch, Mandelmilch oder ähnliches. Das Marktfor- rückt, den die menschliche Nahrung haben sollte, schungsunternehmen Nielsen sieht 2020 eine weitere um die Pariser Klimaziele zu erreichen. Nimmt man besondere Wachstumschance im veganen SB-Käse- allein die Zeitungen und Zeitschriften, die sich mit 335
Der kritische Agrarbericht 2021 Ernährung befassen, so zeigt sich, dass immer häu- auch zu einer neuen sozialen Identität beitragen kann, figer – über die genannten Produkte hinaus – auch zu einer Individualisierung sozialpsychologischer Art, weitere Fleischalternativen in den Blick geraten, die ist ein Nebeneffekt, der aber mit ins Gewicht fällt. marktlich allerdings noch am Anfang stehen. Dazu ge- hören Insekten als neue alternative Proteinquelle ge- Der ernährungsökologische Bewertungsrahmen nauso wie das In-vitro-Fleisch, dessen Weg vom Labor auf den Teller ökonomisch ebenfalls vielversprechend Um diese Entwicklung hinsichtlich ihres Beitrags für zu sein scheint. Jedoch haben diese beiden Formen des mehr Nachhaltigkeit oder nachhaltige Ernährung »Fleischs der Zukunft« offensichtlich und unmittelbar bewerten zu können, bedarf es eines Bewertungsrah- noch so viel mit Tieren zu tun, dass sie nach wie vor als mens möglichst ganzheitlicher Art. Hier soll mit dem Erzeugnisse tierischen Ursprungs verstanden werden Rahmenkonzept der Ernährungsökologie nach Leitz- müssen. Sie mögen sich zwar marktlich als Alternative mann, von Koerber, Hoffmann und Ploeger (die sog. zur herkömmlichen Welt der tierischen Sortimente Gießener Schule) gearbeitet werden.6 Dieses nun seit darstellen, sind es aber nur eingeschränkt. Untersu- mehr als drei Jahrzehnten stetig weiter entwickelte chungen ihrer (potenziellen) Auswirkungen auf Um- Rahmenkonzept umfasst fünf verschiedene Perspek- welt, Gesundheit und Tierwohl belegen im Übrigen, tiven, aus denen Aussagen zur relativen Vorzüglich- dass sie nicht so eindeutig mehrdimensional vorteil- keit von pflanzenbasierten Lebensmitteln oder einer haft sind, wie dies bei pflanzenbasierten Erzeugnissen ganzheitlichen Lebensmittelqualität abgeleitet werden der Fall zu sein scheint.5 können. Im Rahmen des ernährungsökologischen Ansatzes Gründe für ein vegetabiles Ernährungssystem wird von Beginn an wissenschaftlich differenziert an Fragen einer methodisch sauberen Ermittlung von Die Gründe für immer neue Markteintritte von Un- belastbaren Aussagen zur nachhaltigen Ernährung ternehmen in das Neuland der pflanzlichen Ersatz- und an einer umfassenden Lebensmittelqualität mit produkte sowie für die Markterfolge sind vielfältig. einem Mix aus naturwissenschaftlichen, sozial- und Lebensmitteltechnologisch ist zumindest die Herstel- kulturwissenschaftlichen Methoden geforscht. Der lung pflanzenbasierter Produkte in den bestehenden Forschungsansatz ist geeignet, um die Multidimen- Verarbeitungsanlagen für Milch oder Fleisch kein sionalität von Nahrung zu beschreiben und zugleich größeres Problem. Die neuen Ersatzprodukte können normative Aussagen darüber zu begründen, was denn mit geringem Aufwand für eine Umrüstung auch auf an Lebensmitteln ernährungsökologisch zu präfe- vorhandenen, älteren Maschinen gefertigt werden. rieren wäre. Dabei wird nicht nur auf die stoffliche Dazu kosten die Herstellung und Beschaffung der Zusammensetzung von Lebensmitteln oder ihren pflanzlichen Vorprodukte im Großen und Ganzen Genusswert eingegangen, sondern auch der Gesund- weniger als bei tierischer Rohware. Auch sehen die heitswert sowie die – gemessen an Nachhaltigkeits- Umwelt- und Klimabilanzen häufig günstiger aus, als dies bei Erzeugnissen tierischen Ursprungs der Fall zu sein scheint (dazu siehe unten). Abb. 1: Fünf Dimensionen einer nachhaltigen Damit scheint dieses im Entstehen befindliche Pro- Ernährung⁷ duktportfolio die Sehnsucht vieler Konsumentinnen und Konsumenten nach nachhaltigerem Essen und Trinken oder nach einem persönlich verantwortbaren dheit Ges sun ell Ernährungssystem anzusprechen. Eine Sehnsucht, die Ge sch / um ke - lich its durch die Losung der Fridays-for-Future-Bewegung, aft ve S o glic it äg he Individu r tr zia hk r tr d ä ve sun l- eit Fleischersatz als eine der drei wichtigsten Maßnahmen Ge zur Klimarettung zu fordern, besonderen Auftrieb be- kommen hat. Schließlich scheinen Tierersatzprodukte Nachhaltige unter gesundheitlichen Gesichtspunkten, z. B. bei Lak- Ernährung tose- oder Milchunverträglichkeit oder dem Wunsch, lich ts- auf tierische Fette zu verzichten, geeignete alternati- it äg af Um gli ve ke r tr ch r tr we chk ve Wirts ve Erzeugnisse zu sein. Und last, not least nimmt die ä lt- eit t haf Um Zahl von Konsumentinnen und Konsumenten zu, die elt tsc r w Wi aus Tierschutzgründen auf Lebensmittel tierischen Ursprungs mehr und mehr verzichten. Sich zuneh- Ku l t u r mend »gewaltfrei« zu ernähren, wird zum Motiv, den persönlichen Ernährungsstil zu verändern. Dass dies 336
Verbraucher und Ernährungskultur zielen – r elative Wertigkeit unterschiedlicher Erzeu- heit (Belastung mit Pestiziden, Hormonen, Einsatz von gungs- oder Verarbeitungs- und Lagerverfahren, also Zusatz- oder Hilfsstoffen und anderes mehr), Energie- die Prozessdimension der Herstellung eines Produkts, und Nährstoffqualität sowie die Genussqualität nicht in einen holistischen Bewertungsansatz gebracht. behandelt werden, auch wenn sie eine wichtige Rolle Abbildung 1 zeigt diese verschiedenen Perspek bei der Bestimmung der relativen Vorzüglichkeit von tiven, um den Wert von Lebensmitteln zu erkunden. pflanzenbasierter Kost aufseiten der Konsumenten- In ihr wird die Mehrdimensionalität von Lebensmit- schaft haben mögen. Jeder dieser Faktoren kann ein- teln bzw. von Gütern für die menschliche Ernährung zelwissenschaftlich beforscht werden, in der Toxiko- und ihrer Qualität im Zeitalter der Nachhaltigkeit logie, der Hygiene, in der Ernährungsmedizin und in dargestellt. der Sensorikforschung. Erwähnt werden sollte jedoch, In den einzelnen Dimensionen wird mit »Verträg- dass bei den Zutatenlisten der Fleischersatzprodukte lichkeit« ein gemeinsamer Bewertungsnenner gebil- oft größere Mengen an Zusatzstoffen auftauchen. Bei det. Dieser Begriff der Verträglichkeit liegt nahe, da pflanzlichen Fleischersatzprodukten handelt es sich es beim Essen und Trinken, also beim Verzehr von in der Regel um hochgradig verarbeitete Erzeugnis- Lebensmitteln gleich welchen Ursprungs, das wich- se, die häufig Farbstoffe, Stabilisatoren, Emulgatoren, tigste ist, dass ein Erzeugnis verträglich ist. Dieser Säureregulatoren und Antioxidationsmittel enthalten. Summenvektor ist aber auch dadurch zu rechtferti- Zudem können aufgrund des Produktionsverfahrens gen, dass unter Gesichtspunkten der inter- wie der Allergene enthalten sein.11 Das alles beeinträchtigt un- intragenerationalen Gerechtigkeit ein Ernährungsstil ter Umständen die gesundheitliche Vorzüglichkeit der zunehmend gelebt werden sollte, der für alle verträg- Fleischersatzprodukte. lich ist und insbesondere nicht zulasten zukünftiger Generationen geht.8 Zweite Dimension: Die Umweltverträglichkeit Hierzu gehören die materiellen und energetischen Er- Erste Dimension: Die Gesundheitsverträglichkeit zeugungsbedingungen für Lebensmittel genauso wie Wenn man einen Vergleich zwischen Produkten tie- die Umweltfolgen, die durch die Art und Weise der rischen Ursprungs und pflanzlichen Ursprungs unter Erzeugung, der Verpackung, des Transports und der dem Gesichtspunkt ihrer Gesundheitsverträglichkeit Verzehrsaufbereitung in Küche, Kantine oder Imbiss vornimmt, so ist die Ernährungsmedizin als Leitwis- entstehen. Hierzu gehören ebenfalls Aussagen über senschaft heranzuziehen. Die Diskurse hinsichtlich den Klimaimpact von Lebensmitteln entlang ihrer je- der ernährungsphysiologischen Wertigkeit von Pro- weiligen Wertschöpfungskette. teinen pflanzlichen oder tierischen Ursprungs sind Diese Umweltverträglichkeit wird durch wissen- vielfältig und ihre Annahmen wie Ergebnisse stehen schaftliche Instrumente überprüfbar, wie z. B. das teils im Widerspruch zueinander. Dies belegen z. B. Umrechnen in CO2-Äquivalente, in Materialinten die Diskussionen um die sog. Vegetarier-Studien, in sität pro Serviceeinheit, durch verschiedene andere denen der Gesundheit von Vegetariern nachgegangen Methoden, wie z. B. den ökologischen Rucksack bzw. wurde, teils auch im Vergleich mit einem Ernährungs- den ökologischen Fußabdruck oder mittels Instru- stil, der tierische Produkte bevorzugt.9 menten, die in Nachhaltigkeitsratings mit Bezug zur Es scheint jedoch einen gewissen Grundkonsens Umwelt hinterlegt sind, wie beispielsweise dem ZNU- darüber zu geben, dass es im Allgemeinen gesundheit- Nachhaltigkeitsstandard.12 lich zuträglich ist, die Gesamtration von Erzeugnissen Das Umweltbundesamt hat 2019 einen Trendbe- tierischen Ursprungs auf nicht mehr als 20 Prozent richt zur Abschätzung der Umweltwirkungen von der Tagesaufnahme von Lebensmitteln einzurichten. pflanzlichen Fleischersatzprodukten, essbaren Insekten Dies bedeutet für die Diät im deutschen Durchschnitt und In-vitro-Fleisch vorgelegt.13 Hier die wichtigsten eine Reduktion um etwa 18 Prozent!10 Ein Gesund- Ergebnisse für faktenbasierte Konsumentenentschei- heitsvorteil pflanzenbasierter Nahrung gegenüber dungen am Beispiel von Soja, einem der Hauptersatz- Fleischprodukten ist unzweifelhaft, da erstere kein pflanzen: Cholesterol enthalten. Es scheint sich auch zu bestäti- gen, dass der Grad der Verarbeitung gesundheitliche ■ Hinsichtlich der Treibhausgasemissionen werden Folgen zeitigt: je geringer der Grad der Verarbeitung, bei der Erzeugung sojabasierter Produkte weniger so gesundheitsverträglicher – das scheint die Regel CO2-Emissionen freigesetzt als bei der Fleisch- zu sein. So haben z. B. nicht stark verarbeitete Soja- produktion. Während bei der Produktion von produkte einen geringeren Fett- und zugleich einen 100 Gramm Hühnerfleisch (essbare Masse) 0,38 bis erhöhten Nährstoffgehalt. 0,43 Kilogramm CO2-Äquivalente entstehen, wer- An dieser Stelle können andere Aspekte der Ge- den bei der Produktion von 100 Gramm sojabasier- sundheitsverträglichkeit, wie z. B. Lebensmittelsicher- tem Fleischersatzprodukt nur rund ein Drittel der 337
Der kritische Agrarbericht 2021 Treibhausgasemissionen freigesetzt, nämlich 0,111 anderen Seite. Wie die eingangs zitierten Markterfolge bis 0,117 Kilogramm CO2-Äquivalente.14 pflanzenbasierter Erzeugnisse belegen, sind betriebs- ■ Die Sojabohne ist zudem eine stickstofffixierende wirtschaftliche Erfolge häufig der Fall. Eiweißpflanze, die Stickstoff im Boden anreichert, Volkswirtschaftlich gibt es jedoch noch allerlei Un- auf diese Weise zur Bodenverbesserung beiträgt und klarheiten. So sind z. B. die Arbeitsplatzeffekte nicht den Einsatz mineralischen Düngers verringert.15 erforscht, die eine verstärkte Umstellung in Produk- ■ Der Süßwasserverbrauch ist im Vergleich zu Rind, tion und beim Konsum pro Fleischalternativen mit Schwein und Huhn bei einem Faktor zwischen vier sich bringen wird. Noch ist auch nur andeutungs- und 15 um ein Vielfaches geringer.16 weise ersichtlich, ob und falls ja, welche neuen Pro- ■ Der Flächenverbrauch und der Ressourceninput ist duktionsstrukturen an welchen (neuen) Standorten bei gleicher Nährstoffmenge bei pflanzenbasierten entstehen (müssen), um eine weiterhin so rasant Proteinen eindeutig geringer als bei tierbasierten.17 wachsende Marktnachfrage auf Dauer bedienen zu So benötigt man sechs- bis 17-mal mehr Land für können. Wird es neue Konzentrationsprozesse geben die Produktion fleischlichen Proteins, verglichen und wie wird die Eigentümerstruktur aussehen, wenn mit Sojaprotein.18 zunehmend zugunsten von pflanzenbasierter, nach- ■ Die Auswirkungen auf die lokale Biodiversität hän- haltiger Ernährung auch wirtschafts- und verbrau- gen vom jeweiligen landwirtschaftlichen Anbausy- cherpolitisch gesteuert wird? Schließlich ist derzeit stem ab. Konventioneller Sojaanbau mit minera- zu wenig erforscht, wie sich der ländliche Raum ins- lischer Düngung und bei Pestizideinsatz ist biodi- gesamt verändert, wenn tierische Produktionscluster versitätsschädlich. Ökologischer Anbau ist dagegen mit ihren Verarbeitungsbetrieben, beispielsweise in förderlich für die Biodiversität.19 Norddeutschland, zunehmend auf Pflanzenverarbei- tung setzen würden. Die Studie des Umweltbundesamtes ist auch auf- schlussreich hinsichtlich der Umweltauswirkungen Vierte Dimension: Die Sozialverträglichkeit des Einsatzes von Insektenproteinen und In-vitro- Zu einer ernährungsökologischen Gesamtbetrach- Fleisch.20 Da die Auswirkungen von pflanzenbasierter tung unter Gesichtspunkten der Verträglichkeit ge- Kost jedoch, bei ganzheitlicher Betrachtung, die für hört auch die soziale Dimension. Mit Blick auf die die natürliche Mitwelt günstigste Variante darstellen, Ermittlung und Beurteilung der Arbeitsbedingun- sei hier nur darauf hingewiesen, ohne weiteres dazu gen, unter denen Lebensmittel vom Acker bis auf den auszuführen. Tisch kommen, gibt es mehrerer Zugänge, um zu Be- wertungen hinsichtlich der relativen Vorzüglichkeit Dritte Dimension: Die Wirtschaftsverträglichkeit eines Ernährungsstils zu kommen. So können zum Zu dieser Dimension einer ernährungsökologischen einen Maßstäbe der Fairness herangezogen werden, Bewertung von nachhaltiger Ernährung gehört die Be- wie z. B. Fairness-Ratings im Sinne fairer Lieferket- trachtung des ökonomischen Wertes von Lebensmit- ten (an gesetzlichen Vorgaben in Deutschland wird teln unter Produktivitäts- und Effizienzgesichtspunk- derzeit unter dem Stichwort »Lieferkettengesetz« ge- ten bei der Verwendung von biogenen Rohstoffen im arbeitet). Aber auch Sozialstandards der internationa- Erzeugungs- und Herstellungsprozess. Ferner gehört len Arbeitsorganisation zur Arbeitssicherheit und zur die Innovationshöhe der entlang der Wertschöpfungs- Einhaltung von Menschenrechten, zum Vermeiden ketten eingesetzten Techniken dazu, wenn diese z. B. von Kinderarbeit und andere mehr sind heranzuzie- energieeffizient oder wassereffizient sind oder in der hen, will man eine umfassende Bewertung von Nutzen Verpackung kein Plastikmaterial aus der Erdölchemie oder Nachteil pflanzenbasierter Produkte und eines eingesetzt wird. Darüber hinaus gehört zu dieser Di- vegetabilen Ernährungsstils vornehmen. mension der Bewertung dazu, dass Lebensmittelver- In dieser Dimension gibt es bislang keine brauch- luste entlang der Kette minimiert werden. Schließlich baren wissenschaftlichen Ergebnisse, die für einen spielen auskömmliche Einkommen auf allen Stufen direkten Vergleich zwischen Pflanze und Tier als Ur- der monetären Wertschöpfung eine gewichtige Rolle sprung der wesentlichen Nahrungsbestandteile her- bei der ganzheitlichen Beurteilung. angezogen werden könnten. Indirekte Schlüsse sind Vielfältige agrar- und ernährungsökonomische jedoch möglich, da die Herstellung von Erzeugnissen Kalküle helfen hier, wissenschaftsbasiert vergleichen- tierischen Ursprungs bei Weitem häufiger kritisch de, bewertende Aussagen über diese wirtschaftliche in den Medien vorkommt, als es bei der Produktion Dimension der Unterschiede zwischen ökonomisch pflanzenbasierter Lebensmittel der Fall ist. Die häu- relevanten Effekten einer pflanzenbasierten Produk- figen Berichte von zum Teil skandalösen Zuständen tion und eines vegetabilen Ernährungsstils auf der in der »Tierproduktion« und bei der Fleischverarbei- einen Seite zu machen und eines tierbasierten auf der tung machen deutlich, dass soziale Unverträglichkei- 338
Verbraucher und Ernährungskultur ten für Arbeiter in der Erzeugung, ihren Familien, Ernährungskultur ist keine eigene Dimension, son- aber auch in den Nachbarschaften vorliegen, in de- dern beeinflusst alle Dimensionen gleichermaßen, wie nen entsprechend zu beanstandende Produktions- sie umgekehrt von allen beeinflusst wird. Ernährungs- einrichtungen liegen. Diese würden bei einer zuneh- kultur bestimmt weitestgehend, was, wem, warum menden Präferenz pflanzenbasierter Nahrungsmittel schmeckt – und warum sich Menschen in Deutsch- abnehmen. land z. B. noch sehr schwer damit tun, mit Insekten- Die Sozialverträglichkeit erschließt sich aber nur in burgern als Proteinlieferant ihre Eiweißversorgung Gänze, wenn noch eine weitere Teilmenge des Sozia- zu decken. Die Ernährungskultur bestimmt am Ende, len in den Blick genommen wird: die Abhängigkeit des wie zügig eine Ernährungswende in Deutschland ge- Ernährungsstils von der sozialen Herkunft bzw. die lingen kann. Sie ist, was ihre Veränderbarkeit und die Schichtenspezifizität, mit der Menschen ihre Lebens- Geschwindigkeit des Wandels betrifft, die langsamste, mittel auswählen und ihren Ernährungsstil zu Hause sperrigste Summe aller Ess- und Trinkgewohnheiten oder Außer-Haus pflegen. Hier kann nicht näher auf von Menschen und gesellschaftlichen Schichten.23 die wissenschaftliche Evidenz schichtenspezifischen Um zu neuen zeitgemäßen, klima- und biodiversi- Ernährungsverhaltens eingegangen werden. Verwie- tätsgerechten sowie das Prinzip der Ernährungssou- sen sei jedoch auf Studien von Ines Heindl und ande- veränität24 verwirklichenden Lebensmittelsystemen so ren, die diese Zusammenhänge zu begreifen helfen.21 zu gelangen, dass niemand zurückbleibt, sollte in einer Diese Studien machen deutlich, dass es breiter, auch demokratischen Gesellschaft kulturell bei der indivi- politisch unterstützter und bezahlter Kommunika duellen Handlungskontrolle und Wahlmöglichkeit tion sowie unermüdlicher Bildungsarbeit bedarf, um angesetzt werden. Für einen Wandel der Ernährungs- gesamtgesellschaftlich eine Ernährungswende hin zu kultur kann staatlicherseits mit Aufklärungs- und Bil- mehr pflanzenbasierten Ernährungsstilen einzuleiten dungskampagnen gearbeitet werden, die die verschie- und in der Breite der Bevölkerung umzusetzen. Ohne denen Pfade zu mehr Nachhaltigkeit auf dem Tisch derartige Maßnahmen sind die sozial bedingten In- vorstellen und Empfehlungen aussprechen, welche formationsasymmetrien und die familiengeschichtlich Wahl oder Kaufentscheidung beispielsweise für einen bedingten Verhaltensweisen bei Einkauf, Zubereitung »enkeltauglichen« Ernährungsstil vorzuziehen wäre. und Verzehr nicht pro Nachhaltigkeit weiterzuentwi- Dabei ist darauf zu achten, dass in dem sensiblen Feld ckeln. Die ernährungspolitische Herausforderung, des vom Geschmack und der sozialen Herkunft ge- die hierin liegt, wird auch vom jüngsten Gutachten triebenen Essens und Trinkens keine paternalistischen des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik, Er- Lenkungsvorstellungen überhandnehmen. nährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE) angesprochen. Das Gutachten unter dem Titel Politik für eine nachhaltigere Ernährung: Eine Folgerungen & Forderungen integrierte Ernährungspolitik entwickeln und faire Er- nährungsumgebungen gestalten22 adressiert diese Zu- ■ Der Trend zum vegetarischen und veganen Essen sammenhänge an wichtiger Stelle. Es empfiehlt nicht wird immer stärker. Entstanden ist ein dynamischer nur Lenkungsabgaben auf Fleischprodukte, sondern Zukunftsmarkt für viele Unternehmen. auch Ernährungsbildung. ■ Eine umfassende Nachhaltigkeitsbilanz, die alle ernährungsökologischen Dimensionen einer pflan- zenbasierten Kost wissenschaftlich valide umfasst, Auf dem Wege zu einer ökologischen ist zurzeit noch nicht möglich. Ernährungskultur ■ Die relative Vorzüglichkeit der vegetabilen Ernäh- Fasst man die Ergebnisse der ernährungsökologisch rung ist vor allem in der besseren Umweltverträg- fundierten Bewertung pflanzenbasierter Nahrung zu- lichkeit zu sehen, insbesondere beim Ausstoß von sammen, so offenbart sich das Nachhaltigkeitspoten- Treibhausgasemissionen. zial entsprechend ausgerichteter Ernährungsweisen, ■ Für eine klimafreundliche Ernährung ist der Umstieg die von Gelegenheitsvegetarismus (sog. »Flexitarier«) auf eine stärker pflanzenbasierte Ernährung daher bis zu strikten veganen Ernährungsstilen reichen. Es unerlässlich. könnte sich insgesamt dann am besten entfalten, wenn ■ Um diesen Wandel der Ernährungskultur herbeizu- es eine ernährungskulturelle Wende gäbe. Die obige führen, bedarf es – neben staatlichen Lenkungsmaß- Abbildung der vier Dimensionen einer ernährungs- nahmen – einer breit angelegten, nicht paternalis- ökologischen Bewertung von Diäten pflanzlicher oder tischen Aufklärungs- und Bildungsarbeit, die auch tierischer Provenienz symbolisiert dieses kulturelle besonders »fleischaffine« Bevölkerungsgruppen Eingebettetsein aller vier Dimensionen durch den erreichen muss. Kreis, der sie umfängt. 339
Der kritische Agrarbericht 2021 Auf ihre Wirksamkeit und Lenkungsmächtigkeit integrativ begegnen. München 2011. – G. Hirschfelder et al.: Was hin zu testen und zu prüfen wären ferner staatlich ge- der Mensch essen darf. Ökonomischer Zwang, ökologisches Gewissen und globale Konflikte. Wiesbaden 2015. – H. J. Teute- setzte Preisanreize für nachhaltige Ernährung gerade berg, G. Neumann und A. Wierlacher (Hrsg.): Essen und kultu- beim Konsum tierischer Produkte, der ja zurecht in relle Identität. Europäische Perspektiven. Berlin 1997. die Kritik geraten ist. Jedoch wäre es naiv anzuneh- 7 Abbildung entnommen aus K. von Koerber: Fünf Dimensionen men, dass damit die komplexe Welt der Nachhaltig- der Nachhaltigen Ernährung und weiterentwickelte Grund- keitsziele (SDGs) im Sinne einer umfassenden Trans- sätze – Ein Update. In: Ernährung im Fokus 9-10 (2014), S. 261 (www.nachhaltigeernaehrung.de/fileadmin/Publikationen/ formation des Ernährungssystems zum Besseren aid_eif_Nachhaltige_Ernaehrung_Koerber_09-2014__Lit.pdf). gewendet werden könnte. Gesellschaftspolitisch ist 8 F.-Th.Gottwald und I. Boergen: Essen und Moral. Beiträge zur zu akzeptieren, dass es eine Vielzahl von Ernährungs- Ethik der Ernährung. (Reihe Agrarkultur im 21. Jahrhundert.) systemen gibt und nicht das eine nachhaltige System. Marburg 2013. 9 C. Leitzmann: Vegetarische Ernährung. In: R. Stange und C. Leit- Allein die verschiedenen Systeme einer vegetabilen zmann (Hrsg.): Ernährung und Fasten als Therapie. 2. Auflage Ernährungskultur unterscheiden sich deutlich, be- Heidelberg 2018. S. 133–148. – M. Keller: Vegetarische und rücksichtigt man noch weitere kulturprägende In- vegane Ernährung – Chancen und Risiken. In: E&M – Ernäh- Wert-Setzungen wie Regionalität, Gentechnikfreiheit, rung und Medizin 30 (2015), S. 55–60. (https://ifane.org/ Ökologischen Landbau oder den Grad der Verarbei- wp-content/uploads/2016/04/Keller_Vegetarisch_vegane_ Erna%CC%88hrung_Chancen_Risiken_Teil1-EM-2015.pdf). tung bzw. der Frische. Letztere Werte prägen aber 10 J. Lutzenberger und F.-Th. Gottwald: Wege aus der Ernährungs- auch unterschiedliche Nachhaltigkeitsprofile aus, die krise. Frankfurt am Main 1999. einerseits im Wettbewerb der Ernährungskulturen 11 Umweltbundesamt (siehe Anm. 5), S. 33. stehen, andererseits der Individualisierung und dem 12 ZNU– Zentrum für Nachhaltige Unternehmensführung der Fakultät für Wirtschaft und Gesellschaft in der Universität Pluralismus in modernen Gesellschaften Rechnung Witten-Herdecke (ZNU) (www.znu-standard.com/ Standard tragen. Eine Politik für eine nachhaltige Ernährung, Nachhaltiger Wirtschaften). die diese sozio-kulturellen Gegebenheiten nicht be- 13 Umweltbundesamt (siehe Anm. 5). rücksichtigt, kann nur wenig für nachhaltigere Le- 14 Ebd., S. 67. bensmittelsysteme leisten. 15 Ebd., S. 68. 16 Ebd., S. 69. 17 Ebd., S. 70. 18 Ebd., S. 70 f. Das Thema im Kritischen Agrarbericht. 19 Ebd., S. 71. X Claus Leitzmann: Vollwertiger Ersatz? Über Fleischimitate aus 20 Ebd., S. 72-86. pflanzlichen Rohstoffen und die Qualität veganer Lebensmittel. 21 C. Rademacher und I. Heindl: Ernährungsbildung der Zukunft. In: Der kritische Agrarbericht 2017, S. 300–304. Maßnahmen und Wirksamkeit der Professionalisierung. X Torsten Mertz: Verzicht als politisches Statement. Ein Blick Wiesbaden 2019. – C. Muff und S. Weyers: Sozialer Status und auf den Veganismus als neuen Konsumtrend. In: Der kritische Ernährungsqualität. Evidenz, Ursachen und Interventionen. In: Agrarbericht 2015, S. 293–298. Ernährungs Umschau 2 (2010), S. 84–88. X Franz-Theo Gottwald und Isabel Boergen: Brauchen wir Tiere? 22 Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik , Ernährung und Anmerkungen zur aktuellen Debatte über Fleischverzicht und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE): Politik für eine Veganismus. In: Der kritische Agrarbericht 2014, S. 267–274. nachhaltige Ernährung: Eine integrierte Ernährungspolitik ent- X Marc-Denis Weitze: Lecker Kunstfleisch? Für mehr Forschung wickeln und faire Ernährungsbedingungen gestalten. Gutach- und eine offene Chancen- und Risikodiskussion. In: Der kritische ten. Berlin 2020 (https://buel.bmel.de/index.php/buel/article/ Agrarbericht 2014, S. 295–298. view/308/513). X Tanja Busse und Markus Keller: Tiere essen? Eine neue Vegeta- 23 G. Hirschfelder: Europäische Esskultur. Geschichte der Ernährung rismus-Debatte in Gesellschaft, Politik und Wissenschaft. In: Der von der Steinzeit bis heute. Frankfurt am Main 2001. kritische Agrarericht 2012, S. 280–285. 24 F.-Th. Gottwald: Ernährungssicherung durch Ernährungssouve- ränität? Zur Ernährung einer wachsenden Weltbevölkerung. In: Jahrbuch Ökologie 2017/2018: »Leitkultur« Ökologie? Was war, was ist, was kommt. Stuttgart, S. 231–240. Anmerkungen 1 Fleischalternativen: Veggie wächst rasant. In: Lebensmittel Z eitung (LZ), Ausgabe 35 vom 28. August 2020, S. 18. 2 ÖkoInvest 683 / 20. S. 4. 3 Lebensmittel Zeitung (siehe Anm. 1), S. 31. 4 Ebd., S. 12. 5 Umweltbundesamt (Hrsg.): Die Zukunft im Blick: Fleisch der Zukunft. Trendbericht zur Abschätzung der Umweltwirkungen Prof. Dr. Franz-Theo Gottwald von pflanzlichen Fleischersatzprodukten, essbaren Insekten Senior Adviser der Schweisfurth Stiftung und und In-vitro-Fleisch. Dessau 2019 (www.umweltbundesamt.de/ Honorarprofessor für Umweltethik an der publikationen/die-zukunft-im-blick-fleisch-der-zukunft). Humboldt-Universität zu Berlin. 6 K. von Koerber, T. Männle und C. Leitzmann: Vollwert-Ernährung. Konzeption einer zeitgemäßen und nachhaltigen Ernährung. Schweisfurth Stiftung Stuttgart 1981. – I. Hoffmann, K. Schneider und C. Leitzmann Rupprechtstr. 25, 80636 München (Hrsg.): Ernährungsökologie. Komplexen Herausforderungen info@schweisfurth-stiftung.de 340
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