KUNST VII SCHAFFT - FON TAN E_lesen - mach dir ein Bild davon

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LAND
                                                      S C H A FF T

B I E N N A L E L A N D S C H A FF T KU N S T V I I
                                                      KUNST VII
                                                      BIENNALE
                                                      EIN DORF WIRD GALERIE

                                                                            n–
                                                            FONTANE_lese
                                                             mach dir ein Bild
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A N N A A R N S KÖT T E R S KU L P T U R IIIII M A R T I N ASS I G Z E I C H N U N G                        HARRY MEYER MALEREI I IIII REINHARD OSIANDER SKULPTUR
IIIII ERNST BAUMEISTER SKULPTUR IIIII ANDREA BAUMGARTL                                                      IIIII WOLF -DIETER PFENNIG MALEREI IIIII SUSANNE RING
F OTO G R A F I E I I I I I R A I N E R E H R T M A L E R E I I I I I I M O R I T Z G Ö T Z E               I N STA L L AT I O N I I I I I H A N S S C H E I B S KU L P T U R I I I I I C H R I S TO P H
MALEREI IIIII KL AUS HACK SKULPTUR IIIII JOHANNES HEISIG                                                    S C H O L Z M A L E R E I IIIII L E O S E I D E L F OTO G R A F I E IIIII LOT H A R
M A L E R E I IIIII P E T E R H E R R M A N N M A L E R E I IIIII M I C H A E L H I S C H E R               S E R U S E T S K U L P T U R I I I I I B E T T I N A VA N H A A R E N Z E I C H N U N G
SKULPTUR IIIII ULRIKE HOGREBE MALEREI IIIII HEIKE JESCHONNEK                                                I I I I I A N N E T T E V O I G T I N STA L L AT I O N I I I I I J O S I N A V O N D E R
MALEREI IIIII SCHIRIN KRE TSCHMANN INSTALLATION IIIII VOLKER                                                L I N D E N I N STA L L AT I O N I I I I I P O M O N A Z I P S E R S KU L P T U R I I I I I
L E H N E R T M A L E R E I I I I I I S E R A P H I N A L E N Z I N STA L L AT I O N I I I I I              LANDTAG POTSDAM I NEURUPPIN I NEUWERDER I GALERIE M POTSDAM I KLEINMACHNOW

                                               Hans Scheib, Die Dirn               Martin Assig, St. Paul
                                                                                                                                                                   AU SST E L L U N G KU N ST V E R E I N K L E I N M AC H N O W
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LAND
S C H A FF T
KUNST VII
BIENNALE
EIN DORF WIRD GALERIE

                n–
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Galerie am Bollwerk
Klosterkirche St. Trinitatis Neuruppin   12.04. –19.05.2019
LAND(SCHAFFT)KUNST VII Neuwerder         15.06. – 30.06.2019
Galerie M, BVBK, Potsdam                 19.09. – 20.10.2019
Die Brücke Kleinmachnow Kunstverein e.V. 22.09.– 20.10.2019
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Der Hauptgegensatz alles Modernen gegen das Alte
besteht darin, daß die Menschen nicht mehr durch ihre
Geburt auf den von ihnen einzunehmenden Platz gestellt
werden. Sie haben jetzt die Freiheit, ihre Fähigkeiten nach
allen Seiten hin und auf jedem Gebiete zu betätigen.
Früher war man dreihundert Jahre lang ein Schloßherr
oder ein Leinenweber; jetzt kann jeder Leinenweber eines
Tages ein Schloßherr sein.

                                            Theodor Fontane
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GRUSSWORTE

Brandenburg begeht in diesem Jahr den 200. Geburtstag Theodor Fontanes –
dieses großen märkischen Erzählers und Dichters, der nicht nur in der Mark, son-
dern weltweit geschätzt und verehrt wird. Als einer der wichtigsten Vertreter des
literarischen Realismus hat er wie kein anderer die preußische Gesellschaft des
19. Jahrhunderts gespiegelt und unvergessliche Werke wie »Effi Briest«, »Der Stechlin«
oder »Irrungen, Wirrungen« geschaffen. Vor allem mit seinen »Wanderungen durch
die Mark Brandenburg« prägt er bis heute die Identität unseres Landes und vermittelt
das Bild von den »Märkern« und ihrer Kulturlandschaft weit über dessen Grenzen
hinaus.

Ganz besonders freut es mich daher, dass eine Reihe brandenburgischer Kunst-
projekte das Jubiläum aufgreift und zum Anlass für neue, zeitgenössische Ausein-
andersetzungen mit dem vielseitigen Schaffen des Schriftstellers nimmt. Der Verein
LAND(SCHAFFT)KUNST hat seine mittlerweile 7. Kunstbiennale ganz in den Kontext
Fontanes gestellt: Ausgehend von dessen Gedichten und Schriften wurden Charakter
und Gehalt der Texte bearbeitet und hinterfragt. 27 Künstlerinnen und Künstler haben
dazu Bilder, Skulpturen und Installationen erarbeitet.

LAND(SCHAFFT)KUNST lädt damit zu einer besonderen Spurensuche ein und
eröffnet außergewöhnliche Wege zur Wieder- und Neuentdeckung Fontanes. Wie
es bei der Kunstbiennale gute Tradition ist, beziehen die Künstlerinnen und Künstler
in ihren Arbeiten die jeweiligen Umgebungen mit ein. Ganz im Sinne von Fontanes
Wanderungen macht die Kunstbiennale in diesem Jahr sogar an mehreren Orten
Station: Nach Neuwerder und Neuruppin sind die Werke auch in Potsdam und
Kleinmachnow zu sehen.

Die Ausstellungen ermöglichen es, den Blick auf den Schriftsteller zu weiten, ihn zu
hinterfragen und die Relevanz seiner Stoffe heute zu entdecken. LAND(SCHAFFT)
KUNST liefert damit einen wertvollen Baustein zum Fontane-Jahr. Mein herzlicher
Dank gilt allen, die die diesjährige Kunstbiennale ermöglicht haben, den Künst-
lerinnen und Künstlern ebenso wie dem Verein und seinen Förderern. Ich wünsche
den Besucherinnen und Besuchern anregende und bereichernde Eindrücke in den
Ausstellungen!

Dr. Martina Münch
Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kultur
des Landes Brandenburg
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»Ich bin die Mark durchzogen und habe sie reicher gefunden, als ich zu hoffen ge-         Im Jahr 2019 feiert das Land Brandenburg Theodor Fontanes 200. Geburts-
wagt hatte. Jeder Fußbreit Erde belebte sich und gab Gestalten heraus.«                   tag und würdigt unter dem Motto fontane.200 seinen großen Autor, der wie
Was Theodor Fontane bei seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg in der              kein anderer die Identität Brandenburgs geprägt und über dessen Grenzen
»Grafschaft Ruppin« widerfuhr, ist gut 160 Jahre später Anlass genug, uns hier heute      hinaus vermittelt hat. Zugleich hat er sich der Literaturgeschichte als bedeuten­d­s-
zu der Eröffnung einer einzigartigen Hommage an den bedeutenden märkischen                ter deutscher Realist eingeschrieben. Im Fokus des Jubiläumsjahres 2019 steht
Schriftsteller und Dichter zusammen zu finden.                                            neben den populären Romanen und den »Wanderungen durch die Mark
                                                                                          Brandenburg« auch das weniger bekannte Œuvre: Fontanes Reise- und Kriegs-
»Jeder Fußbreit belebte sich und gab Gestalten heraus!« In unserem Fall sind es           berichte, Reportagen, Literaturrezensionen, Kunst- und Theaterkritiken, die vielen
derer 27, die nach einer ersten Station in der Galerie am Bollwerk in des Dichters        bis heute nicht bekannt sind. Vom 30. März bis zu seinem Geburtstag am
Geburtsstadt Neuruppin – nun unserem kleinen, beschaulichen Dorf Neuwerder im             30. Dezember 2019 eröffnet fontane.200 einen Blick »hinter die Kulissen«, insbe­
Havelland Gestalt geben. Einige, der in den Scheunen, Höfen und Gärten ausge­             sondere auf die Arbeitsweise Fontanes und die Quellen seines Werkes.
stellten Exponate sind inzwischen gute, alte Bekannte von mir geworden. Ich durfte ihre   Das Projekt »LAND(SCHAFFT)KUNST VII, Fontane_lesen – mach Dir ein Bild davon«
Entstehung vor genau einem Jahr, ebenfalls hier, im Kolonistendorf, während des           stellt eine Auseinandersetzung zeitgenössischer bildender Künstlerinnen und Künstler
11. Künstlersymposiums des Landkreises Havelland hautnah miterleben, später im            mit dem Werk Theodor Fontanes und damit einen besonderen Beitrag zum Themenjahr
Potsdamer Landtag im Rahmen einer Werkschau zu fontane.200 erstmals mit der               »fontane.200/Spuren – Kulturland Brandenburg 2019« dar.
kunstinteressierten Öffentlichkeit teilen.
                                                                                          Zeitlosigkeit und Wandel – in diesem Spannungsfeld bewegen sich die zeit­ge­
Besonders freue ich mich deshalb darüber, dass die zeitgenössischen Interpretatio-        nössischen künstlerischen Kommentare zu den identitätsstiftenden Texten Theodor
nen Fontan‘scher Lyrik, Belletristik und Reiseberichte ihre Wanderung fortsetzen wer-     Fontanes. Ausgewählte Schriften und Gedichte bilden die Grundlage für eine kriti-
den, um anschließend auch noch in Potsdam und Kleinmachnow den künstlerischen             sche Auseinandersetzung und die Vergegenwärtigung der Aktualität und Wirkung
Dialog zu suchen. Mein großer, persönlicher Dank richtet sich an den Kurator der          Fontanes, mit der die entstandenen Bilder, Skulpturen und Druckgrafiken Fontanes
Exposition, Lothar Seruset, der als künstlerische Triebfeder gemeinsam mit den Ver-       Werk in neuem Licht zeigen.
einsmitgliedern von »LAND(SCHAFFT)KUNST«aufs Neue beweist, dass die Vernet-               Die Basis für dieses Projekt wurde in einem Symposium gelegt, das bereits 2018
zung von »Land-Art« und »Urban-Art« eine kongeniale Symbiose zur Überwindung              im Havelland durchgeführt wurde. Die entstandenen Werke wurden anschließend
pittoresker Klischees vom Landleben herbeiführt.                                          in einer ersten Werkschau im Brandenburgischen Landtag in Potsdam gezeigt
                                                                                          und warben somit im Vorfeld des Jubiläums für das Themenjahr. Im Jahr 2019 steht die
Erinnert sei an die »Lila-Kuh« des Malers Claudio D´Ambrosio aus der vorigen              7. Biennale in dem havelländischen Kolonistendorf Neuwerder im Zentrum des
Biennale oder die Stahl-Plastik »Die Stützen der Gesellschaft« von Gerhard Göschel        Projektes, das zudem an drei weiteren Orten, Neuruppin, Potsdam und Kleinmach-
aus dem Jahr 2015. Schärfer können gegenseitige Klischees nicht mehr formuliert           now, gezeigt wird. Die Ausstellung wird jeweils auf den Ort bezogen konzipiert.
werden – die Grundlage für den offensiven Gedankenaustausch über Lebens­formen,
Vorstellungen und Ahnungen steht dem geneigten Ausstellungsbesucher als Angebot           Ich bedanke mich sehr für diesen inspirierenden, zeitgenössischen Beitrag zu unserem
offen.                                                                                    Kulturland-Themenjahr, der in besonderer Weise den konzeptionellen Ansatz der
                                                                                          Landeskampagne »fontane.200« widerspiegelt und dabei zeigt, welches Potenzial
Also hereinspaziert, liebe Gäste, die Wanderschuhe geschnürt, den Regenschirm             die bildende Kunst im Land Brandenburg bietet.
unter den Arm gesteckt und auf ins Vergnügen Kunst. Ich wünsche Ihnen allen viel
Freude an Ihrem Aufenthalt in unserem wunderschönen Landkreis Havelland!                  Mein Dank gilt insbesondere dem Verein LAND(SCHAFFT)KUNST e.V. und persön-
                                                                                          lich Ulrike Hogrebe, Marie-Therese Leopold und Lothar Seruset.
Bruno Kämmerling
Leiter Referat Kultur, Sport und Tourismus                                                Brigitte Faber-Schmidt
Landkreis Havelland                                                                       Kulturland Brandenburg
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A U S ST E L L U N G L A N D ( S C H A F F T ) KU N S T N E U W E R D E R
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EINFÜHRUNG
                                                        Fontanes Plädoyer für eine Kunst der Gegenwart

                                                                                                 –1–
                                                        Der Realismus entsprach in seinen verschiedenen Ausprägungen zunächst dem Ver-
                                                        such einer Bestandsaufnahme, einer um die Mitte des 19. Jahrhunderts überfälligen
                                                        Reflexion auf die Erkenntnisfunktion von Kunst. Grundlegende (und systemisch be-
                                                        rechtigte) Zweifel an der Vollendung des Absoluten in der Kunst hatten zuvor nicht
                                                        nur Hegel, sondern auch Dichter und Theoretiker der Romantik, allen voran Fried-
                                                        rich Schlegel und Novalis gesät. Fontane erscheint 1853 in seiner frühen Lesart des
                                                        Realismus geradezu beseelt von dem Anspruch, im vermeintlich kunst-unwürdigen
                                                        Alltagsleben die Spuren von Geschichte und überzeitlichen Ideen aufzulesen und
                                                        die Kunst (Dichtung wie bildende Kunst) zum alleinigen Medium der Kritik zu erhe-
                                                        ben, einer Kritik, die zum einen Auswahl und Freilegung von Spuren des Ideellen in
                                                        der unübersichtlich gewordenen Gegenwart für sich beansprucht, zum anderen aber
                                                        dabei nicht mehr nur kunstimmanent ist, sondern das gesamte Gegenwartsleben und
                                                        damit auch Äußerungen, die den Romantikern noch nicht als erkenntnis- und damit
                                                        kritikwürdig gegolten hatten, erfasst.

                                                        Fontane fasziniert hingegen offenkundig gerade die Gleichzeitigkeit von Vergäng-
                                                        lichem und Überzeitlichem, der unmittelbare Zugang zum Erkennen des überzeitlich
                                                        Gültigen im weiten Feld der Gegenwart, für das es keine »romantische Schwärmerei«,
                                                        keine Kirche und keine Patronage der Höfe mehr braucht, sondern lediglich einen
                                                        emanzipierten, erkundenden Blick, in dem sich das Geheimnis der Schöpfung auch
                                                        noch unter den Bedingungen eines immer rasanteren industrialisierten und technolo-
                                                        gisierten Alltags enthüllen lässt.

                                                        »Realismus« heißt, wie Fontane es in seinem Essay ausdrückt, als Künstler »von der
                                                        Realität auszugehen«, sie jedoch auch zu »läutern«.1 Die Läuterung der Realität
                                                        durch die Kunst ist Fontanes vielleicht deutlichster Fingerzeig auf sein noch plato-
ÜBERL ASS ES DER ZEIT                                   nisch gefärbtes Kunstideal. Durch Kunst lässt sich das Wirkliche als das Wahre von
                                                        »allem Alten, Abgestorbenen, Aufgebauschten, und (...) Lügenhaften« trennen2 –
Erscheint dir etwas unerhört,                           »je frischer, je besser«3 einerseits, doch zugleich nicht »neu« oder »frisch« im Sinn von
Bist du tiefsten Herzens empört,                        Mode, sondern von Erkenntnis. So verstanden ist Realismus das Charakteristikum der
Bäume nicht auf, versuch‘s nicht mit Streit,            Gegenwart schlechthin, und immer wieder beschäftigt ihn die Frage, wie sich Alt
Berühr es nicht, überlaß es der Zeit.                   und Neu zueinander verhalten. Entsprach Hegels Geschichtsbild einer historischen
Am ersten Tag wirst du feige dich schelten,             Fortschrittsdialektik, bei der das Neue das Alte im Wissenssubjekt beständig über-
Am zweiten läßt du dein Schweigen schon gelten,         formt und zum Absoluten fortschreitet, bleibt für Fontane das Alte als Wissensquelle
Am dritten hast du‘s überwunden,                        kostbar, aber stets bedroht. Schon in seinen volksnahen Gedichten wie vom Herrn
Alles ist wichtig nur auf Stunden,                      Ribbeck verbrüdert sich die Vergangenheit mit der Zukunft in der »objektiven« Kraft der
Ärger ist Zehrer und Lebensvergifter,                   Natur gegen das Subjekt der Geschichte, indem der Birnbaum nach dem Tod des
Zeit ist Balsam und Friedensstifter.                    alten Gutsherren die Gaben an die Kinder fortsetzt, die der neue, geizige Gutsherr
                                      Theodor Fontane   verweigert. In seinem Realismus-Essay vergleicht Fontane das alte, generationenüber-
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Ernst Baumeister, Der rote Hahn

greifende Wissen mit einer »frischen grünen Weide«, während der Realismus »so alt           Lorenzen zu Melusine sagt: »Der Hauptgegensatz alles Modernen gegen das Alte
als die Kunst selbst« sei, »ja, noch mehr: Er ist die Kunst. Unsere moderne Richtung ist    besteht darin, dass die Menschen nicht mehr durch ihre Geburt auf den von ihnen
nichts als die Rückkehr auf den einzig richtigen Weg«4, den er mit (im Vergleich zu sei-    einzunehmenden Platz gestellt werden. Sie haben jetzt die Freiheit, ihre Fähigkeiten
nen Schriftstellerkollegen in Frankreich) bemerkenswertem Optimismus als »Periode           nach allen Seiten hin und auf jedem Gebiete zu betätigen. Früher war man dreihun-
ehrlichen Gefühls und gesunden Menschenverstands«5 und damit als Gegenkonzept               dert Jahre lang ein Schloßherr oder ein Leinenweber; jetzt kann jeder Leinenweber
zu dialektischen Gesellschaftsmodellen preist.                                              eines Tages ein Schloßherr sein.«8 Was aber für die »moderne Freiheit« der Individuen
Im postum veröffentlichten »Stechlin«-Roman, in dessen Anlage und Figurentableau            gilt, das gilt auch für die Künstler selbst: Es gibt keine Gewähr eines epochenüber-
sich diese zentralen Aspekte verdichten, konstruiert Fontane in der Wahl seiner bei-        greifenden künstlerischen Geistes mehr, der durch eine klar definierte Zunft tätiger
den Protagonisten, des Dubslav von Stechlin, jenes alten, preußisch-liberal einge-          Künstler oder Dichter umgesetzt wird. Was immer sie an neuen Werken produziert,
stellten Landadeligen, und des in seinen Ansichten internationalistisch-sozialdemo-         sie sind nur Bruchstücke im unendlichen Vollzug übergeordneter Erkenntnis, wie es
kratisch gefärbten Pastors Lorenzen, einen letztlich versöhnlichen Übergang von alter       Friedrich Schlegel bereits vorgedacht hatte: Das einzelne Kunstwerk muss negieren
zu neuer Zeit. Der quasi-mythischen, feenhaften Melusine ist es dabei vorbehalten,          und vernichtet werden, um der Erkenntnis des Absoluten Raum zu geben. Kein halbes
dieser Versöhnlichkeit Ausdruck zu geben: »Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat,       Jahrhundert später ist unter den Realisten, auch bei Fontane, die Vorstellung gereift,
sollen wir lieben, aber für das Neue sollen wir recht eigentlich leben.«6 Während           dass die bisherige Abgrenzung der Romantiker zur flüchtigen Welt der Gegenwart
Dubslav von Stechlin, der gegen Ende des Romans verstirbt, die fortwirkende, rät-           obsolet ist. Die Selbstbestimmtheit der »modernen« Individuen selbst ist nunmehr schon
selhaft eigensinnige und mit der Natur und Sagenwelt verschwisterte Vergangen-              ein bildnerischer Akt, nicht mehr in Bezug auf ein Kunst-Werk, sondern in Bezug auf
heit verkörpert, steht Pastor Lorenzen für das rationale Bürgertum der industrialisierten   das Leben selbst. Dieses Paradox, Beobachter und Vollzug von Leben als Kunst zu-
Großstädte, von dem Fontane sich in mehreren seiner Briefe als »Bourgeoisgefühl«            gleich zu sein, bleibt den modernen Avantgarden im 20. Jahrhundert als Grundpro-
distanziert, das er »grässlich finde«, sich gleichwohl davon »bis zu einem geringen         blem erhalten.
Grade beherrscht« fühle: »Die Strömung reißt einen mit fort.« (Brief an die Tochter
Mete vom 25. August 1891).7                                                                                                        –2–
Wortwechsel und Austausch von Meinungen und Zeitansichten, die den Roman be-                Auch an Fontanes 200. Geburtstag lässt sich konstatieren, dass diese Grundpro-
stimmen, setzen der dialektischen Geschichtslogik ein dialogisches Prinzip entgegen,        blematik, wie Kunst sich also als Wissensform zwischen sozialer Involviertheit und
das die kritische Reflexion der Kunst in eine vielstimmige Sammlung temporärer Mei-         ästhetischer Distanznahme verortet, ungebrochen aktuell ist – auch wenn sich die
nungen und Überzeugungen überführt. Fontanes Poetik bündelt im »Stechlin« Ver-              politischen und wirtschaftlichen Bedingungen für Kunst und Poesie seither grundle-
gänglichkeit und zeitübergreifende Betrachtung im individuellen Zeitgefühl, wenn            gend verändert haben. Doch nicht von ungefähr bilden Zitate aus Fontanes spätem
KUNST VII SCHAFFT - FON TAN E_lesen - mach dir ein Bild davon
»Stechlin«-Roman mit seinen zahlreichen verdichteten Anspielungen auf die beschleu-       und Keramikerin Anna Arnskötter der bei Fontane stets virulenten Reibung des Alten
nigte Geschichte und die Frage nach individueller Selbstbestimmung den Hintergrund        und Neuen, von »Erbe und Moderne« nach – ein Motiv, das auch bei Reinhard
für zahlreiche Werke in der Jubiläumsausstellung. Nicht von ungefähr nehmen auch          Osiander eine Rolle spielt, wenn er Schlossarchitektur und »aus Ästen zusammen-
fast alle gezeigten Arbeiten Bezug auf die (nicht nur brandenburgische) Landschaft        gebaute Landschaft« einander gegenüberstellt und auf drei »Votivtafeln« Szenen
– als Geschichts- und Mythenspeicher und als Bühne für die in ihrer natürlichen Eigen-    aus dem »Stechlin« einfängt, die in ihrer zweifüßigen Gestalt zugleich an Autobahn-
heit gewachsenen Figuren und als gesellschaftliche Metapher.                              schilder erinnern sollen.
Der Grafiker und Maler Rainer Ehrt, der sich in seiner Arbeit FONTANORAMA ganz            Lothar Seruset fasst das Thema von Alt und Neu als ein Aufeinandertreffen von ver-
explizit zur vergangenheitsaffinen Poetik Fontanes bekennt, entwirft ein Geschichts-      schiedenen Welten in der imaginären Zeitreise des Dubslav von Stechlin, »der aus
bild des »deutschen 19. Jahrhunderts« und bekundet ganz nach Fontanes Weise:              dem Roman hinaus in die heutige Zeit wandert« und als solche die Offenheit von
»Schließlich ist der heutige Tag das Resultat des Gestrigen, ergänzt um eine kleine       Geschichte repräsentiert.
Prise eigener Kunst – Arbeit gegen das Vergessen.« Der Zeichner und Maler Volker          Dieser Offenheit der Geschichte widmet sich auf ganz andere Weise auch Schirin
Lehnert hat sich für seine wunderbare Serie aus Zeichnungen und Leinwandbildern           Kretschmann mit einer Arbeit, die sich metaphorisch mit dem Schreiben und Tilgen
zum »Stechlin«-Roman unter anderem von dessen letztem Satz leiten lassen, der auf         geschichtlicher Spuren auseinandersetzt. Für ihre Werkserie »Floor Work« hat sie bei
eine alles überdauernde »Gedankenlandschaft« verweist: wonach ja »die Stechline«          der Reinigung ihres Atelierfußbodens Papiere verwendet, deren Oberflächen durch
nicht notwendigerweise weiterleben müssten – »aber es lebe der Stechlin!«                 den Reinigungsvorgang von Rissen, Schründen und Reibespuren versehrt wurden.
Diese Landschaft bildet für den Maler Johannes Heisig durchaus biografisch einen          Wie ein bildnerischer »Filter« visuell auffangend, was eigentlich zu einer Ästhetik des
Ort der »Heimatfindung«, darin nicht zuletzt berührt von der emotionalen Verbindung       Tilgens von Spuren gehört, erlangen mehrere übereinandergelegte Schichten solcher
Fontanes mit der Mark Brandenburg. Seine vier Bilder für diese Ausstellung verste-        Papiere eine höchst suggestive landschaftliche Anmutung.
hen sich so als »eine persönliche Verortung und ein Echo der Fontaneschen (keines-
wegs platten) Heimatliebe, wie sie etwa im Gedicht ›Havelland‹ vor dem Band 3             Carsten Probst
der Wanderungen anklingt.« Auf eben dieses Gedicht »Havelland« bezieht sich
auch Heike Jeschonnek. Auch sie verbindet es mit Begriffen wie Heimat oder Her-           1
                                                                                              Fontane, Theodor, Realismus, in: Literarische Essays und Studien, Teil 1 (Nymphenburger Ausgabe, Band 21, 1), München 1968,
                                                                                              S. 7–33. Auszug zitiert in Plumpe, Gerhard (Hg.), Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung, Stuttgart 1985/1997, 146.
kunft. In ihren Malereien und Zeichnungen thematisiert sie vielfach Landschaften als          Ebenso: Fontane, Theodor, Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848, in: Literarische Essays und Studien, Teil 1 (Nymphenburger
                                                                                              Ausgabe, Band 21, 1), 7ff.
den Gegensatz von Natur und Stadt, Vergangenheit und Gegenwart, ornamental                2
                                                                                              Fontane, Theodor, zit. nach: Plumpe, Gerhard (wie Anm. 1), 147.
anmutende Strukturen überziehen die Landschaft als Symbole für die Eingriffe des          3
                                                                                              Ebd., 141, 146f.
                                                                                          4
                                                                                              Ebd., 142.
Menschen und die Domestizierung der Natur. Interessant im Hinblick auf Fontanes           5
                                                                                              Ebd., 143.
Realismus-Begriff ist, dass sich Jeschonnek in ihren Arbeiten oft auf Motive aus Foto-        Fontane, Theodor, Der Stechlin, 43. bis 46. Auflage, Berlin 1922, 316.
                                                                                          6

                                                                                          7
                                                                                              Fontane, Theodor, Briefe an seine Familie 1819–1898, 2.
grafien bezieht, die sie überträgt und mit verschiedenen Techniken überarbeitet.          8
                                                                                              Fontane, Theodor, Der Stechlin (wie Anm. 6), 317.

Die Fotografin Andrea Baumgartl wiederum nähert sich dieser Realismus-Thematik
Fontanes gleichsam von der Gegenseite. In ihrer Stechlin-Serie hat sie Dörfer und
Landschaften rund um den Stechlinsee aufgesucht und den literarischen Ort in ihren
Aufnahmen als Kollage aus teils heruntergekommenen und aus der Zeit gefallenen
Geschichtsspuren erforscht, die aus der Fontanezeit und den Regimen des 20. Jahr-
hunderts bis in die Gegenwart überdauert haben.
Leo Seidel nutzt die Fotografie indes wie eine surreale bildliche Erweiterung des Lite-
rarischen, indem er Fontane-Gedichte »Die drei Raben« oder »Herr von Ribbeck auf
Ribbeck im Havelland« als Figurenkollagen inszeniert und ablichtet. Demgegenüber
scheint der Holzbildhauer Ernst Baumeister einen ganz anderen Weg zu gehen, des-
sen Skulptur »Der Rote Hahn« auf den ersten Blick eher wie eine dynamisch-expressi-
ve Formstudie wirkt – tatsächlich aber greift auch sie eine Textstelle im Eingangskapi-
tel des »Stechlin« auf, in der der »Rote Hahn« zur Figuration der mythischen Fähigkeit
des Gewässers geht, Naturkatastrophen in anderen Weltgegenden anzuzeigen.
Auch die Bildhauerin Pomona Zipser bezieht sich mit ihrer konstruktivistisch anmuten-
den Skulptur auf eine Repräsentation des Landschaftlichen, nämlich die historischen
Wege zwischen den Fontane-Orten »Berlin, Stechlin, Kremmen usw.« mitsamt an-
gedeuteten Erweiterungen nach England und Neapel, die als »Grundlage für die
annähernd zweidimensionale Konstruktion der Skulptur« dienen.
In ihrem Modell der Ruine des Alten Schlosses Freyenstein geht die Bildhauerin
SCHLOSS STECHLIN
                                        1. Kapitel

                                        Im Norden der Grafschaft Ruppin, hart an der mecklenburgischen Grenze, zieht sich von dem Städtchen
                                        Gransee bis nach Rheinsberg hin (und noch darüber hinaus) eine mehrere Meilen lange Seenkette durch
                                        eine menschenarme, nur hie und da mit ein paar Dörfern, sonst aber ausschließlich mit Förstereien,
                                        Glas- und Teeröfen besetzte Waldung. Einer der Seen, die diese Seenkette bilden, heißt »der Stechlin«.
                                        Zwischen flachen, nur an einer einzigen Stelle steil und kaiartig ansteigenden Ufern liegt er da, rundum
                                        von alten Buchen eingefaßt, deren Zweige, von ihrer eignen Schwere nach unten gezogen, den See mit
                                        ihrer Spitze berühren. Hie und da wächst ein weniges von Schilf und Binsen auf, aber kein Kahn zieht
                                        seine Furchen, kein Vogel singt, und nur selten, daß ein Habicht drüber hinfliegt und seinen Schatten auf
                                        die Spiegelfläche wirft. Alles still hier. Und doch, von Zeit zu Zeit wird es an ebendieser Stelle lebendig.
                                        Das ist, wenn es weit draußen in der Welt, sei‘s auf Island, sei‘s auf Java zu rollen und zu grollen beginnt
                                        oder gar der Aschenregen der hawaiischen Vulkane bis weit auf die Südsee hinausgetrieben wird. Dann
                                        regt sich‘s auch hier, und ein Wasserstrahl springt auf und sinkt wieder in die Tiefe. Das wissen alle, die
                                        den Stechlin umwohnen, und wenn sie davon sprechen, so setzen sie wohl auch hinzu: »Das mit dem
                                        Wasserstrahl, das ist nur das Kleine, das beinah Alltägliche; wenn‘s aber draußen was Großes gibt,
                                        wie vor hundert Jahren in Lissabon, dann brodelt‘s hier nicht bloß und sprudelt und strudelt, dann steigt
                                        statt des Wasserstrahls ein roter Hahn auf und kräht laut in die Lande hinein.« Das ist der Stechlin, der See
                                        Stechlin.

                                         Aber nicht nur der See führt diesen Namen, auch der Wald, der ihn umschließt. Und Stechlin heißt eben-
                                        so das langgestreckte Dorf, das sich, den Windungen des Sees folgend, um seine Südspitze herumzieht.
                                        Etwa hundert Häuser und Hütten bilden hier eine lange, schmale Gasse, die sich nur da, wo eine von
                                        Kloster Wutz her heranführende Kastanienallee die Gasse durchschneidet, platzartig erweitert. An eben-
                                        dieser Stelle findet sich denn auch die ganze Herrlichkeit von Dorf Stechlin zusammen; das Pfarrhaus,
                                        die Schule, das Schulzenamt, der Krug, dieser letztere zugleich ein Eck- und Kramladen mit einem klei-
                                        nen Mohren und einer Girlande von Schwefelfäden in seinem Schaufenster. Dieser Ecke schräg gegen-
                                        über, unmittelbar hinter dem Pfarrhause, steigt der Kirchhof lehnan, auf ihm, so ziemlich in seiner Mitte,
                                        die frühmittelalterliche Feldsteinkirche mit einem aus dem vorigen Jahrhundert stammenden Dachreiter
                                        und einem zur Seite des alten Rundbogenportals angebrachten Holzarm, dran eine Glocke hängt. Ne-
                                        ben diesem Kirchhof samt Kirche setzt sich dann die von Kloster Wutz her heranführende Kastanienallee
                                        noch eine kleine Strecke weiter fort, bis sie vor einer über einen sumpfigen Graben sich hinziehenden und
                                        von zwei riesigen Findlingsblöcken flankierten Bohlenbrücke haltmacht. Diese Brücke ist sehr primitiv.
                                        Jenseits derselben aber steigt das Herrenhaus auf, ein gelbgetünchter Bau mit hohem Dach und
                                        zwei Blitzableitern.

                                        Auch dieses Herrenhaus heißt Stechlin, Schloß Stechlin.

                                                                                                                           Theodor Fontane, Der Stechlin

Lothar Seruset, Glaube Liebe Hoffnung
S K U L P T U R A N N A A R N S KÖ T T E R
A N N A A R N S KÖ T T E R                              Sein Hintergrund als Journalist und Kriegsberichterstatter
                                                        macht Fontane zu einem hell- und weitsichtigen Chronisten
1961 in Greven/Westf geboren.                           seiner Zeit. Im Stechlin spannt er von der »harmlosen«
1980 –1984 Studium der Bildhauerei an der Freien
                                                        Glashütte in Neu-Globsow, die Glasballons für Flüssig-
Akademie Nürtingen
1993 Kunsthochschule Weissensee, Berlin                 keiten herstellt, einen Bogen hin zu der vernichtenden
2000 Förderpreis der Darmstädter Sezession              Wirkung chemischer Substanzen, die uns an die Schlacht-
2003 Stipendium der Käthe-Dorsch Stiftung, Berlin       felder des 20. Jahrhunderts denken lässt.
Seit 2012 Mitglied bei Xylon, Deutschland               Dieses Weiterverfolgen und Durchleuchten von Phäno­
2013 3. Vogtländisches Grafiksymposium                  menen seiner eigenen Zeit bis hin in unsere Gegen-
2014 Realisierung einer Bank aus Beton für Fehrbellin
                                                        wart fasziniert mich an Fontanes Denken. Den Faden von
Lebt und arbeitet in Lentzke, Brandenburg.
                                                        Neu-Globsow nehme ich auf, er führt mich zu den gigan-
www.annaarnskoetter.de                                  tischen Mengen an Waren, die über die Meere transpor-
                                                        tiert werden, zu den hochaufgetürmten Stapeln der
                                                        Container- und Kreuzfahrtschiffe. Die Industriefabrik, zu
                                                        Fontanes Zeiten lärmende Produktionsstätte, ist nun leer
                                                        und verlassen, die Produktionskarawane ist längst an
                                                        neue, ferne Orte gezogen, die Fabrik kommt auf den
                                                        Sockel und wird zum Kulturtempel.
                                                                                                             A.A.
ZEICHNUNG MARTIN ASSIG
M A R T I N A SS I G                            Wer aus Friesack is, darf nicht Raoul heißen.
                                                Theodor Fontane, Der Stechlin
1959 in Schwelm geboren.
1979–85 Studium an der Hochschule der Künste,
Berlin (heute UdK)
1986 Kunstpreis Zweibrücken
1993 Käthe-Kollwitz-Preis
2001 Ludwig-Gies-Preis
Lebt und arbeitet in Berlin und Brädikow.
I N STA L L AT I O N E R N S T B A U M E I S T E R
ERNST BAUMEISTER                                              EFFI BRIEST
1956 in Duisburg geboren.
1977– 82 Studium von Grafik und Industriedesign               Nur das Eleganteste gefiel ihr, und wenn sie
an der Fachhochschule Krefeld                                 das Beste nicht haben konnte, so verzichtete sie
1989 – 93 Lehrauftrag für Holzbildhauerei an der HdK Berlin   auf das Zweitbeste, weil ihr dies Zweite nun
Lebt und arbeitet in seit 1986 als Bildhauer in Berlin.       nichts mehr bedeutete. Ja, sie konnte verzichten,
                                                              darin hatte die Mama recht, und in diesem
www.ernstbaumeister.de
                                                              Verzichtenkönnen lag etwas von Anspruchs-
                                                              losigkeit; wenn es aber ausnahmsweise mal
                                                              wirklich etwas zu besitzen galt, so musste dies
                                                              immer was ganz Apartes sein. Und darin
                                                              war sie anspruchsvoll.
                                                                                                     Theodor Fontane
F OTO G R A F I E A N D R E A B A U M G A R T L
ANDREA BAUMGARTL                                 »Anstaunen ist auch eine Kunst. Es gehört etwas dazu,
                                                 Großes als groß zu begreifen.«
1965 in Regensburg geboren.
Studium an der UdK in Berlin bei Bernhard Boës
Lebt und arbeitet in Berlin und Brädikow.        Theodor Fontane, Der Stechlin

www.andreabaumgartl.de
                                                 An Fontanes Schreiben mag ich das Lapidare, Lako­nische
                                                 und Einfache. Er erzählt Geschehnisse und Situationen in
                                                 einer Beiläufigkeit, schildert sie in einer großen Knappheit.
                                                 So beschreibt er beispielsweise die politische Befindlich-
                                                 keit einiger im Stechlin beschriebener Personen mit den
                                                 Worten: Deutschland obenauf.... Das ist in seiner Verkür-
                                                 zung deutlich und vielsagend zugleich.
                                                 An anderer Stelle, und auch dies ist, nach meinem Ver-
                                                 ständnis, politisch gemeint, ist von: Dunkle Gefühle, die
                                                 sind fein..., die Rede. Auch hier ist eine Anklage nicht aus-
                                                 drücklich zu vernehmen, liegt aber doch wahrscheinlich
                                                 zugrunde. Weiter beklagt er die Veränderungen jener
                                                 Jahre mit den aus heutiger Zeit natürlich sehr rätselhaften
                                                 Worten: ...überall sind Fotografen...
                                                 Vielleicht gibt es eine Ähnlichkeit im Erzählen von Theodor
                                                 Fontane und dem Ansatz, den ich in der Fotografie verfol­
                                                 ge: Den Eindruck den etwas bei mir hinterlässt, das Ge-
                                                 fühl, das die sichtbaren Dinge in mir hervorrufen, das halte
                                                 ich in meinen Fotografien fest, mehr als die Dinge in ihrer
                                                 Tatsächlichkeit.
                                                                                                          A.B.
MALEREI RAINER EHRT
RAINER EHRT                                                 FONTANORAMA
                                                            Das deutsche 19. Jahrhundert: Eine dampfgetriebene
1960 in Elbingerode/Harz geboren.
                                                            Gesellschaft, die auf Fels gebaut schien, aber doch nur
1983–88 Hochschule für Kunst und Design Halle –
Burg Giebichenstein
                                                            auf dünnem Eis stand. Einer, der das von der sanften mär-
1993 Gründung »Edition Ehrt« für originalgrafische Bücher   kischen Ebene aus um so genauer bemerkte, um so älter
2007 Brandenburgischer Kunstpreis                           er wurde, war der schreibende Beobachter, beobachten-
2008 Grand Prix World Press Cartoon Lissabon                de Schreiber Fontane (Thomas Mann sprach bewundernd
2010 Grand Prix Satyricon Legnica                           von seinem »Greisen-Avantgardismus«). Seine vorsichti­
Lebt und arbeitet in Kleinmachnow.
                                                            ge Skepsis, seine entschiedene Ironie und sein scharfer
www.rainerehrt.de
                                                            Blick sind auch für mich Essenzen, mit der Gegenwart
                                                            fertig zu werden, denn der heutige Tag ist schließlich das
                                                            Resultat des Gestrigen, ergänzt um eine kleine Prise eige-
                                                            ner Kunst-Arbeit gegen das Vergessen.
                                                                                                                   R.E.
MALEREI MORITZ GÖTZE
MOR I T Z GÖT Z E                                    Einer der Seen, die diese Seenkette bilden, heißt »der
                                                     Stechlin«. Zwischen flachen, nur an einer einzigen Stelle
1964 in Halle geboren.
                                                     steil und kaiartig ansteigenden Ufern liegt er da, rundum
1981–83 Lehre als Möbeltischler
1986 freischaffend als Maler und Grafiker in Halle   von alten Buchen eingefaßt, deren Zweige, von ihrer
Aufbau einer eigenen Grafikwerkstatt                 eignen Schwere nach unten gezogen, den See mit ihrer
1991–94 Lehrauftrag für Serigraphie an der           Spitze berühren. Hie und da wächst ein weniges von Schilf
Hochschule Burg Giebichstein, Halle                  und Binsen auf, aber kein Kahn zieht seine Furchen, kein
1994 Gastprofessur für Serigraphie,                  Vogel singt, und nur selten, daß ein Habicht drüber
École Nationale Supérieure des Beaux-Arts, Paris
                                                     hinfliegt und seinen Schatten auf die Spiegelfläche wirft.
1996 Kunstförderpreis des Landes Sachsen-Anhalt
Lebt und arbeitet in Halle.                          Alles still hier. Und doch, von Zeit zu Zeit wird es an eben-
                                                     dieser Stelle lebendig.
www.sperlgalerie.de
                                                                              Theodor Fontane, Der Stechlin, 1. Kapitel
SKULPTUR KL AUS HACK
KL AUS HACK                                                       Die beiden großformatigen Holzdrucke mit den dazu-
                                                                  gehörigen Drucktrommeln des Bildhauers Klaus Hack
1966 in Bayreuth geboren.                                         sind auf den ersten Blick vielleicht nur schwer mit Fonta-
1989– 91 Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg
                                                                  nes »Stechlin« in Einklang zu bringen. Und doch war der
1991–95 Hochschule der Künste Berlin (Meisterschüler)
1996 Stipendium für bildende Kunst der Kulturstiftung Offenburg   Künstler vom Gedanken an den großartigen Brandenbur-
2004–05 Lehrauftrag für Bildhauerei an der Kunsthochschule        ger See und seinen Chronisten beseelt, als er diese bizar-
Berlin-Weißensee                                                  ren Formen fand. Eine nicht enden wollende Bewegung,
2005 Lothar-Fischer-Preis für Bildhauerei                         resultierend aus dem vom Baumstamm abgedruckten
2010 Friedrich-Baur-Preis der Bayerischen                         Fries, und große Vergeblichkeit stecken sowohl im zwei-
Akademie der Schönen Künste
                                                                  teiligen Holzdruck »Reform« als auch im etwas kleineren
Lebt und arbeitet in Seefeld/Brandenburg.
                                                                  »Nachtflug«. Der »Stechlin« war Fontanes letzter und viel-
www.klaushack.de                                                  leicht persönlichster Roman und auch ihm ist das Werden
                                                                  und Vergehen eingeschrieben. Eine Reform im Sinne einer
                                                                  Erneuerung scheint am Ende des Lebens nicht mehr mög-
                                                                  lich. Einzig setzt die Hauptfigur noch zu einem Nachtflug
                                                                  an, einem Flug in die Ewigkeit über die dunklen Weiten
                                                                  des Stechlins.
                                                                                                                Antje Schultz
MALEREI
           Johannes Heisig
MALEREI JOHANNES HEISIG
JOHANNES HEISIG                                                 Ich gestehe, ich habe Schwierigkeiten mit der ritualisier-
                                                                ten Fontanefeier 2019. Ich glaube nicht, daß sein Werk
1953 in Leipzig geboren.                                        tatsächlich noch so im öffentlichen Bewusstsein ist wie
1973– 77 Studium der Malerei und Grafik an der Hochschule
                                                                jetzt behauptet. Manchmal beschleicht mich sogar inmit-
der Grafik und Buchkunst in Leipzig, Diplom, Mitarbeit in der
Werkstatt des Vaters Bernhard Heisig                            ten der »Würdigungen« der Gedanke, daß es jene neue
1978–80 Meisterschüler bei Gerhard Kettner                      rückwärtsgewandte Deutschtümelei sein könnte, mit der
an der Hochschule für Bildende Künste Dresden (HfBK)            in den Milieus seiner Bücher und in seiner Erzählweise
1988 –1991 Professur und Lehrstuhl für Malerei und Grafik       das »Gemütliche« und das »Brandenburgische« gesucht
HfbK Dresden                                                    wird (mit seinem Nachfolger Thomas Mann könnte man
2003 Professur an der Universität Dortmund
                                                                solche mißbräuchlichen Verirrungen freilich widerlegen).
Lebt und arbeitet in Teetz.
                                                                Das oft leere Abfeiern Fontanes weist wohl in erster Linie
www.johannes-heisig.de                                          hin auf ein allgemein nur noch rudimentäres Verhältnis
                                                                zum Literarischen. Vielleicht ist mein Blatt »Im Gedenkjahr«
                                                                in diesem Sinne als ein Stück Selbstaufforderung zum Le-
                                                                sen zu verstehen.
                                                                Was mich allerdings schon immer zu Fontane gezogen
                                                                hat, ist seine emotionale innere Verbindung mit der Land-
                                                                schaft Brandenburgs. Das ist vermutlich einer der Punkte,
                                                                die die »Wanderungen« trotz allem Einwand noch heu-
                                                                te populär machen. Wahrscheinlich ist es sein meistge-
                                                                lesener Text. Und: er berührt mich in meiner »Heimatfin-
                                                                dung« hier. So sind meine Prignitz-Landschaften durchaus
                                                                eine persönliche Verortung des Zugezogenen und als
                                                                solche ein Echo der Fontaneschen Heimatliebe, wie sie
                                                                etwa auch im Gedicht »Havelland« vor dem Band 3 der
                                                                Wanderungen anklingt.
                                                                                                                         J.H.
MALEREI PETER HERRMANN
PETER HERRMANN                                                          DER STECHLIN
                                                                        6. Kapitel
1937 in Großschönau/Lausitz geboren.
1953 Teilnahme Malkurs der Volkshochschule
bei Jürgen Böttcher-Strawalde
seit 1971 freischaffender Maler
1984 Ausreise nach Hamburg, 1985 Aufenthalt bei A. R. Penck in London   »Ja, Lorenzen, Sie lachen«, warf Dubslav hier ein. »Aber bei Lichte besehen hat Woldemar doch recht,
seit 1986 in Westberlin, 1998 Villa Romana-Preis, Florenz               was (und Sie wissen auch warum) eigentlich nicht oft vorkommt. Es ist genauso, wie er sagt. Natürlich
2001 Fred-Thieler-Preis für Malerei der Berlinischen Galerie, Berlin
                                                                        bleibt uns Eva und die Schlange; das ist uralte Erbschaft. Aber so viel noch von guter alter Zeit in dieser
Lebt und arbeitet in Berlin.
                                                                        Welt zu finden ist, so viel findet sich hier, hier in unsrer lieben alten Grafschaft. Und in dies Bild richtiger
www.galerie-ines-schulz.de                                              Gliederung, oder meinetwegen auch richtiger Unterordnung (denn ich erschrecke vor solchem Worte
                                                                        nicht), in dieses Bild des Friedens paßt mir diese ganze Globsower Retortenbläserei nicht hinein. Und
                                                                        wenn ich nicht fürchten müßte, für einen Querkopf gehalten zu werden, so hätt‘ ich bei hoher Behörde
                                                                        schon lange meine Vorschläge wegen dieser Retorten und Ballons eingereicht. Und natürlich gegen bei-
                                                                        de. Warum müssen es immer Ballons sein? Und wenn schon, na, dann lieber solche wie diese. Die lass‘
                                                                        ich mir gefallen.« Und dabei hob er die Bocksbeutelflasche.
                                                                        »Wie diese«, bestätigte Czako.
                                                                        »Ja, Czako, Sie sind ganz der Mann, meinen Papa in seiner Idiosynkrasie zu bestärken.«
                                                                        »Idiosynkrasie«, wiederholte der Alte. »Wenn ich so was höre. Ja, Woldemar, da glaubst du nun wieder
                                                                        wunder was Feines gesagt zu haben. Aber es ist doch bloß ein Wort. Und was bloß ein Wort ist, ist
                                                                        nie was Feines, auch wenn es so aussieht. Dunkle Gefühle, die sind fein. Und so gewiß die Vorstellung,
                                                                        die ich mit dieser lieben Flasche hier verbinde, für mich persönlich was Celestes hat... kann man Celestes
                                                                        sagen?...«, Lorenzen nickte zustimmend, »so gewiß hat die Vorstellung, die sich für mich an diese
                                                                        Globsower Riesenbocksbeutelflaschen knüpft, etwas Infernalisches.«
                                                                        »Aber Papa.«
                                                                        »Still, unterbrich mich nicht, Woldemar. Denn ich komme jetzt eben an eine Berechnung, und bei
                                                                        Berechnungen darf man nicht gestört werden. Über hundert Jahre besteht nun schon diese Glashütte.
                                                                        Und wenn ich nun so das jedesmalige Jahresprodukt mit hundert multipliziere, so rechne ich mir alles in
                                                                        allem wenigstens eine Million heraus. Die schicken sie zunächst in andre Fabriken, und da destillieren
                                                                        sie flott drauflos, und zwar allerhand schreckliches Zeug in diese grünen Ballons hinein: Salzsäure,
                                                                        Schwefelsäure, rauchende Salpetersäure. Das ist die schlimmste, die hat immer einen rotgelben Rauch,
                                                                        der einem gleich die Lunge anfrißt. Aber wenn einen der Rauch auch zufrieden läßt, jeder Tropfen brennt
                                                                        ein Loch, in Leinwand oder in Tuch oder in Leder, überhaupt in alles; alles wird angebrannt und angeätzt.
                                                                        Das ist das Zeichen unsrer Zeit jetzt, ›angebrannt und angeätzt‹. Und wenn ich dann bedenke, daß
                                                                        meine Globsower da mittun und ganz gemütlich die Werkzeuge liefern für die große Generalweltan-
                                                                        brennung, ja, hören Sie, meine Herren, das gibt mir einen Stich. Und ich muß Ihnen sagen, ich wollte,
                                                                        jeder kriegte lieber einen halben Morgen Land von Staats wegen und kaufte sich zu Ostern ein Ferkel-
                                                                        chen, und zu Martini schlachteten sie ein Schwein und hätten den Winter über zwei Speckseiten, jeden
                                                                        Sonntag eine ordentliche Scheibe, und alltags Kartoffeln und Grieben.«
                                                                        »Aber Herr von Stechlin«, lachte Lorenzen, »das ist ja die reine Neulandtheorie. Das wollen ja die Sozial-
                                                                        demokraten auch.«
                                                                        »Ach was, Lorenzen, mit Ihnen ist nicht zu reden... Übrigens Prosit... wenn Sie‘s auch eigentlich nicht
                                                                        verdienen.«

                                                                                                                                                                         Theodor Fontane
SKULPTUR MICHAEL HISCHER
MICHAEL HISCHER                                                      »Überlaß es der Zeit, Zeit ist Balsam und Friedensstifter.«
                                                                     Bewegung ist in der Physik definiert als Veränderung des
1955 in Pinneberg geboren.                                           Ortes mit der Zeit. Bewegung in der Kunst hat aber auch
Studium der Bildhauerei in Hannover und Berlin bei Dietrich Klakow
                                                                     eine metaphysische Dimension. Der Rat Fontanes aus sei-
und Rolf Szymanski (Meisterschüler)
1989 Kunstpreis der Stadt Hannover-Langenhagen                       nem gleichnamigen Gedicht bildet sich auf wunderbare
1991 Stipendium der Karl-Hofer-Gesellschaft in Berlin                Art und Weise in kinetischen Skulpturen ab. Deren ruhiger,
1991 Stipendium »Werkstatt Schloss« in Wolfsburg                     beruhigender und sanfter Charakter entfaltet ebenfalls
Lebt und arbeitet in Berlin und Betzin.                              eine entschleunigende und mässigende, ja sogar starke
                                                                     meditative Wirkung, die an Ausdruckstanz oder an die
www.michaelhischer.de
                                                                     fernöstlichen Konzentrations- und Bewegungsformen Tai
                                                                     Chi und Qigong erinnernd auf den Betrachter übergreift.
                                                                     So wie es uns Theodor Fontane für das Leben nahe legt.

                                                                                                                          M.H.
MALEREI
         Ulrike Hogrebe
MALEREI ULRIKE HOGREBE
ULRIKE HOGREBE

1954 in Münster/Westf. geboren.
1975 – 78 Hochschule für Bildende Künste, Prof. Schoenholtz, Prof. Ohlwein
1978 – 82 Studium der Malerei an der Hochschule der Künste Berlin
1991 Stipendium Künstlerdorf Schöppingen
1993 Stipendium Künstlerdorf Schloss Wiepersdorf
2003 Stipendium für Bildende Kunst des Landes Brandenburg
Lebt und arbeitet in Neuwerder-Westhavelland.

www.ulrike-hogrebe.de
MALEREI HEIKE JESCHONNEK
HEIKE JESCHONNEK                                                 Meine Faszination für das Havelland ist eine neue. Ich
                                                                 habe viele beeindruckende Länder bereist, bin auf hohe
1964 in Gummersbach geboren.                                     Berge gestiegen, durch faszinierende Täler gewandert
1993–2001 Hochschule der Künste Berlin (Meisterschülerin)
                                                                 und über weite Meere gesegelt. Das Unspektakuläre am
2006 Karl-Hofer-Stipendium
2013 Ahrenshoop, Künstlerhaus Lukas                              Havelland hat meinen Blick für das Unscheinbare, das
2015 AOK Kunstpreis, Berlin                                      Leise in der Landschaft und in mir geschärft. In meinen
2016 Künstlerbahnhof Ebernburg e.V., Bad Kreuznach, Kunstpreis   Bildern verbinde ich diese sichtbare Landschaft mit mei-
Lebt und arbeitet in Berlin und Neuruppin.                       nem inneren Blick, so dass ein Drittes entsteht. Ich stelle mir
                                                                 gerne vor, dass auch Fontane das sichtbare Havelland mit
www.heike-jeschonnek.de
                                                                 seiner inneren Landschaft verband.
                                                                                                                            H.J.
I N STA L L AT I O N S C H I R I N K R E T S C H M A N N
SCHIRIN KRETSCHMANN                                           Für ihre Raumintervention »Archäologie« bei der LAND
                                                              (SCHAFFT)KUNST-Biennale in Neuwerder hat Schi-
1980 in Karlsruhe geboren.                                    rin Kretsch­mann den Sandboden eines alten Schuppens
2000 –07 Studium an der Staatlichen Akademie
                                                              systematisch nach Fundstücken durchsucht. Was sie fand,
der Bildenden Künste Karlsruhe, an der Universität Freiburg
und am Centro Nacional de las Artes Mexiko City               hat sie an der Schwelle des Schuppens geordnet und
2009 Graduiertenkolleg, eikones Institut für Bildkritik       die Sandoberfläche des Bodens anschließend mit ihren
der Universität Basel                                         Handabdrücken in ein gleichmäßiges Relief verwandelt.
2011–19 PhD Freie Kunst, Bauhaus Universität Weimar           Die ausgelegten Fundstücke sind unspektakulär und
2014 Arbeitsstipendium, Stifung Kunstfonds                    könnten sich auch in jedem anderen Schuppen finden.
2019 Gastprofessur für Malerei, Akademie der
                                                              Manche von ihnen lassen sich leicht wiedererkennen:
Bildenden Künste München
Lebt und arbeitet in Berlin.                                  Glasscherben, Fliesen, Walnüsse oder Holzbretter. An-
                                                              dere erscheinen rätselhaft, wie ein gestreiftes Stück Stoff,
www.schirinkretschmann.de                                     das von einem Hausschuh zu stammen scheint, oder ein
                                                              kleiner Metallfuß mit Schraubgewinde, der ebenso zu ei-
                                                              ner Lampe als auch die zu einem Dekogegenstand gehört
                                                              haben könnte. Der Zufall, der diese Funde in Kretschmanns
                                                              Arbeit vereint und sie zugleich in ihrer geordneten Form als
                                                              Teil einer unbekannten Erzählung erscheinen lässt, lässt sie
                                                              wie ein Sinnbild für Fontanes Auffassung des Realismus
                                                              verstehen, dem sich seine literarischen Texte verpflichtet
                                                              fühlen. In seinem Essay über den »Realismus« aus den
                                                              1850er Jahren schrieb Fontane: Realismus bestehe darin,
                                                              die Wirklichkeit als »Material« zu verstehen, das durch
                                                              die Kunst »geläutert« werden müsse. Der Künstler (oder
                                                              Schriftsteller) wählt also aus dem Material der Realität aus
                                                              und präsentiert es dem Publikum in »gereinigter« Form, so
                                                              dass hinter der Oberfläche der Realität die wahren Ideen
                                                              und geistigen Wirkungen zum Vorschein kämen. Den Zu-
                                                              fall als Schöpfungsprinzip lehnte Fontane hingegen ab –
                                                              und damit auch die zu seiner Zeit sich immer stärker als
                                                              »Realitätsmedium« diskutierte Fotografie, die nach Fonta-
                                                              nes Auffassung eben nicht auswähle und reinige, sondern
                                                              alles zeige, was »zufällig« in den Bildausschnitt gerate.
                                                              Kretschmanns Arbeit nimmt Fontane also auf eine lako­
                                                              nische Weise beim Wort und ergräbt und ordnet buch-
                                                              stäblich das Material der Realität aus einem Stück des
                                                              märkischen Bodens, den Fontane in seinen »Wanderun-
                                                              gen durch die Mark Brandenburg« ja seinem Publikum
                                                              einst als Bewahrer von Geschichte und Geschichten
                                                              vorgestellt hatte.
                                                                                                            Carsten Probst
ZEICHNUNG
      Volker Lehnert
MALEREI VOLKER LEHNERT
VO L K E R L E H N E R T                                Seit jeher gehört Fontanes »Stechlin«, dieser melancholisch-
                                                        altersweise Abgesang auf ein Jahrhundert zu meinen Lieb-
1956 in Saarbrücken geboren.                            lingsbüchern. Insbesondere der letzte Satz aus Fontanes
1976 –81 Studium der Bildenden Kunst, Kunstgeschichte
                                                        letztem Roman blieb immer in meine Erinnerung einge-
und Germanistik an der Kunsthochschule und
der Universität Mainz                                   schrieben. Als Künstler beschäftigt mich seit Jahren das
1996 –2000 Professor für Zeichnung an der Hochschule    Thema Landschaft. »Ein wenig Argwohn in Waldstücken«
Niederrhein in Krefeld                                  heißt eine umfangreiche Werkgruppe von Malereien,
Seit 2000 Professor an der Staatlichen Akademie         Zeichnungen und Lithographien. Es sind innere Landschaf-
der Bildenden Künste Stuttgart                          ten, eher unwirtliche Orte, erdacht aus Fragmenten von
Lebt und arbeitet in Witten und Stuttgart.
                                                        Beobachtbarem und Versatzstücken medial vermittelter
www.volkerlehnert.de                                    Wirklichkeit, Metaphern des Zweifels, der Brüchigkeit. Und
                                                        immer wieder denke ich an den letzten Satz des »Stechlin«,
                                                        in dem die Landschaft als etwas gefeiert wird, das Men-
                                                        schen, Gesellschaften und Zeiten als einzig Bleibenswertes
                                                        überdauern möge.
                                                                                                                V.L.
I N STA L L AT I O N S E R A P H I N A L E N Z
SERAPHINA LENZ                                                FONTANEGASTSTÄTTE
                                                              Die Installation »Fontanegaststätte« entstand 2019 für
1963 in Münster geboren.                                      die Biennale LAND(SCHAFFT)KUNST.
1985 –1986 Ausbildung zur Modelistin, École supérieure
                                                              Fontanes Name, touristisch wichtig für das Havelland,
des arts et techniques de la mode, Esmod, Paris
1987–1994 Studium der Bildhauerei, Kunstakademie Münster,     konnte den Niedergang der nach ihm benannten Gast-
Meisterschülerin                                              stätte in Ribbeck, dem Dorf seines berühmten Birnbaums,
Seit 2001 Projekte im öffentlichen Raum                       nicht verhindern. Die potemkinsche Attrappe, hineingesetzt
2015 Artist in Residence, Museum SUDOH Odawara City, Japan;   in die ländliche Kulisse der Biennale im havelländischen
Auszeichnung des Japanischen Außenministers                   Neuwerder, spielt auf Erwartungen und Enttäuschungen
2010 Realisierung im Wettbewerb Temporäre Kunstprojekte
                                                              an, die mit einer Landpartie auf den Spuren Fontanes ver-
Marzahner Promenade
Lebt und arbeitet seit 1997 in Berlin.                        bunden sein mögen.
                                                              Wenn auch Standortmarketing oder Kulturförderung dazu
www.seraphinalenz.de                                          beitragen können, dass Spuren gefunden werden, hängt
                                                              beides am banalisierenden und daher leicht angeschmutz-
                                                              ten Geschäft der Kommerzialisierung der Schriftstellerfigur
                                                              Fontanes.
                                                                                                                      S.L.
MALEREI HARRY MEYER
HARRY MEYER                                               Seit wann wachsen Bäume aus Büchern?
                                                          Im Geiste derjenigen, die ein Buch lesen, entstehen
1960 in Neumarkt geboren.                                 Bilder: So unterschiedlich und vielfältig wie die Menschen
1988–93 Studium der Architektur (Diplom)                  selbst, formt sich der Ribbeck’sche Birnbaum aus ihren
1993 seither freischaffend als Maler bei Augsburg
                                                          Erfahrungen, Erinnerungen, Vorstellungen zu Formen und
1994 Meisterkurs »Art in Architecture« bei Frank Stella
                                                          Farben – das Denken ist ein Aufbauen auf dem Legat;
1992 Schwäbischer Kunstpreis
1993 Kunstförderpreis für Malerei der Stadt Augsburg
                                                          ein Bild, welches im Geist entsteht, wird zum Bild auf der
1996 Arbeitsstipendium Künstlerbahnhof Ebernburg          Leinwand, in einem Prozess unendlicher Freiheit: Nichts
1997 Arbeitsstipendium der Stiftung Kulturfonds,          muss, alles kann. Die gelbe Sonnenscheibe des hellen Ta-
Künstlerhaus Ahrenshoop                                   ges taucht den Baum in warmes Licht, Mond und Sterne
Lebt und arbeitet in Augsburg und Gesserthausen.          in fahler Nacht lassen die Konturen verschatten und eins
                                                          werden mit dem Dunkel. Die Chronologie des Baumes und
www.harrymeyermalerei.de                                  seiner Früchte liegt im Auge des Betrachters. Und Herr von
                                                          Ribbeck ist verstorben und kehrt nicht wieder zu den Irdi-
                                                          schen – jedenfalls nicht wie sein Birnbaum, der nach der
                                                          winterlichen Ruhe im Frühjahr erwacht zu schönster Blüte
                                                          und erahnen lässt, welch farbenfrohe reife Früchte er im
                                                          Herbst hervorbringen wird. Was jedoch bleibt, ist Ribbecks
                                                          Vermächtnis.
                                                                                                      Brigitte Herpich
SKLUPTUR REINHARD OSIANDER
REINHARD OSIANDER                                            Kloster Wutz, mit Java … bin verlobt
                                                             Alles Alte und das Neue
1967 in Bobingen geboren.                                    Da haben Sie die Stelle, die, wenn’s sein muss, mit Java
1992 – 95 Ausbildung zum Holzbildhauer, Berchtesgaden        telefoniert. Ein Strudel, ein Kreis aus Ästen zusammenge-
1995 – 2003 Studium der Bildhauerei bei Bernd Altenstein
                                                             baut, am Bildrand liegend, ist titelgebend für die Arbeit »mit
an der Hochschule für Künste, Bremen
                                                             Java…« Das Gefüge erweitert sich, bildet See und wird zur
2005 – 06 Lehrauftrag an der Hochschule für Künste, Bremen
2013 Kunstpreis ars loci, Nienburg Weser
                                                             Landschaft, zum Himmel, der zu regnen scheint. In diese
Lebt und arbeitet in Bremen.                                 Collage eigentümlicher Naturmaterialität wird grob das
                                                             Schloss Stechlin hineingeschnitzt. Kein Prunkschloss, mehr
www.reinhardosiander.de                                      einer Kaserne gleicht der Bau. Es ist das Alte, das Schloss,
                                                             das dargestellt ist, verortet in der heimatlichen Landschaft
                                                             Brandenburgs. Die Form der Arbeit, ein Bildstock mit In-
                                                             schrift wirkt aber wie aus einer anderen Heimat geborgt.
                                                             Die Bildtafeln, geschaffen um in der Landschaft platziert
                                                             an Geschehnisse zu erinnern, finden ihren Ursprung in der
                                                             religiösen volkstümlichen Kunst im Süden Deutschlands.
                                                             Wie Sterne funkeln die eingearbeiteten Äste am Himmel
                                                             als Woldemar, Rex und Czako, im Gespräch vertieft, ver-
                                                             suchen noch abends das Ziel, Kloster Wutz zu erreichen.
                                                             Die Troika galoppiert dabei über eine Landschaft, die
                                                             durch das Zusammenbauen der Äste fast abstrakt wirkt.
                                                             Auch im dritten Tableau sind die Protagonisten eingebettet
                                                             in die märkische Landschaft. Eine wässrige Farbigkeit über-
                                                             zieht auch hier das Bild. Klar ist Holz erkennbar als Träger
                                                             für Form und Farbe. Äste verbinden sich, werden zu Wol-
                                                             ken und Hügeln und bleiben doch, Äste. Das Brautpaar,
                                                             das den knappen Handlungsstrang Fontanes beendet und
                                                             auf das Neue verweist »zwei Junge heiraten sich« sind hier
                                                             Zentrum des Bildes.
                                                             Alle drei Arbeiten zusammen geben fast den Eindruck ei-
                                                             nes Flügelaltares wieder und verweisen doch mehr auf die
                                                             Heimat und Wurzeln des süddeutschen Bildhauers, der sie
                                                             geschaffen hat, als auf die des Brandenburgers Fontane.
                                                             Ob’s Fontane gefallen hätte seinen Roman als Marterl dar-
                                                             gestellt wiederzufinden, wer weiß?
                                                                                                                      R.O.
ZEICHNUNG WOLF -DIETER PFENNIG
WOLF -DIETER PFENNIG                                      Fontane war mir immer ein Anreger. Ich stelle ihn mir vor,    DER STECHLIN
                                                          wie er in einem dieser in seiner Zeit vielfach entstehenden   19. Kapitel
1956 in Dresden geboren.                                  Biergärten sitzt, den Gehör- und Augensinn an den Ne-
1980 – 85 Studium Kunsthochschule Berlin Weißensee,
                                                          bentischen, das Rohmaterial für seine Bilder und Dialoge
Grafik; Realisierung baugebundener Aufträge u. a.
in Berlin, Düsseldorf und Potsdam                         aufspürend. Läßt man die Dialoge im »Stechlin« oder in
Seit 2002 Professur an der Fachhochschule für Technik,    den »Poggenpuhls« laut lesend auf sich wirken, möchte         »Ja, schwach ist jeder, und ich mag mich auch nicht für all und jeden verbürgen. Aber in diesem speziel-
Wirtschaft und Gestaltung in Wismar, zahlreiche Einzel-   man kaum glauben, dass Bürgersfrauen, Offiziere, Dienst-      len Falle... Selbst Koseleger schien mir voll Zuversicht und Vertrauen, als er am Donnerstag noch mit mir
und Ausstellungsbeteiligungen in Europa und den USA       boten u.s.w. so miteinander gesprochen haben. Es ist im-      plauderte.«
Lebt und arbeitet in Potsdam und Wismar.                  mer ein luftiger, fast somnambuler Ton, in dem die Men-       »Koseleger voll Vertrauen! Na, dann geht es gewiß in die Brüche. Wo Koseleger Amen sagt, das ist
                                                          schen wie in gelernten Rollen sprechen. Manchmal auch         schon so gut wie Letzte Ölung. Er hat keine glückliche Hand, dieser Ihr Amtsbruder und Vorgesetzter.«
www.wolf-dieter-pfennig.com
                                                          ein stolzierender Ton, von Preußensentimentalität durch-      »Ich teile leider einigermaßen Ihre Bedenken gegen ihn. Aber was vielleicht mit ihm versöhnen kann, er
                                                          mischt und getragen von ganz eigener Beobachtungsga-          hat angenehme Formen und durchaus etwas Verbindliches.«
                                                          be. In einem frühen Brief schreibt er: »Ich bin gewiß keine   »Das hat er. Und doch, so sehr ich sonst für Formen und Verbindlichkeiten bin, nicht für seine. Man soll
                                                          dichterische Natur, mehr als tausend andere, die sich sel-    einem Menschen nicht seinen Namen vorhalten. Aber Koseleger! Ich weiß immer nicht, ob er mehr Kose
                                                          ber anbeten, aber ich bin keine große und keine reiche        oder mehr Leger ist; vielleicht beides gleich. Er ist wie‘ne Baisertorte, süß, aber ungesund. Nein, Loren-
                                                          Dichternatur. Es drippelt nur so.«                            zen, da bin ich doch mehr für Sie. Sie taugen auch nicht viel, aber Sie sind doch wenigstens ehrlich.«
                                                          In einem anderen Brief charakterisiert er sich folgen­        »Vielleicht«, sagte Lorenzen. »Übrigens hat Koseleger inmitten seiner Verbindlichkeiten und schönen
                                                          dermaßen: »Meine ganze Produktion ist Psychographie           Worte doch auch wieder was Freies, beinah‘ Gewagtes und ist mir da neulich mit Bekenntnissen gekom-
                                                          und Kritik, Dunkelschöpfung im Licht zurechtgerückt.«         men, fast wie ein Charakter.«
                                                          Dieses »Drippeln« und diese im Licht zurechtgerück-           Dubslav lachte hell auf. »Charakter. Aber Lorenzen. Wie können Sie sich so hinters Licht führen lassen. Ich
                                                          te »Dunkelschöpfung« macht Fontanes Ausstrahlung bis          verwette mich, er hat Ihnen irgendwas über Ihre ›Gaben‹ gesagt; das ist jetzt so Lieblingswort, das die
                                                          ins Heute so stark. Er ist ein Realist, der sein szenisches   Pastoren immer gegenseitig brauchen. Es soll bescheiden und unpersönlich klingen und sozusagen alles
                                                          Bewußtsein als Schreibender »drippeln« läßt. Fontane          auf Inspiration zurückführen, für die man ja, wie für alles, was von oben kommt, am Ende nicht kann. Es
                                                          ist ein Handwerker im und mit dem Realen und gleich-          ist aber gerade dadurch das Hochmütigste... War es so was? Hat er meinen klugen Lorenzen, eh er sich
                                                          zeitig ein Phantast mit straff gezogenem Zügel. Man darf      als ›Charakter‹ ausspielte, durch solche Schmeicheleien eingefangen?«
                                                          sich viel von ihm abschauen. Ich habe nicht aufgehört, ihn    »Es war nicht so, Herr von Stechlin. Sie tun ihm hier ausnahmsweise unrecht. Er sprach überhaupt nicht
                                                          zu lesen.                                                     über mich, sondern über sich und machte mir dabei seine Confessions. Er gestand mir beispielsweise,
                                                                                                               W-D.P.   daß er sich unglücklich fühle.«
                                                                                                                        »Warum?«
                                                                                                                        »Weil er in Quaden-Hennersdorf deplaciert sei.«
                                                                                                                        »Deplaciert. Das ist auch solch Wort; das kenn‘ ich. Wenn man durchaus will, ist jeder deplaciert, ich,
                                                                                                                        Sie, Krippenstapel, Engelke. Ich müßte Präses von einem Stammtisch oder vielleicht auch ein Badedirek-
                                                                                                                        tor sein, Sie Missionar am Kongo, Krippenstapel Kustos an einem märkischen Museum und Engelke, nun
                                                                                                                        der müßte gleich selbst hinein, Nummer hundertdreizehn. Deplaciert! Alles bloß Eitelkeit und Größen-
                                                                                                                        wahn. Und dieser Koseleger mit dem Konsistorialratskinn! Er war Galopin bei ’ner Großfürstin; das kann
                                                                                                                        er nicht vergessen, damit will er‘s nun zwingen, und in seinem Ärger und Unmut spielt er sich auf den
                                                                                                                        Charakter aus und versteigt sich, wie Sie sagen, bis zu Confessions und Gewagtheiten. Und wenn er nun
                                                                                                                        reüssierte (Gott verhüt‘ es), so haben Sie den Scheiterhaufenmann comme il faut. Und der erste, der rauf
                                                                                                                        muß, das sind Sie. Denn er wird sofort das Bedürfnis spüren, seine Gewagtheiten von heute durch irgend-
                                                                                                                        ein Brandopfer wieder wettzumachen.«

                                                                                                                                                                                                                    Theodor Fontane
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