Sind Städte Klimapioniere? - Leibniz-Institut für Raumbezogene ...

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Sind Städte Klimapioniere? - Leibniz-Institut für Raumbezogene ...
No 97 | Dezember 2021

I RS AKTUELL
Magazin für Raumbezogene Sozialforschung

Sind Städte Klimapioniere?

_Städte als Handelnde der Klimapolitik
_Klima-Governance: Über das Zusammenspiel der Ebenen
_Verkehrswende in Kernstadt und Suburbia
_Interview: Planungskonflikte um Investitionsprojekte
Sind Städte Klimapioniere? - Leibniz-Institut für Raumbezogene ...
In dieser Ausgabe
                                                                Nachrichten aus dem Institut
                                                                30 Abschluss des Forschungsprogramms
                                                                     mit internationaler Konferenz zu
                                                                     Digitalisierung und Raumentwicklung
                                                                31 Workshop diskutiert Rolle von digita-
                                                                    len Plattformen in der regionalen Ent-
                                                                    wicklung

4                               12
                                                                32 Abschlusstagung „Die große Kraft des
    Städtische Klimapolitik          Klimapolitische                Kollektivs. Kollaboratives Arbeiten in
    zwischen alten Industrien        Steuerung: (Nicht nur)         der Architektur vom 20. Jahrhundert
    und neuen                        auf die Bundesländer           bis in die Gegenwart“
    Allianzen                        kommt es an
                                                                33 Besser lernen in Krisen: Konferenz und
                                                                    Publikationen zur Krisenforschung
                                                                34 IRS an neuem Zertifikatsstudiengang
                                                                   „Transferscout*in“ beteiligt
                                                                35 Neuer Leibniz-Forschungsverbund
                                                                  „Wert der Vergangenheit“
                                                                36 „Wissenschaft muss ein eigener
                                                                    Freiraum bleiben!“ Alumni-Interview
                                                                     mit Thorsten Heimann

18                              22
                                                                38 Neues DFG-Projekt zur räumlichen
        Verkehrswende                   Interview mit               Ausbreitung der COVID-19-Pandemie
        in Suburbia?                    Eva Eichenauer und      38 Virtueller Besuch aus dem Brandenbur-
                                        Manfred Kühn:                ger Wissenschaftsministerium im IRS
                                      „Es geht um Macht-
                                                                39 Einführungswoche des
                                        konflikte, nicht um
                                                                    EU-Ausbildungsnetzwerks „Coral“
                                        Stadt-Land-Konflikte“
                                                                40 IRS beim Langen Tag der Stadtnatur
                                                                41 51. Brandenburger Regionalgespräch
                                                                  „Raus aufs Land – Leben und Arbeiten
                                                                    im digitalen Wandel“
                                                                42 Historische Forschungsstelle arbeitet
                                                                    Geschichte des Flughafenstandorts
                                                                    Berlin Schönefeld zur Zeit des
                                                                    Nationalsozialismus auf
                                                                42 „Internal Migration Industries“:
                                                                    Neuer Artikel zur Wohnraumvermitt-
                                                                    lung an Geflüchtete
                                                                43 SFB „Re-Figuration von Räumen“:
                                                                    Visuelles Lesebuch „Räume in
                                                                    Veränderung“ erschienen
                                                                44 Neues Schwerpunktheft in
                                                                     PLANERIN: „Endlich ländlich.
                                                                     Kleinstädte und Dörfer lebendig
                                                                     gestalten“
                                                                44 Wanderausstellung „Stadtwende“
                                                                     startet im Stadtmuseum Brandenburg
                                                                     an der Havel
                                                                45 IRS-Betriebsausflug zur Baustelle der
                                                                    Tesla-Gigafactory
                                                                46 Personalien 
                                                                48 Fundstück: Ein Wimpel aus Nordkorea

2                                                                     IRS AKTUELL No 97 | Dezember 2021
Sind Städte Klimapioniere? - Leibniz-Institut für Raumbezogene ...
Liebe Leserinnen und Leser von IRS aktuell,

                                von Ende Oktober bis Mitte November tagten Regierungen und andere Organisatio-
                                nen beim „COP26“-Gipfel in Glasgow, um die Ziele des Pariser Klimaabkommens nun
                                endlich in konkrete Maßnahmen zu übersetzen und so den Klimawandel zumindest
                                zu begrenzen. Bereits früh zeigte sich dabei, dass die versammelten Regierungsche-
                                finnen und -chefs auch dieses Mal nicht über ihre Schatten springen würden. Sind die
                                Nationalstaaten womöglich überfordert mit einer globalen Steuerungsaufgabe dieser
                                Größe? Wenn ja, wer könnte in die Lücke vorstoßen? Unternehmen? Die Zivilgesell-
                                schaft? Netzwerke von Regionen?

                                In dieser Ausgabe widmen wir uns den Städten und ihrer – möglichen – Rolle als Vorrei-
                                ter der Klimapolitik. Bereits seit Längerem forscht das IRS zu den räumlichen Dimen-
                                sionen der Energiewende. Neu hinzu kam vor drei Jahren die Frage nach klimapoliti-
                                schen Ansätzen in Städten, in Deutschland wie auch im europäischen Rahmen. In den
                                Titelbeiträgen dieses Hefts fragen wir, welche Städte tatsächlich klimapolitisch aktiv
                                werden, wie sie das tun, welche historischen und strukturellen Faktoren die Aktivi-
                                täten beeinflussen, und wie aktuelle Ereignisse sich auswirken (S. 4). Wir „zoomen“
                                aber auch heraus und fragen, in welchem Verhältnis Kernstadt und Umland stehen,
                                etwa bei der Verkehrswende (S. 18), und wie andere Ebenen – Bund, Land, EU – die
                                Klimapolitik auf lokaler Ebene prägen (S. 12). Schließlich tauchen wir ein in die oft
                                konflikthaften Aushandlungen rund um konkrete Planungsvorhaben, die im Rah-
                                men ökologischer und ökonomischer Transformationen auf die Kommunen zukom-
                                men (Interview auf S. 22). Blättern Sie aber auch gerne durch die Nachrichten aus dem
                                Institut. So erfahren Sie zum Beispiel von IRS-Alumnus Thorsten Heimann, was Kul-
                                tur- und Klimapolitik miteinander zu tun haben (S. 36).

                                Nun noch eine Nachricht in eigener Sache. Mit dem Ende dieses Jahres schließt das
                                IRS sein dreijähriges Forschungsprogramm „Städte und Regionen als offene Hand-
                                lungszusammenhänge“ ab. Eine internationale Online-Konferenz „On/Offline Inter­
                                ferences“ am 15. und 16. November führte wesentliche Forschungsergebnisse zum
                                Querschnittsthema „Digitalisierung und sozial-räumlicher Wandel“ zusammen (S. 30).
                                Das Jahr 2022 wird nicht nur ein neues Forschungsprogramm, sondern, als Ergebnis
                                eines nunmehr abgeschlossenen Strategieprozesses, einige organisatorische Neue-
                                rungen für das Institut mit sich bringen. Wir werden Sie dazu auf dem Laufenden
                                halten. So viel sei gesagt: Das Thema, das uns ab dem nächsten Jahr beschäftigen
                                wird, ist Disruption.

                                Nun wünsche ich Ihnen eine anregende Lektüre.

                                Ihr Oliver Ibert
                                Direktor des IRS

IRS AKTUELL No 97 | Dezember 2021                                                                                        3
Sind Städte Klimapioniere? - Leibniz-Institut für Raumbezogene ...
Städtische Klimapolitik
      zwischen alten Industrien und neuen
                   Allianzen
Städte gelten als Pioniere der Klimapolitik. Doch entspricht dieses Image der Realität, oder trifft es in
Wahrheit nur auf wenige, wohlhabende Metropolen zu? Zwei Forschungsprojekte am IRS haben die
klimapolitischen Aktivitäten von Städten unter die Lupe genommen. Das Ergebnis: Es gibt viele unter-
schiedliche Positionierungen, und alte Ungleichgewichte bestehen fort. Doch gesellschaftlicher Druck
hat gerade in den letzten Jahren fast überall etwas bewegt.

Städte verursachen weltweit etwa 70 %                                                   Welche Städte handeln –
der Treibhausgasemissionen – durch                                                      und warum?
Verkehr, Industrie, Bautätigkeit und
die Heizung und Kühlung von Gebäu-                                                      Sind Städte also die Pioniere des Kli-
den. Zugleich sind sie vom Klimawan-                                                    maschutzes und der Klimaanpassung?
del besonders betroffen: Hitzewellen,                                                   So pauschal stimmt die Aussage nicht.
Starkregen und Stürme richten in                                                        Zunächst waren es insbesondere wohl-
ihnen schwere Sachschäden an und                                                        habende europäische Metropolen wie
gefährden die Gesundheit der Stadt-                                                     Amsterdam, Kopenhagen und Paris,
bevölkerung bis hin zu Todesfällen.                                                     die eine ehrgeizige sowie öffentlich-
                                                                                        keitswirksame Transformationspoli-
 Seit knapp 30 Jahren engagieren sich                                                   tik verfolgten. Dadurch erhielten sie
 einige Städte deshalb für den Klima-                                                   viel Sichtbarkeit auf der Weltbühne,
 schutz. Sie verringern Treibhausgas-                                                   etwa als Austragungsorte von Klima­
 emissionen, indem sie etwa Elektromo-                                                  gipfeln und als Namensgeber für Ver-
                                                      Dr. Wolfgang Haupt
 bilität, Radwege und den öffentlichen                Tel. 03362 793 187                träge wie das Abkommen von Paris.
 Verkehr ausweiten oder Gebäudemo-               wolfgang.haupt@leibniz-irs.de          Was ist jedoch mit den Großstädten in
 dernisierungen fördern. Angesichts                                                     der zweiten Reihe, was mit kleineren,
 immer extremerer Wetterereignisse            Wolfgang Haupt ist Stadtforscher und      ärmeren oder altindustriell gepräg-
 kamen in jüngerer Zeit Maßnahmen            stellvertretender Leiter der Forschungs-   ten Städten? Wer handelt, für Klima-
 für die Anpassung an den Klimawan-            abteilung „Institutionenwandel und       schutz und/oder Klimaanpassung, mit
                                            regionale Gemeinschaftsgüter“. In seiner
 del hinzu, etwa Flächenentsiegelung,                                                   welchem Fokus und welchem Ehrgeiz?
                                              Forschung beschäftigt er sich schwer-
 Stadt- und Gebäudebegrünung, um               punktmäßig mit kommunaler Klima­         Welche Faktoren bestimmen das Han-
 natürliche Kühlung und Versicke-           politik, transnationalen Klimanetzwerken    deln, und kann das Lernen der Städte
 rung zu fördern. Aktuell werden sol-         und interkommunalen Lernprozessen.        untereinander ein stimulierender Fak-
 che Ansätze unter dem Schlagwort der         Im Rahmen von zwei Projekten unter-       tor sein?
„Schwammstadt“ diskutiert.                    sucht er die klimapolitischen Ansätze
                                               deutscher und europäischer Städte.
                                                                                         Zwei Forschungsprojekte des IRS
Städte werden deshalb in der Klima-                                                      adressieren diese Fragen. Im Projekt
debatte heute überwiegend als Trei-                                                     „Matching Forerunner Cities“ (MaFoCi)
ber des Fortschritts wahrgenommen.                                                       eruierten Kristine Kern und Wolfgang
In seinem Buch „If Mayors Ruled the                                                      Haupt von der Forschungsabteilung
World“ schrieb der amerikanische Poli-                                                  „Institutionenwandel und regionale
tologe Benjamin R. Barber den Städ-                                                      Gemeinschaftsgüter“ in Kooperation
ten sogar die Rolle der zentralen poli-                                                  mit der finnischen Åbo Akademi Uni-
tischen Gestalter einer vernetzten Welt                                                  versity und im Auftrag der finnischen
zu – die somit aus seiner Sicht die „dys-                                                Großstadt Turku – einer Klimaschutz-
funktionalen“ Nationalstaaten ablösen.                                                   Vorreiterstadt, die bis 2029 klimaneu-

4                                                                                                 IRS AKTUELL No 97 | Dezember 2021
Sind Städte Klimapioniere? - Leibniz-Institut für Raumbezogene ...
IRS AKTUELL No 97 | Dezember 2021   5
Sind Städte Klimapioniere? - Leibniz-Institut für Raumbezogene ...
tral werden will –, was die Stadt von                                                 vertiefende Fallstudien („Pfadanaly-
vergleichbar positionierten Städten                                                   sen“) in den drei Partnerstädten durch,
im Ostseeraum in Sachen Klimapoli-                                                    deren Ziel es war, zu verstehen, wie
tik lernen kann. Als Vergleichsstädte                                                 Städte im Lauf der Zeit überhaupt zu
wurden dabei Malmö (Schweden),                                                        ihrer eigenen Klimapolitik kommen
Groningen (Niederlande) und Rostock                                                  – was sie treibt, was sie hemmt, was
(Deutschland) ausgewählt. Die drei                                                    ihre Besonderheiten ausmacht. Spä-
Städte weisen viele strukturelle Ähn-                                                 ter, sobald mehr über die strukturellen
lichkeiten mit Turku auf: Sie sind ähn-                                               Unterschiede der 104 Untersuchungs-
lich groß, gelten in ihren jeweiligen                                                 städte bekannt war, wurden solche
Ländern als klimapolitische Vorrei-                                                   Pfadanalysen für 17 weitere, sehr
ter, sind traditionsreiche Hansestädte,                                               unterschiedlich aufgestellte Städte
verfügen als alte Universitätsstädte                                                  durchgeführt. Insgesamt führte das
über eine starke Forschungsinfra-                                                     Projektteam so über 70 Interviews mit
struktur und mussten im Lauf ihrer                      Janne Irmisch                 Vertreter*innen aus Stadtverwaltun-
Geschichte ähnliche Strukturwandel-                 Tel. 03362 793 130                gen, Kommunalpolitik und Zivilgesell-
prozesse bewältigen.                            janne.irmisch@leibniz-irs.de          schaft in 20 Städten.

Im transdisziplinären Forschungs-              Janne Irmisch ist Geographin und      Zwischen Klimaschutz und
                                              wissenschaftliche Mitarbeiterin der
projekt „Urbane Resilienz gegenüber
                                                      Forschungsabteilung            Klimaanpassung
extremen Wetterereignissen – Typo-            „Institutionenwandel und regionale
logien und Transfer von Anpassungs-       Gemeinschaftsgüter“. Im Projekt „Urbane    Es zeigte sich: Städtische Klimapolitik
strategien in kleinen Großstädten und      Resilienz gegenüber extremen Wetter-      ist zunächst ganz klar eine Ressourcen-
Mittelstädten“ (ExTrass), welches das        ereignissen“ beschäftigt sie sich mit   frage. Große Städte mit einem größe-
IRS im Verbund unter anderem mit der        kommunaler Klimaschutz- und Klima-       ren Budget für Klimapolitik können
Universität Potsdam und den Projekt-       anpassungspolitik, der klimapolitischen   sich Fachabteilungen und feste Stellen
                                           Pfadentwicklung in deutschen Mittel-
partnerstädten Potsdam, Würzburg                                                     für Klimaschutz und/oder Klimaan-
                                             und Großstädten sowie dem Transfer
und Remscheid vorantreibt, steht die             kommunaler Klimaschutz- und         passung eher leisten, während kleinere
Anpassung an Extremwetter in deut-                  Anpassungsmaßnahmen.             Kommunen oft bestenfalls auf Förder-
schen Städten im Vordergrund. Das                                                    mittelbasis tätig sind und Klimamana-
Team des IRS, bestehend aus Kristine                                                 ger*innen nur befristet beschäftigen
Kern, Wolfgang Haupt, Peter Eckers-                                                  können. Die seit längerem führen-
ley und Janne Irmisch, erhob die kli-                                                den Metropolen besetzen weiterhin
mapolitische Aktivität, sowohl im                                                    die Spitzenplätze in Klimaschutz und
Klimaschutz als auch in der Klima-                                                   Klimaanpassung (siehe Kasten S. 8),
anpassung, in allen kreisfreien deut-                                                wobei der Klimaschutz bereits deutlich
schen Städten über 50.000 sowie allen                                                länger etabliert ist und im Lauf der Zeit
Städten über 100.000 Einwohner (insg.                                                durch Klimaanpassungsaktivitäten
104 Städte). Mit Hilfe von umfangrei-                                                ergänzt wurde. Dennoch haben sich
chen Desktop-Recherchen, Analysen                                                    auch einige kleinere Großstädte und
von Policy-Dokumenten und Inter-                                                     auch Mittelstädte in starke Positionen
                                                     Podcast Episode 8:
views mit Expert*innen identifizier-                                                 vorgearbeitet. Dabei ist eine gewisse
                                                  Städte im Klimawandel:
ten die Forschenden klimapolitische              Resilienz oder Anpassung?
                                                                                     Rollenspezialisierung erkennbar, etwa
Strategien und institutionelle Struk-                                                die Unterscheidung zwischen „Leader“
turen, einschließlich personeller Res-                                               und „Pioneer“. Manche Städte sind
sourcen. Auch untersuchte das Team                                                   überaus aktiv in internationalen Netz-
die zeitliche Entwicklung der Konzepte                                               werken, erhalten Preise für ihre Klima-
und Strategien sowie ihre Umsetzung                                                  und Nachhaltigkeitspolitik und insze-
in konkrete Maßnahmen. Indem sie                                                     nieren sich als Vorbilder („Leaders“ wie
die Funde zählten und mit Punkten                                                    beispielsweise Freiburg). Andere ver-
bewerteten, konnten sie die klimapoli-                                               fügen über sehr fortschrittliche Kon-
tische Aktivität von Städten quantifi-                                               zepte und Maßnahmen, kommuni-
zieren und unterschiedlichen Clus-                                                   zieren dies aber weniger nach außen,
tern zuordnen (siehe Kasten S. 8). Zu                                                denn sie haben weniger Interesse oder
Beginn des Projekts führte das Team                                                  schlicht keine Kapazitäten, ein inter-

6                                                                                              IRS AKTUELL No 97 | Dezember 2021
Sind Städte Klimapioniere? - Leibniz-Institut für Raumbezogene ...
nationales Profil zu bilden („Pioneers“   aus: „Es geht ja immer um Flächen.          und einschlägige Forschungsinstitute
wie etwa Karlsruhe).                      Was macht man mit einem Dach? Man           verfügen oder darüber hinaus das
                                          kann es begrünen – eine klassische Kli-     Selbstbild einer Wissenschaftsstadt
Auch die Unterscheidung zwischen          maanpassungsmaßnahme. Man kann              pflegen, ist es deutlich wahrscheinli-
Klimaschutz und Klimaanpassung            Solarzellen darauf bauen – eine klas-       cher, dass sie sich aktiv mit dem Kli-
ist für kleinere Städte sehr bedeut-      sische Klimaschutzmaßnahme. Man             mawandel auseinandersetzen und
sam. Manche Städte sind stark auf         kann auch beides kombinieren. Dazu          entsprechende Strategien entwickeln.
Klimaschutz spezialisiert und haben       müssen die beiden Bereiche aber koor-       Besonders produktiv sind dabei ver-
erst spät begonnen, Klimaanpassungs-      diniert handeln“. Aus der Sicht von         trauensvolle Beziehungen und Aus-
konzepte zu entwickeln (z.B. Bonn,        Kommunen rückt die Anpassung an             tauschformate zwischen Wissenschaft
Erlangen, Freiburg). Andere stellen       den Klimawandel zunehmend ins               und Stadtverwaltung. Ein Beispiel für
die Klimaanpassung von Anfang an          Zentrum der Aufmerksamkeit. Zwar            eine solche etablierte Beziehung ist die
in den Vordergrund (z.B. Oberhausen,      handelt es sich, wie beim Klimaschutz,      im Jahr 2018 geschlossene „Klimapart-
Solingen, Wuppertal, Karlsruhe). Wie-     nicht um eine Pflichtaufgabe der kom-       nerschaft Stadt und Wissenschaft“ in
der andere, wie etwa das bayerische       munalen Selbstverwaltung (siehe auch        Potsdam. Hinderlich für klimapoli-
Würzburg, starteten insgesamt spät        S. 12), jedoch sind verschiedene Pflicht-   tische Aktivität ist es dagegen, wenn
in eine eigene Klimapolitik, adres-       aufgaben davon berührt: die Sicherung       eine Stadtgesellschaft, insbesondere
sieren nun aber beide Handlungsfel-       der Trinkwasserversorgung etwa, und         ihre politischen Netzwerke, von Ver-
der gemeinsam. Selbst unter den inter-    der Schutz der Bevölkerung vor Katast-      treter*innen traditioneller fossiler
nationalen Spitzenreitern sind hier       rophen. Klimaschutz muss dagegen in         Indus­triebranchen dominiert sind,
Unterschiede erkennbar. So gehört         einem zunehmend spannungsgelade-            und wenn die Identität der Stadt
das finnische Turku weltweit zu den       nen Umfeld (siehe S. 22) mit anderen        stark durch diese Industrien geprägt
führenden Städten im Klimaschutz,         Zielen der städtischen Bau-, Verkehrs-      ist. Beobachtet hat das Forschungs-
hat aber im Bereich Klimaanpassung        und Energiepolitik in Übereinstim-          team diesen Zusammenhang etwa in
Nachholbedarf.                            mung gebracht werden.                       einzelnen traditionellen Zentren der
                                                                                      Automobilproduktion sowie in Zentren
 Zur Integration von Klimaschutz und      Triebkräfte und Hindernisse                 der Kohleförderung und -verstromung.
-anpassung hat das ExTrass-Team im        für Klima-Aktivität                         Mehrere Städte aus dieser Gruppe
 Lauf der Forschung eine differenzierte                                               gehören zu den klimapolitisch inak-
 Position entwickelt. Im IRS-Podcast      Generell wird die klimapolitische Akti-     tivsten der untersuchten Gesamtheit.
 Society@Space spricht sich Stadtfor-     vität von Städten begünstigt durch die
 scher Wolfgang Haupt für eine enge       Präsenz wissenschaftlicher Institutio-      Förderlich, insbesondere für den Kli-
 Abstimmung der Handlungsfelder           nen. Wenn Städte über Universitäten         maschutz, kann es sein, wenn Städte

IRS AKTUELL No 97 | Dezember 2021                                                                                           7
Sind Städte Klimapioniere? - Leibniz-Institut für Raumbezogene ...
Zugriff auf Infrastrukturbetriebe der                                                         Grundsatzentscheidungen über die
Energieversorgung, des öffentlichen                                                           Ausgestaltung von Energieversor-
Verkehrs oder der Wohnraumversor-                                                             gungsnetzen Städte und ihre Klima-
gung ausüben können, etwa durch                                                               Performance für Jahrzehnte prägen.
kommunales Eigentum. Dies zeigt sich
wiederum am Beispiel der Stadt Turku,                                                         Ähnlich wirken sich Gelegenheitsfens-
die über städtische Unternehmen eine                                                          ter in der Baupolitik aus. Sofern eine
klimawirksame Infrastrukturpolitik                                                            Stadt über Planungskapazitäten, güns-
gestaltet. Ähnliches zeigt sich in Frei-                                                      tige Eigentumsverhältnisse, Investi-
burg und Potsdam. Gerade am Beispiel                                                          tionskapital, freie Flächen und/oder
der Energiepolitik, besonders in der                                                          einen gestaltbaren Gebäudebestand
aktuell angespannten Lage auf dem                                                             verfügt, kann sie zahlreiche Maßnah-
Gasmarkt, wird jedoch deutlich, dass                                                          men umsetzen, welche zu einer besse-
das Ziel der Energiesicherheit unter-                                                         ren Anpassung an den Klimawandel
schiedlich verstanden und adressiert                                                          führen und den Ausstoß von Treib-
werden kann: im Sinne einer entschie-                                                         hausgasemissionen pro Kopf deutlich
denen Hinwendung zu regenerativen                                                             verringern. Sind Städte jedoch durch
Energien und dezentraler Produktion,                                                          naturräumliche Gegebenheiten (z.B.
oder im Sinne einer eher defensiven                                                           Kessellage, Lage an Flüssen und am
Absicherung mit fossilen Energieträ-                                                          Meer) und den Gebäudebestand (z.B.
gern. Die Forschung hat gezeigt, dass                                                         denkmalgeschützt oder wenig kom-

     Klimaschutz im Welterbe
     In historischen Innenstädten gibt es häufig und zunehmend
     Konflikte zwischen denkmalschutzrechtlichen Vorgaben und
     dem Ziel, Bauten klimagerecht umzugestalten. Ein Team be-
     stehend aus Forschenden des IRS und der Berner Fachhoch-
     schule beleuchtet das Zusammenspiel von Kulturerbe und
     Klimapolitik nun unter einem neuen Blickwinkel. Die Au-
     tor*innen fragen: Inwiefern beeinflussen sich Klimapoli-
     tik und Urban Heritage Management gegenseitig? Welche
     Schnittstellen und Synergien gibt es zwischen beiden? Und
     was können Städte mit großer denkmalgeschützter Bau-
     substanz voneinander lernen?

     Die Fallstudie in den UNESCO-Welterbestädten und „Mat-
     ching Cities“ (siehe S. 4) Bern und Potsdam zeigt, dass die
     historischen Strukturen der Städte die heutigen Hand-
     lungsmöglichkeiten stark eingrenzen – jedoch nicht nur
     im nega­tiven Sinn. Die Welterbegebiete bieten im Gegen-
     teil durchaus gute Voraussetzungen für eine nachhaltige,
     klimaneutrale Stadt: Der mittelalterliche Stadtkern Berns
     wurde nicht autogerecht umgebaut und bildet so eine Stadt
     der kurzen Wege. Potsdams großflächige Grün- und Was-
     serflächen unterstützen die Abmilderung von Klimawandel­
     folgen. In beiden Städten wurden – auch aus Denkmal-
     schutzinteresse – historische Gebäude energetisch saniert,
     in der Berner Innenstadt gar Infrastruktur für Fernwärme
     und E-Mobi­lität installiert. So beweisen Bern und Potsdam,
     dass Städte mit historischer Innenstadt nicht nur trotz, son-
     dern auch aufgrund des Kulturerbes klimapolitische Vorrei-      Kern, Kristine; Irmisch, Janne; Odermatt, Colette;
                                                                     Haupt, Wolfgang; Kissling-Näf, Ingrid (2021):
     ter werden können. Die Studie förderte zudem zahlreiche         Cultural Heritage, Sustainable Development,
     Lernpotenziale zwischen Potsdam und Bern sowie für viele        and Climate Policy: Comparing the UNESCO World
                                                                     Heritage Cities of Potsdam and Bern. Sustainability,
     weitere historische Innenstädte – insbesondere die 90 euro-     13 (16), p. 9131.
     päischen Welterbestädte – zu Tage.                                doi.org/10.3390/su13169131

8                                                                                                           IRS AKTUELL No 97 | Dezember 2021
Sind Städte Klimapioniere? - Leibniz-Institut für Raumbezogene ...
munaler Besitz) eingeschränkt, ste-                    Städtische                                  öffentlichen Sektor, jedoch ist gesell-
hen ihnen weniger Optionen für eine                                                                schaftliche Mitbestimmung an der
klimaorientierte Baupolitik offen. Hier         Klimapolitik ist                                   Politikformulierung dort kaum ver-
ist jedoch anzumerken, dass Bereiche                                                               ankert. Mit Groningen und Rostock
mit historischen Gebäuden oft bereits
                                                                eine                               standen im Projekt zwei partizipa-
nachhaltig und klimafreundlich                  Ressourcenfrage.                                   tionsstarke Städte als Vergleichsfälle
gestaltet sind – etwa durch eine bestän-                                                           zur Verfügung. Besonders Groningen
dige Bauweise, kurze Wege und versi-                 Große Städte                                  in den Niederlanden blickt auf eine
ckerungsfreundliche Bodenbeläge wie                   können sich                                  jahrzehntelange Tradition aktiver bür-
Kopfsteinpflaster (siehe Kasten S. 9).                                                             gerschaftlicher Initiative zurück, die
                                             Fachabteilungen und                                   unter anderem wesentlich zur Trans-
Zivilgesellschaft als                          feste Stellen für                                   formation Groningens zur Fahrrad-
Legitimationsquelle und                                                                            stadt beigetragen hat. Der Unterschied
Machtfaktor                                     Klimaschutz und/                                   erwies sich jedoch als so groß, dass
                                                                                                   Erkenntnisse aus den Vergleichsstäd-
                                             oder Klimaanpassung
 Gerade in den letzten Jahren gewann                                                               ten kaum übertragbar waren. Fündig
 die zivilgesellschaftliche Dimension               eher leisten,                                  wurde das Forschungsteam dagegen in
 städtischer Klimapolitik massiv an                                                                einem Projekt der Stadt Zwickau, das
 Bedeutung. Das liegt zum Teil am               während kleinere                                   wie ExTrass ebenfalls über die BMBF-
 wachsenden Wunsch nach Partizi-                     Kommunen oft                                  Förderlinie „Zukunftsstadt“ gefördert
 pation in der Bevölkerung und in der                                                              wird. Die sächsische Industriestadt
 Politik selbst (siehe S. 22). Das IRS            bestenfalls auf                                  gehört erst seit der Eröffnung des VW-
 untersuchte im Rahmen des MaFoCi-             Fördermittelbasis                                   Elektroautowerks im Jahr 2019 zu den
 Projekts im Auftrag der Stadt Turku                                                               wirtschaftlichen Profiteuren einer kli-
 auch die Möglichkeiten einer verbes-               und befristet                                  mafreundlichen Transformation. Die
 serten zivilgesellschaftlichen Partizi-                                                           Bevölkerung blieb jedoch überwiegend
                                                  agieren können.
 pation an der städtischen Klimapoli-                                                              skeptisch, und Partizipationsstruktu-
 tik. Turku – wie Finnland insgesamt                                                               ren waren generell wenig ausgeprägt.
– verfügt zwar über einen äußerst                                                                  Von Zwickau konnte die Stadtverwal-
 handlungsfähigen und modernen                                                                     tung von Turku lernen, wie sich Parti-

Städte im Klima-Ranking
Ein Team des IRS und der Universität Potsdam hat 104
Groß- und Mittelstädte in Deutschland nach dem Umfang
und dem Ambitionsniveau ihrer klimapolitischen Aktivitäten
sortiert (siehe S. 6). Daraus entstanden je ein Städteranking
für Klimaschutz und für Klimaanpassung, ein kombinier-
tes Gesamtranking sowie eine Gruppierung in sechs Cluster
von Städten, die mit ihrem Politik-Mix jeweils ähnlich auf-
gestellt sind. Berlin ist auf Platz 1 des Gesamtrankings und
des Klimaanpassungsrankings. Große Städte dominieren so-
wohl die Top 20 des Gesamtrankings als auch die Städte
(Gruppe 1), die in Klimaschutz und -anpassung sehr stark
sind. Am nächsten dazu liegen Großstädte (Gruppe 2), die in
beiden Feldern stark sind, aber einen Schwerpunkt auf Kli-
maanpassung legen, wie etwa Dresden, Köln und Duisburg.          ken präsente Städte (Gruppe 4) sind u. a. Bochum, Moers
Die Forschenden schließen daraus, dass die Ressourcen und        und Osnabrück. Im hinteren Bereich der drei Rankings fin-
der Vorsprung großer Städte beim Klimaschutz auch häu-           den sich überwiegend die kleineren Mittelstädte. Die Studie
fig bei der Formulierung von Klimaanpassungsstrategien           bezieht sich auf Aktivitäten bis Ende 2018. Die Autor*innen
helfen. Manche kleineren Städte belegen Spitzenpositionen        planen eine Aktualisierung und Erweiterung des Rankings
im Klimaschutz, während sie in der Klimaanpassung weni-          auf etwa 190 Städte.
ger aktiv sind (Gruppe 3), wie etwa Emden, Kempten und           Otto, Antje; Kern, Kristine; Haupt, Wolfgang; Eckersley, Peter; Thieken, Annegret
Kaiserslautern. Bei Klimaschutz und -anpassung gleicher-         (2021): Ranking Local Climate Policy: Assessing the Mitigation and Adaptation
                                                                 Activities of 104 German Cities. Climatic Change, 167 (5)
maßen aktive, jedoch seltener in internationalen Netzwer-          link.springer.com/article/10.1007/s10584-021-03142-9

IRS AKTUELL No 97 | Dezember 2021                                                                                                                    9
Sind Städte Klimapioniere? - Leibniz-Institut für Raumbezogene ...
zipationsstrukturen in einem Umfeld                                                                           gelang, auch tiefsitzende Widerstände
ohne ausgeprägte Partizipationskultur                                                                         zu lösen. „Die lokalen Fridays4Future-
                                                               IRS DIALOG
nach und nach erproben und etablie-                                                                           Gruppen sind immer weitergegan-
ren lassen. Zwar unterscheidet sich                                                         1 2021
                                                                                                              gen, waren nie zufrieden und haben
das Niveau der zivilgesellschaftlichen               Forschungsbericht
                                                                                                              kontinuierlich Druck gemacht“, erklärt
Partizipation von Stadt zu Stadt, doch               Wolfgang Haupt, Peter Eckersley, Kristine Kern           ExTrass-Projektmitarbeiterin Janne
                                                     Transfer und Skalierung
ist ein zunehmendes Interesse an der                 von lokaler Klimapolitik                                 Irmisch. „Fridays4Future-Proteste wa-
Beteiligung der Bevölkerung fast über-               Konzeptionelle Ansätze, Voraussetzungen und Potenziale
                                                                                                              ren als Schlüsselereignisse auch wirk-
all zu verzeichnen.                                                                                           samer als beispielsweise die Ausru-
                                                                                                              fung des Klimanotstands in vielen
Allerdings wurde die Zivilgesellschaft                                                                        Kommunen“, so Irmisch weiter. Nicht
                                                            I RS
in den letzten Jahren selbst zu einem                                                                         nur durch Streiks und Demonstratio-
                                                                   Leibniz-Institut für
                                                                   Raumbezogene Sozialforschung

Machtfaktor, der klimapolitische Akti-                                                                        nen, sondern auch durch regelmäßige
vität maßgeblich beeinflusste, beson-     Haupt, Wolfgang; Eckersley, Peter;                                  Gespräche mit Politik und Verwaltung,
ders in Gestalt der Bewegung Fridays-     Kern, Kristine (2021): Transfer und                                 erreichten die jungen Aktivist*innen
4Future. In vielen Städten erkannte      Skalierung von lokaler Klimapolitik.                                 etwa Sofortmaßnahmen und Mittel-
zwar die politische Ebene seit Jahren    Konzeptionelle Ansätze, Vorausset-                                   aufstockungen. In der Konsequenz hät-
                                         zungen und Potenziale. Forschungs-
grundsätzlich die Notwendigkeit kli-                                                                          ten sich Ortsgruppen anderer Umwelt-
                                             bericht. IRS Dialog, 1/2021
mapolitischer Maßnahmen an und                                                                                organisationen wie BUND und Green-
entwickelte umfassende Strategie-                                                                             peace – durchaus auch aus taktischen
konzepte. Fehlende Budgets, Stellen                                                                           Erwägungen – hinter Fridays4Future
und Routinen in der Verwaltung wie                                                                            gestellt, so dass die Zivilgesellschaft
auch eine fehlende Kultur der Aus-                                                                            auf breiter Front mobilisiert wurde.
einandersetzung schafften jedoch
effektive institutionelle Barrieren                                                                           Können Städte voneinander
gegen eine Übersetzung von Bekennt-                                                                           lernen?
nissen oder Konzepten in Handlun-
gen. Über die untersuchten Städte                                                                             Insbesondere in den derzeit wenig
hinweg zeigte sich nun, dass es der                                                                           aktiven Kommunen stehen Lokalpoli-
Bewegung dank ihrer Beharrlichkeit                                                                            tiker*innen und Verwaltungen nun vor

10                                                                                                                     IRS AKTUELL No 97 | Dezember 2021
der Herausforderung den zunehmen-                                                  Turku Urban Research Programme
                                                                                                                    Das Ressourcenproblem insbesondere
                                                                               RESEARCH REPORTS 1/2021

den politischen und gesellschaftlichen                                                                              kleinerer Stadtkommunen wird sich
Druck in geeignete Strategien zu über-                                                                              dadurch jedoch nicht vollständig lösen
führen und die vorgeschlagenen Maß-                                                                                 lassen. Die Festsetzung von Klima-
nahmen umzusetzen. Gerade kleinere                                                                                  schutz und Klimaanpassung als kom-
und ressourcenärmere Städte tun sich                                                                                munale Pflichtaufgabe könnte hier-
damit schwer. Wohin sich orientieren?                                                                               bei Abhilfe schaffen, da den Städten
In der Öffentlichkeit sind besonders                                                                                dann – anders als bisher – auch Mittel
                                                                            Kristine Kern, Sam Grönholm,

die erfolgreichen und bestens ver-                                          Wolfgang Haupt, Luca Hopman,
                                                                            Nina Tynkkynen, and Pekka Kettunen      für diese Aufgaben zugewiesen wür-
netzen Leader-Städte sichtbar. Ihr                                                                                  den (siehe S. 12). Dies würde gerade
Vorsprung wirkt uneinholbar, ihre                  Matching Forerunner Cities:
                                                   Assessing Turku's Climate Policy in Comparison
                                                   with Malmö, Groningen and Rostock
                                                                                                                    solchen Kommunen helfen, die bis-
Entwicklungspfade zu kopieren ist                                                                                   her auch aufgrund fehlender Mittel
für die meisten „Nachzügler“-Städte                                                                                 noch gar nicht klimapolitisch aktiv
keine Option.                                Kern, Kristine; Grönholm, Sam; Haupt,                                  geworden sind. Generell blieben die
                                             Wolfgang; Hopman, Luca; Tynkkynen,                                     spezifischen Problemlagen von klei-
                                            Nina; Kettunen, Pekka (2021): Matching
Wie Wolfgang Haupt, Peter Eckers-                                                                                   nen Stadtkommunen in der Forschung
                                            Forerunner Cities: Assessing Turku's Cli-
ley und Kristine Kern in ihrem For-         mate Policy in Comparison with Malmö,
                                                                                                                    bislang noch zu wenig beachtet. Auch
schungsbericht „Transfer und Skalie-         Groningen and Rostock. Turku Urban                                     das ExTrass-Projekt bezog bisher nur
rung von lokaler Klimapolitik“ (IRS                  Research Programme.                                            die kreisfreien Städte ab 50.000 Ein-
Dialog 1/2021) zeigen, ist das klima-               Research Report, 1/2021                                         wohner ein und ließ damit viele klei-
politische Lernen von Städten unterei-                                                                              nere Stadtkommunen außen vor. Das
nander noch kaum ausgeprägt. Unpas-                                                                                 Projekt tritt ab 2022 allerdings in eine
sende Vorbilder sind eine mögliche                                                                                  zweijährige Transferphase ein, in der
Erklärung dafür. Wie bereits gezeigt,                                                                               die bislang gewonnenen Erkenntnisse
kann es sogar für eine bestens aufge-                                                                               einer noch breiteren Nutzung zuge-
stellte Pionierstadt des Klimaschutzes                                                                              führt werden und weitere Daten erho-
wie Turku schwierig sein, geeignete                           Addressing the Climate                                ben werden sollen. In dieser zweiten
                                                              Crisis
Vorbilder für die eigene Weiterent-                           Local action in theory and                            Phase wird das Projektteam alle deut-
                                                              practice
wicklung zu finden. Der im Rahmen                                                                                   schen Städte ab 50.000 Einwohner in
                                                              Edited by
des MaFoCi-Projekts entwickelte „Mat-                         Candice Howarth
                                                              Matthew Lane
                                                                                                                    die Betrachtung einbeziehen.
                                                              Amanda Slevin
ching Cities“-Ansatz kann hier mög-
licherweise Abhilfe schaffen. Laut
diesem Ansatz sollten klimapolitisch
Verantwortliche in Städten versu-                                                                                   Das Projekt „Urbane Resilienz
                                            Haupt, Wolfgang: Eckersley, Peter; Kern,
chen, bezogen auf eine konkrete Pro-        Kristine (2021): How Can ‘Ordinary’ Cities                              gegenüber extremen Wetterereig-
blemstellung, andere Städte zu finden,               Become Climate Pioneers?                                       nissen – Typologien und Transfer
die sich in einer ähnlichen Situation         In C. Howarth, M. Lane, & S. Amanda                                   von Anpassungsstrategien in klei-
befinden, aber bereits einen gewis-        (Eds.), Addressing the Climate Crisis: Local                             nen Großstädten und Mittelstäd-
sen Erfahrungsvorsprung haben.             action in theory and practice (pp. 83-92).                               ten“ (ExTrass) wird vom Bundesmi-
Diese spezifischen Erfahrungen wer-                 Cham: Palgrave Macmillan.                                       nisterium für Bildung und Forschung
                                                doi.org/10.1007/978-3-030-79739-3_8
den für die eigene Situation eine hohe                                                                              (BMBF) gefördert und an der Uni-
praktische Relevanz haben. Eine                                                                                     versität Potsdam koordiniert. Wei-
mittelalterlich geprägte Stadt, die in                                                                              tere Verbundpartner sind die Adelphi
hohem Maß vom Tourismus abhängig                                                                                    Research gGmbH, die Landeshaupt-
ist, wie Speyer oder Bamberg, sollten                                                                               stadt Potsdam, die Johanniter-
sich dementsprechend andere Vorbil-                                                                                 Unfall-Hilfe e.V., die Stadt Remscheid
der suchen als etwa eine altindustriell                                                                             und die Stadt Würzburg. ExTrass
geprägte Stadt wie Cottbus oder Gel-                                                                                läuft von 2018 bis 2023.
senkirchen. Das ExTrass-Team arbei-                                                                                   www.extrass.de
tet derzeit an einer Handreichung für
Kommunen, die es ihnen erleichtern
soll, ihre eigene Position zu reflektie-
ren, passende Referenzfälle zu finden
und Kontakte aufzubauen.

IRS AKTUELL No 97 | Dezember 2021                                                                                                                        11
Klimapolitische Steuerung:
        (Nicht nur) auf die Bundesländer
                  kommt es an
Auf welcher Ebene findet Klimapolitik statt? Sind Städte die Treiber oder setzen sie nur Vorgaben um,
die auf höherer Ebene beschlossen werden? Tatsächlich wirkt eine Kombination beider Mechanismen –
und vieler weiterer, die zwischen diesen Extrempolen liegen. Neben der EU- und der Bundesebene sind
in Deutschland besonders die Bundesländer einflussreiche Akteure, die vielfältige – und unterschied-
lich ambitionierte – Antworten auf den Klimawandel finden. Städte stehen klimapolitisch wiederum mit
allen Ebenen, von regional bis europäisch, in Kontakt.

Wie viele andere politische Fragen                                                      xen Problemen wie der Klimapolitik
auch, wird die Klimapolitik auf unter-                                                  wenig Erfolg verspricht. Es fehlen die
schiedlichen territorialen und admi-                                                    für gemeinsames Lernen nötigen Aus-
nistrativen Ebenen verhandelt: auf der                                                  tauschbeziehungen, es fehlt die Sen-
internationalen (UN), der transnatio-                                                   sibilität für unterschiedliche Bedürf-
nalen (EU), der nationalen, der sub-                                                    nisse, Bedingungen und Fähigkeiten.
nationalen (in Deutschland: Bundes-                                                     Im Fall von „Horizontal Governance“
länder), regionalen und lokalen bzw.                                                    vernetzen sich Akteure einer Ebene,
kommunalen Ebene. In der Forschung                                                      zum Beispiel Regionen oder Städte,
wird der Begriff „Mulitlevel Gover-                                                     um voneinander zu lernen und mit-
nance“ verwendet, um Steuerungs-                                                        einander zu kooperieren. Diese Steue-
prozesse zu beschreiben, die über                                                       rungsform ist anspruchsvoll. Beson-
verschiedene Ebenen hinweg, also im                                                     ders gut ausgestattete und vernetzte
„Mehrebenensystem“ organisiert wer-                   Dr. Peter Eckersley               Akteure bedienen sich ihrer. Für die
den. Wie funktioniert diese Steuerung                Tel. 03362 793 187                 breite Masse der Gebietskörperschaf-
im Feld der Klimapolitik, und welche            peter.eckersley@leibniz-irs.de          ten fehlt jedoch sowohl die Verbind-
Ergebnisse produziert sie?                                                              lichkeit als auch die nötige Mittelaus-
                                           Peter Eckersley ist Politikwissenschaftler
                                                                                        stattung. Es bleibt als dritte Option die
                                                     und wissenschaftlicher
Steuerung im                                 Mitarbeiter der Forschungsabteilung
                                                                                        „Vertical Governance“, bei der höhere
Mehrebenensystem:                             „Institutionenwandel und regionale        Ebenen zwar Vorgaben machen, bei der
Kooperation gewinnt                        Gemeinschaftsgüter“. Im Projekt „Urbane      es aber (formelle wie auch informelle)
                                            Resilienz gegenüber extremen Wetter-        Austausch- und Aushandlungsbezie-
Im Forschungsbericht „The Multi-level        ereignissen“ untersucht er die Klima-      hungen in jede Richtung gibt, bei der
Context for Local Climate Governance         politik deutscher Städte. Seine weite-     Ebenen übersprungen und auch nicht-
                                            ren Forschungsinteressen liegen in den
in Germany” benennen Peter Eckers-                                                      oder halbstaatliche Akteure (Verbände,
                                             Bereichen Lokale Governance, Klima­
ley, Kristine Kern, Wolfgang Haupt                wandel, Policyforschung und           NGOs) einbezogen werden können.
und Hannah Müller drei Grundty-                         Austeritätspolitik.             Die Forschung zu Klima-Governance
pen der Multilevel Governance. Im Fall                                                  befindet diese auf den ersten Blick
von „Hierarchical Governance“ wer-                                                      kompliziert wirkende Steuerungs-
den Ziele und Handlungsverpflich-                                                       form als die wirkmächtigste der drei.
tungen von oben nach unten durch-
gereicht. Jede Ebene muss der nächst                                                    In der Praxis finden sich zahlreiche
höher liegenden folgen und kann der                                                     Beispiele für Vertical Governance.
darunter liegenden Vorgaben machen.                                                     Gerade auf der EU-Ebene herrscht eine
Die Governance-Forschung hat gezeigt,                                                   Kombination aus hierarchischen und
dass diese vor allem für zentralistische                                                kooperativen Elementen vor. Verbind-
Staaten typische Steuerungsform zwar                                                    liche Vorgaben, wie das im Jahr 2020
effizient anmutet, aber bei komple-                                                     neu gefasste Reduktionsziel der EU für

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IRS AKTUELL No 97 | Dezember 2021   13
Treibhausgasemissionen, das eine Ver-                                                 gemacht, was sie mit dem relativ star-
ringerung um 55 % bis 2030 (gegen-                                                    ken Einfluss der Länder in der Bun-
über dem Stand von 1990) vorsieht,                                                    despolitik (etwa über den Bundesrat)
sind das Ergebnis von Aushandlungs-                                                   erklären. Der oft als behäbig kritisierte
prozessen unter und mit den Mitglieds-                                                Föderalismus erlaubt sowohl koopera-
staaten. Verschiedene Initiativen die-                                                tive Politikformulierung als auch Wett-
nen der Umsetzung der Ziele, so etwa                                                  bewerb und das Experimentieren mit
das 2005 eingeführte Handelssystem                                                    verschiedenen Ansätzen auf Landes-
für Emissionsrechte in der Energie-                                                   und kommunaler Ebene. Im Rahmen
erzeugung, der Großindustrie und                                                      der „Kommunalrichtlinie“ stellt der
im innereuropäischen Flugverkehr.                                                     Bund erhebliche Finanzmittel für den
Für weitere Branchen wie etwa Ver-                                                    Klimaschutz in Kommunen zur Ver-
kehr, Bau und Landwirtschaft wurden                                                   fügung, mit dem „Masterplan 100 %
durch die EU ebenfalls Vorgaben for-                                                  Klimaschutz“ werden besonders ehr-
muliert und mit Richtlinien, wie etwa               Dr. Wolfgang Haupt                geizige Kommunen gefördert. Dies
der Energieeffizienzrichtlinie oder der             Tel. 03362 793 187                dient auch der Vernetzung und dem
Richtlinie über die Gesamtenergieeffi-         wolfgang.haupt@leibniz-irs.de          Lernen der Kommunen untereinan-
zienz von Gebäuden untersetzt, die von                                                der. Zugleich setzt die Bundesebene
                                            Wolfgang Haupt ist Stadtforscher und
den Mitgliedsstaaten umzusetzen sind.      stellvertretender Leiter der Forschungs-
                                                                                      auch verbindliche Ziele, zuletzt mit
                                             abteilung „Institutionenwandel und       dem Klimaschutzgesetz von 2019, das
Die EU arbeitet in ihrer Klimapoli-       regionale Gemeinschaftsgüter“. In seiner    eine Reduktion von Treibhausgasemis-
tik auch in netzwerkartigen Struk-          Forschung beschäftigt er sich schwer-     sionen bis 2030 um 65 % (gegenüber
turen direkt mit Städten und Regio-          punktmäßig mit kommunaler Klima­         1990) festschreibt, und dem „Klima-
nen zusammen, wie Kristine Kern           politik, transnationalen Klimanetzwerken    schutzplan 2050“, der branchenspe-
                                            und interkommunalen Lernprozessen.
in ihrem Artikel „Cities as Leaders in                                                zifische Ziele formuliert. Wesentliche
                                            Im Rahmen von zwei Projekten unter-
EU Multilevel Climate Governance“           sucht er die klimapolitischen Ansätze     Impulse setzte das Erneuerbare-Ener-
beschreibt. Als Beispiel nennt sie den       deutscher und europäischer Städte.       gien-Gesetz (EEG) aus dem Jahr 2000,
„Covenant of Mayors“, eine Initiative                                                 das zunächst durch eine garantierte
der EU-Kommission, die städtischen,                                                   Einspeisevergütung einen Boom er­­
aber auch ländlichen Kommunen                                                         neuerbarer Energien auslöste, im Lauf
zahlreiche materielle und immate-                                                     der Zeit aber so verändert und durch
rielle Unterstützungen zukommen                                                       andere Regelungen ergänzt wurde,
lässt, wenn sie sich auf klimapoliti-                                                 dass besonders der Ausbau der Wind-
sche Ziele verbindlich festlegen, ent-                                                energie zuletzt fast zum Erliegen kam.
sprechende Strategien entwickeln und                                                  Die nach dem Vorbild der „Energie-
Berichtspflichten akzeptieren. Zugleich                                               wende“ benannte „Verkehrswende“
helfen die beteiligten Gemeinden und                                                  hatte ihren stärksten Effekt bislang im
Regionen sich gegenseitig und treiben                                                 Bereich der individuellen Elektromo-
eine gemeinsame Agenda voran. Die                                                     bilität – durch Kaufprämien und den
EU unterstützt lokale Gebietskörper-                                                  Ausbau der Ladeinfrastruktur.
schaften auch durch die Bereitstel-
lung von Forschungsdaten über die                                                     Starke Unterschiede auf
Gemeinsame Forschungsstelle der                                                       Landesebene
EU-Kommission und die Europäische
Umweltagentur. Kommunen können                                                        Die Ebene der Bundesländer haben die
sich darüber hinaus zertifizieren las-                                                Forschenden als Quelle starker Diffe-
sen, etwa mit dem European Energy                                                     renzierung ausgemacht. Die klima-
Award oder dem European Climate           Die Under2 Coalition ist ein 2015           politischen Ansätze der Länder unter-
Adaptation Award – Zertifizierungen,      gegründetes globales Bündnis von aktu-      scheiden sich deutlich, aus mehreren
die von mehreren deutschen Bundes-        ell 260 subnationalen Gebietseinheiten,     Gründen. Durch die Hinwendung
ländern finanziell gefördert werden.      die gemeinsam Treibhausgasemissionen        zu regenerativen Energien wie Wind
                                          drastisch reduzieren wollen. Sie reprä-     und Sonne gewinnen naturräumliche
                                          sentieren zusammen 1,75 Milliarden
Auch im Verhältnis zwischen dem                                                       Besonderheiten, Siedlungsstruktur
                                          Menschen und ca. 50 % der Weltwirt-
Bund und den deutschen Bundeslän-         schaft. Das Bündnis entstand aus einer      und Flächenverfügbarkeit an Bedeu-
dern haben Forschende eine große          Partnerschaft zwischen Kalifornien und      tung. Auch die Wirtschaftsstruktur in
Bedeutung kooperativer Ansätze aus-       Baden-Württemberg.                          Verbindung mit dem traditionellen

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Energiemix wirken sich aus. Zugleich       Die Länder haben     Emissionen dort gezählt werden, wo sie
haben die Länder eine besondere Ver-                            anfallen, und nicht dort, wo etwa Ener-
bindung zu Städten und Kommunen:          eine besondere Ver­   gie konsumiert wird. Die fünf Länder
Zwar garantieren Grundgesetz und          bindung zu Städten    waren und sind Netto-Energieexpor-
Landesverfassungen die kommunale                                teure. Obwohl alle Kohleländer Klima-
Selbstverwaltung. Die Länder haben           und Kommunen:      schutzinitiativen vorantreiben, bleibt
jedoch die Aufsicht über die Kommu-                             ihr Ambitionsniveau insgesamt hin-
                                           Sie können ihnen
nen und können ihnen neue Pflicht-                              ter dem anderer Länder wie auch der
aufgaben zuweisen, wobei sie nach          neue Pflichtauf­     Bundesebene zurück. Zwar verab-
dem Konnexitätsprinzip verpflichtet                             schiedete NRW als erstes Bundesland
sind, ihnen in diesem Fall auch ent-
                                            gaben zuweisen,     überhaupt (und als einziges Kohle-
sprechende Finanzmittel zuzuweisen.         beispielsweise      land) ein Klimaschutzgesetz mit ver-
Zugleich haben alle 16 Länder Energie-                          bindlichen Reduktionszielen für Treib-
agenturen eingerichtet, um das Ler-         Klima­schutz und    hausgasemissionen und gründete als
nen und die Vernetzung der Kommu-         Klimaanpassung. Sie   erstes Land in den 1990er Jahren eine
nen bei energiepolitischen Fragen zu                            Energieagentur. Auch beteiligt es sich
unterstützen. So beeinflussen die Län-     müssen ihnen dann    als einziges Kohleland an der Under2
der lokale Klimastrategien. In ihrem                            Coalition, einem globalen Netzwerk
                                          aber auch entspre­
Forschungsbericht identifizieren Kern,                          von Regionen, die sich für den Kli-
Eckersley, Haupt und Müller fünf kli-     chende Finanzmittel   maschutz einsetzen. Jedoch war mit
mapolitische Grundtypen, in welche                              dem Wechsel von einer rot-grünen zu
sich die Länder einteilen lassen.
                                           zuteilen. Baden-     einer schwarz-gelben Regierungskoali-
                                            Württemberg und     tion im Jahr 2017 ein partieller Rück-
Zu den Kohleländern gehören Nord-                               bau klimapolitischer Strukturen und
rhein-Westfalen, das Saarland, Sach­-     Schleswig-Holstein    ein Fokuswechsel von Klimaschutz zu
sen-Anhalt, Brandenburg und Sachsen,       gehen diesen Weg.    Klimaanpassung zu beobachten, etwa
deren Wirtschaftsstruktur und Ener-                             bei der Förderung kommunaler Aktivi-
gieproduktion deutlich von Abbau und                            täten wie Zertifizierungen. Branden-
Nutzung von Stein- und Braunkohle                               burg und Sachsen-Anhalt stellen den
geprägt sind bzw. waren. Sie haben ten-                         Ausbau erneuerbarer Energieerzeu-
denziell höhere Treibhausgasemissio-                            gung sowie Initiativen zum Ausbau
nen pro Kopf als andere Länder, wozu                            klimafreundlicher Industriezweige
jedoch auch der Umstand beiträgt, dass                          in den Mittelpunkt ihrer Klimapoli-

IRS AKTUELL No 97 | Dezember 2021                                                                   15
tik. In seiner Energiestrategie aus dem    Städte können als    Sinn eines verstärkten lokalen Kli-
Jahr 2012 formulierte Brandenburg                               maschutzes. Beim Ausbau der Wind-
beispielsweise das Ziel, den regene-         Pioniere neue      energie verhalten beide Länder sich
rativen Anteil der Energieerzeugung                             dagegen zurückhaltender als andere
                                           Bau- und Verkehrs­
bis 2030 auf 32 % anzuheben, insbe-                             Flächenländer.
sondere durch die Widmung von 2 %          lösungen erproben
der Landesfläche für die Windenergie-                           Die Windenergieländer Niedersach-
erzeugung.
                                           und Klimaanpassung   sen, Schleswig-Holstein und Meck-
                                             vorantreiben.      lenburg-Vorpommern verfügen über
Als Atom- und Solarenergieländer                                günstige naturräumliche Gegebenhei-
deckten Bayern und Baden-Württem­          Ländliche Gemein­    ten für Windkraftanlagen und wandel-
berg traditionell einen großen Teil          den benötigen      ten sich im Zuge der Energiewende von
ihres Energiebedarfs aus Kernener-                              Energie importierenden Ländern mit
gie und waren in Folge des Beschlus-         Förderung von      einem hohen Anteil von Nuklearener-
ses zum Atomausstieg 2011 gezwungen,                            gie am Energiemix zu den führenden
                                            höheren Ebenen.
sich umzuorientieren. Dies geschah in                           Produzenten von Windenergie, sowohl
erster Linie durch einen massiven Aus-       Für sie bietet     an Land als auch offshore. Regenera-
bau der Solarenergie, der allerdings                            tive Energien wurden zu wichtigen
zu einem Großteil privat bzw. durch
                                           außerdem regionale   Wirtschaftsfaktoren. Zwei Länder,
die EEG-Umlage finanziert wurde.            Vernetzung eine     Schleswig-Holstein und Mecklenburg-
Beide Länder haben früh Umwelt-                                 Vorpommern sind heute Netto-Ener-
politik (1970er-Jahre) und Klimapolitik         Chance.         gieexporteure. Alle drei Länder haben
(1990er-Jahre) institutionell verankert.                        sich auf Reduktionen ihrer Treibhaus-
Baden-Württemberg verabschiedete                                gasemissionen verpflichtet, wobei die
nach NRW das zweite Landes-Klima-                               Vorgaben in den beiden westlichen
gesetz mit verbindlichen Reduktions-                            Bundesländern ehrgeiziger und ver-
zielen, Bayern verabschiedete ein ent-                          bindlicher (durch Klimaschutzgesetze)
sprechendes Gesetz 2020. Beide Länder                           ausfallen als in Mecklenburg-Vorpom-
gehören der Under2 Coalition an, in                             mern. Schleswig-Holstein ver­­pflichtet
der Baden-Württemberg eine Füh-                                 seine Kommunen zu Klimaschutz.
rungsrolle einnimmt. Besonders aus-                             Niedersachens verfügt zwar bundes-
geprägt ist in Baden-Württemberg die                            weit über die größte regenerative Ener-
Unterstützung (etwa durch regionale                             gieindustrie, subventioniert aber auch
Energieagenturen), finanzielle Förde-                           weiterhin in großem Umfang fossile
rung und Verpflichtung der Kommu-                               Energieträger.
nen (über ein verbindliches Abkom-
men mit Kommunalverbänden) im

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Die Energieimportländer Hessen,                                                                                         Stadtentwicklungs- und Planungspoli-
Rheinland-Pfalz und Thüringen ver-                                                                                      tiken voran. In größerem Umfang als
                                                                  IRS DIALOG
fügten in der Vergangenheit nicht über                                                                                  die meisten Flächenländer betreiben
große fossile oder Kernenergiesekto-                                                                3 2021
                                                                                                                        die Stadtstaaten außerdem eine ausge-
ren und werden auf absehbare Zeit von                   Research Report
                                                                                                                        prägte Klimaanpassungspolitik, wel-
Energieimporten abhängig bleiben, da                    Peter Eckersley, Kristine Kern, Wolfgang Haupt, Hannah Müller   che die hohe Gefährdung der großstäd-
                                                        The multi-level context for
ihnen die räumlichen Voraussetzun-                      local climate governance in                                     tischen Bevölkerung durch Hitzewellen
                                                        Germany: the role of the
gen für bedarfsdeckende regenerative                    federal states
                                                                                                                        und Starkregenereignisse reflektiert.
Energieerzeugung fehlen. Dennoch
sind die Länder klimapolitisch aktiv:                                                                                   Diese differenzierte Aufarbeitung kli-
Alle drei gehören der Under2 Coali-                                                                                     mapolitischer Steuerung im Mehr-
                                                               I RS
tion an. Hessen verfügt seit 2008 über                                                                                  ebenensystem zeigt, dass es in der
                                                                       Leibniz Institute for
                                                                       Research on Society and Space

eine integrierte Nachhaltigkeitsstrate-     Eckersley, Peter; Kern, Kristine; Haupt,                                    Klimapolitik zwar unterschiedliche
gie und Reduktionsziele für Treibhaus-      Wolfgang; Müller, Hannah (2021): The                                        Geschwindigkeiten und Ambitions-
gasemissionen, jedoch nicht über ein        Multi-level Context for Local Climate                                       niveaus gibt, dass es für substanzielle
Klimaschutzgesetz. Das Land fördert        Governance in Germany: The Role of the                                       Fortschritte aber auf die Wechselwir-
sehr stark kommunale Aktivitäten im           Federal States. Research Report.                                          kungen der verschiedenen Ebenen und
                                                      IRS Dialog, 3/2021
Rahmen der Nationalen Klimaschutz-                                                                                      die Beziehungen zwischen Gebietsein-
initiative („Kommunalrichtlinie“).                                                                                      heiten ankommt. Städte und Stadtge-
Rheinland-Pfalz hat sich gesetzlich                                                                                     sellschaften können sichtbar auf kli-
auf Reduktionsziele verpflichtet. Bei                                                                                   mapolitische Fortschritte drängen, als
der Umsetzung der Ziele liegt der Fokus                          IRS DIALOG                                             Pioniere nachhaltige Bau-, Verkehrs
darauf, die ungewöhnlich vielen sehr                                                                                    und (zum Teil) Energieversorgungs-
                                                                                              1 2019
kleinen Kommunen des Landes bei kli-                                                                                    lösungen erproben, und die Anpas-
mapolitischer Kooperation zu unter-                     Policy Paper
                                                                                                                        sung an den Klimawandel vorantrei-
                                                        Energiewende dezentral!
stützen. Thüringen reduzierte seine                     Regionale Handlungsräume
                                                                                                                        ben. Im Rahmen der Energiewende
Treibhausgasemissionen von 1990 bis                     der Energiewende und des Klimaschutzes
                                                        Andreas Röhring und Ludger Gailing                              werden sie jedoch eher noch abhän-
2020 um 61 % (der größte Rückgang                                                                                       giger von ihrem regionalen Umfeld
aller Bundesländer) und deckt heute                                                                                     und großräumigen Versorgungsnet-
einen großen Teil seines Energiebe-                                                                                     zen. Flächenländer stehen beim Aus-
darfs aus regenerativen Quellen. Als                          I RS   Leibniz-Institut für
                                                                     Raumbezogene Sozialforschung
                                                                                                                        bau erneuerbarer Energien und grüner
einziges ostdeutsches Bundesland                                                                                        Industrien vor teils enormen Heraus-
außerhalb Berlins verabschiedete es        Röhring, Andreas; Gailing, Ludger (2019):                                    forderungen, weisen aber auch enorme
                                             Energiewende dezentral! Regionale
2018 ein Klimaschutzgesetz mit ver-                                                                                     Potenziale auf. Kleinstädte und länd-
                                           Handlungsräume der Energiewende und
bindlichen Reduktionszielen.                  des Klimaschutzes. Policy Paper.                                          liche Gemeinden benötigen hingegen
                                                      IRS Dialog, 1/2019                                                Förderung von höheren Ebenen. Für
Die Stadtstaaten Berlin, Hamburg und                                                                                    sie bietet regionale Vernetzung eine
Bremen verfügen nicht über die Vor-                                                                                     Chance handlungsfähiger zu wer-
aussetzungen für großflächige regene-                                                                                   den. Regionen sollten es, wie Andreas
rative Energieerzeugung. Sie sind von                                                                                   Röhring und Ludger Gailing in ihrem
Energieimporten sowie fossiler Ener-                                                                                    Policy Paper „Energiewende dezent-
gieerzeugung im eigenen Territorium                                                                                     ral!“ schreiben, vermeiden, lediglich
abhängig und decken nach wie vor den                                                                                    den Platz für flächenintensive Solar-
Großteil ihres Energiebedarfs aus fos-                                                                                  und Windkraftanlagen bereitzustel-
silen Quellen. Zwar haben sich alle drei                                                                                len      („Installationslandschaften“).
Länder gesetzlich auf anspruchsvolle                                                                                    Sie sollten sich stattdessen als Hand-
Ziele zur Reduktion von Treibhaus-                                                                                      lungsräume begreifen, die auf viel-
gasemissionen verpflichtet, jedoch                                                                                      fältige Arten von der Transformation
verfügen sie nur auf der Nachfrage-                                                                                     profitieren. Die Klimapolitik auf Lan-
seite (etwa im Verkehr sowie bei Bau                                                                                    des-, Bundes- und EU-Ebene steht vor
und Gebäudesanierung) über güns-                                                                                        dem Balanceakt, ehrgeizige Ziele und
                                            Kern, Kristine (2019): Cities as Leaders
tige Voraussetzungen, diese Ziele                                                                                       Anreize vorzugeben, auf Unterstüt-
                                            in EU Multilevel Climate Governance:
einzuhalten. Klimaschutzmaßnah-             Embedded Upscaling of Local Experi-                                         zungsbedarfe einzugehen, vernetzte
men treiben sie entsprechend über-         ments in Europe. Environmental Politics,                                     Lösungen zu entwickeln und die Ehr-
wiegend im Rahmen ihrer jeweiligen                      28 (1), 125-145                                                 geizigsten nicht auszubremsen.

IRS AKTUELL No 97 | Dezember 2021                                                                                                                           17
Verkehrswende in Suburbia?
Der Verkehrs- und Logistikbereich ist ein Sorgenkind des Klimaschutzes. Für eine spürbare Verringerung
seiner Treibhausgasemissionen werden neue, nachhaltige Konzepte benötigt, die über individuelle E-Mobili-
tät hinausgehen und wirksam Verkehrsströme reduzieren. Solche Konzepte werden aber bislang haupt-
sächlich im Kontext städtischer Zentren diskutiert; suburbane und ländliche Räume werden zu wenig
beachtet. Ein Projektverbund unter Beteiligung des IRS hat deshalb in einem urbanen und einem sub-
urbanen Quartier vergleichend untersucht, unter welchen Bedingungen Menschen neuartige Lösungen
in Stadtlogistik und Verkehr akzeptieren und nutzen.

Seit Jahren hinkt der Verkehrssektor                                                und Logistiklösungen vergleichend
beim Klimaschutz hinterher. Wäh-                                                    für einen urbanen und suburbanen
rend andere Bereiche ihre Treib-                                                    Raum untersucht. Konkret geht es
hausgasemissionen spürbar senkten,                                                  dabei um Sharing-Lösungen für Las-
liegen die Emissionen beim Verkehr                                                  tenräder und um alternative Zustell-
auf dem Niveau von 1990 und gingen                                                  systeme wie anbieteroffene Paketsta-
erst durch die Corona-Pandemie etwas                                                tionen, die den Zustellverkehr auf der
zurück, wie das Umweltbundesamt im                                                  „letzten Meile“ verringern sollen. Als
Oktober 2021 mitteilte. Die Menschen                                                Fallbeispiele dienen die urban geprägte
im „Autoland Deutschland“ tun sich                                                  Mierendorff-Insel in Berlin-Charlot-
schwer mit Alternativen zum motori-                                                 tenburg (der Name verweist auf die
sierten Individualverkehr. Auch der                                                 Insellage zwischen Spree und Westha-
Anstieg des Online-Shoppings und                                                    fenkanal) und die Kleinstadt Erkner
der Paketzustellungen mit emissions-                Dr. Ralph Richter               aus dem suburbanen Gürtel um Ber-
                                                   Tel. 03362 793-215
intensiven Transportern trägt zu den           ralph.richter@leibniz-irs.de
                                                                                    lin. Neben der Zugehörigkeit zur Met-
anhaltend hohen Emissionen bei.                                                     ropolregion Berlin haben beide Gebiete
Was sind die Gründe für die geringe          Ralph Richter ist Soziologe und        eine vergleichbare Einwohnerzahl
Bereitschaft zur Änderungen des Ver-        wissenschaftlicher Mitarbeiter der      (rund 15.000 Menschen leben auf der
haltens bei Mobilität und Logistik?      Forschungsabteilung „Kommunikations-       Mierendorff-Insel, 12.000 in Erkner).
Bei der Ursachenforschung rücken         und Wissensdynamiken im Raum“. Seine       Unterschiedlich sind jedoch die räum-
                                           Forschungs- und Interessensschwer-
spezifische lokale Bedingungen in                                                   lichen, siedlungsstrukturellen und inf-
                                         punkte liegen auf den Themen ländliche
den Blick: Distanzen, die überwun-       Entwicklung, soziale Innovation, Sozial-   rastrukturellen Gegebenheiten. Hohe
den werden müssen, und die unter-        unternehmertum sowie Dorf- und Stadt-      Bevölkerungsdichte, gründerzeitliche
schiedliche Ausstattung verschie-                 quartiersentwicklung.             Blockrandbebauung und eine ausge-
dener Raumtypen – innerstädtisch,                                                   zeichnete Erschließung mit öffentli-
suburban, ländlich – mit Verkehrsin-                                                chen Verkehrsmitteln sind im urba-
frastrukturen beeinflussen die Chan-                                                nen Quartier prägend. Geringe Dichte,
cen für eine Verlagerung hin zu öko-                                                eine Mischung aus Einfamilien-
logischen Alternativen. Die Forschung                                               haus- und Plattenbaugebieten sowie
trägt diesen räumlichen Unterschieden                                               eine autozentrierte Infrastruktur prä-
allerdings bislang zu wenig Rechnung.                                               gen dagegen das suburbane Quartier.
Die Mobilitäts- und Logistikwende hin                                               Seit Mai 2020 hat das Projektteam
zu nachhaltigen Verkehrs- und Liefer-                                               beide Gebiete umfassend untersucht,
formen wird bisher hauptsächlich mit                                                unter anderem durch Begehungen,
Blick auf Metropolen und Großstädte                                                 explorative Interviews, Medienana-
untersucht.                                                                         lysen und repräsentative Haushalts-
                                                                                    befragungen.
Diese Forschungslücke adressiert das
Forschungsprojekt „Stadtquartier 4.1“,                                              Vor allem die Ergebnisse der standar-
indem es die soziale Akzeptanz und                                                  disierten Haushaltsbefragungen lassen
Nutzung von nachhaltigen Verkehrs-                                                  einen systematischen Vergleich zwi-

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