Kunstgeschichte auf Kassette Zur Videosammlung der Mediathek im Grimm-Zentrum
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Kunstgeschichte auf Kassette Zur Videosammlung der Mediathek im Grimm-Zentrum Ulf Jensen Vortrag, gehalten anlässlich der abgeschlossenen Digitalisierung der VHS-Kassetten am 23. Juni 2014 Der Abschied von der VHS-Kassette soll heute mit ihrer Würdigung einhergehen. Sie sehen ein Exemp- lar in seiner aufgeklappten Kunststoffhülle, und zwar die Unterseite, die im Gebrauch nicht zur Ansicht be- stimmt ist (Abb. 1). Die farblich markant abgesetz- ten Getriebekränze der Bandspulen dominieren das Querformat. In der oberen Hälfte schattieren dich- te Rillen die Oberfläche wie eine Schraffur, um sie griffiger zu machen. Die Symmetrie der Kompositi- on setzt sich mit kreisförmigen Vertiefungen in den oberen Ecken und auf der Mittelachse fort. An der Unterkante befinden sich asymmetrische Einschnit- te, die den Schwerpunkt optisch auf die linke Seite verschieben. Eine Art Schutzvisier bildet den untern Abschluss und sorgt für die Integrität des Formates. Nach den Verkaufs- und Verbreitungszahlen ist die VHS-Kassette ein genauso internationaler, ja globaler Bildträger wie das 35-Millimeter-Filmformat, das Tho- mas Alva Edisson um 1900 als Standard durchsetzte. Während Film und Kamera jedoch kulturgeschichtlich Abb. 1 VHS-Kassette I. Bilder auf Polyester Moderne wissenschaftliche Bildersamm- lungen ordnen sich entlang medialer Dif- ferenzen. Die Kupferstichkabinette, die Gemäldegalerien oder Skulpturensamm- lungen bringen zusammen, was sich sei- ner Art nach gleicht, und die verschiede- nen traditionellen Gattungen werden von ebenso traditionsreichen Wissenschaften begleitet. Bei der Sammlung der VHS- Kassetten in der Mediathek des Grimm- Abb. 2 Bandlaufschema VHS Abb. 3 Bewegungsschema Iaidō Zentrums sieht das etwas anders aus. Zwar wird das Corpus durch das gemein- im neuzeitlichen Europa ankern und als Errungen- same Trägermedium analog bespielter Magnetbän- schaften des Westens gelten müssen, stammt die VHS- der mit der in buchähnlichem Format vereint: es sind Kassette aus Fernost. Sie ist eine japanische Erfin- eben VHS-Kassetten. Doch fehlt diesem Trägerme- dung, ein Beitrag Nippons zur globalisierten Bildkultur. dium aufgrund seines jungen Alters die Tradition, und über einige um so wichtigere Einzelstudien hin- Wer die Erfahrung eines Bandsalates mit einer VHS- aus konnte es auch keine Wissenschaft induzieren. 1 Kassette gemacht hat, wird durch die Betrachtung des Bandlaufschemas (Abb. 2)2 leicht nachvollziehen Mit dem heutigen feierliche Anlass der abge- können, wie es dazu kommen kann. Der aus Gera- schlossenen Digitalisierung aller VHS-Kassetten den und Kreissegmenten zusammengesetzte Weg des Grimm-Zentrums wird sogar noch ein weite- des Magnetbandes von der einen Spule in der Kas- rer historischer Punkt markiert: denn indem die sette links über die lesenden oder schreibenden Vi- VHS-Kassetten ihre analogen Bilddaten auf digitale deoköpfe zur anderen Spule in der Kassette rechts ist Speichermedien abgegeben haben, machte sie sich alles andere als einfach. Das Band muss erst kunst- überflüssig. Die Bestimmung der Videokassette, voll ausgestülpt werden, und wir erinnern uns dabei nach Einschub in das Abspielgerät auf einem Moni- an die Geräusche nach dem Einlegen einer Kassette tor bewegte Bilder erscheinen zu lassen, führt heu- oder vor dem Herausnehmen, die mit diesem Vor- te die digitalen Apparatur mit weitaus weniger Auf- wand und oft auch mit besserer Bildqualität durch. 2 Friedrich Engel, Gerhard Kuper, Frank Bell (2008), Zeitschich- ten: Magnetbandtechnik als Kulturträger. Erfinder-Biographien und Erfindungen. Chronologie der Magnetbandtechnik und ihr 1 Z. B. Siegfried Zielinsky (2010), Zur Geschichte des Videore- Einsatz in der Hörfunk-, Musik-, Film- und Videoproduktion, Pots- corders, Potsdam (zuerst Berlin 1986). dam, S. 490. 1
gang verbunden sind, sowie an das nicht unerheb- Benutzer eines Gegenstandes kennt dessen Grenzen liche Zeitintervall bis zum Erscheinen eines Bildes. und dessen Unvollkommenheit. Das Ding entspricht In ihrer umständlichen Präzision ist die Mecha- nur einer in der Vergangenheit liegenden Notwen- nik der VHS-Kassette vielleicht mit der traditionel- digkeit, ohne bereits neue Bedürfnisse zu erfüllen“.5 len japanischen Kriegskunst verwandt (Abb. 3).3 Dieses Zeitfenster spiegelt auch unsere Samm- Möglicherweise konnten nur Ingenieure, die in der lung wieder. Die jüngste Kassette stammt aus dem der Geometrie des Kreises verpflichteten Kunst des Jahr 2002, es ist das Video von Richard Deacon Schwertziehens (Iaidō) geübt waren, eine Tech- über eine Ausstellung in der Tate Gallery: Image nik entwickeln, die Präzision und Verletzbarkeit so and Idol: Medieval Sculpture.6 Und das sind gleich- in sich vereint wie die VHS-Kassette. Fest steht, zeitig die ältesten Kunstwerke, die in einem der Fil- dass sich die Manager des JVC-Konzerns im Okto- me vorgestellt werden, neben jenem Günther Krip- ber 1976 durchsetzen konnten, als es um die Aus- pendorfs über das Evangeliar Heinrich des Löwen. wahl eines neuen, internationalen Videostandards Die älteste VHS-Kassette in der Sammlung stammt ging. Das Video-Home-System der „Japan Victory möglicherweise bereits aus dem Jahr 1980. Es ist Company“ – dafür steht JVC – hat danach erst die ein Film der BBC über Eugène Delacroix. Ich beto- Paläste und dann auch die Hütten der elektrisierten ne hier „Film“, denn das anspruchsvolle Künstler- Welt erobert. Damit wurde dem Bewegtbildmedium porträt mit zahlreichen Schwenks und Zooms über eine Verbreitungsform gegeben, die aufgrund der und auf die Zeichnungen und Gemälde entstand verwendeten Materialien und des Margeneffekts so mit der Film- und nicht mit der Videokamera, und günstig produziert werden konnte, wie keines der das ist bei den meisten übrigen Produktionen nicht vorangegangenen Systeme für das Heimkino. Ähn- anders. Die VHS-Kassette dient hier allein als Ver- lich dem Fernseher, an das sich VHS koppelt, ist es vielfältigungsmedium. Denn Filmqualität im Bereich für jeden Haushalt mit westlichem Durchschnittsein- der Aufnahmetechnik bot erst die digitale Technik kommen verfügbar. Die VHS-Kassette ist ein maß- mit dem High Definition Video und Fernsehen, die geblicher Beitrag zur Verdinglichung der Bewegt- seit dem Beginn der 1990er Jahre entwickelt wurde. bildinformationen, die zuvor nur in Abhängigkeit zu In unserer VHS-Sammlung fehlt es auch nicht an den Institutionen des Kinos und des Fernsehens nur Spielfilmen. Wenn wir einige Filme von Jean-Luc Go- virtuell konsumiert werden konnten. Von den vor- dard nun in voller Länge über die Website der Me- angegangenen Amateur- und Bildungsformaten wie diathek abrufen können, so z.B. Alphaville, Masculin dem Schmalfilm unterscheidet sich das Video-Sys- féminin oder gar Le mépris – mit englischen Unterti- tem grundsätzlich in der Eigenschaft, den kontinu- teln – dann ist das zwar nach dem Maßstab der tech- ierlichen Bilderstrom aus dem Fernsehen nun auch nischen Bildqualität im Zeitalter der BlueRay-Disk aufzeichnen zu können. Damit änderte sich die wis- ein Anachronismus. Doch in Zeiten hart umkämpfter senschaftliche Film- und Fernsehanalyse; Anhalten, Bildrechte ist den Architekten dieser Videodaten- Zurück- oder Vorspulen des Videobandes gehörte bank gelungen, dass jeweils ein Bibliotheksnutzer von nun an zur Methodik der Bildwissenschaften. im Netz legal auf eine offizielle Filmversion zugreifen II. Kunstgeschichte auf VHS kann. Das gilt auch für die beiden Teile des Nibelun- Wer eine VHS-Kassette in der Hand hält, kann sie genfilms von Fritz Lang (Siegfrieds Tod, Kriemhilds auch sofort datieren. Als Terminus post-quem gilt, wie Rache) aus dem Jahr 1924. Die Filmklassiker legen bereits erwähnt, der Oktober 1976. Das aktive tech- auch in ihrer digitalisierten VHS-Version noch ästhe- nikhistorische Zeitfenster der VHS-Kassette öffnet tische Maßstäbe für das querrechteckige Bildformat sich bis ungefähr 2010, als die Verkaufszahlen nicht vor, die es den dokumentarischen Videobildern und mehr statistisch erfasst werden. Zwei markante Zwi- auch einigen Videokunstarbeiten schwer machen, schendaten grenzen den Zeitraum noch einmal ein: neben ihnen auf dem Computermonitor zu bestehen. und zwar beginnt Sony, im Kampf der Videosysteme Die Sammlung umfaßt einige Konvolute, von der unterlegene Konkurrent von JVC, im Jahr 1988 denen hier die wichtigsten aufgeführt seien: mit der Produktion von VHS-Videorecordern.4 Kaum – eine Symposiumsdokumentation zum 50 Jahres- vierzehn Jahre später, im Jahr 2002 überholte die tag des britischen EDSAC 1-Computers vom Compu- DVD erstmals die Verkaufszahlen der VHS-Kassette. ter Laboratory der University of Cambridge (Tag 1, Damit war ihr Schicksal besiegelt; sie gehörte von Band 1; Tag 1, Band 2; Tag 2, Band 3; Tag 2, Band 4), nun an – im Sinne George Kublers – zu den abzule- – die Serie „Media Magica“ von Werner Nekes zur Ge- genden Gegenständen: „Der Akt des Ablegens ent- spricht einem Endzustand bei der allmählichen Her- 5 George Kubler (1982), Die Form der Zeit. Anmerkungen ausbildung einer Geisteshaltung. In dieser Haltung zur Geschichte der Dinge, hg. v. Gottfried Boehm, Frank- vereinen sich Vertrautheit und Unzufriedenheit: der furt am Main (zuerst New Haven, 1962), S. 133. – „Abge- legte“ Medientechnik kann auch im Medienarchäologischen Fundus der Humboldt-Universität untersucht werden. 3 Roland Habersetzer/José Lobo/Serge Santoro (1991), Découv- 6 Der Zugriff auf die Videostreams mit farbig unterleg- rir le Iai-Do, Paris, unpag. ten Titeln kann nur aus dem Netz der Humboldt-Universi- 4 Wie Anm. 2. tät aus erfolgen. 2
Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8 Abb. 9 Abb. 10 schichte der Medien (Belebte Bilder; Bild - Raum; Durch- Howard Hodgkin, um nur einige zu nennen; Künst- sehekunst; Vieltausendschau; Wundertrommel), lerinnen wird in dieser Perspektive eher eine Rand- – die Anthologie zur Filmgeschichte von Edgar position zugewiesen: sie sind im Bereich der Mode Reitz „Das Jahrhundert des Kinos – 100 Jahre Film- mit Coco Chanel und in der Fotografie mit Annie geschichte“ (Die Nacht der Regisseure, Martin Scor- Leibovitz vertreten. Im Format der knapp einstün- seses Reise durch den amerikanischen Film, 100 digen Porträts werden alle filmischen Register der Jahre japanisches Kino, Typisch britisch, 2 x 50 ans Heroisierung gezogen und Kunst und Künstler mit de cinema français, Skandinavien - Kino der Neu- filmischen Mitteln erhöht. Einige dieser Mittel sind gier, Korea - Kino im Aufbruch, Lateinamerika - Kino originell oder sogar spektakulär, und deshalb will ich der Tränen, Polen - 100 years of Polish cinema, sie anhand dreier Beispiele zur Anschauung bringen. Russland - the Russian idea, China - Yan and Yin: Das erste Beispiel leitet den Film über Frans Hals gender in Chinese cinema, Indien - and the show von Jonne Severijn aus dem Jahr 1988 ein: Im Vor- must go on, Australien - 40000 years of dreaming), spann zum Künstlerporträt des Niederländers greift – die Anthologie zur Videokunst von Chris Hill „Sur- der Zeichentrick den Duktus des Pinsels auf. Auf veying the first decade“ der Video Data Bank in Chi- dem monochromen Grund (Abb. 4) zeichnen sich in cago (Explorations of presence, performance, and unterschiedlichen Lagen einzelne Pinselstriche ab. audience, Investigations of the phenomenal world - Zunächst bilden die Weißhöhungen eine abstrakte space, sound, Approaching narrative - „There are Ansammlung kaum als zusammengehörig erschei- problems to be solved“, Gendered confrontations, nender Striche (Abb. 5), die dann wie in einem Druck- Performance of video imaging tools, Decentralized verfahren um Flächenelemente mit dunkleren Tönen communications projects, Critiques of art and media ergänzt werden (Abb. 6-8) und sich somit schließ- as commodity and spectacle, Independents address lich zum Kopf einer Eule zusammensetzen. Der im television audiences, Video Art and alternative Me- Trick rekonstruierte Eulenkopf blendet dann in den dia in the U.S), und – Gespräche mit zeitgenössi- Ausschnitt des Ölgemäldes über, aus dem er stammt schen Künstlern vor blauem Hintergrund, die aus (Abb. 9), und am Ende wird das vollständige Ge- der Produktion einer Wiener Firma stammen (Vito mälde der Malle Babbe gezeigt (Abb. 10). Hier spielt Acconci, John Baldessari, Dara Birnbaum, Christian der Film seine Fähigkeit voll aus, sukzessive Bilder Boltanski, Hans-Peter Feldmann, Gilbert and Geor- vorzustellen, und uns damit dem simultan wirkenden ge, Félix González-Torres, Carsten Höller, Jenny Hol- Gemälde in analytischer Blickführung anzunähern. zer, Timothy Martin, Tony Oursler, Joseph Kosuth). Weitaus drastischer beginnt der Film über Jan Ver- Ein eigenes Subgenre bilden die zahlreichen meer. Aus dem Orbit, wo Astronauten schwerelos an Künstlerporträts aus dem Hause Phaidon in London. einem Greifarm der Internationalen Raumstation ar- Als ein Ergebnis britischer Kulturpolitik schreiben die beiten (Abb. 11), springt die Filmeinstellung in einen Fernsehfilme die Kunstgeschichte als eine maskuline Operationssaal, wo die Kamera auf ein gerade so- Heldengeschichte in die britische und amerikanische eben erfolgreich transplantiertes, pulsierendes Herz Malerei der Gegenwart fort, von Massaccio über Piet gerichtet ist (Abb. 12), um dann im harten Schnitt Mondrian und Robert Motherwell zu Malcolm Morley, ein Detail des Gemäldes „Dienstmagd mit Milchkrug“ von Franz Hals zu David Hockney, Patrick Heron und von Jan Vermeer vorzustellen (Abb. 13). Der Kom- Abb. 11 Abb. 12 Abb. 13 3
Abb. 14 Abb. 15 Abb. 16 mentator greift das Pathos dieser mutigen Montage einer Überblende die durchlöcherte Farbschicht ei- auf und wird nicht müde zu betonen, dass die be- nes der „concetti spaziali“ Fontanas aus den späten schauliche Genreszene im Gemälde Vermeers hin- 1950er Jahren ins Bild tritt (Abb. 16). Näher und nä- sichtlich ihrer malerischen Innovation nicht minder her kommt die fiktive Raumsonde der im scharfen spektakulär gewesen sei wie die zivilisatorischen Seitenlicht besonders krass hervortretenden Krater- Superlative der Moderne. — Offenbar gehört es struktur (Abb. 17, 18). Dazwischen montiert der Fil- zum Kompositionsprinzip britischer Kunstdokumen- memacher sogar Aufnahmen von der Oberfläche des tationen, die ersten Sekunden des Films als visuel- Mondes, und das bleibt in der Kürze der Einstellung le Ausrufungszeichen zu gestalten und dadurch die suggestiv. Schließlich fährt die Kamera über die im Bild Augen der Betrachter zu fesseln, weil die Durch- monumental erscheinende Signatur des Künstlers. führung in dem immergleichen Wechsel von spre- Der animierte Sternenhimmel, die gemalte Ga- chenden Köpfen, Archivmaterial und Werkaufnah- laxie und das seitlich scharf ausgeleuchtete Mo- men filmästhetisch dann eher konventionell bleibt. dell sind Elemente aus der Trickkiste des Science- Unerreicht ist diesbezüglich der Film von Pierre Fiction-Films wie auch die primordial anmutende Néel über den italo-argentinischen Bildhauer Lucio Streichermusik, das an die György Ligetis „Atmos- Fontana. In einer Kombination von Trickaufnahmen phères“ vom Anfang des Films „2001. A Space- und Zooms gestaltet Néel die Annäherung an Fontana Odyssey“ von Stanley Kubrick erinnern soll. Hier als Weltraumreise und interpretiert damit das Kon- wird der porträtierte Künstler zum Alien oder er zept des „Spazialismo“, mit dem Fontana berühmt wird zumindest als Übermensch inszeniert; zugleich geworden ist, im Sinne der Science Fiction um. Néel profiliert sich der Filmemacher als Filmkünstler. stellt weiße Farbflecken aus dem Oeuvre Fontanas III. Videokunst im Regal graphisch frei und zoomt auf sie vor einem ebenfalls räumlich animierten Sternenhintergrund zu. Der Be- In den Archivschränken der Mediathek (Abb. 19) ste- trachter rast somit auf die Farbflecken zu wie auf hen nun die immer seltener genutzten VHS-Kasset- ferne Galaxien (Abb. 14), bis schließlich ein blaues ten. Allein schon die farbige Vielfalt in der Hüllenge- rundes Objekt erscheint (Abb. 15), das gleichsam staltung, aber auch in der Verpackungsformate und als Zwischenschritt zwischen den astronomischen -materialien zeugen davon, wieviel Aufwand betrie- Aufnahmen der Erde, der Blue Marble und dem ben werden muss, um der Entsinnlichung entgegen- Pale Blue Dot, eine planetare Anmutung entwickelt. zuwirken, die mit dem standardisierten Videoformat einhergeht. Nicht nur sind alle Kassetten ihrer Bauart Nach der erfolgten Annäherung entpuppt sich die nach „grau“. Schwerwiegender ist noch, dass sich die Form jedoch eher als lunares Objekt, weil nun in Abb. 17 Abb. 18 4
Abb. 19 Archivschrank in der Mediathek Abb. 20 VHS-Kassetten im Regal Bildinformation auf dem Magnetband den mensch- Einen Extremfall bildet die Videokunst, denn über lichen Sinnesorganen nicht unmittelbar erschließt, das gesamte technologische Zeitfenster der VHS- wie etwa in einem Buch, das dem kundigen Auge Kassette hinweg haben Videokünstler dieses Format in Schrift und Bild zumindest eine Anmutung seines auch als Vertriebsmittel für ihre Werke genutzt. Dass Inhaltes mitgibt, sobald man es aufgeschlagen hat. Videokunst die technischen Bedingungen ihrer Mög- Die dem Band in den Kassetten in Form von Mag- lichkeit reflektiert, kann als eines ihrer Fundamente netimpulsen eingeschriebene Bildinformation kann angesehen werden, auf dem die Künstlerinnen und erst durch die Apparatur in sicht- und hörbare Si- Künstler dann auf individuelle Weise aufbauen. Es gnale umgewandelt werden, und so bleibt die Kas- wird demnach kaum ein Werk der Videokunst ge- sette in der Hand stumm und blind. Doch selbst ben, das nicht auch die Aufführungsbedingungen wenn dann der Schritt zum Abspielgerät gegangen miteinbezieht, wenn die Vertriebsform ein derart ist, der Bandlauf in der vorgesehenen Geschwindig- standardisiertes Format wie die VHS-Kassette hat. keit vor sich geht und auf dem Monitor das bewegte Die Datenträger der Videokunst sind daher ver- Bild erscheint, ist die Frage nach der Bildinformati- gleichbar mit Multiples der Happening- oder auch on noch nicht restlos geklärt. Bietet mir das abge- der Konzeptkunstszene, die ihre Werke mit oder rufene Monitorbild nun ein identisches Seherlebnis, als Handlungsanleitungen in die Welt setzten. wie das etwa bei Mitschnitten aus dem Fernsehen Ähnliches gilt daher auch für die Kassetten im oder bei Fernsehproduktionen generell der Fall zweiten Register von unten ganz links; vier Kas- wäre, weil sie auf das Format des Monitors zuge- setten, eine in einer Papphülle, die anderen drei schnitten sind? Oder funktioniert das Monitorbild in Kunststoffhüllen (Abb. 20). Es handelt sich um lediglich als eine Verweisstruktur, beispielsweise VHS-Bänder des Videokünstlers Bill Viola. Die mit auf einen Spielfilm, der für eine wesentlich größere einem 24-Nadeldrucker beschrifteten Etiketten Projektionsfläche hergestellt wurde und mir daher verraten uns, das es sich – von links nach rechts auf der begrenzten Fläche nun so manches vorent- – um die Arbeiten „The Greeting“, um die Kompli- hält, angefangen bei Details bis hin zu Überwälti- ation „Selected Videoworks“ und um „The Passing“ gungsstrategien durch das monumentale Format? handelt. Ganz links – am Rücken unbeschriftet – An diesen Fragen generieren sich video-bildwissen- steht die Kassette mit der Arbeit „The Crossing“. schaftliche Fragestellungen, die mit der Digitalisie- Bill Viola gehört zu den bekanntesten Videokünst- rung nicht etwa abgeschafft werden, sondern mit lern, vor allem deshalb, weil er mit seinen Arbeiten ei- noch größerer Dringlichkeit gestellt werden müssen. 5
nerseits an die christliche Bildtradition anknüpft, und sich jeweils die Geräusche bis zu Feuerorkan und weil er andererseits die Integrität des Bildes auch in Wassertosen. Durch den Flammen- bzw. Wasservor- der Videokunst aufrechterhält. Die auf den Kasset- hang, aufsteigend der eine, fallend der andere, er- ten gespeicherte Bildinformation ist dabei zwar ein kennt man immer wieder die Umrisse des Mannes. Kernbestandteil der Videoarbeit, jedoch sind weitere Plötzlich ist er fort. Annihiliert. (Diesen Effekt liebt Komponenten erforderlich, um die Kassette in den Viola.) Langsam sinkt die Flamme, allmählich wird Zusammenhang zu stellen, der sie in ein interpre- der Wassersturz schwächer, bis nur noch Tropfen, tierbares Kunstwerk verwandelt. Bei Viola sind das zögernd, in die Wasserfläche auf den Grund fallen aufwändige Projektionen in abgedunkelten Räumen (wunderschön anzusehen). Die Flamme kriecht in mit einer ausgefeilten Betrachterführung, die stets sich selbst zusammen und haucht sich aus. Ende.“8 auch eine ausgearbeitete Geräuschkulisse beinhal- Solche sprachlichen Evokationen gehören selten tet. Für die Aufführung von „The Passing“ wird als zu den Beilagen von Kassetten mit Videokunst. Die „Screening requirement“ beispielsweise folgendes Aufgabe der Bildwissenschaft wird es sein, auch an verlangt: „The video should be presented as cine- einem so unscheinbaren Bildträger wie der VHS- ma. The screening should take place in an isolated Kassette die konkreten historischen Aufführunsbe- dark room with seating for the audience. If available, dingungen zu rekonstruieren und zu sichern, umso a normal museum theater is best. As with film, it mehr, als in der ditialen Fassung nun auch der im- should be shown according to a printed schedule and merhin historisierbare Bildträger verlorengeht. Die not on an automatically repeating loop. Quality pre- austauschbaren Server in den Rechenzentren geben sentations less frequently to larger groups are pre- ihre materielle Bedingtheit nicht mehr frei und er- ferable to continuous screenings throughout the day. zeugen somit den Schein immaterieller Ahistorizität. A large screen monitor may be used for groups up to Wie wichtig die Aufbewahrung der nun eigent- about 60. For very large groups or in a large space, a lich überflüssig gewordenen VHS-Kassetten ist, will video projector with a flat screen may be used. Audio ich abschließend anhand der Provenienz von Violas must be monitored through a separate stereo sound Videowerken in der Mediathek zeigen. Design und system.“7 Damit sind museale Ausstellungsbedingun- Beschriftung dieser Kassettenhüllen unterscheiden gen beschrieben, welche die Standardbedingungen sich erheblich von der im Offset-Verfahren und oft einer Recorder-Monitor-Einheit deutlich übersteigen. bunt bedruckten industriellen Handelsware. Es ist Noch anschaulicher wird die Differenz der Bildin- nur eine kleine Auflage, die mit einem Etikettendru- formation auf der Kassette und der Aufführungsform cker gerade noch zu bewältigen war. Die vier Kas- des Videowerks in der Beschreibung von „The Cros- setten mit Videoarbeiten Bill Violas stammen aus sing“, die Hartmut Böhme verfertigte, nachdem er dem Besitz von Horst Bredekamp. Er berichtete die Retrospektive zu Viola 1998 im Whitney Museum über die Herkunft der Kassetten folgendes: Wäh- of American Art in New York besichtigt hatte: „In rend eines Forschungsaufenthaltes in den Jahren der Mitte des Raumes eine hohe Trennwand, auf die 1998 und 1999 als Visiting Scholar am Getty Re- von beiden Seiten aufeinander abgestimmte Video search Center in Los Angeles kam der Kunsthistori- sequenzen projiziert werden. Der Betrachter kann ker mit Bill Viola ins Gespräch. Dieser war dort als hin- und herwechseln. Zunächst geschieht auf bei- Getty Scholar zu Gast, weil er für das Jahresthema den Seiten dasselbe. Aus der Tiefe einer nächtlichen „Representing the Passions“ wie kein anderer Video- Allee erscheint in starker Slow-motion erst winzig, künstler prädestiniert war. Viola schenkte Brede- dann wachsend ein Mann, zuschreitend auf die nied- kamp die Kassetten, die dieser dann mit nach Ber- rig postierte Kamera. Schwache seitliche Scheinwer- lin nahm und schließlich an die Mediathek übergab. fer verfolgen unsichtbar die Annäherung des Mannes, Die Datenträger enthalten eine zweite Informa- der schließlich, ein Riese, metergroß, seinen letzten tionsschicht, ohne welche die Videoinformationen Schritt tut und verharrt. Pause. Kaum sichtbar be- auf dem Magnetband unvollständig bleiben müs- ginnt zu seinen Füßen ein Flämmchen zu züngeln; sen. Wie die Nahaufnahme einer der Videokasset- kaum sichtbar fällt auf der Gegenseite ein silbern ten zeigt (Abb. 21), verbergen sich unter den nur leuchtender Tropfen auf sein Haupt. So langsam, wie von Maschinen decodierbaren, für das menschliche der Mann aus der Tiefe horizontal auf den Betrachter Auge als neutrale weiße Fläche erscheinenden di- zuschritt, wachsen jetzt in der Vertikale Flamme und gitalen Etiketten Basisinformationen, die für das Wasserfall. Schaudernd sieht der Betrachter, wie der System redundant sind, aus historischer Perspekti- Mann inmitten einer Feuersbrunst steht bzw. mitten ve jedoch höchst aufschlussreich sein können. Hier in einem gewaltigen Wassersturz. Im Maße der visu- sind es etwa die Adressen der Videokopierfirma, ellen Steigerung von Feuer und Wassersturz steigern 8 Hartmut Böhme (1999), Video, ergo itineror. Reisen ins 7 Exhibition and Distribution Conditions für The Passing Imaginäre in der Videokunst von Bill Viola, in: ‚Die andere von Bill Viola auf der Internet-Seite von Electronic Arts Stimme’. Das Fremde in der Kultur der Moderne, hg. v. Intermix, www.eai.org/title.htm?id=837, letzter Zugriff Alexander Honold und Manuel Köppen, Köln, Weimar und am 24.07.2014. Wien, S. 353–368. 6
Abb. 21 ursprüngliches Etikett der VHS-Kassette unter dem Datenträger des elektronischen Bibliothekssystems sowie ein Datum mit Tagesgenauigkeit – was auch die durch die Digitalisierung so stark beschleunigt immer diese nicht im Netz abrufbaren Informatio- und zum großen Teil überhaupt erst möglich wird. nen für die zukünftige Forschung bedeuten mögen. Die Digitalisierung der VHS-Kassetten des Grimm- Im Sinn einer solchen Archäologie der VHS-Kas- Zentrums ist nur ein Pilotprojekt und kann als Mo- sette hoffe ich, dass die Sammlung der Mediathek dell für weitere und umfangreichere Digitalisierungs- noch lange genug erhalten bleibt, um die digital projekte dienen. Die Institute und Sammlungen abgelösten Bildinhalte, die nun im Netz verfügbar der Humboldt-Universität verfügen über weitere sind, immer wieder an ihre Datenträger zurückbin- Bestände an Bewegtbildmedien, die nur durch die den zu können. So wie Zeichnungen, Gemälde und Digitalisierung mit zweckmäßiger Effizienz er- Skulpturen bedürfen also auch Videokassetten einer schlossen werden können und die dadurch zugleich Wissenschaft, die ihre Provenienz ebenso erforscht als materielle Sammlungen aufgewertet würden. wie die ursprüngliche Bestimmung ihrer Bildinhalte, Abbildungsnachweis Abb. 1; 19-21: Autor; Abb. 2: Engel/Kuper/Bell 2008, S. 490 (Anm. 2); Abb. 3: Habersetzer/Lobo/Santoro 1991, unpag. (Anm. 3); Abb. 4-10: Standbilder aus: Jonne Severijn 1988: Frans Hals; Abb. 11-13 Standbilder aus: Melvyn Bragg/Michael Gill 1996: Jan Vermeer van Delft; Abb. 14‑18: Standbilder aus: Pierre Néel/Wieland Schmied 1985: Lucio Fontana. Reaching Out Into Space. 7
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