Kunstgeschichte auf Kassette Zur Videosammlung der Mediathek im Grimm-Zentrum

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Kunstgeschichte auf Kassette Zur Videosammlung der Mediathek im Grimm-Zentrum
Kunstgeschichte auf Kassette
Zur Videosammlung der Mediathek im Grimm-Zentrum
Ulf Jensen
Vortrag, gehalten anlässlich der abgeschlossenen Digitalisierung der VHS-Kassetten am 23. Juni 2014

                                                                    Der Abschied von der VHS-Kassette soll heute mit
                                                                    ihrer Würdigung einhergehen. Sie sehen ein Exemp-
                                                                    lar in seiner aufgeklappten Kunststoffhülle, und zwar
                                                                    die Unterseite, die im Gebrauch nicht zur Ansicht be-
                                                                    stimmt ist (Abb. 1). Die farblich markant abgesetz-
                                                                    ten Getriebekränze der Bandspulen dominieren das
                                                                    Querformat. In der oberen Hälfte schattieren dich-
                                                                    te Rillen die Oberfläche wie eine Schraffur, um sie
                                                                    griffiger zu machen. Die Symmetrie der Kompositi-
                                                                    on setzt sich mit kreisförmigen Vertiefungen in den
                                                                    oberen Ecken und auf der Mittelachse fort. An der
                                                                    Unterkante befinden sich asymmetrische Einschnit-
                                                                    te, die den Schwerpunkt optisch auf die linke Seite
                                                                    verschieben. Eine Art Schutzvisier bildet den untern
                                                                    Abschluss und sorgt für die Integrität des Formates.
                                                                      Nach den Verkaufs- und Verbreitungszahlen ist die
                                                                    VHS-Kassette ein genauso internationaler, ja globaler
                                                                    Bildträger wie das 35-Millimeter-Filmformat, das Tho-
                                                                    mas Alva Edisson um 1900 als Standard durchsetzte.
                                                                    Während Film und Kamera jedoch kulturgeschichtlich
Abb. 1 VHS-Kassette

I. Bilder auf Polyester
Moderne wissenschaftliche Bildersamm-
lungen ordnen sich entlang medialer Dif-
ferenzen. Die Kupferstichkabinette, die
Gemäldegalerien oder Skulpturensamm-
lungen bringen zusammen, was sich sei-
ner Art nach gleicht, und die verschiede-
nen traditionellen Gattungen werden von
ebenso traditionsreichen Wissenschaften
begleitet. Bei der Sammlung der VHS-
Kassetten in der Mediathek des Grimm-      Abb. 2 Bandlaufschema VHS                        Abb. 3 Bewegungsschema Iaidō
Zentrums sieht das etwas anders aus.
Zwar wird das Corpus durch das gemein-
                                                              im neuzeitlichen Europa ankern und als Errungen-
same Trägermedium analog bespielter Magnetbän-
                                                              schaften des Westens gelten müssen, stammt die VHS-
der mit der in buchähnlichem Format vereint: es sind
                                                              Kassette aus Fernost. Sie ist eine japanische Erfin-
eben VHS-Kassetten. Doch fehlt diesem Trägerme-
                                                              dung, ein Beitrag Nippons zur globalisierten Bildkultur.
dium aufgrund seines jungen Alters die Tradition,
und über einige um so wichtigere Einzelstudien hin-             Wer die Erfahrung eines Bandsalates mit einer VHS-
aus konnte es auch keine Wissenschaft induzieren.  1          Kassette     gemacht hat, wird durch die Betrachtung
                                                              des Bandlaufschemas (Abb. 2)2 leicht nachvollziehen
  Mit dem heutigen feierliche Anlass der abge-
                                                              können, wie es dazu kommen kann. Der aus Gera-
schlossenen Digitalisierung aller VHS-Kassetten
                                                              den und Kreissegmenten zusammengesetzte Weg
des Grimm-Zentrums wird sogar noch ein weite-
                                                              des Magnetbandes von der einen Spule in der Kas-
rer historischer Punkt markiert: denn indem die
                                                              sette links über die lesenden oder schreibenden Vi-
VHS-Kassetten ihre analogen Bilddaten auf digitale
                                                              deoköpfe zur anderen Spule in der Kassette rechts ist
Speichermedien abgegeben haben, machte sie sich
                                                              alles andere als einfach. Das Band muss erst kunst-
überflüssig. Die Bestimmung der Videokassette,
                                                              voll ausgestülpt werden, und wir erinnern uns dabei
nach Einschub in das Abspielgerät auf einem Moni-
                                                              an die Geräusche nach dem Einlegen einer Kassette
tor bewegte Bilder erscheinen zu lassen, führt heu-
                                                              oder vor dem Herausnehmen, die mit diesem Vor-
te die digitalen Apparatur mit weitaus weniger Auf-
wand und oft auch mit besserer Bildqualität durch.            2 Friedrich Engel, Gerhard Kuper, Frank Bell (2008), Zeitschich-
                                                                    ten: Magnetbandtechnik als Kulturträger. Erfinder-Biographien
                                                                    und Erfindungen. Chronologie der Magnetbandtechnik und ihr
1 Z. B. Siegfried Zielinsky (2010), Zur Geschichte des Videore-     Einsatz in der Hörfunk-, Musik-, Film- und Videoproduktion, Pots-
corders, Potsdam (zuerst Berlin 1986).                              dam, S. 490.

                                                                                                                                        1
Kunstgeschichte auf Kassette Zur Videosammlung der Mediathek im Grimm-Zentrum
gang verbunden sind, sowie an das nicht unerheb-               Benutzer eines Gegenstandes kennt dessen Grenzen
liche Zeitintervall bis zum Erscheinen eines Bildes.           und dessen Unvollkommenheit. Das Ding entspricht
   In ihrer umständlichen Präzision ist die Mecha-             nur einer in der Vergangenheit liegenden Notwen-
nik der VHS-Kassette vielleicht mit der traditionel-           digkeit, ohne bereits neue Bedürfnisse zu erfüllen“.5
len japanischen Kriegskunst verwandt (Abb. 3).3                  Dieses Zeitfenster spiegelt auch unsere Samm-
Möglicherweise konnten nur Ingenieure, die in der              lung wieder. Die jüngste Kassette stammt aus dem
der Geometrie des Kreises verpflichteten Kunst des             Jahr 2002, es ist das Video von Richard Deacon
Schwertziehens (Iaidō) geübt waren, eine Tech-                 über eine Ausstellung in der Tate Gallery: Image
nik entwickeln, die Präzision und Verletzbarkeit so            and Idol: Medieval Sculpture.6 Und das sind gleich-
in sich vereint wie die VHS-Kassette. Fest steht,              zeitig die ältesten Kunstwerke, die in einem der Fil-
dass sich die Manager des JVC-Konzerns im Okto-                me vorgestellt werden, neben jenem Günther Krip-
ber 1976 durchsetzen konnten, als es um die Aus-               pendorfs über das Evangeliar Heinrich des Löwen.
wahl eines neuen, internationalen Videostandards                 Die älteste VHS-Kassette in der Sammlung stammt
ging. Das Video-Home-System der „Japan Victory                 möglicherweise bereits aus dem Jahr 1980. Es ist
Company“ – dafür steht JVC – hat danach erst die               ein Film der BBC über Eugène Delacroix. Ich beto-
Paläste und dann auch die Hütten der elektrisierten            ne hier „Film“, denn das anspruchsvolle Künstler-
Welt erobert. Damit wurde dem Bewegtbildmedium                 porträt mit zahlreichen Schwenks und Zooms über
eine Verbreitungsform gegeben, die aufgrund der                und auf die Zeichnungen und Gemälde entstand
verwendeten Materialien und des Margeneffekts so               mit der Film- und nicht mit der Videokamera, und
günstig produziert werden konnte, wie keines der               das ist bei den meisten übrigen Produktionen nicht
vorangegangenen Systeme für das Heimkino. Ähn-                 anders. Die VHS-Kassette dient hier allein als Ver-
lich dem Fernseher, an das sich VHS koppelt, ist es            vielfältigungsmedium. Denn Filmqualität im Bereich
für jeden Haushalt mit westlichem Durchschnittsein-            der Aufnahmetechnik bot erst die digitale Technik
kommen verfügbar. Die VHS-Kassette ist ein maß-                mit dem High Definition Video und Fernsehen, die
geblicher Beitrag zur Verdinglichung der Bewegt-               seit dem Beginn der 1990er Jahre entwickelt wurde.
bildinformationen, die zuvor nur in Abhängigkeit zu
                                                                  In unserer VHS-Sammlung fehlt es auch nicht an
den Institutionen des Kinos und des Fernsehens nur
                                                               Spielfilmen. Wenn wir einige Filme von Jean-Luc Go-
virtuell konsumiert werden konnten. Von den vor-
                                                               dard nun in voller Länge über die Website der Me-
angegangenen Amateur- und Bildungsformaten wie
                                                               diathek abrufen können, so z.B. Alphaville, Masculin
dem Schmalfilm unterscheidet sich das Video-Sys-
                                                               féminin oder gar Le mépris – mit englischen Unterti-
tem grundsätzlich in der Eigenschaft, den kontinu-
                                                               teln – dann ist das zwar nach dem Maßstab der tech-
ierlichen Bilderstrom aus dem Fernsehen nun auch
                                                               nischen Bildqualität im Zeitalter der BlueRay-Disk
aufzeichnen zu können. Damit änderte sich die wis-
                                                               ein Anachronismus. Doch in Zeiten hart umkämpfter
senschaftliche Film- und Fernsehanalyse; Anhalten,
                                                               Bildrechte ist den Architekten dieser Videodaten-
Zurück- oder Vorspulen des Videobandes gehörte
                                                               bank gelungen, dass jeweils ein Bibliotheksnutzer
von nun an zur Methodik der Bildwissenschaften.
                                                               im Netz legal auf eine offizielle Filmversion zugreifen
II. Kunstgeschichte auf VHS                                    kann. Das gilt auch für die beiden Teile des Nibelun-
  Wer eine VHS-Kassette in der Hand hält, kann sie             genfilms von Fritz Lang (Siegfrieds Tod, Kriemhilds
auch sofort datieren. Als Terminus post-quem gilt, wie         Rache) aus dem Jahr 1924. Die Filmklassiker legen
bereits erwähnt, der Oktober 1976. Das aktive tech-            auch in ihrer digitalisierten VHS-Version noch ästhe-
nikhistorische Zeitfenster der VHS-Kassette öffnet             tische Maßstäbe für das querrechteckige Bildformat
sich bis ungefähr 2010, als die Verkaufszahlen nicht           vor, die es den dokumentarischen Videobildern und
mehr statistisch erfasst werden. Zwei markante Zwi-            auch einigen Videokunstarbeiten schwer machen,
schendaten grenzen den Zeitraum noch einmal ein:               neben ihnen auf dem Computermonitor zu bestehen.
und zwar beginnt Sony, im Kampf der Videosysteme                 Die Sammlung umfaßt einige Konvolute, von
der unterlegene Konkurrent von JVC, im Jahr 1988               denen hier die wichtigsten aufgeführt seien:
mit der Produktion von VHS-Videorecordern.4 Kaum                 – eine Symposiumsdokumentation zum 50 Jahres-
vierzehn Jahre später, im Jahr 2002 überholte die              tag des britischen EDSAC 1-Computers vom Compu-
DVD erstmals die Verkaufszahlen der VHS-Kassette.              ter Laboratory der University of Cambridge (Tag 1,
Damit war ihr Schicksal besiegelt; sie gehörte von             Band 1; Tag 1, Band 2; Tag 2, Band 3; Tag 2, Band 4),
nun an – im Sinne George Kublers – zu den abzule-
                                                                 – die Serie „Media Magica“ von Werner Nekes zur Ge-
genden Gegenständen: „Der Akt des Ablegens ent-
spricht einem Endzustand bei der allmählichen Her-             5 George Kubler (1982), Die Form der Zeit. Anmerkungen
ausbildung einer Geisteshaltung. In dieser Haltung             zur Geschichte der Dinge, hg. v. Gottfried Boehm, Frank-
vereinen sich Vertrautheit und Unzufriedenheit: der            furt am Main (zuerst New Haven, 1962), S. 133. – „Abge-
                                                               legte“ Medientechnik kann auch im Medienarchäologischen
                                                               Fundus der Humboldt-Universität untersucht werden.
3 Roland Habersetzer/José Lobo/Serge Santoro (1991), Découv-   6 Der Zugriff auf die Videostreams mit farbig unterleg-
rir le Iai-Do, Paris, unpag.                                   ten Titeln kann nur aus dem Netz der Humboldt-Universi-
4 Wie Anm. 2.                                                  tät aus erfolgen.

                                                                                                                       2
Kunstgeschichte auf Kassette Zur Videosammlung der Mediathek im Grimm-Zentrum
Abb. 4               Abb. 5             Abb. 6               Abb. 7       Abb. 8             Abb. 9             Abb. 10

         schichte der Medien (Belebte Bilder; Bild - Raum; Durch-     Howard Hodgkin, um nur einige zu nennen; Künst-
         sehekunst; Vieltausendschau; Wundertrommel),                 lerinnen wird in dieser Perspektive eher eine Rand-
           – die Anthologie zur Filmgeschichte von Edgar              position zugewiesen: sie sind im Bereich der Mode
         Reitz „Das Jahrhundert des Kinos – 100 Jahre Film-           mit Coco Chanel und in der Fotografie mit Annie
         geschichte“ (Die Nacht der Regisseure, Martin Scor-          Leibovitz vertreten. Im Format der knapp einstün-
         seses Reise durch den amerikanischen Film, 100               digen Porträts werden alle filmischen Register der
         Jahre japanisches Kino, Typisch britisch, 2 x 50 ans         Heroisierung gezogen und Kunst und Künstler mit
         de cinema français, Skandinavien - Kino der Neu-             filmischen Mitteln erhöht. Einige dieser Mittel sind
         gier, Korea - Kino im Aufbruch, Lateinamerika - Kino         originell oder sogar spektakulär, und deshalb will ich
         der Tränen, Polen - 100 years of Polish cinema,              sie anhand dreier Beispiele zur Anschauung bringen.
         Russland - the Russian idea, China - Yan and Yin:               Das erste Beispiel leitet den Film über Frans Hals
         gender in Chinese cinema, Indien - and the show              von Jonne Severijn aus dem Jahr 1988 ein: Im Vor-
         must go on, Australien - 40000 years of dreaming),           spann zum Künstlerporträt des Niederländers greift
           – die Anthologie zur Videokunst von Chris Hill „Sur-       der Zeichentrick den Duktus des Pinsels auf. Auf
         veying the first decade“ der Video Data Bank in Chi-         dem monochromen Grund (Abb. 4) zeichnen sich in
         cago (Explorations of presence, performance, and             unterschiedlichen Lagen einzelne Pinselstriche ab.
         audience, Investigations of the phenomenal world -           Zunächst bilden die Weißhöhungen eine abstrakte
         space, sound, Approaching narrative - „There are             Ansammlung kaum als zusammengehörig erschei-
         problems to be solved“, Gendered confrontations,             nender Striche (Abb. 5), die dann wie in einem Druck-
         Performance of video imaging tools, Decentralized            verfahren um Flächenelemente mit dunkleren Tönen
         communications projects, Critiques of art and media          ergänzt werden (Abb. 6-8) und sich somit schließ-
         as commodity and spectacle, Independents address             lich zum Kopf einer Eule zusammensetzen. Der im
         television audiences, Video Art and alternative Me-          Trick rekonstruierte Eulenkopf blendet dann in den
         dia in the U.S), und – Gespräche mit zeitgenössi-            Ausschnitt des Ölgemäldes über, aus dem er stammt
         schen Künstlern vor blauem Hintergrund, die aus              (Abb. 9), und am Ende wird das vollständige Ge-
         der Produktion einer Wiener Firma stammen (Vito              mälde der Malle Babbe gezeigt (Abb. 10). Hier spielt
         Acconci, John Baldessari, Dara Birnbaum, Christian           der Film seine Fähigkeit voll aus, sukzessive Bilder
         Boltanski, Hans-Peter Feldmann, Gilbert and Geor-            vorzustellen, und uns damit dem simultan wirkenden
         ge, Félix González-Torres, Carsten Höller, Jenny Hol-        Gemälde in analytischer Blickführung anzunähern.
         zer, Timothy Martin, Tony Oursler, Joseph Kosuth).             Weitaus drastischer beginnt der Film über Jan Ver-
           Ein eigenes Subgenre bilden die zahlreichen                meer. Aus dem Orbit, wo Astronauten schwerelos an
         Künstlerporträts aus dem Hause Phaidon in London.            einem Greifarm der Internationalen Raumstation ar-
         Als ein Ergebnis britischer Kulturpolitik schreiben die      beiten (Abb. 11), springt die Filmeinstellung in einen
         Fernsehfilme die Kunstgeschichte als eine maskuline          Operationssaal, wo die Kamera auf ein gerade so-
         Heldengeschichte in die britische und amerikanische          eben erfolgreich transplantiertes, pulsierendes Herz
         Malerei der Gegenwart fort, von Massaccio über Piet          gerichtet ist (Abb. 12), um dann im harten Schnitt
         Mondrian und Robert Motherwell zu Malcolm Morley,            ein Detail des Gemäldes „Dienstmagd mit Milchkrug“
         von Franz Hals zu David Hockney, Patrick Heron und           von Jan Vermeer vorzustellen (Abb. 13). Der Kom-

         Abb. 11                                 Abb. 12                               Abb. 13                                 3
Kunstgeschichte auf Kassette Zur Videosammlung der Mediathek im Grimm-Zentrum
Abb. 14                            Abb. 15                                                              Abb. 16

mentator greift das Pathos dieser mutigen Montage      einer Überblende die durchlöcherte Farbschicht ei-
auf und wird nicht müde zu betonen, dass die be-       nes der „concetti spaziali“ Fontanas aus den späten
schauliche Genreszene im Gemälde Vermeers hin-         1950er Jahren ins Bild tritt (Abb. 16). Näher und nä-
sichtlich ihrer malerischen Innovation nicht minder    her kommt die fiktive Raumsonde der im scharfen
spektakulär gewesen sei wie die zivilisatorischen      Seitenlicht besonders krass hervortretenden Krater-
Superlative der Moderne. — Offenbar gehört es          struktur (Abb. 17, 18). Dazwischen montiert der Fil-
zum Kompositionsprinzip britischer Kunstdokumen-       memacher sogar Aufnahmen von der Oberfläche des
tationen, die ersten Sekunden des Films als visuel-    Mondes, und das bleibt in der Kürze der Einstellung
le Ausrufungszeichen zu gestalten und dadurch die      suggestiv. Schließlich fährt die Kamera über die im Bild
Augen der Betrachter zu fesseln, weil die Durch-       monumental erscheinende Signatur des Künstlers.
führung in dem immergleichen Wechsel von spre-           Der animierte Sternenhimmel, die gemalte Ga-
chenden Köpfen, Archivmaterial und Werkaufnah-         laxie und das seitlich scharf ausgeleuchtete Mo-
men filmästhetisch dann eher konventionell bleibt.     dell sind Elemente aus der Trickkiste des Science-
  Unerreicht ist diesbezüglich der Film von Pierre     Fiction-Films wie auch die primordial anmutende
Néel über den italo-argentinischen Bildhauer Lucio     Streichermusik, das an die György Ligetis „Atmos-
Fontana. In einer Kombination von Trickaufnahmen       phères“ vom Anfang des Films „2001. A Space-
und Zooms gestaltet Néel die Annäherung an Fontana     Odyssey“ von Stanley Kubrick erinnern soll. Hier
als Weltraumreise und interpretiert damit das Kon-     wird der porträtierte Künstler zum Alien oder er
zept des „Spazialismo“, mit dem Fontana berühmt        wird zumindest als Übermensch inszeniert; zugleich
geworden ist, im Sinne der Science Fiction um. Néel    profiliert sich der Filmemacher als Filmkünstler.
stellt weiße Farbflecken aus dem Oeuvre Fontanas
                                                       III. Videokunst im Regal
graphisch frei und zoomt auf sie vor einem ebenfalls
räumlich animierten Sternenhintergrund zu. Der Be-     In den Archivschränken der Mediathek (Abb. 19) ste-
trachter rast somit auf die Farbflecken zu wie auf     hen nun die immer seltener genutzten VHS-Kasset-
ferne Galaxien (Abb. 14), bis schließlich ein blaues   ten. Allein schon die farbige Vielfalt in der Hüllenge-
rundes Objekt erscheint (Abb. 15), das gleichsam       staltung, aber auch in der Verpackungsformate und
als Zwischenschritt zwischen den astronomischen        -materialien zeugen davon, wieviel Aufwand betrie-
Aufnahmen der Erde, der Blue Marble und dem            ben werden muss, um der Entsinnlichung entgegen-
Pale Blue Dot, eine planetare Anmutung entwickelt.     zuwirken, die mit dem standardisierten Videoformat
                                                       einhergeht. Nicht nur sind alle Kassetten ihrer Bauart
  Nach der erfolgten Annäherung entpuppt sich die
                                                       nach „grau“. Schwerwiegender ist noch, dass sich die
Form jedoch eher als lunares Objekt, weil nun in

Abb. 17                                                                                                 Abb. 18

                                                                                                                  4
Kunstgeschichte auf Kassette Zur Videosammlung der Mediathek im Grimm-Zentrum
Abb. 19 Archivschrank in der Mediathek                                              Abb. 20 VHS-Kassetten im Regal

Bildinformation auf dem Magnetband den mensch-          Einen Extremfall bildet die Videokunst, denn über
lichen Sinnesorganen nicht unmittelbar erschließt,      das gesamte technologische Zeitfenster der VHS-
wie etwa in einem Buch, das dem kundigen Auge           Kassette hinweg haben Videokünstler dieses Format
in Schrift und Bild zumindest eine Anmutung seines      auch als Vertriebsmittel für ihre Werke genutzt. Dass
Inhaltes mitgibt, sobald man es aufgeschlagen hat.      Videokunst die technischen Bedingungen ihrer Mög-
  Die dem Band in den Kassetten in Form von Mag-        lichkeit reflektiert, kann als eines ihrer Fundamente
netimpulsen eingeschriebene Bildinformation kann        angesehen werden, auf dem die Künstlerinnen und
erst durch die Apparatur in sicht- und hörbare Si-      Künstler dann auf individuelle Weise aufbauen. Es
gnale umgewandelt werden, und so bleibt die Kas-        wird demnach kaum ein Werk der Videokunst ge-
sette in der Hand stumm und blind. Doch selbst          ben, das nicht auch die Aufführungsbedingungen
wenn dann der Schritt zum Abspielgerät gegangen         miteinbezieht, wenn die Vertriebsform ein derart
ist, der Bandlauf in der vorgesehenen Geschwindig-      standardisiertes Format wie die VHS-Kassette hat.
keit vor sich geht und auf dem Monitor das bewegte      Die Datenträger der Videokunst sind daher ver-
Bild erscheint, ist die Frage nach der Bildinformati-   gleichbar mit Multiples der Happening- oder auch
on noch nicht restlos geklärt. Bietet mir das abge-     der Konzeptkunstszene, die ihre Werke mit oder
rufene Monitorbild nun ein identisches Seherlebnis,     als Handlungsanleitungen in die Welt setzten.
wie das etwa bei Mitschnitten aus dem Fernsehen           Ähnliches gilt daher auch für die Kassetten im
oder bei Fernsehproduktionen generell der Fall          zweiten Register von unten ganz links; vier Kas-
wäre, weil sie auf das Format des Monitors zuge-        setten, eine in einer Papphülle, die anderen drei
schnitten sind? Oder funktioniert das Monitorbild       in Kunststoffhüllen (Abb. 20). Es handelt sich um
lediglich als eine Verweisstruktur, beispielsweise      VHS-Bänder des Videokünstlers Bill Viola. Die mit
auf einen Spielfilm, der für eine wesentlich größere    einem 24-Nadeldrucker beschrifteten Etiketten
Projektionsfläche hergestellt wurde und mir daher       verraten uns, das es sich – von links nach rechts
auf der begrenzten Fläche nun so manches vorent-        – um die Arbeiten „The Greeting“, um die Kompli-
hält, angefangen bei Details bis hin zu Überwälti-      ation „Selected Videoworks“ und um „The Passing“
gungsstrategien durch das monumentale Format?           handelt. Ganz links – am Rücken unbeschriftet –
An diesen Fragen generieren sich video-bildwissen-      steht die Kassette mit der Arbeit „The Crossing“.
schaftliche Fragestellungen, die mit der Digitalisie-     Bill Viola gehört zu den bekanntesten Videokünst-
rung nicht etwa abgeschafft werden, sondern mit         lern, vor allem deshalb, weil er mit seinen Arbeiten ei-
noch größerer Dringlichkeit gestellt werden müssen.

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Kunstgeschichte auf Kassette Zur Videosammlung der Mediathek im Grimm-Zentrum
nerseits an die christliche Bildtradition anknüpft, und     sich jeweils die Geräusche bis zu Feuerorkan und
weil er andererseits die Integrität des Bildes auch in      Wassertosen. Durch den Flammen- bzw. Wasservor-
der Videokunst aufrechterhält. Die auf den Kasset-          hang, aufsteigend der eine, fallend der andere, er-
ten gespeicherte Bildinformation ist dabei zwar ein         kennt man immer wieder die Umrisse des Mannes.
Kernbestandteil der Videoarbeit, jedoch sind weitere        Plötzlich ist er fort. Annihiliert. (Diesen Effekt liebt
Komponenten erforderlich, um die Kassette in den            Viola.) Langsam sinkt die Flamme, allmählich wird
Zusammenhang zu stellen, der sie in ein interpre-           der Wassersturz schwächer, bis nur noch Tropfen,
tierbares Kunstwerk verwandelt. Bei Viola sind das          zögernd, in die Wasserfläche auf den Grund fallen
aufwändige Projektionen in abgedunkelten Räumen             (wunderschön anzusehen). Die Flamme kriecht in
mit einer ausgefeilten Betrachterführung, die stets         sich selbst zusammen und haucht sich aus. Ende.“8
auch eine ausgearbeitete Geräuschkulisse beinhal-             Solche sprachlichen Evokationen gehören selten
tet. Für die Aufführung von „The Passing“ wird als          zu den Beilagen von Kassetten mit Videokunst. Die
„Screening requirement“ beispielsweise folgendes            Aufgabe der Bildwissenschaft wird es sein, auch an
verlangt: „The video should be presented as cine-           einem so unscheinbaren Bildträger wie der VHS-
ma. The screening should take place in an isolated          Kassette die konkreten historischen Aufführunsbe-
dark room with seating for the audience. If available,      dingungen zu rekonstruieren und zu sichern, umso
a normal museum theater is best. As with film, it           mehr, als in der ditialen Fassung nun auch der im-
should be shown according to a printed schedule and         merhin historisierbare Bildträger verlorengeht. Die
not on an automatically repeating loop. Quality pre-        austauschbaren Server in den Rechenzentren geben
sentations less frequently to larger groups are pre-        ihre materielle Bedingtheit nicht mehr frei und er-
ferable to continuous screenings throughout the day.        zeugen somit den Schein immaterieller Ahistorizität.
A large screen monitor may be used for groups up to
                                                               Wie wichtig die Aufbewahrung der nun eigent-
about 60. For very large groups or in a large space, a
                                                            lich überflüssig gewordenen VHS-Kassetten ist, will
video projector with a flat screen may be used. Audio
                                                            ich abschließend anhand der Provenienz von Violas
must be monitored through a separate stereo sound
                                                            Videowerken in der Mediathek zeigen. Design und
system.“7 Damit sind museale Ausstellungsbedingun-
                                                            Beschriftung dieser Kassettenhüllen unterscheiden
gen beschrieben, welche die Standardbedingungen
                                                            sich erheblich von der im Offset-Verfahren und oft
einer Recorder-Monitor-Einheit deutlich übersteigen.
                                                            bunt bedruckten industriellen Handelsware. Es ist
  Noch anschaulicher wird die Differenz der Bildin-         nur eine kleine Auflage, die mit einem Etikettendru-
formation auf der Kassette und der Aufführungsform          cker gerade noch zu bewältigen war. Die vier Kas-
des Videowerks in der Beschreibung von „The Cros-           setten mit Videoarbeiten Bill Violas stammen aus
sing“, die Hartmut Böhme verfertigte, nachdem er            dem Besitz von Horst Bredekamp. Er berichtete
die Retrospektive zu Viola 1998 im Whitney Museum           über die Herkunft der Kassetten folgendes: Wäh-
of American Art in New York besichtigt hatte: „In           rend eines Forschungsaufenthaltes in den Jahren
der Mitte des Raumes eine hohe Trennwand, auf die           1998 und 1999 als Visiting Scholar am Getty Re-
von beiden Seiten aufeinander abgestimmte Video­            search Center in Los Angeles kam der Kunsthistori-
sequenzen projiziert werden. Der Betrachter kann            ker mit Bill Viola ins Gespräch. Dieser war dort als
hin- und herwechseln. Zunächst geschieht auf bei-           Getty Scholar zu Gast, weil er für das Jahresthema
den Seiten dasselbe. Aus der Tiefe einer nächtlichen        „Representing the Passions“ wie kein anderer Video-
Allee erscheint in starker Slow-motion erst winzig,         künstler prädestiniert war. Viola schenkte Brede-
dann wachsend ein Mann, zuschreitend auf die nied-          kamp die Kassetten, die dieser dann mit nach Ber-
rig postierte Kamera. Schwache seitliche Scheinwer-         lin nahm und schließlich an die Mediathek übergab.
fer verfolgen unsichtbar die Annäherung des Mannes,
                                                              Die Datenträger enthalten eine zweite Informa-
der schließlich, ein Riese, metergroß, seinen letzten
                                                            tionsschicht, ohne welche die Videoinformationen
Schritt tut und verharrt. Pause. Kaum sichtbar be-
                                                            auf dem Magnetband unvollständig bleiben müs-
ginnt zu seinen Füßen ein Flämmchen zu züngeln;
                                                            sen. Wie die Nahaufnahme einer der Videokasset-
kaum sichtbar fällt auf der Gegenseite ein silbern
                                                            ten zeigt (Abb. 21), verbergen sich unter den nur
leuchtender Tropfen auf sein Haupt. So langsam, wie
                                                            von Maschinen decodierbaren, für das menschliche
der Mann aus der Tiefe horizontal auf den Betrachter
                                                            Auge als neutrale weiße Fläche erscheinenden di-
zuschritt, wachsen jetzt in der Vertikale Flamme und
                                                            gitalen Etiketten Basisinformationen, die für das
Wasserfall. Schaudernd sieht der Betrachter, wie der
                                                            System redundant sind, aus historischer Perspekti-
Mann inmitten einer Feuersbrunst steht bzw. mitten
                                                            ve jedoch höchst aufschlussreich sein können. Hier
in einem gewaltigen Wassersturz. Im Maße der visu-
                                                            sind es etwa die Adressen der Videokopierfirma,
ellen Steigerung von Feuer und Wassersturz steigern
                                                            8 Hartmut Böhme (1999), Video, ergo itineror. Reisen ins
7 Exhibition and Distribution Conditions für The Passing    Imaginäre in der Videokunst von Bill Viola, in: ‚Die andere
von Bill Viola auf der Internet-Seite von Electronic Arts   Stimme’. Das Fremde in der Kultur der Moderne, hg. v.
Intermix, www.eai.org/title.htm?id=837, letzter Zugriff     Alexander Honold und Manuel Köppen, Köln, Weimar und
am 24.07.2014.                                              Wien, S. 353–368.

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Kunstgeschichte auf Kassette Zur Videosammlung der Mediathek im Grimm-Zentrum
Abb. 21 ursprüngliches Etikett der VHS-Kassette unter dem Datenträger des elektronischen Bibliothekssystems

sowie ein Datum mit Tagesgenauigkeit – was auch                               die durch die Digitalisierung so stark beschleunigt
immer diese nicht im Netz abrufbaren Informatio-                              und zum großen Teil überhaupt erst möglich wird.
nen für die zukünftige Forschung bedeuten mögen.                              Die Digitalisierung der VHS-Kassetten des Grimm-
  Im Sinn einer solchen Archäologie der VHS-Kas-                              Zentrums ist nur ein Pilotprojekt und kann als Mo-
sette hoffe ich, dass die Sammlung der Mediathek                              dell für weitere und umfangreichere Digitalisierungs-
noch lange genug erhalten bleibt, um die digital                              projekte dienen. Die Institute und Sammlungen
abgelösten Bildinhalte, die nun im Netz verfügbar                             der Humboldt-Universität verfügen über weitere
sind, immer wieder an ihre Datenträger zurückbin-                             Bestände an Bewegtbildmedien, die nur durch die
den zu können. So wie Zeichnungen, Gemälde und                                Digitalisierung mit zweckmäßiger Effizienz er-
Skulpturen bedürfen also auch Videokassetten einer                            schlossen werden können und die dadurch zugleich
Wissenschaft, die ihre Provenienz ebenso erforscht                            als materielle Sammlungen aufgewertet würden.
wie die ursprüngliche Bestimmung ihrer Bildinhalte,

Abbildungsnachweis
Abb. 1; 19-21: Autor; Abb. 2: Engel/Kuper/Bell 2008, S. 490 (Anm. 2); Abb. 3: Habersetzer/Lobo/Santoro 1991, unpag. (Anm. 3); Abb. 4-10:
Standbilder aus: Jonne Severijn 1988: Frans Hals; Abb. 11-13 Standbilder aus: Melvyn Bragg/Michael Gill 1996: Jan Vermeer van Delft; Abb.
14‑18: Standbilder aus: Pierre Néel/Wieland Schmied 1985: Lucio Fontana. Reaching Out Into Space.
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