Revue Moderne Ebene 4 - museum moderner kunst stiftung ludwig wien - Mumok
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Revue Moderne Innovation, Beschleunigung, Fortschritt, Urbanität, Wissenschaft und Industriali sierung gelten gemeinhin als Parameter der Moderne. Daneben bestehen unterschiedliche Auffassungen von Beginn (im frühen 20. Jahrhundert oder früher) und – möglichem – Ende jener „Epoche“, die von fundamentalen Auf- und Umbrüchen geprägt ist. Seitdem wir Geschichte auch unter dem Aspekt der Auswirkungen des Kolonialismus untersuchen und die Globalisierung unter differenzierten Vorzeichen betrachten, ist der Begriff der Moderne in die Kritik geraten: Gegen den eurozentristischen Universalismus stehen heute viele – auch außereuropäische und lokale – Modernen. Als der Gründungsdirektor des Museums, Werner Hofmann, 1959 begann, Exponate der „Klassischen Moderne“ zu sammeln, galt der euroamerikanische Kanon noch unangefochten. Die Ausstellung Revue Moderne nähert sich diesen frühesten Sammlungsbeständen aus der Perspektive zeitgenössischer Künstler*innen. In ihren Arbeiten, die vorwiegend in den vergangenen zehn Jahren Teil der mumok Sammlung geworden sind, setzen sich diese mit modernistischen Formensprachen und Konzepten auseinander. Dabei zeigen sie die Widersprüche, blinden Flecken und nicht eingelösten Potenziale des utopischen Projekts der Moderne auf. Statt also eine lineare Entwicklungsgeschichte zu konstruieren, nimmt Revue Moderne – zugleich Revision und Parade – das dialogische Zusammenspiel zwischen den ältesten und jüngsten Werken der Sammlung zum Ausgangspunkt für fünf unterschiedliche Erzählungen, welche die Verflechtungen und Brüche der Moderne(n) aufscheinen lassen. In diesen wird die Verzahnung von Geschichte und Gegenwart als ein lebendiger Prozess der Um- und Neubewertung vermittelt, in dem sich gesellschaftspolitische, soziokulturelle und philosophische Diskurse widerspiegeln.
10 1 4 3 5 12 11 2 9 8 7 6 Die Moderne und das „Andere“ Die umfassende Abhängigkeit der westlichen Moderne von anderen Kulturen steht am Beginn der Ausstellung. Constantin Brancusis hochglanzpolierte Bronzefigur eines Frauenkopfes (1) steht beispielhaft für die Auseinandersetzung der frühen Moderne mit außereuropäischer Kunst wie auch für europäische Stereotype afrikanischer Physiognomie. Brancusi zufolge war die Idee zu dieser Skulptur, die in zwei Serien mündete, nach seinem Besuch einer die französische Kolonialmacht demonstrierenden Ausstellung in Marseille 1922 entstanden, wo er eine Frau afrikanischer Abstammung beobachtet hatte. Brancusis Werk aus dem Jahr 1933 wird hier mit Andrea Frasers 82-teiliger Fotoinstallation White People in West Africa, 1989/1991/1993 (2) konfrontiert und damit in einen kritischen Kontext gestellt. Fraser analysiert mit ihrem Blick auf westliche Tourist*innen in westafrikanischen Ländern die bis heute virulenten Auswirkungen des (Neo-)Kolonialismus und dadurch die historisch bedingte und grundlegend zu hinterfragende Abgrenzung weißer Europäer*innen vom „Anderen“. Die Geschichte des Kolonialismus und der Sklaverei, der „Erbsünden“ der Moderne, und deren Verquickung mit Geschlechterdiskriminierung behandelt Kara Walker in ihrem Künstlerbuch Freedom, A Fable: A Curious Interpretation of the Wit of a Negress in Troubled Times, 1997 (3). Anhand von Pop-up-Papiersilhouetten schildert Walker den aussichtslosen Freiheitskampf einer ehemaligen Sklavin angesichts von Entrechtung, Ausbeutung und Gewalt zur Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs. Das Fortwirken kolonialer Rassismen in der Gegenwart thematisieren Destiny Deacon und Virgina Fraser in ihrem Film Forced into images, 2001 (4). Dort tauschen zwei der australischen Ursprungsbevölkerung angehörige Kinder – Deacons Nichte und Neffe –, mittels Masken scheinbar spielerisch ihre Identität – und daran geknüpfte stereotype Zuschreibungen aus. Vor dem Ersten Weltkrieg beschränkte sich das Interesse an außereuropäischen Kulturen größtenteils auf die Suche nach exotischen Erfahrungen und auf formal- ästhetische Anleihen bei ethnografischen Artefakten, die als koloniale Trophäen in den Museen der Metropolen angehäuft worden waren. Robert Goldwater, Kunsthistoriker und Ehemann von Louise Bourgeois, legte mit Primitivism in Modern Painting (1938) die erste umfassende wissenschaftliche Untersuchung
zur Beziehung von außereuropäischer und (westlicher) moderner Kunst vor. Bourgeois‘ totemistische Serie der Personnages (5), deren abstrakt-anthropo morphe Form und strenge Vertikalität an Holzstelen afrikanischer und ozeanischer Plastik erinnert, beschrieb die Künstlerin als personalisierte Erscheinungen von zurückgelassenen Menschen, mit denen sie, die Frankreich für New York verlassen hatte, Gefühlen von Heimweh und Verlust Ausdruck verlieh. Im Kubismus wurden aus der afrikanischen Plastik zukunftsweisende Formprinzipien wie die simultane Mehransichtigkeit einzelner Körperpartien entwickelt, die Pablo Picasso auch noch in späten Arbeiten wie Femme assise à l‘écharpe verte (Sitzende Frau mit grünem Schal), 1960, (6) virtuos zelebriert. Zu einer radikalen Erneuerung der Skulptur aus der Elementarform des Blocks, aus dem die Figur des Homme accroupi (Kauernder), 1907, (7) mit nur wenigen Hieben herausgeschlagen wurde, gelangte André Derain, der wie viele Künstler*innen die Sammlungen des Musée d’Éthnographie du Trocadéro in Paris kannte. Die syrisch-libanesische Künstlerin Simone Fattal legte ihrem ein Jahrhundert später entstandenen The Pink House, 2007, (8) eine andere archetypische Form zugrunde: Nach außen weitgehend abgeschlossen, wird ihre Tonplastik zum universellen Symbol einer elementaren, Schutz bietenden Behausung. Der scheinbare Widerspruch zwischen Tradition und Moderne wird durch die gleichzeitige Bezugnahme auf simple modernistische Formen und nichtwestliche Traditionen – hier sind es mesopotamische und sumerische Siedlungsformen – unterlaufen. Mit dem Surrealismus der Zwischenkriegszeit verschoben sich die Bezugnahmen auf außereuropäische Kulturen. Ethnologisches Interesse und antikolonialer Protest verbanden sich mit der Rebellion gegen die Normen der westlichen kapitalistischen Gesellschaften. Auch aus den erschütternden Erlebnissen des Ersten Weltkriegs erwuchs ein gesteigertes Interesse an nichtrationalen Erfahrungsweisen: Träume, Halluzinationen, Trancezustände, Wahnsinn sowie kindliche Kreativität wurden als Instrumente eines kritischen Denkens verstanden und zugleich mit dem „Primitiven“ identifiziert. Daraus gingen vielfältige Darstellungen hervor, wie Joan Mirós koboldartiger Kopf, 1954, (9) mit riesigen Augenhöhlen, die insektenhaften bunten Wesen in Max Ernsts Festmahl der Götter, 1948, (10) oder das psychedelisch anmutende Antlitz in Bella Bella, 1941, (11) von Wolfgang Paalen, der im Verbund mit anderen Künstler*innen im mexikanischen Exil präkolumbianische Kulturen erforschte. Die vielfältigen Masken und Hybridwesen treffen in diesem Raum auf Judith Hopfs zugleich modernistisch wie archaisch anmutenden Objekte wie Trying to Build a Mask out of a Smart Phone Package, 2013 (12). Einem zeit genössischen ethnografischen Impuls folgend, hat sie die Künstlerin aus dem Verpackungsmaterial digitaler Geräte hergestellt und dann mittels pulverbett basiertem 3D-Druck dupliziert. Ihr Ansatz verbindet das improvisierende Basteln mit zufällig vorhandenen Materialien („Bricolage“) mit der Technik der „Ingenieurskunst“, also jene beiden Denk- und Arbeitsweisen, die der französische Ethnologe und Linguist Claude Lévi-Strauss in Das wilde Denken (La pensée sauvage, 1962) kontrastierte und als nichtwestlich-magische beziehungsweise westlich-rationale Erkenntnisform beschrieb.
21 14 19 16 17 15 13 18 20 Die blinden Flecken der Abstraktion Ausgehend von Henri Matisses farbenreichem Glasfenster fokussiert diese Sektion auf jene Bereiche, die der abstrakten Kunst mit der Moderne ausgetrieben wurden: Kunsthandwerk, Dekoration, Ornamentik und Körperlichkeit. Lierre en fleurs (Blühender Efeu), 1956 (1953), (13) steht beispielhaft für die Aufwertung des Ornaments. Matisse komponierte kolorierte Scherenschnitte zu einer großen Collage, die posthum in Glas übertragen wurde. Form und Farbe fallen im Buntglasfenster in eins, auf der planen Bildebene gibt es keine hierarchische Unterscheidung zwischen Figur und Grund, Ornamentform und Bildinhalt; in Anlehnung an traditionelle japanische Bildauffassungen steht alles mit allem in einer durchgehenden Beziehung. Auch Karl Blossfeldts fotografische Nahauf nahmen von Pflanzendetails stilisieren die gewachsenen Formen der Natur zu ornamentalen Zeichen. Ursprünglich als Lehrmittel für die kunsthandwerkliche Ausbildung entstanden, fanden diese ab 1928 unter dem Titel Urformen der Kunst (14) in Buchform weite Verbreitung. Künstler wie Paul Klee und Kurt Schwitters verbanden die abstrakte Formen sprache mit Intuition und Irrationalität und quittierten die rational-technologischen Ansätze, wie sie seit den späten 1920er-Jahren am Bauhaus propagiert wurden, mit Ironie. Klees Vogelscheuche, 1935, (15) aus der Serie der Quadratbilder spielt mit dem Potenzial der simplen Komposition aus braunem Quadrat, rotem Kreis und vier Balken und kann zugleich als ein politischer Kommentar zum Aufstieg des Nationalsozialismus gelesen werden. Das in der Figur der Vogelscheuche angelegte Verständnis des Bildes als Attrappe inspirierte Maja Vukoje zur Serie der Scarecrows, an deren Beginn eine Boudoirszene steht: Untitled, 2013 (16). Ihre hybriden, aus heterogenen Objekten konfigurierten Körper bringt Vukoje in Zusammenhang mit gegenwärtigen Debatten zum Anthropozän. Sie schließt damit an Klees Vorstellung eines „metamorphotischen Prozesses“ an, mit der dieser in eine Ursprungswelt vor aller „Unterscheidung“ distinkter Formen des Seins führen wollte.
Die hartnäckig fortwirkenden Auf- und Abwertungen von autonomer und ange wandter Kunst sowie die Zuschreibungen von „high“ und „low“ in Bezug auf kreative und reproduktive Produktion sind von Geschlechterideologien bestimmt und stehen in Zusammenhang mit der Konstruktion von genialer, „männlicher“ Künstlerschaft, wie die feministische Forschung inzwischen hinreichend belegt hat. So wurden die Werke von Sophie Taeuber-Arp, eine Pionierin der Abstraktion und zugleich wichtige Vorkämpferin für die Aufwertung des Dekorativen, lange entweder im Kontext der „bildenden“ oder der „angewandten“ Kunst ausgestellt. Taeuber-Arp lehrte an der Zürcher Kunstgewerbeschule und war Protagonistin der Dada-Bewegung in Zürich. Ihre abstrakten Bildfindungen wie Konstruktion Nr. 5, 1942, (17) sind Beispiele der schöpferischen Grenzüberschreitung von Kunst, Gestaltung, Handwerk und Alltag. Mit Glasmalerei, Bronze, Email oder Textil brachten Künstler*innen der Moderne unterschiedliche Medien und Formate zum Einsatz, die Verbindungen zu anderen Lebens- und Produktionsbereichen herstellen. Vor dem Hintergrund der „gegenderten“ Geschichte (abstrakter) Malerei entstehen auch Ulrike Müllers Arbeiten, die das Verhältnis von Abstraktion und Körper verhandeln. Ihre Werke implementieren Klischeemotive wie Katzen oder Blumen und experimentieren in den Zwischenräumen von indifferenten Zeichen und Körperformen. Mittels „nichtkünstlerischer“ Verfahren mit Werkstoffen wie Email oder Textil wirft Müller Fragen nach dem „individuellen Ausdruck“ auf: So überlässt sie etwa die Produktion ihrer Teppiche (18) den Weber*innen im mexikanischen Teotitlán del Valle. Als Diskurs- und Praxisfeld erweist sich das Textile auch im digitalen Zeitalter weiterhin als produktiv, wie Jenni Tischer in Pin Grid Array, 2014, (19) – eine Anspielung auf „pins“ (Nadeln) und PINs (Persönliche Identifikationsnummern) – aufzeigt. Sie spielt damit auf eine Genealogie an, die vom kunsthandwerklichen Webmuster nach dem 1/0-Prinzip über die Lochkartenweberei im Zuge der Industrialisierung bis zur heutigen Computertechnik reicht. Im Jahr 1957 warnte Clement Greenberg, der einflussreiche amerikanische Apologet einer selbstbezüglichen abstrakten Malerei, das Dekorative sei „das Gespenst, das durch die Malerei der Moderne spukt“. An vorangegangene „Reinheitsmythen“ der Moderne anschließend, zielte Greenberg darauf, alle funktionalen, narrativen und ideologischen Kontexte aus dem Bild zu verbannen. Mittlerweile ist sein radikaler Formalismus selbst zu einem Gespenst in der Rezeption abstrakter Malerei geworden. In kritischer Auseinandersetzung damit entwickelte Christopher Wool Anfang der 1990er-Jahre seine mit Gummirollern auf Aluminiumoberflächen aufgetragenen floralen Rapporte (20). Sie gleichen einem endlos fortsetzbaren Tapetenmuster; die nahtlose Ästhetik der Massenproduktion konterkariert Wool, indem er zufällige Produktionsfehler absichtlich belässt. Bereits in den 1970er- Jahren hatte sich die amerikanische Pattern-and-Decoration-Bewegung das Ziel gesetzt, Farbe, Formenvielfalt und das Affektive in die Kunst zurückzuholen. In Robert Kushners monumentalem Gemälde The Four Seasons. Spring, 1990, (21) wird sichtbar, wie sehr sich die Vertreter*innen von Pattern and Decoration auf Konzepte der Flachheit und des Dekorativen in der Moderne berufen, so auf Matisse, der in den USA eine enorme Rezeption erfuhr.
26 25 24 31 22 30 23 27 28 29 32 Kunst und Wissenschaft Revolutionäre wissenschaftliche Erkenntnisse um 1900 – darunter die Relativitäts theorie, die Entdeckung elektromagnetischer Wellen inklusive Röntgenstrahlen, die Anfänge drahtloser Kommunikation oder auch die Psychoanalyse – formten ein radikal neues Weltverständnis und beeinflussten auch die künstlerischen Avantgarden. Die Vorstellung einer vierten Dimension, die den dreidimensionalen Raum erweitert, inspirierte Künstler*innen des Kubismus, Futurismus und Surrealismus. Albert Gleizes und Jean Metzinger argumentierten in ihrer Schrift Du Cubisme 1912 mit den mathematischen Forschungen Bernhard Riemanns und Henri Poincarés zur nichteuklidischen Geometrie und der Idee eines mehrschichtigen, gekrümmten Raumes. Die Schlüsselfigur in der künstlerisch- wissenschaftlichen Beschäftigung mit der vierten Dimension war Marcel Duchamp. Seine Werke, die mit allen Darstellungskonventionen brachen, nahmen die neuen Medien Film und Fotografie auf. Maschinen, Apparate und Motoren verwischen die Grenzen von Kunst, wissenschaftlichem Experiment und visueller Unterhaltung, wie etwa in den hypnotisierenden Rotoreliefs, 1935 (1953) (22). Wissenschaft und Ironie verbinden sich in seiner Materialsammlung La Mariée mise à nu par ses célibataires, même, La Boîte Verte (Die Braut von ihrem Junggesellen nackt entblößt, sogar, Die Grüne Schachtel), 1934, (23) einer grünen Schachtel mit Notizen, Konstruktionszeichnungen sowie Fotografien eigener Kunstwerke und archäologischer Stätten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts trat die Physik aus ihrer Abhängigkeit von der unmittelbaren Beobachtung heraus und ging zur indirekt-abstrahierenden Messung über. Zeitgleich brachen Künstler*innen mit der Naturnachahmung zugunsten der Darstellung des Nichtdarstellbaren und leiteten damit die anti illusionistische Wende der Moderne ein. Als einer der Pioniere gilt Piet Mondrian, dessen Komposition mit Doppellinie und Blau (unvollendet) von 1935 (24) den Versuch der Darstellung reiner Gegenstandslosigkeit als Spiegel einer universellen Harmonie zeigt. John Baldessaris medienreflexive Fotoarbeit Color Corrected Studio (with Window), 1972–1973, (25) spielt ironisch auf Mondrians
dogmatische Vorstellungen von Malerei und der Einheit von Kunst und Leben als einer „Gesellschaft von Gleichgewichtsbeziehungen“ an. Mondrians Ideen klingen noch in der amerikanischen Hard-Edge-Malerei der 1960er-Jahre nach, etwa in Correspondence Orange-Blue, 1965, (26) von Leon Polk Smith, der die dynamische Wirkung miteinander verschränkter Formen und monochromer Farbflächen untersucht, wobei ihm auch die künstlerischen Gestaltungsprinzipien seiner Cherokee-Vorfahren ein wichtiger Bezugspunkt waren. Neue Raumdimensionen und die physikalische Erforschung von Strahlung und Energie bewegten Künstler*innen, sich für die Darstellung des Unsichtbaren zu interessieren. František Kupka etwa war der Überzeugung: „Große Kunst macht aus dem Unsichtbaren und Unfühlbaren durch reine und einfache Erfahrung eine sichtbare und fühlbare Realität“. Abstrakte Motive wie Der gelbe Fleck, 1918, (27) sind durchdrungen von Spiritismus, Okkultismus und Esoterik wie auch von neuesten Erkenntnissen der Physik und Biologie. Erika Giovanna Kliens Studien (28) experimentieren mit linearen Darstellungen ephemerer Lichtanimationen, während Robert Delaunay mit dem Relief blanc, 1936, (29) ein subtiles Lichtspiel auf dreidimensionalen Oberflächen inszeniert – und damit die Frage nach der Wahrnehmung des Immateriellen stellt. Giacomo Ballas astronomische Beobachtung eines Merkurtransits in Mercurio passa davanti al sole (Merkur zieht an der Sonne vorbei), 1914, (30) wird als optisches Ereignis komplexer Reflexionen und Lichtbrechungen dargestellt. Himmelserscheinungen finden in den 1960er-Jahren in einer Werkserie von Lee Lozano einen formalen Widerhall: Lozano begriff Malerei, wie das mit grobem Pinsel gemalte No title, 1967, (31) als optisch vibrierende Oberfläche, deren „energetische Qualitäten“ über das Bild selbst hinausweisen sollten. Auch aus diesem Grund ist das Werk nicht gerahmt und kann in jeder Richtung aufgehängt werden. Zu einer gänzlich anderen Form der Sichtbarmachung unsichtbarer Energien gelangte die ausgebildete Naturwissenschaftlerin Nina Canell, die in ihrer Arbeit das Potenzial von Materialien zur Wissensspeicherung untersucht. In Unanswered Elemental Thoughts, 2010, (32) schweben über einem Magneten in einem unsichtbaren Kraftfeld Kaugummis, welche die myanmarische Politikerin Aung San Suu Kyi, damals im 15-jährigen Hausarrest, auf Bitten der Künstlerin gekaut hatte. Die gekauten Kaugummis werden zu einer Metapher ungreifbarer Denkprozesse und des Vergehens der Zeit.
42 43 39 41 33 38 35 34 40 36 37 Kälte-Metaphern In der Zwischenkriegszeit setzte sich über Länder- und Gattungsgrenzen hin weg eine Rückkehr zum Gegenständlichen durch, verbunden mit Tendenzen einer gewissen Glättung und Kühle, was sich in Strömungen wie dem Purismus in Frankreich, der Pittura Metafisica in Italien oder der Neuen Sachlichkeit in Deutschland manifestierte. Der Maler Amédée Ozenfant und der Architekt Charles- Édouard Jeanneret-Gris, bekannt als Le Corbusier, begründeten im Purismus ein funktionales Kunstverständnis, in dem sich typisierte geometrische Formen mit der Faszination industrieller Standardisierung und technisch-maschinelle Präzision verbinden. Als ästhetisches Modell konnte der Purismus gleichermaßen auf Malerei – etwa bei Fernand Légers Nature morte aux fruits (Stillleben mit Früchten) (33) oder Ozenfants Nombreux Objets (Zahlreiche Objekte) (34), beide von 1927 – wie auch auf Architektur, Design und Stadtplanung angewandt werden, wofür stellvertretend das Modell von Le Corbusiers Villa Savoye, 1926, (35) steht. Ozenfants und Le Corbusiers theoretisches Manifest Après le Cubisme von 1918 enthielt eine frühe Hommage an den nach dem Ersten Weltkrieg auch nach Europa importierten Taylorismus, eine nach Frederick Winslow Taylor benannten Methode der Produktivitätssteigerung menschlicher Arbeit durch die Zerlegung von Arbeitsvorgängen in kleinste, zu wiederholende Einheiten. Otto Neurath, Wissenschaftsaktivist, Mitglied des Wiener Kreises sowie zentrale Figur des Roten Wiens, war dagegen der Überzeugung, dass der Taylorismus „umgekehrt“ werden müsse: Anstatt Menschen den Erfordernissen optimierter Industriearbeit zu unterwerfen, sollten Taylors Untersuchungsmethoden dazu dienen, auf experimentellem Weg neue Berufe zu erfinden und zu definieren. Seine einflussreichen, als Isotype (International System of Typographic Picture Education) bekannten Bildstatistiken, publiziert etwa in Die bunte Welt, 1929, (36) die er gemeinsam mit dem Künstler und Grafiker Gerd Arntz entwickelte, zielen darauf, gesellschaftliche Verhältnisse mit allgemein verständlichen Zeichen darzustellen. Produktivität und harte Arbeit bestimmen den Alltag der Werftarbeiter*innen der Schiffswerft der Bath Iron Works im US-Bundesstaat Maine, die Sharon Lockhart ein Jahr lang begleitete. Statt jedoch deren Arbeit zu dokumentieren, zeigt ihre
Serie der Lunch Boxes, 2008, (37) den Stillstand, die Arbeitspausen. Für Lockhart waren die fotografischen Stillleben eine adäquate Alternative zu konventionellen Arbeiter*innenporträts. Durch die immer gleiche zentrale Positionierung der Lunchboxen vor neutralem Hintergrund erinnern Lockharts Kryptoportäts an das wahrnehmungsscharfe Neue Sehen und die typologisierenden Porträts der Neuen Sachlichkeit. Einer ihrer zentralen Vertreter, August Sander, schuf mit seinen sachlich-unterkühlten Fotoporträts „Ikonen eines gepanzerten Ichs“ (Helmut Lethen), die Ausdruck eines zeittypischen Bedürfnisses nach Distanz und Affektkontrolle waren: Nach dem Schlüsselerlebnis einer destruktiv gewordenen Modernität im Ersten Weltkrieg und angesichts der politischen und wirtschaftlichen Krisen der Weimarer Republik (1919–33) setzte sich ein regelrechter Kältekult durch, der sich in Formen von Maskierung, Selbststilisierung und Etikette äußerte. Als „Verhaltenslehren der Kälte“ beschrieb der Kulturwissenschaftler Helmut Lethen diesen Habitus, der das Individuum vor den Erschütterungen angesichts massiver Modernisierungs-, Rationalisierungs- und Entfremdungsprozesse wappnen sollte. Sanders Fotoenzyklopädie Menschen des 20. Jahrhunderts, (38) in der er mehr als 600 Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten und Berufsgruppen gruppierte, zielte auf eine umfassende Gesellschaftsanalyse der Weimarer Republik ab. Rudolf Bellings Kopf Skulptur 23, 1923, und Oskar Schlemmers stromlinienförmige Abstrakte Figur, 1921, (39) vermitteln das Bild des modernen Menschen in einer von Technik und Rationalität bestimmten Welt. Ihre kühle Ästhetik findet sich auch in Fotografien von Florence Henri wieder (40), die nach einem Aufenthalt am Bauhaus in Dessau 1929 ihr eigenes Fotostudio in Paris eröffnete. Ihre Porträt- und Objektaufnahmen spielen mit der Multiperspektivität abstrakter Spiegeleffekte. Der technische Fortschritt selbst wurde emphatisch ins Bild gesetzt, wie Albert- Renger-Patzschs monumentale Aufnahmen von Maschinendetails verdeutlichen (41). Die Apokalypse dieser Entwicklung thematisiert Friedl Dicker in ihren Agita tionsplakaten für die Kommunistische Partei (42), die zeigen, wie der Körper im Nationalsozialismus zum politischen Instrument und zur Projektionsfläche sozialer Erwartungshaltungen und Zwänge wurde. Die universelle Gültigkeit von Moral und Gesetz, der „Fortschritt“ des Kapitalismus und der Wissenschaft gehören zu jenen Mythen, die bis zum heutigen Tag unsere Weltanschauung prägen. Unter dieser These untersucht das Künstler*innenduo Pakui Hardware „Körper“ als eine sich verändernde biologische und gesellschaft liche Konstruktion, abhängig von Forschung, Technologie und fortschreitender Mediatisierung. Ihre Arbeiten – darunter Vanilla Eyes, 2016, (43) die an biologische Prozesse des Wachsens, Schmelzens und Sichauflösens erinnert – lassen die Trennlinie zwischen natürlicher und künstlicher Welt verschwinden und erscheinen als „postnatürlich, postorganisch, sogar frankensteinisch“ (Pakui Hardware).
48 45 49 44 46 47 Arretierte Körper zwischen Begehren und Bedrohung Die Frage der Erfahrungsmöglichkeiten des Körpers in Bezug zu seiner (Um-) Welt ist eine Konstante der figurativen Kunst nach den Erlebnissen des Zweiten Weltkriegs. Die Darstellungen körperlicher und existenzieller Bedrängnis zeugen vom Konflikt des Individuums mit gesellschaftlichen und politischen Normen und von der Suche nach alternativen Körper- oder Geschlechtermodellen. Ab Ende der 1950er-Jahre entwickelte Maria Lassnig ihre „Körpergefühlsmalerei“, die ihre Erfahrung des Körpers als Grenze zur Welt transportierte. Weibliche Stützfiguren in der Architektur zitierend, malte Lassnig ihren Körper als Karyatide, 1974 (44) – nackt, in hockender Pose, eingespannt in das quadratische Bild. Offen bleibt, ob sie sich gegen eine unsichtbare Last oder gegen die Enge des Bildfeldes stemmt. Germaine Richiers Le Griffu (Krallenwesen), 1952, (45) ist ein Hybrid aus Mensch und Tier, verspannt in einer Drahtkonstruktion, die das Animalisch-Triebhafte gleichsam bändigt und gefangen hält. Zu einer räumlichen Verankerung und zugleich Bedrängung des Körpers kommt es auch in den Porträts von Francis Bacon, der die Körper seiner sich in Malerei auflösenden Kreaturen – Porträts homosexueller Freunde oder Liebhaber – in ein fragiles Rahmenwerk aus Gitter stäben einschreibt (46); wie wissenschaftliche Untersuchungsobjekte sind sie in einem zellenartigen Raum fixiert, der zugleich Halt gibt und einengt. Vergleichbare Restriktionen scheinen den Skulpturen Alberto Giacomettis auferlegt (47). Die schmale Statur seiner Figuren mit ihren gelängten Gliedmaßen und rohen Oberflächen lässt den Eindruck entstehen, als hätte eine unsichtbare Kraft auf sie eingewirkt und ihre Körper schrumpfen lassen. In La réalisation invraisemblable de l‘entente de Tadzio et Aschenbach II (Die unglaubliche Verwirklichung der Eintracht zwischen Tadzio und Aschenbach II), 1987, (48) nimmt Pierre Klossowski, selbst Autor mit Nähe zu namhaften Psycho analytiker*innen und Pariser Intellektuellen, Bezug auf Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig, 1911. Entgegen der Buchvorlage lässt Klossowski den Schrift steller Gustav von Aschenbach die scheue Distanz zum jungen Tadzio, dem Objekt seines Begehrens, überwinden. Es kommt zur erotischen Begegnung, die, auf den intimen Handlungsraum eines Strandzelts beschränkt, wie auf einer Bühne ausgestellt wird. Ein vergleichbares „Dreieck von Begehren, Figur und
abstrakter Form“ (Dominic Eichler) innerhalb eines räumlichen Settings findet sich auch bei Julian Göthe wieder. Painted White in a Spirit of Rebellion, 2002/2003, (49) ursprünglich für ein Schaufenster konzipiert, ist ein rätselhaftes Hybrid aus minimalistischer Skulptur und exzentrisch-glamouröser Display-Architektur, das auch seine ungeschönte und für gewöhnlich unsichtbar bleibende Rückseite zur Schau stellt. Gebaut aus Papier und Draht, bietet sich dieses Objekt als Bühne an, deren Elemente unterschiedliche Referenzen aufweisen: die modernistisch- weiße Architektur Le Corbusiers, extravagante Schaufensterdekorationen oder Art-déco-Hollywood-Filmsets, aber auch weniger offensichtliche Bezüge auf homoerotische Aktdarstellungen. In diesen Überlagerungen und Anspielungen offenbart Göthe sein Interesse am eklektischen Kombinieren unterschiedlicher Stil- und Zeitebenen und nichtkanonischer Formen moderner Ästhetik.
Impressum Ausstellung Begleitheft mumok Enjoy Revue Moderne Museum moderner Kunst Die mumok Sammlung im Wandel Stiftung Ludwig Wien Herausgegeben von Jörg Wolfert Revue Moderne für die Kunstvermittlung mumok MuseumsQuartier Kuratorin: Heike Eipeldauer Text: Heike Eipeldauer Museumsplatz 1 Redaktion: Jörg Wolfert A-1070 Wien 19. Juni 2021 bis 18. April 2022 Lektorat: Eva Luise Kühn www.mumok.at Grafische Gestaltung: Olaf Osten Gefördert durch die Peter und Irene Generaldirektorin: Karola Kraus Ludwig Stiftung Umschlag: August Sander, Der Dadaist Wirtschaftliche Geschäftsführerin: Raoul Hausmann in Pose, 1930 (1974) Cornelia Lamprechter Kurator*innen: Manuela Ammer, © Bildrecht, Wien 2021 Heike Eipeldauer, Rainer Fuchs, Naoko Kaltschmidt, Matthias Michalka © mumok 2021 Ausstellungsorganisation: Claudia Dohr, Lisa Schwarz, Dagmar Steyrer Sammlung: Franklin Castanien, Sophie Haaser, Holger Reetz Restauratorische Betreuung: Christina Hierl, Kathrine Ruppen, Karin Steiner Ausstellungsaufbau: Tina Fabijanic, Wolfgang Moser, Valerian Moucka, Gregor Neuwirth, Andreas Petz, Helmut Raidl, Lovis Zimmer, museum standards, Presse: Marie-Claire Gagnon, Katja Kulidzhanova, Katharina Murschetz Marketing: Maria Fillafer, Anna Weiss Sponsoring, Fundraising und Veranstaltungen: Katharina Grünbichler, Karin Kirste, Cornelia Stellwag-Carion Kunstvermittlung: Mercede Ameri, Lena Arends, Stefanie Fischer, Astrid Frieser, Stefanie Gersch, Helene Heiß, Benedikt Hochwartner, Maria Huber, Ivan Jurica, Ümit Mares-Altinok, Mikki Muhr, Stefan Müller, Patrick Puls, Christine Schelle, Jörg Wolfert
Die mumok Sammlung im Wandel 19. Juni 2021 bis 18. April 2022 Ebene 4 Revue Moderne 3 Gegenwart der Geschichte 2 Figur und Skulptur 0 (Anti-)Pop –2 Abstraktion. Natur. Körper –2 Re/Aktionen –4 Die Grenzen unserer Welt
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