Revue Moderne Ebene 4 - museum moderner kunst stiftung ludwig wien - Mumok

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Revue Moderne Ebene 4 - museum moderner kunst stiftung ludwig wien - Mumok
Revue Moderne
Ebene 4

museum moderner kunst stiftung ludwig wien
Ebene

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Revue Moderne

Innovation, Beschleunigung, Fortschritt, Urbanität, Wissenschaft und Industriali­
sierung gelten gemeinhin als Parameter der Moderne. Daneben bestehen
unter­schiedliche Auffassungen von Beginn (im frühen 20. Jahrhundert oder
früher) und – möglichem – Ende jener „Epoche“, die von fundamentalen Auf- und
Umbrüchen geprägt ist. Seitdem wir Geschichte auch unter dem Aspekt der
Auswirkungen des Kolonialismus untersuchen und die Globalisierung unter
differenzierten Vorzeichen betrachten, ist der Begriff der Moderne in die Kritik
geraten: Gegen den eurozentristischen Universalismus stehen heute viele –
auch außereuropäische und lokale – Modernen.

Als der Gründungsdirektor des Museums, Werner Hofmann, 1959 begann, Exponate
der „Klassischen Moderne“ zu sammeln, galt der euroamerikanische Kanon noch
unangefochten. Die Ausstellung Revue Moderne nähert sich diesen frühesten
Sammlungsbeständen aus der Perspektive zeitgenössischer Künstler*innen. In
ihren Arbeiten, die vorwiegend in den vergangenen zehn Jahren Teil der mumok
Sammlung geworden sind, setzen sich diese mit modernistischen Formensprachen
und Konzepten auseinander. Dabei zeigen sie die Widersprüche, blinden Flecken
und nicht eingelösten Potenziale des utopischen Projekts der Moderne auf.
Statt also eine lineare Entwicklungsgeschichte zu konstruieren, nimmt Revue
Moderne – zugleich Revision und Parade – das dialogische Zusammenspiel
zwischen den ältesten und jüngsten Werken der Sammlung zum Ausgangspunkt
für fünf unterschiedliche Erzählungen, welche die Verflechtungen und Brüche der
Moderne(n) aufscheinen lassen. In diesen wird die Verzahnung von Geschichte
und Gegenwart als ein lebendiger Prozess der Um- und Neubewertung vermittelt,
in dem sich gesellschaftspolitische, soziokulturelle und philosophische Diskurse
widerspiegeln.
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Die Moderne und das „Andere“

Die umfassende Abhängigkeit der westlichen Moderne von anderen Kulturen
steht am Beginn der Ausstellung. Constantin Brancusis hochglanzpolierte
Bronzefigur eines Frauenkopfes (1) steht beispielhaft für die Auseinandersetzung
der frühen Moderne mit außereuropäischer Kunst wie auch für europäische
Stereotype afrikanischer Physiognomie. Brancusi zufolge war die Idee zu dieser
Skulptur, die in zwei Serien mündete, nach seinem Besuch einer die französische
Kolonialmacht demonstrierenden Ausstellung in Marseille 1922 entstanden, wo er
eine Frau afrikanischer Abstammung beobachtet hatte. Brancusis Werk aus dem
Jahr 1933 wird hier mit Andrea Frasers 82-teiliger Fotoinstallation White People
in West Africa, 1989/1991/1993 (2) konfrontiert und damit in einen kritischen
Kontext gestellt. Fraser analysiert mit ihrem Blick auf westliche Tourist*innen
in westafrikanischen Ländern die bis heute virulenten Auswirkungen des
(Neo-)­Kolonialismus und dadurch die historisch bedingte und grundlegend zu
hinterfragende Abgrenzung weißer Europäer*innen vom „Anderen“. Die Geschichte
des Kolonialismus und der Sklaverei, der „Erbsünden“ der Moderne, und deren
Verquickung mit Geschlechterdiskriminierung behandelt Kara Walker in ihrem
Künstlerbuch Freedom, A Fable: A Curious Interpretation of the Wit of a Negress in
Troubled Times, 1997 (3). Anhand von Pop-up-Papiersilhouetten schildert Walker
den aussichtslosen Freiheitskampf einer ehemaligen Sklavin angesichts von
Entrechtung, Ausbeutung und Gewalt zur Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs.
Das Fortwirken kolonialer Rassismen in der Gegenwart thematisieren Destiny
Deacon und Virgina Fraser in ihrem Film Forced into images, 2001 (4). Dort tauschen
zwei der australischen Ursprungsbevölkerung angehörige Kinder – Deacons
Nichte und Neffe –, mittels Masken scheinbar spielerisch ihre Identität – und daran
geknüpfte stereotype Zuschreibungen aus.

Vor dem Ersten Weltkrieg beschränkte sich das Interesse an außereuropäischen
Kulturen größtenteils auf die Suche nach exotischen Erfahrungen und auf formal-
ästhetische Anleihen bei ethnografischen Artefakten, die als koloniale Trophäen
in den Museen der Metropolen angehäuft worden waren. Robert Goldwater,
Kunsthistoriker und Ehemann von Louise Bourgeois, legte mit Primitivism in Modern
Painting (1938) die erste umfassende wissenschaftliche Untersuchung
zur Beziehung von außereuropäischer und (westlicher) moderner Kunst vor.
Bourgeois‘ totemi­stische Serie der Personnages (5), deren abstrakt-anthro­po­
morphe Form und strenge Vertikalität an Holzstelen afrikanischer und ozeani­scher
Plastik erinnert, beschrieb die Künstlerin als personalisierte Erscheinungen von
zurückgelassenen Menschen, mit denen sie, die Frankreich für New York verlassen
hatte, Gefühlen von Heimweh und Verlust Ausdruck verlieh. Im Kubismus wurden
aus der afrikanischen Plastik zukunftsweisende Formprinzipien wie die simultane
Mehransichtigkeit einzelner Körperpartien entwickelt, die Pablo Picasso auch noch
in späten Arbeiten wie Femme assise à l‘écharpe verte (Sitzende Frau mit grünem
Schal), 1960, (6) virtuos zelebriert. Zu einer radikalen Erneuerung der Skulptur aus
der Elementarform des Blocks, aus dem die Figur des Homme accroupi (Kauernder),
1907, (7) mit nur wenigen Hieben herausgeschlagen wurde, gelangte André
Derain, der wie viele Künstler*innen die Sammlungen des Musée d’Éthnographie
du Trocadéro in Paris kannte. Die syrisch-libanesische Künstlerin Simone Fattal
legte ihrem ein Jahrhundert später entstandenen The Pink House, 2007, (8) eine
andere archetypische Form zugrunde: Nach außen weitgehend abgeschlossen,
wird ihre Tonplastik zum universellen Symbol einer elementaren, Schutz bietenden
Behausung. Der scheinbare Widerspruch zwischen Tradition und Moderne wird
durch die gleichzeitige Bezugnahme auf simple modernistische Formen und
nichtwestliche Traditionen – hier sind es mesopotamische und sumerische
Siedlungsformen – unterlaufen.

Mit dem Surrealismus der Zwischenkriegszeit verschoben sich die Bezugnahmen
auf außereuropäische Kulturen. Ethnologisches Interesse und antikolonialer Protest
verbanden sich mit der Rebellion gegen die Normen der westlichen kapitalistischen
Gesellschaften. Auch aus den erschütternden Erlebnissen des Ersten Weltkriegs
erwuchs ein gesteigertes Interesse an nichtrationalen Erfahrungsweisen: Träume,
Halluzinationen, Trancezustände, Wahnsinn sowie kindliche Kreativität wurden
als Instrumente eines kritischen Denkens verstanden und zugleich mit dem
„Primitiven“ identifiziert. Daraus gingen vielfältige Darstellungen hervor, wie Joan
Mirós koboldartiger Kopf, 1954, (9) mit riesigen Augenhöhlen, die insektenhaften
bunten Wesen in Max Ernsts Festmahl der Götter, 1948, (10) oder das psychedelisch
anmutende Antlitz in Bella Bella, 1941, (11) von Wolfgang Paalen, der im Verbund
mit anderen Künstler*innen im mexikanischen Exil präkolumbianische Kulturen
erforschte. Die vielfältigen Masken und Hybridwesen treffen in diesem Raum
auf Judith Hopfs zugleich modernistisch wie archaisch anmutenden Objekte
wie Trying to Build a Mask out of a Smart Phone Package, 2013 (12). Einem zeit­
genössischen ethnografischen Impuls folgend, hat sie die Künstlerin aus dem
Verpackungsmaterial digitaler Geräte hergestellt und dann mittels pulverbett­
basiertem 3D-Druck dupliziert. Ihr Ansatz verbindet das improvisierende Basteln mit
zufällig vorhandenen Materialien („Bricolage“) mit der Technik der „Ingenieurskunst“,
also jene beiden Denk- und Arbeitsweisen, die der französische Ethnologe und
Linguist Claude Lévi-Strauss in Das wilde Denken (La pensée sauvage, 1962)
kontrastierte und als nichtwestlich-magische beziehungsweise westlich-rationale
Erkenntnisform beschrieb.
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Die blinden Flecken der Abstraktion

Ausgehend von Henri Matisses farbenreichem Glasfenster fokussiert diese
Sektion auf jene Bereiche, die der abstrakten Kunst mit der Moderne ausgetrieben
wurden: Kunsthandwerk, Dekoration, Ornamentik und Körperlichkeit. Lierre en
fleurs (Blühender Efeu), 1956 (1953), (13) steht beispielhaft für die Aufwertung
des Ornaments. Matisse komponierte kolorierte Scherenschnitte zu einer
großen Collage, die posthum in Glas übertragen wurde. Form und Farbe fallen
im Buntglasfenster in eins, auf der planen Bildebene gibt es keine hierarchische
Unterscheidung zwischen Figur und Grund, Ornamentform und Bildinhalt;
in Anlehnung an traditionelle japanische Bildauffassungen steht alles mit allem
in einer durch­gehenden Beziehung. Auch Karl Blossfeldts fotografische Nahauf­
nahmen von Pflanzendetails stilisieren die gewachsenen Formen der Natur zu
ornamentalen Zeichen. Ursprünglich als Lehrmittel für die kunsthandwerkliche
Ausbildung entstanden, fanden diese ab 1928 unter dem Titel Urformen der
Kunst (14) in Buchform weite Verbreitung.

Künstler wie Paul Klee und Kurt Schwitters verbanden die abstrakte Formen­
sprache mit Intuition und Irrationalität und quittierten die rational-technologischen
Ansätze, wie sie seit den späten 1920er-Jahren am Bauhaus propagiert wurden,
mit Ironie. Klees Vogelscheuche, 1935, (15) aus der Serie der Quadratbilder spielt
mit dem Potenzial der simplen Komposition aus braunem Quadrat, rotem Kreis
und vier Balken und kann zugleich als ein politischer Kommentar zum Aufstieg
des Nationalsozialismus gelesen werden. Das in der Figur der Vogelscheuche
angelegte Verständnis des Bildes als Attrappe inspirierte Maja Vukoje zur Serie
der Scarecrows, an deren Beginn eine Boudoirszene steht: Untitled, 2013 (16).
Ihre hybriden, aus heterogenen Objekten konfigurierten Körper bringt Vukoje in
Zusammenhang mit gegenwärtigen Debatten zum Anthropozän. Sie schließt
damit an Klees Vorstellung eines „metamorphotischen Prozesses“ an, mit der
dieser in eine Ursprungswelt vor aller „Unterscheidung“ distinkter Formen des
Seins führen wollte.
Die hartnäckig fortwirkenden Auf- und Abwertungen von autonomer und ange­
wandter Kunst sowie die Zuschreibungen von „high“ und „low“ in Bezug auf kreative
und reproduktive Produktion sind von Geschlechterideologien bestimmt und stehen
in Zusammenhang mit der Konstruktion von genialer, „männlicher“ Künstlerschaft,
wie die feministische Forschung inzwischen hinreichend belegt hat. So wurden die
Werke von Sophie Taeuber-Arp, eine Pionierin der Abstraktion und zugleich wichtige
Vorkämpferin für die Aufwertung des Dekorativen, lange entweder im Kontext der
„bildenden“ oder der „angewandten“ Kunst ausgestellt. Taeuber-Arp lehrte an der
Zürcher Kunstgewerbeschule und war Protagonistin der Dada-Bewegung in Zürich.
Ihre abstrakten Bildfindungen wie Konstruktion Nr. 5, 1942, (17) sind Beispiele
der schöpferischen Grenzüberschreitung von Kunst, Gestaltung, Handwerk und
Alltag. Mit Glasmalerei, Bronze, Email oder Textil brachten Künstler*innen der
Moderne unterschiedliche Medien und Formate zum Einsatz, die Verbindungen
zu anderen Lebens- und Produktionsbereichen herstellen. Vor dem Hintergrund
der „gegenderten“ Geschichte (abstrakter) Malerei entstehen auch Ulrike Müllers
Arbeiten, die das Verhältnis von Abstraktion und Körper verhandeln. Ihre Werke
implementieren Klischeemotive wie Katzen oder Blumen und experimentieren
in den Zwischenräumen von indifferenten Zeichen und Körperformen. Mittels
„nichtkünstlerischer“ Verfahren mit Werkstoffen wie Email oder Textil wirft Müller
Fragen nach dem „individuellen Ausdruck“ auf: So überlässt sie etwa die Produktion
ihrer Teppiche (18) den Weber*innen im mexikanischen Teotitlán del Valle. Als
Diskurs- und Praxisfeld erweist sich das Textile auch im digitalen Zeitalter weiterhin
als produktiv, wie Jenni Tischer in Pin Grid Array, 2014, (19) – eine Anspielung auf
„pins“ (Nadeln) und PINs (Persönliche Identifikationsnummern) – aufzeigt. Sie spielt
damit auf eine Genealogie an, die vom kunsthandwerklichen Webmuster nach
dem 1/0-Prinzip über die Lochkartenweberei im Zuge der Industrialisierung bis zur
heutigen Computertechnik reicht.

Im Jahr 1957 warnte Clement Greenberg, der einflussreiche amerikanische Apologet
einer selbstbezüglichen abstrakten Malerei, das Dekorative sei „das Gespenst,
das durch die Malerei der Moderne spukt“. An vorangegangene „Reinheitsmythen“
der Moderne anschließend, zielte Greenberg darauf, alle funktionalen, narrativen
und ideologischen Kontexte aus dem Bild zu verbannen. Mittlerweile ist sein
radikaler Formalismus selbst zu einem Gespenst in der Rezeption abstrakter
Malerei geworden. In kritischer Auseinandersetzung damit entwickelte Christopher
Wool Anfang der 1990er-Jahre seine mit Gummirollern auf Aluminiumoberflächen
aufgetragenen floralen Rapporte (20). Sie gleichen einem endlos fortsetzbaren
Tapetenmuster; die nahtlose Ästhetik der Massenproduktion konterkariert Wool,
indem er zufällige Produktionsfehler absichtlich belässt. Bereits in den 1970er-
Jahren hatte sich die amerikanische Pattern-and-Decoration-Bewegung das Ziel
gesetzt, Farbe, Formenvielfalt und das Affektive in die Kunst zurückzuholen. In
Robert Kushners monumentalem Gemälde The Four Seasons. Spring, 1990, (21) wird
sichtbar, wie sehr sich die Vertreter*innen von Pattern and Decoration auf Konzepte
der Flachheit und des Dekorativen in der Moderne berufen, so auf Matisse, der in den
USA eine enorme Rezeption erfuhr.
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Kunst und Wissenschaft

Revolutionäre wissenschaftliche Erkenntnisse um 1900 – darunter die Relativitäts­
theorie, die Entdeckung elektromagnetischer Wellen inklusive Röntgenstrahlen,
die Anfänge drahtloser Kommunikation oder auch die Psychoanalyse – formten
ein radikal neues Weltverständnis und beeinflussten auch die künstlerischen
Avantgarden. Die Vorstellung einer vierten Dimension, die den dreidimensionalen
Raum erweitert, inspirierte Künstler*innen des Kubismus, Futurismus und
Surrealismus. Albert Gleizes und Jean Metzinger argumentierten in ihrer Schrift
Du Cubisme 1912 mit den mathematischen Forschungen Bernhard Riemanns
und Henri Poincarés zur nichteuklidischen Geometrie und der Idee eines
mehrschichtigen, gekrümmten Raumes. Die Schlüsselfigur in der künstlerisch-
wissenschaftlichen Beschäftigung mit der vierten Dimension war Marcel Duchamp.
Seine Werke, die mit allen Darstellungskonventionen brachen, nahmen die neuen
Medien Film und Fotografie auf. Maschinen, Apparate und Motoren verwischen
die Grenzen von Kunst, wissenschaftlichem Experiment und visueller Unter­­haltung,
wie etwa in den hypnotisierenden Rotoreliefs, 1935 (1953) (22). Wissenschaft
und Ironie verbinden sich in seiner Materialsammlung La Mariée mise à nu par
ses célibataires, même, La Boîte Verte (Die Braut von ihrem Jung­gesellen nackt
entblößt, sogar, Die Grüne Schachtel), 1934, (23) einer grünen Schachtel mit
Notizen, Konstruktionszeichnungen sowie Fotografien eigener Kunstwerke und
archäologischer Stätten.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts trat die Physik aus ihrer Abhängigkeit von der
unmittelbaren Beobachtung heraus und ging zur indirekt-abstrahierenden
Messung über. Zeitgleich brachen Künstler*innen mit der Naturnachahmung
zugunsten der Darstellung des Nichtdarstellbaren und leiteten damit die anti­
illusionistische Wende der Moderne ein. Als einer der Pioniere gilt Piet Mondrian,
dessen Komposition mit Doppellinie und Blau (unvollendet) von 1935 (24)
den Versuch der Darstellung reiner Gegenstandslosigkeit als Spiegel einer
universellen Harmonie zeigt. John Baldessaris medienreflexive Fotoarbeit Color
Corrected Studio (with Window), 1972–1973, (25) spielt ironisch auf Mondrians
dogmatische Vorstellungen von Malerei und der Einheit von Kunst und Leben als
einer „Gesellschaft von Gleichgewichtsbeziehungen“ an. Mondrians Ideen klingen
noch in der amerikanischen Hard-Edge-Malerei der 1960er-Jahre nach, etwa in
Correspondence Orange-Blue, 1965, (26) von Leon Polk Smith, der die dynamische
Wirkung miteinander verschränkter Formen und monochromer Farbflächen
untersucht, wobei ihm auch die künstlerischen Gestaltungsprinzipien seiner
Cherokee-Vorfahren ein wichtiger Bezugspunkt waren.

Neue Raumdimensionen und die physikalische Erforschung von Strahlung und
Energie bewegten Künstler*innen, sich für die Darstellung des Unsichtbaren zu
interessieren. František Kupka etwa war der Überzeugung: „Große Kunst macht
aus dem Unsichtbaren und Unfühlbaren durch reine und einfache Erfahrung
eine sichtbare und fühlbare Realität“. Abstrakte Motive wie Der gelbe Fleck, 1918,
(27) sind durchdrungen von Spiritismus, Okkultismus und Esoterik wie auch von
neuesten Erkenntnissen der Physik und Biologie. Erika Giovanna Kliens Studien
(28) experimentieren mit linearen Darstellungen ephemerer Lichtanimationen,
während Robert Delaunay mit dem Relief blanc, 1936, (29) ein subtiles Lichtspiel
auf dreidimensionalen Oberflächen inszeniert – und damit die Frage nach
der Wahrnehmung des Immateriellen stellt. Giacomo Ballas astronomische
Beobachtung eines Merkurtransits in Mercurio passa davanti al sole (Merkur
zieht an der Sonne vorbei), 1914, (30) wird als optisches Ereignis komplexer
Reflexionen und Lichtbrechungen dargestellt. Himmelserscheinungen finden in
den 1960er-Jahren in einer Werkserie von Lee Lozano einen formalen Widerhall:
Lozano begriff Malerei, wie das mit grobem Pinsel gemalte No title, 1967, (31) als
optisch vibrierende Oberfläche, deren „energetische Qualitäten“ über das Bild
selbst hinausweisen sollten. Auch aus diesem Grund ist das Werk nicht gerahmt
und kann in jeder Richtung aufgehängt werden. Zu einer gänzlich anderen
Form der Sichtbarmachung unsichtbarer Energien gelangte die ausgebildete
Naturwissenschaftlerin Nina Canell, die in ihrer Arbeit das Potenzial von Materialien
zur Wissensspeicherung untersucht. In Unanswered Elemental Thoughts, 2010,
(32) schweben über einem Magneten in einem unsichtbaren Kraftfeld Kaugummis,
welche die myanmarische Politikerin Aung San Suu Kyi, damals im 15-jährigen
Hausarrest, auf Bitten der Künstlerin gekaut hatte. Die gekauten Kaugummis
werden zu einer Metapher ungreifbarer Denkprozesse und des Vergehens der Zeit.
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Kälte-Metaphern

In der Zwischenkriegszeit setzte sich über Länder- und Gattungsgrenzen hin­
weg eine Rückkehr zum Gegenständlichen durch, verbunden mit Tendenzen
einer gewissen Glättung und Kühle, was sich in Strömungen wie dem Purismus
in Frankreich, der Pittura Metafisica in Italien oder der Neuen Sachlichkeit in
Deutschland manifestierte. Der Maler Amédée Ozenfant und der Architekt Charles-
Édouard Jeanneret-Gris, bekannt als Le Corbusier, begründeten im Purismus
ein funktionales Kunstverständnis, in dem sich typisierte geometrische Formen
mit der Faszination industrieller Standardisierung und technisch-maschinelle
Präzision verbinden. Als ästhetisches Modell konnte der Purismus gleichermaßen
auf Malerei – etwa bei Fernand Légers Nature morte aux fruits (Stillleben mit
Früchten) (33) oder Ozenfants Nombreux Objets (Zahlreiche Objekte) (34),
beide von 1927 – wie auch auf Architektur, Design und Stadtplanung angewandt
werden, wofür stellvertretend das Modell von Le Corbusiers Villa Savoye, 1926,
(35) steht. Ozenfants und Le Corbusiers theoretisches Manifest Après le Cubisme
von 1918 enthielt eine frühe Hommage an den nach dem Ersten Weltkrieg auch
nach Europa importierten Taylorismus, eine nach Frederick Winslow Taylor
benannten Methode der Produktivitätssteigerung menschlicher Arbeit durch
die Zerlegung von Arbeitsvorgängen in kleinste, zu wiederholende Einheiten.
Otto Neurath, Wissenschaftsaktivist, Mitglied des Wiener Kreises sowie zentrale
Figur des Roten Wiens, war dagegen der Überzeugung, dass der Taylorismus
„umgekehrt“ werden müsse: Anstatt Menschen den Erfordernissen optimierter
Industriearbeit zu unterwerfen, sollten Taylors Untersuchungsmethoden dazu
dienen, auf experimentellem Weg neue Berufe zu erfinden und zu definieren. Seine
einflussreichen, als Isotype (International System of Typographic Picture Education)
bekannten Bildstatistiken, publiziert etwa in Die bunte Welt, 1929, (36) die er
gemeinsam mit dem Künstler und Grafiker Gerd Arntz entwickelte, zielen darauf,
gesellschaftliche Verhältnisse mit allgemein verständlichen Zeichen darzustellen.

Produktivität und harte Arbeit bestimmen den Alltag der Werftarbeiter*innen der
Schiffswerft der Bath Iron Works im US-Bundesstaat Maine, die Sharon Lockhart
ein Jahr lang begleitete. Statt jedoch deren Arbeit zu dokumentieren, zeigt ihre
Serie der Lunch Boxes, 2008, (37) den Stillstand, die Arbeitspausen. Für Lockhart
waren die fotografischen Stillleben eine adäquate Alternative zu konventionellen
Arbeiter*innenporträts. Durch die immer gleiche zentrale Positionierung der
Lunchboxen vor neutralem Hintergrund erinnern Lockharts Kryptoportäts an
das wahrnehmungsscharfe Neue Sehen und die typologisierenden Porträts
der Neuen Sachlichkeit. Einer ihrer zentralen Vertreter, August Sander, schuf
mit seinen sachlich-unterkühlten Fotoporträts „Ikonen eines gepanzerten Ichs“
(Helmut Lethen), die Ausdruck eines zeittypischen Bedürfnisses nach Distanz und
Affektkontrolle waren: Nach dem Schlüsselerlebnis einer destruktiv gewordenen
Modernität im Ersten Weltkrieg und angesichts der politischen und wirtschaftlichen
Krisen der Weimarer Republik (1919–33) setzte sich ein regelrechter Kältekult
durch, der sich in Formen von Maskierung, Selbststilisierung und Etikette äußerte.
Als „Verhaltenslehren der Kälte“ beschrieb der Kulturwissenschaftler Helmut
Lethen diesen Habitus, der das Individuum vor den Erschütterungen angesichts
massiver Modernisierungs-, Rationalisierungs- und Entfremdungsprozesse
wappnen sollte. Sanders Fotoenzyklopädie Menschen des 20. Jahrhunderts,
(38) in der er mehr als 600 Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten und
Berufsgruppen gruppierte, zielte auf eine umfassende Gesellschaftsanalyse der
Weimarer Republik ab.

Rudolf Bellings Kopf Skulptur 23, 1923, und Oskar Schlemmers stromlinienförmige
Abstrakte Figur, 1921, (39) vermitteln das Bild des modernen Menschen in einer
von Technik und Rationalität bestimmten Welt. Ihre kühle Ästhetik findet sich
auch in Fotografien von Florence Henri wieder (40), die nach einem Aufenthalt am
Bauhaus in Dessau 1929 ihr eigenes Fotostudio in Paris eröffnete. Ihre Porträt- und
Objektaufnahmen spielen mit der Multiperspektivität abstrakter Spiegeleffekte.
Der technische Fortschritt selbst wurde emphatisch ins Bild gesetzt, wie Albert-
Renger-Patzschs monumentale Aufnahmen von Maschinendetails verdeutlichen
(41). Die Apokalypse dieser Entwicklung thematisiert Friedl Dicker in ihren Agita­
tionsplakaten für die Kommunistische Partei (42), die zeigen, wie der Körper im
Nationalsozialis­mus zum politischen Instrument und zur Projektionsfläche sozialer
Erwartungs­haltungen und Zwänge wurde.

Die universelle Gültigkeit von Moral und Gesetz, der „Fortschritt“ des Kapitalis­mus
und der Wissenschaft gehören zu jenen Mythen, die bis zum heutigen Tag unsere
Weltanschauung prägen. Unter dieser These untersucht das Künstler*innen­duo
Pakui Hardware „Körper“ als eine sich verändernde biologische und gesell­­­schaft­
liche Konstruktion, abhängig von Forschung, Technologie und fortschreitender
Mediatisierung. Ihre Arbeiten – darunter Vanilla Eyes, 2016, (43) die an biologische
Prozesse des Wachsens, Schmelzens und Sichauflösens erinnert – lassen die
Trennlinie zwischen natürlicher und künstlicher Welt verschwinden und erscheinen
als „postnatürlich, postorganisch, sogar frankensteinisch“ (Pakui Hardware).
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Arretierte Körper zwischen Begehren und Bedrohung

Die Frage der Erfahrungsmöglichkeiten des Körpers in Bezug zu seiner (Um-)
Welt ist eine Konstante der figurativen Kunst nach den Erlebnissen des Zweiten
Weltkriegs. Die Darstellungen körperlicher und existenzieller Bedrängnis zeugen
vom Konflikt des Individuums mit gesellschaftlichen und politischen Normen und
von der Suche nach alternativen Körper- oder Geschlechtermodellen. Ab Ende
der 1950er-Jahre entwickelte Maria Lassnig ihre „Körpergefühlsmalerei“, die ihre
Erfahrung des Körpers als Grenze zur Welt transportierte. Weibliche Stützfiguren
in der Architektur zitierend, malte Lassnig ihren Körper als Karyatide, 1974 (44) –
nackt, in hockender Pose, eingespannt in das quadratische Bild. Offen bleibt, ob
sie sich gegen eine unsichtbare Last oder gegen die Enge des Bildfeldes stemmt.
Germaine Richiers Le Griffu (Krallenwesen), 1952, (45) ist ein Hybrid aus Mensch
und Tier, verspannt in einer Drahtkonstruktion, die das Animalisch-Triebhafte
gleichsam bändigt und gefangen hält. Zu einer räumlichen Verankerung und
zugleich Bedrängung des Körpers kommt es auch in den Porträts von Francis
Bacon, der die Körper seiner sich in Malerei auflösenden Kreaturen – Porträts
homosexueller Freunde oder Liebhaber – in ein fragiles Rahmenwerk aus Gitter­
stäben einschreibt (46); wie wissenschaftliche Untersuchungsobjekte sind sie in
einem zellenartigen Raum fixiert, der zugleich Halt gibt und einengt. Vergleichbare
Restriktionen scheinen den Skulpturen Alberto Giacomettis auferlegt (47).
Die schmale Statur seiner Figuren mit ihren gelängten Gliedmaßen und rohen
Oberflächen lässt den Eindruck entstehen, als hätte eine unsichtbare Kraft auf
sie eingewirkt und ihre Körper schrumpfen lassen.

In La réalisation invraisemblable de l‘entente de Tadzio et Aschenbach II (Die
unglaubliche Verwirklichung der Eintracht zwischen Tadzio und Aschenbach II),
1987, (48) nimmt Pierre Klossowski, selbst Autor mit Nähe zu namhaften Psycho­
analytiker*innen und Pariser Intellektuellen, Bezug auf Thomas Manns Novelle
Der Tod in Venedig, 1911. Entgegen der Buchvorlage lässt Klossowski den Schrift­
steller Gustav von Aschenbach die scheue Distanz zum jungen Tadzio, dem
Objekt seines Begehrens, überwinden. Es kommt zur erotischen Begegnung,
die, auf den intimen Handlungsraum eines Strandzelts beschränkt, wie auf einer
Bühne ausgestellt wird. Ein vergleichbares „Dreieck von Begehren, Figur und
abstrakter Form“ (Dominic Eichler) innerhalb eines räumlichen Settings findet sich
auch bei Julian Göthe wieder. Painted White in a Spirit of Rebellion, 2002/2003,
(49) ursprünglich für ein Schaufenster konzipiert, ist ein rätselhaftes Hybrid aus
minimalistischer Skulptur und exzentrisch-glamouröser Display-Architektur, das
auch seine ungeschönte und für gewöhnlich unsichtbar bleibende Rückseite zur
Schau stellt. Gebaut aus Papier und Draht, bietet sich dieses Objekt als Bühne
an, deren Elemente unterschiedliche Referenzen aufweisen: die modernistisch-
weiße Architektur Le Corbusiers, extravagante Schaufensterdekorationen oder
Art-­déco-Hollywood-Filmsets, aber auch weniger offensichtliche Bezüge auf
homoerotische Aktdarstellungen. In diesen Überlagerungen und Anspielungen
offenbart Göthe sein Interesse am eklekti­schen Kombinieren unterschiedlicher
Stil- und Zeitebenen und nichtkanonischer Formen moderner Ästhetik.
Impressum                            Ausstellung                                 Begleitheft

mumok                                Enjoy                                       Revue Moderne
Museum moderner Kunst                Die mumok Sammlung im Wandel
Stiftung Ludwig Wien                                                             Herausgegeben von Jörg Wolfert
                                     Revue Moderne                               für die Kunstvermittlung mumok
MuseumsQuartier                      Kuratorin: Heike Eipeldauer                 Text: Heike Eipeldauer
Museumsplatz 1                                                                   Redaktion: Jörg Wolfert
A-1070 Wien                          19. Juni 2021 bis 18. April 2022            Lektorat: Eva Luise Kühn
www.mumok.at                                                                     Grafische Gestaltung: Olaf Osten
                                     Gefördert durch die Peter und Irene
Generaldirektorin: Karola Kraus      Ludwig Stiftung                             Umschlag: August Sander, Der Dadaist
Wirtschaftliche Geschäftsführerin:                                               Raoul Hausmann in Pose, 1930 (1974)
Cornelia Lamprechter                 Kurator*innen: Manuela Ammer,               © Bildrecht, Wien 2021
                                     Heike Eipeldauer, Rainer Fuchs,
                                     Naoko Kaltschmidt, Matthias Michalka        © mumok 2021
                                     Ausstellungsorganisation: Claudia Dohr,
                                     Lisa Schwarz, Dagmar Steyrer
                                     Sammlung: Franklin Castanien,
                                     Sophie Haaser, Holger Reetz
                                     Restauratorische Betreuung: Christina
                                     Hierl, Kathrine Ruppen, Karin Steiner
                                     Ausstellungsaufbau: Tina Fabijanic,
                                     Wolfgang Moser, Valerian Moucka,
                                     Gregor Neuwirth, Andreas Petz, Helmut
                                     Raidl, Lovis Zimmer, museum standards,
                                     Presse: Marie-Claire Gagnon, Katja
                                     Kulidzhanova, Katharina Murschetz
                                     Marketing: Maria Fillafer, Anna Weiss
                                     Sponsoring, Fundraising und
                                     Veranstaltungen: Katharina Grünbichler,
                                     Karin Kirste, Cornelia Stellwag-Carion
                                     Kunstvermittlung: Mercede Ameri, Lena
                                     Arends, Stefanie Fischer, Astrid Frieser,
                                     Stefanie Gersch, Helene Heiß, Benedikt
                                     Hochwartner, Maria Huber, Ivan Jurica,
                                     Ümit Mares-Altinok, Mikki Muhr, Stefan
                                     Müller, Patrick Puls, Christine Schelle,
                                     Jörg Wolfert
Die mumok Sammlung im Wandel
                  19. Juni 2021 bis 18. April 2022

          Ebene 4 Revue Moderne
               3 Gegenwart der Geschichte
               2 Figur und Skulptur
               0 (Anti-)Pop
              –2 Abstraktion. Natur. Körper
              –2 Re/Aktionen
              –4 Die Grenzen unserer Welt
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