KURATIERT VON diedrich diederichsen & oier etxeberria

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KURATIERT VON diedrich diederichsen & oier etxeberria
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KURATIERT VON diedrich diederichsen & oier etxeberria
Vorderseite
Robert Adrian X, Fake Painter, Portobello Bookstore, aus der Serie 24 Jobs, 1979
Courtesy mumok – Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Wien, erworben 1980.
© Bildrecht Wien, 2020
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Cybernetics
of the Poor
KURATIERT VON diedrich diederichsen & oier etxeberria
VORHERGEHENDE SEITE
Isidoro Valcárcel Medina          Ferdinand Kriwet
Motores, 1973                     Campaign-Tableau, 1972/2007
Courtesy SONM Fonoteca,           PRIVATSAMMLUNG, KÖLN
Ayuntamiento de Murcia, Spanien   Courtesy BQ, Berlin
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Cybernetics
of the Poor
kunsthalle wien
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Cory Arcangel
Paganini Caprice No. 5, 2011
Videostill
Courtesy DER KÜNSTLER
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K
        ybernetik ist allgegenwärtig. Sie bedient sich wissenschaftlicher und
        transdisziplinärer Methoden. Sie ist verbunden mit Vorstellungen des
        Sammelns, Messens, Regulierens und Übertragens von Information. Sie
hat mit dem Studium von Systemen aller Art zu tun. Ihre Definition ist, wie das
bei Definitionen häufig der Fall ist, neutral. Und doch ist im Verlauf der letzten
zehn Jahre ein Bewusstsein für den trügerischen Charakter dieser Neutralität
gewachsen, und zwar in dem Maß, in dem die Sammlung, die Analyse und
unweigerlich auch die Manipulation von Daten zu einem Teil unseres täglichen
Lebens geworden sind.

Für uns ist es eine ehrenvolle Aufgabe, Cybernetics of the Poor präsen-
tieren zu dürfen, ein Projekt von Diedrich Diederichsen und Oier Etxeberria,
das zugleich Forschung, Diskurs und Ausstellung ist. Dass eine „Kybernetik der
Wirklichkeit” sich tief und dauerhaft in die Strukturen der Gesellschaft und
damit der Kunst eingeprägt hat, ist als Faktum hinzunehmen. Demgegenüber
versucht das Projekt, die Kunst in ihren ästhetischen, kognitiven, affektiven
und unsere Erfahrungen betreffenden Wirkungsdimensionen auf jene Formen
von Alternativ- und Gegenkybernetiken hin zu beleuchten, die Methoden und
Techniken totaler Kontrolle und totalen Managements umstürzen, unterlaufen
und neu ausrichten.

Die Ausstellung ist eine Koproduktion von kunsthalle wien und Tabakalera
International Centre for Contemporary Culture, Donostia / San Sebastián,
Spanien. Sie wurde dort zuerst im Frühling und Sommer 2020 gezeigt. Mit
einer Reihe von diskursiven Veranstaltungen und mit der Ausstellung in Wien
setzt sich das Vorhaben fort, die Anwendung von Kybernetik und den Einsatz
von Gegenkybernetik in diversen künstlerischen Strategien zu untersuchen.
Dabei soll auch bedacht werden, wie Kybernetik uns dabei helfen kann, die
ökonomischen Verstrickungen des Kunstsystems selbst zu verstehen.

Es freut uns sehr, dass durch das Projekt die Entwicklung einer Reihe neuer
künstlerischer Arbeiten unterstützt werden konnte. Viele inspirierende
Diskussionen zwischen Künstler*innen und Kulturarbeiter*innen wurden
angestoßen, die bei aller Unterschiedlichkeit der einzelnen Ansätze und
Sprachen die gemeinsame Überzeugung verbindet, dass die Kunst ein fragiles
und schwer fassbares, dennoch aber transformatives Potenzial besitzt. Wir
möchten Diedrich Diederichsen, Oier Etxeberria, Tabakalera und allen an
der Ausstellung und am Begleitprogramm Beteiligten unseren Dank für ihre
inspirierende Arbeit aussprechen.

what, how & for whom
Direktorinnen
kunsthalle wien
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Gema Intxausti
East Berlin, 2016
aus der Serie
Fotomatónes
Colección del Museo
Artium, Vitoria-
Gasteiz, Spanien
Courtesy die
Künstlerin und
Museo Artium,
Vitoria-Gasteiz,
Spanien
KURATIERT VON diedrich diederichsen & oier etxeberria
cybernetics of the poor
                  — einführung
                  Diedrich Diederichsen & Oier Etxeberria

1/   Wenn Regierung und Markt, wenn Macht sich kybernetisch
     organisiert, bleibt der Kunst nur eines: Sie wird eine Kybernetik
     der Armen
                  Unser Titel – Kybernetik der Armen – bezieht sich zunächst
                  auf folgende Situation: Die Kybernetik – ein seit den späten
                  1940er-Jahren kursierender Begriff für sich mehr oder weniger
                  selbst regelnde Systeme, die messen und antizipieren und auf
                  veränderte Zustände intervenierend reagieren – war nach
                  einem militärischen Beginn erst nur in technischen, dann in
                  administrativen Szenarios relevant; von komplexen Maschi-
                  nen über Verkehrsplanung bis zu Städteplanung, Sozialpla-
                  nung und Kriminologie – spätestens ab den 1970er-Jahren
                  auch Ökologie. In den Macy-Konferenzen der frühen Nach-
                  kriegszeit nahmen dann auch Wissenschaftler*innen aus den
                  Sozial-, Geistes- und anderen Nichtnaturwissenschaften an
                  der Entwicklung weiterführender Ideen von Kybernetik teil,
                  unter ihnen Margaret Mead und Gregory Bateson. Die Idee
                  sich selbst regulierender Systeme oszillierte schon damals
                  zwischen einer Hypostase von Kon­trolle und Überwachung
                  auf der dystopischen einen Seite und der Abschaffung von
                  Hierarchie und Hegemonie in flach gewordenen, allgemein
                  zugänglichen, partizipativen Gesellschaftsformaten auf
                  der utopischen anderen Seite. Im digitalen Kapitalismus
                  ist aber der Handel mit der Antizipation selbst profitabel
                  geworden. Die finanzkapitalistische Spekulation, die Finan-
                  zialisierung immer größerer Bereiche der Wirtschaft wird
                  kybernetisch gedacht und organisiert, denn das Erheben,
                  Sammeln und Vermarkten von Daten ist längst Kern unserer
                  Ökonomie. Darüber hinaus ist aber eine in Filterblasen, von
                  Bots und personalisierter Ansprache gesteuerte, scheinau-
                  tonome, in zu propagandistischen Zwecken organisierte
                  Subkulturen zerfallene Öffentlichkeit unter Kontrolle einer
                  Kampagnen-Kybernetik geraten, die auch sogenannte
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freie Wahlen massiv unter ihren Einfluss bringen konnte. In
                 einem so gewissermaßen total kybernetisch gewordenen
                 kulturellen, sozialen und politischen Universum muss die
                 Kunst auf diesen neuen Stand der Dinge reagieren, in dem
                 Reaktionen, Wirkungen, Intentionen von dieser Realkybernetik
                 überlagert, wenn nicht determiniert werden. Sie muss aber
                 auch ihre neue spezifische Machtlosigkeit gegenüber der
                 kybernetischen Maschine verstehen und zum Ausgangspunkt
                 von Gegenentwürfen machen – das kann sie nicht, ohne
                „Errungenschaften“, Techniken zu erlernen, zu adaptieren und
                 umzuwidmen. Struktur von Öffentlichkeit, Kulturindustrie und
                 politische Willensbildung sind heutzutage Objekte kyberne-
                 tischer Planung, Kontrolle und Wertschöpfung. Kunst kann
                 sich weder diesem spezifischen Zustand von Unterwerfung
                 noch den Möglichkeiten und historischen Investments, die
                 auch in Kunstpraktiken stecken, die an Kybernetik glaubten
                 oder bereits eine Gegenkybernetik entwarfen, entziehen.
                 Sie ist so zu einer Kybernetik der Armen geworden. Dies ist
                 ihr Materialstand.

2/   Kybernetik als Versprechen einer ihr Publikum
     antizipierenden neuen, spielerischen Kunst
                 Die bildende Kunst hat seit den Anfängen der Kybernetik
                 in den kriegsbezogenen Forschungen Norbert Wieners ein
                 Interesse an dieser neuen „angewandten“ Metawissenschaft
                 gezeigt. Einzelne Vertreter wie der Architekt, Regisseur und
                 Künstler Nicolas Schöffer oder der immer wieder kunstin-
                 teressierte Kybernetik-Veteran Gordon Pask noch in einem
                 engen direkten Sinne, andere griffen die Ideen der Kybernetik
                 als Modell künstlerischer Wirkung und Einbeziehung des
                 Publikums auf. In der kinetischen Kunst der 1960er-Jahre
                 traten kybernetische Einflüsse ebenso zutage wie bei den
                 von Billy Klüver und anderen initiierten künstlerischen Events
                 der Organisation Experiments in Art and Technology (E.A.T.).
                 Eine Reihe von Theoretiker*innen und Kurator*innen wie Max
                 Bense und Abraham Moles entwickelte eine Ästhetik, die
                 mit der Idee der Berechenbarkeit der ästhetischen Erfah-
                 rung zugleich provozierte, aber auch in ein Weltbild passte,
                 das nicht nur ästhetische, sondern auch gesellschaftliche
                 Fortschritte mit technologischen Fortschritten und deren
                 sozialer Implementierung verband. Die Situationisten (SI)
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hassten die Kybernetik, die deutsche Sektion der SI (um
                 die Gruppe SPUR) verspottete Max Bense, die französische
                 bewarf Abraham Moles mit Tomaten, Guy Debord veräp-
                 pelte ihn in seiner „Korrespondenz mit einem Kybernetiker“
                 als „Kleinkopf“. Dagegen ist die klassische Concept Art der
                 späten 1960er-Jahre voller Verbindungen zur Kybernetik: von
                 Hans Haackes frühen Experimenten zu Gleichgewicht und
                 Homöostasis bis zur berühmten Formulierung Sol LeWitts,
                 wonach die Idee eines Kunstwerks eine Maschine sei, die das
                 Kunstwerk hervorbringe. Ausstellungen der ausgehenden
                 1960er wie Software von Jack Burnham oder Kynaston
                 McShines Information verweisen auf eine Konvergenz von
                 kybernetischen und konzeptualistischen Ansätzen. Beide
                 Bewegungen – Concept Art wie Situationismus – sind vor
                 allem seit den 1990er-Jahren zu einigermaßen kanonischen
                 Bezugsgrößen und Ausgangspunkten für jedwede kritische
                 künstlerische Praxis erklärt worden, ohne dass in solchen
                 Kanonisierungsprozessen dieser historische Gegensatz viel
                 thematisiert worden wäre.

3/   Kybernetik, Rationalismus, Kritik
                 Kybernetik lässt sich in eine global nordwestliche Geschichte
                 des Rationalismus und des Fortschrittsdenkens eintragen,
                 die in Modellen eines avancierten kapitalistischen Indus-
                 triestaates aber ebenso eine Rolle spielte wie in einigen
                 sozialistischen Staaten. Das in der DDR erschienene Marxis-
                 tisch-Leninistische Wörterbuch der Philosophie widmet der
                 Kybernetik einen ausführlichen, sympathisierenden Eintrag.
                 Salvador Allende fand in einer Art Wirtschaftskybernetik,
                 für die er den britischen Kybernetiker Stafford Beer mit der
                 Gründung eines Instituts beauftragte („Cybersyn“), einen
                 sozialistischen Ausweg aus einer allzu rigiden Planwirtschaft.
                 Doch schon Lenin sah in der gesellschaftlichen Organisation
                 der Informationsverteilung – in der Gestalt der Post im wil-
                 helminischen Kaiserreich – ein Vorbild: „Unser nächstes Ziel
                 ist, die gesamte Volkswirtschaft nach dem Vorbild der Post
                 zu organisieren“ (Staat und Revolution). Lenins Widersacher
                 in der Partei, Alexander Bogdanow, war von u. a. Ernst Mach
                 beeinflusst, und Lenin wird die Machisten in seiner Abrech-
                 nung mit Bogdanow (Materialismus und Empiriokritizismus)
                 unmaterialistischer, quasireligiöser Ideen bezichtigen. Machs
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impressionistischer Rationalismus wurde aber auch zu
                 einer der Grundlagen für Otto Neuraths Denken und den
                 sogenannten logischen Positivismus/Empirismus des Wie-
                 ner Kreises mit Moritz Schlick, Rudolf Carnap und anderen.
                 In diesem Kreis war Neurath eindeutig der Vertreter einer
                 Verbindung aus positivistischer Epistemologie und sozia-
                 listischer Gesellschaftspolitik. Sein späteres Projekt eines
                „Unity of Science movement“ sollte auf Grundlage dieser
                 Epistemologie und unter Mitwirkung prominenter Wissen-
                 schaftler aus der ganzen Welt (u. a. John Dewey, Bertrand
                 Russell, Niels Bohr) wissenschaftliche und gesellschaftliche
                 Aufklärung zusammenführen. Dieses Projekt, das wegen des
                 frühen Todes Neuraths nur zwei Bände einer Enzyklopädie
                 hervorbrachte, war aber auch eine zentrale Inspiration für
                 die Zusammenführung und Vereinheitlichung der Wissen-
                 schaften unter kybernetischen Vorzeichen, wie sie bei den
                 Macy-Konferenzen versucht wurde. Doch schon 1937 hat Max
                 Horkheimer, der im selben Jahr den Begriff der Kritischen
                 Theorie ja auch als ein Instrument der Kritik bürgerlicher
                 Wissenschaft und ihrer Begriffe von Objektivität entwickelt
                 hat, sich Neuraths sozialistischen Positivismus vorgeknöpft
                 und in einer scharfen Polemik zurückgewiesen, die wie ein
                 Vorspiel nicht nur zum Positivismus-Streit der 1950er und
                 60er (prominent: die Schaukämpfe Adorno gegen Popper),
                 sondern auch schon zu den antikybernetischen Polemiken
                 des Situationismus wirkt. Doch während Horkheimer und die
                 Kritische Theorie den (utopischen) Positivismus Neuraths aus
                 der ebenfalls linken Position der Wissenschaftskritik zurück-
                 wiesen, kam auch von Norbert Wiener, dem Begriffsstifter
                 der Kybernetik, Gegenwind, aber von der anderen Seite: Er
                 fand das „Unity of Science movement“ zwar in seinem Sinne
                 brauchbar, warf ihm aber seinen „propagandistischen
                 Ballast“ vor.

4/   Digitaler Kapitalismus, Partizipation, Kontrolle
                 Im digitalen Kapitalismus ist eines der Prinzipien einer
                 auch an kybernetischen Ideen orientierten partizipativen
                 Kunst mittlerweile zu einem unverzichtbaren Baustein von
                 Unterwerfung und Kontrolle geworden. Nicht nur sind die
                 fortgesetzt bewertenden, likenden, bestätigenden User das
                 Info-Melkvieh der Datenindustrie, sie glauben auch, durch
       10
fortgesetztes Fragen, Agieren, Kommentieren und Recher-
      chieren dort noch selbstständig eigene Ideen zu entwickeln,
      wo sie komplett prädeterminierten Klick-Pfaden folgen.
      Immer wieder konnte gezeigt werden, dass zentrale Ver-
      schwörungstheorien nicht über unmittelbare Indoktrination,
      sondern über suggestive Fährten, über Ermutigungen ent-
      standen, klassischen Vorurteilen entsprechende Ergebnisse
     „selbstständig“ zu ermitteln und in kybernetischen Spielen
      herauszufinden. Der QAnon-Verschwörungstheorie-Komplex
      basiert im Grunde auf einem kollektiven Schreibexperiment,
      das seine rassistischen und antisemitischen Positionen
     „spielerisch“ hervorbringt.

     Partizipation ist aber auch immer noch ein Weg, eine rein
     kontemplative Kunstrezeption zu unterbrechen. Rollenspiele
     z. B. halten ja zunächst die antizipierbaren Elemente des
     Verhaltens in ihren Szenarien offen, auch wenn gerade diese
     im digitalen Kapitalismus zu einem zentralen Ziel einer nun
     nicht mehr rechnenden, sondern Daten akkumulierenden,
     ultrapositivistischen Strategie von Markt- und Regierungs-
     handeln geworden sind. Die Ausstellung fragt aber nicht nur,
     was Kunst als Kybernetik der Armen im metaphorischen
     Sinne sein kann – also was die machtlose, daher arme Kunst
     gegen die mächtige totale kapitalistische Kybernetik tun
     kann –, sondern auch danach, was die buchstäblich Armen
     tun, fragt nach Inhalten von Kunst, nicht nur nach Strategien.

     Die erste Ausgabe von Cybernetics of the Poor, die
     vom 6. März bis 23. August 2020 in Donostia / San Sebastián
     stattfand, hatte den Untertitel Tutorials, Partituren und
     Übungen, um damit drei Genres zu benennen, in denen
     wir entweder antikybernetische oder Kybernetik nutzende
     künstlerische Strategien ausgemacht haben. Im zweiten
     Teil in Wien stehen neben ausgewählten Beispielen dieser
     Genres auch Kampagnen, Kontrollversuche und Kontroll-
     vereitelungen und vor allem die ökonomische Kybernetik
     des Kunstmarkts im Mittelpunkt.

     Schließlich muss sich die Ausstellung auch die Frage gefallen
     lassen, ob sie nicht selbst – mit ihrer Diagnose eines Wirt-
     schaft wie Öffentlichkeit verwertenden wie bestimmenden
11
Agentur
Versammlung (Kybernetik der Armen), 1992—
Ausstellungsansichten, Tabakalera 2020
Courtesy List of Things
Fotos: Mikel Eskauriaza
          12
digital-kybernetischen Komplexes – ihrer eigenen Verschwö-
     rungstheorie aufsitzt: Sind nicht Verschwörungstheorien
     das klassische Genre einer armen bzw. machtlosen Kyber-
     netik-Kritik? Kybernetik-Skepsis hat eine lange Tradition von
     allerdings – im Gegensatz zu den heutzutage massenhaft
     kursierenden – sehr ausgearbeiteten Verschwörungstheo-
     rien: von William S. Burroughs bis Thomas Pynchon. Und die
     Skepsis war der Begeisterung oft sehr nahe. In den heutigen
     Diagnosen zum Verfall öffentlicher Kultur unter digital-kapi-
     talistischen und fake-publizistischen Bedingungen wird aber
     oft der Fehler gemacht, nur eine Struktur („Verschwörungs-
     theorie“) als Symptom dieses Niedergangs zu bezeichnen,
     nicht die notwendig mit dieser Struktur verbundenen Inhalte:
     Die machtkritischen Theorien etwa der Kontrollgesellschaft
     oder der pharmakopornografischen Hegemonie haben
     nur oberflächliche Ähnlichkeiten mit dem oft rassistischen
     und strukturell antisemitischen – nämlich Strukturen mit
     Personen und Personengruppen gleichsetzenden – Glauben
     an fiktive Absprachen und Kartelle prominenter Personen,
     wie er heute bei Neuen Rechten und Querfronten kursiert. ●
13
Kameelah Janan Rasheed, Long Division II, 2018
Courtesy die Künstlerin und NOME, Berlin
          14
künstler*innen der
ausstellung
Kunstwerke sind Waren (und sind dies         aus Schul- und Lehrbüchern, grafisch
nicht). Man kann sie besitzen, autori-       zitiert und in Bilder einträgt, die die
sieren, reproduzieren, verkaufen, ihre       Frage nach Zukunft und Hoffnung
Urheberrechte halten und sie zum Ge-         des Errechneten vor dem Hintergrund
genstand von Verträgen machen. Je            Schwarzer nihilistischer, afropessimis-
stärker sie sich als konzeptuell verstehen   tischer, aber auch islamischer und an-
und nicht als Objekte von Handwerk           derer religiöser Ideen von Zukunft stellt,
oder Meisterschaft, desto mehr nähern        sodass technische Termini wie equation,
sie sich in der bürgerlichen Gesellschaft    approximation oder chance sich auf
der Sphäre des Rechts, der Vertrags-         ganz andere Bedeutungen hin öffnen.
form und damit vielfältigen Formen der
Enteignung und Privatisierung gemein-        Die Armen haben eine eigene Ökonomie,
schaftlich genutzter Güter. (Agentur)        oft als informell bezeichnet, entwi-
                                             ckelt, die in vielfältigen und seltsa-
Die Spekulationsindustrie des Kunst-         men Verbindungen zu Massen- und
marktes einerseits, der Handel mit           Konsumkultur steht. Michael Hakimi
( journalistischen und dokumentari-          zeichnet ihre Vertreter*innen mit
schen) Bildrechten andererseits stehen       der illusionslosen Eleganz, die kaum
im Mittelpunkt der Arbeit von Paolo          sichtbare Verbindungen und drasti-
Cirio. Die Präsidentenfotos – theoretisch    sche Abhängigkeiten engführt: fast
das demokratische Allgemeingut der           wie beobachter*in­unabhängig und
US-Amerikaner*innen – sind umsonst           doch/deswegen sehr stilisiert.
und gemeinfrei auf der Website des
Weißen Hauses erhältlich, werden aber        Fünfzig Jahre vor den kybernetischen
zugleich von Getty vermarktet. Dieser        Wahlfälschungen beispielsweise durch
doppelte Charakter (Ware, Staatspro-         Cambridge Analytica hat der deutsche
paganda) prägt unwillkürlich jeden Blick     Künstler, Grafiker, Poet Ferdinand Kri-
auf diese „Postkarten“. Das Berechnete,      wet einen US-amerikanischen Wahl-
Algorithmische zeitgenössischen kultu-       kampf beobachtet und versucht, dessen
rellen Geschmacks ist ein Gegenstand         visuelle Sprache – wie es seine Stärke
der stetig wachsenden Arbeit Sociality.      war – zugleich analytisch greifbar zu
                                             machen und in der künstlerischen Wie-
Kameelah Janan Rasheed proble-               derholung ästhetisch zu steigern und
matisiert anspruchsvolle systemische         zu kippen.
Denk- und Rechenmodelle, die sie, oft
          15
Serien und Reihen – viel zu sehen in dieser Ausstel-
lung – sind stillstehender, stockender Feind, aber
auch Ausgangsmaterial der Kybernetik. Das Foto
gilt als Abdruck der Wirklichkeit und kann nie nur
Symbol sein – es ist immer auch Index, direkt ver-
ursacht. Jörg Schlick hat Fotografien als Zeichen
eingesetzt – und zwar als die Buchstaben, die das
menschliche Genom anschreiben. Jedes Foto steht
für einen anderen Buchstaben. Die Wirklichkeitsspur
wird so – wie ja in jeder Recognition-Software unserer
Tage selbstverständlich – zum vollkommen lesbaren,
ohne Verlust entzifferbaren Symbol.

                                                         OBEN
                                                         Jörg Schlick
                                                         Elementarteilchen, 2000
                                                         Courtesy diethARdT
                                                         collection, Graz

                                                         RECHTS
                                                         Hanne Darboven
                                                         Theatre, 1987
                                                         Courtesy Raphaela Vogel
                                                         © Bildrecht Wien, 2020

Michael Hakimi
Infokasten, 2019
Courtesy Galerie Karin Günther, Hamburg
           16
Eine Grundidee dieser Ausstellung ist,     Tanja Widmann findet Kunstmarkt
dass die gegenkybernetischen oder          und Spekulationsindustrie eher auf ei-
anderskybernetischen Kunstwerke bes-       nem essayistischen Spaziergang. Aus-
ser funktionieren mögen als ein bloßes     gangspunkt ihrer vielteiligen Arbeit ist
Tutorial, nämlich wie eine gute Schule:    die Fotografie eines Ausschnitts der
gegen kybernetische Ideale von Antizi-     Oberfläche einer Skulptur von Nairy
pation, aber mit dem kybernetischen        Baghramian auf der letzten Vene-
Wissen um die formale Beschreibbarkeit     dig-Biennale, in die eine Person den
noch jeden Verhaltens. Hanne Dar-          Namen Vanessa eingeritzt hat. Dieses
boven unterstreicht dies mit einem         Bild hat Widmann in wiederum un-
ironischen gefundenen Stundenplan,         terschiedlichen Ausschnitten und va-
der ihre auf Übungen und Wiederho-         riierenden Farben auf die Seiten eines
lungen basierte Arbeit als Schularbeit     Exemplars des sehr rar gewordenen
mit einem naiv-fröhlichen Charakter        Wade-Guyton-Katalogs Black Pain-
rahmt. Das Readymade wurde natür-          tings (Portikus, 2009) gedruckt, daher
lich von den üblichen Herstellern Kinder   die Wörter „Painting“, „Petzel“, „New
ruhigstellender Süßwaren gesponsert.       York“ etc. in der Blockhängung. Zirku-
                                           lation und Logik der ökonomischen
          17
18
Wertbildung in der Gegenwartskunst
                                                        werden gewissermaßen flanierend
                                                        durchgespielt, ausgerüstet mit den
                                                        armen Waffen der Rezipient*innen: Tags,
                                                        Handykamera, Katalog, Homeprinter.
                                                        Darin tauchen Körper/Akteur*innen
                                                        nicht mehr als solche auf, sondern als
                                                        Funktionen, als Marker beziehungswei-
                                                        se Wörter, die in aufeinanderfolgenden
                                                        Verfahren von Abnehmen (wie in: to
                                                        cast) und Wiederausdrucken Räume,
                                                        Orte und Materialien wechseln.

                                                        Robert Adrian X wird gerne als Pionier
                                                        der telematischen und Medienkunst be-
                                                        schrieben. Der kanadische Wahlwiener
                                                        hatte aber stets den ganzen Komplex
                                                        der Programmierungen und der gesell-

             Tanja Widmann
        20200316_1 (Vanessa),
                         2020
               Courtesy die
        Künstlerin und FELIX
             GAUDLITZ, Wien
              Foto: kunst-
        dokumentation.com

links
Tanja Widmann, V (Online),
2020, Installationsansicht
FELIX GAUDLITZ, Wien
Courtesy die Künstlerin         Robert Adrian X, Fake Painter, Portobello Bookstore,
und FELIX GAUDLITZ, Wien        aus der Serie 24 Jobs, 1979
fotos: kunst-                   Courtesy mumok – Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig
dokumentation.com               Wien, Wien, erworben 1980. © Bildrecht Wien, 2020
                    19
schaftlichen Platzzuweisungen thema-       Agnieszka Kurants Arbeiten beschäf-
tisiert, nicht nur dessen technologische   tigen sich mit der möglichen Gestalt
Form: Deswegen zeigen wir hier eine        und pointierten Anschaulichkeiten di-
auf den ersten Blick traditionelle Serie   gital-kybernetischer Phänomene – die
von Figurinen, die die verschiedenen       Künstlerin sammelt Lebenszeichen von
Jobs verkörpern, die Robert Adrian X       kollektiven Kollaborationen, von aus-
ausüben musste, um als Künstler zu         gebeuteten Amazon-Arbeiter*innen
überleben.                                 oder aus der Geschichte der Industrie-
                                           arbeit und übersetzt sie in geologische
                                           Prozesse und deren Resultate – wie in
                                           Post-Fordite, einem Stein aus Autolack-
                                           sedimenten, den man in Detroit gefun-
                                           den hat. Kurant verbindet die Idee einer
                                           verstreuten und/oder aggregierten
                                           Intelligenz mit Phänomenen wie dem
                                           Abbau von Sozialkapital durch Algo-
                                           rithmen oder der Sicht- und Zählbar-
                                           keit digitaler Fußabdrücke und anderer
                                           Spuren von Menschen – und wie da­raus
                                           die wichtigsten zeitgenössischen Ver-
                                           mögenswerte werden: Crowdsourcing
                                           als forcierte digital-kybernetische Aus-
                                           beutung. An dieser Stelle erkennt sie
                                           aber auch ein Potenzial zur Umvertei-
                                           lung des Kapitals. Computersimulatio-
                                           nen könnten Ökonom*innen ebenso gut
                                           ermöglichen, komplexe soziale Emer-
                                           genzen, von Epidemien bis hin zu Re-
                                           volutionen, vorherzusagen.

Agnieszka Kurant, Aggregated Ghost, 2020   In der ikonoklastischen Arbeit von Elena
Courtesy die Künstlerin und Tanya          Asins, die bei Bense studiert und schon
Bonakdar Gallery, New York/Los Angeles     in den 1960er-Jahren mit Computern
                                           gearbeitet hat, geht es um den Mo-
                                           ment, in dem grundlegende Struktu-
                                           ren von Sichtbarkeit in eigene visuelle
                                           Qualitäten umschlagen.
          20
Ted Kaczynski, bekannt als Unabomber
                                 und einer der berühmtesten wie auch
                                 unglückseligsten Kybernetik-Kritiker, hat
                                 den Weg der Kybernetik von Ökologie
                                 und Hippie-Kultur zu Silicon Valley und
                                 Computerindustrie massiv abgelehnt
                                 und bekämpft, unter anderem indem
                                 er harmlose Computerhändler mit
                                 selbstgebastelten Bomben ermorde-
                                 te, während er an Thoreaus Walden
                                 orientiert in einer Hütte in der Wildnis
                                 lebte. Kathrin Stumreich antwortet
                                 auf diese vieldiskutierte Geschichte in
                                “What would Ted Kaczynski’s daughter
                                 do …?“ mit einer feministischen Varian-
                                 te von Kaczynskis Widerstandsgesten,
                                 indem sie diesen den Charakter der
                                „Chrystal Tesla“ entgegensetzt, die nicht
                                 nur andere Maschinen gegen die heu-
                                 tige Kybernetik entwickelt hat, sondern
                                 sich auch fragt, ob es sinnvoll ist, diese
                                 im Kunstkontext zu zeigen.

                Elena Asins
       Ludwig Wittgenstein.
      Zettel. Modular group
               (0 to 5), 1987
Courtesy Archivo Lafuente,
            Heras, SPANIEN

         Kathrin Stumreich
“What would Ted Kaczynski’s
      daughter do...?”, 2016
       Ausstellungsansicht,
     Ars Electronica Center,
                  Linz, 2016.
  © Magdalena Sick-Leitner
      © Kathrin Stumreich
     © Bildrecht Wien, 2020
                  21
Die kybernetische Vernunft geht in ih-
rem neutralen Vertrauen auf sich selbst
regelnde Systeme von vielen unmar-
kierten Normalitäten und Standards
aus, die unseren visuellen Alltag be-
stimmen. Die Kritik daran beschränkt
sich leider oft darauf, dass es sich um
normative, verhängte Standards han-
delt, ohne zu thematisieren, wovon
sie handeln: Das menschliche Gesicht
und seine Lesbarkeit dienen nicht nur
der Kontrolle, sondern auch der Fixie-
rung von Gender. Malerei ist klassisch,
das stark formende, freie, aber auch
                                            Eleanor Antin, Representational Painting,
männliche Medium. Eleanor Antin, die        1971, Filmstill
schon in den 1970er-Jahren viele Alter      Courtesy die Künstlerin und Electronic
Egos diesseits und jenseits einer binären   Arts Intermix (EAI), New York

Geschlechterordnung entwickelt hat,
malt in diesem Sinne ein/ihr Gesicht.

In Adrian Pipers Arbeit treffen sich kon-
zeptuelle und performativ-partizipative
Ideen-Maschinen. Die Ideen verlassen
den linguistisch-immateriellen Him-
mel und gehen auf die Straße. Piper
hat in diesen Arbeiten schon Ende der
1960er- und Anfang der 1970er-Jahre die
idealistisch-bürokratische Dimension
konzeptueller Kunst kritisiert, sei es in
der Catalysis-Serie mit ihren antizipa-
tive Konditionierungen aufbrechenden
Straßenperformances, sei es durch die
Erfindung des als unerwartete Figur
auftretenden, selbst gespielten Cha-
rakters „Mythic Being“.                     Adrian Piper, The Mythic Being, 1973
                                            Ausschnitt aus dem Film Other Than Art‘s
                                            Sake des Künstlers Peter Kennedy, Filmstill
Die Kontrollinstrumente der Kybernetik      Sammlung der Adrian Piper Research
können zur künstlerischen Produktion        Archive (APRA) Foundation Berlin
genutzt werden. Für Gema Intxausti          © APRA Foundation Berlin

ist der Fotoautomat, auf dessen Kon-
struktion nicht zuletzt jeder Pass und
          22
Douglas Huebler, Crocodile Tears II: The Great Corrector (Mondrian III), 1989
Courtesy Musée d’art contemporain de Lyon, Lyon. © Bildrecht Wien, 2020

jeder Personalausweis basiert, auch            Der klassische Konzeptualismus fragte,
der klassische Ort des Spiels und einer        ob eine Idee eine Maschine sein könne,
gewissen Travestie. Der Kraft des Ano-         die Kunst produziert. Postklassischer
nymen muss die kybernetische Kontrolle         Konzeptualismus überlegte, ob eine
immer neue identifizierende Mittel ent-        Idee überhaupt nötig sei. Vielleicht
gegensetzen. Es ist ein klassisch armer        reiche es, so Douglas Huebler, jeden
Ort, an dem diese Auseinandersetzung           Menschen auf der Welt zu fotografieren,
hier stattfindet.                              nach und nach. Doch hier erweist er, er-
                                               kennbar amüsiert, einem (unbekannten)
                                               Künstler Tribut, der alles konnte, aber
           23
dessen handwerkliches Talent von der
konzeptualistischen Kybernetik und
ihrer Fetischisierung der Idee abge-
wertet wurde. Aus Wut korrigierte der
so Verkannte große Werke ideenbasier-
ter Kunst wie die von Mondrian nach
seinen angeblich besseren handwerk-
lichen Kriterien.

 Was nicht im Lehrplan steht – die be-
 rühmt-berüchtigten extracurricular
 activities an amerikanischen Colleges
–, produziert Monster. Diese normativ
 durchregulierte Freizeit von Cheerlea-
 dern und Sportskanonen lässt Mike
 Kelley mit der behaviouristischen Ky-
 bernetik eines Affenforschers und den
 modernistischen Choreografien Mar-
 tha Grahams zusammentreffen.

Feministische Spieler*innen ändern
die kybernetisch verwalteten Moden
und Modi des geschlechtsspezifischen
Rollenverhaltens – durch Rollenspie-
le, doch solche einer anderen Art. Die
Künstlerinnen knüpfen an die Kultur der
LARPs (Live Action Role Plays) an, aber
aus einer ortsspezifischen und feminis-
tischen Perspektive. (Ana de Almeida,
Alicja Rogalska & Vanja Smiljanić)
          24
LINKS                                                         Ana de Almeida,
Mike Kelley, Test Room Containing Multiple Stimuli Known to   Alicja Rogalska &
Elicit Curiosity and Manipulatory Response, 1999, Filmstill   Vanja Smiljanić,
                                                              NOVA, 2020
GANZ LINKS
                                                              Productionstill
Mike Kelley, A Dance Incorporating Movements Derived from
                                                              © die
Experiments by Harry F. Harlow and Choreographed in the       Künstlerinnen &
Manner of Martha Graham, 1999, Filmstill                      Kunsthalle Wien,
Courtesy Electronics Art Intermix, New York und Mike          2020
Kelley Foundation for the Arts, Los Angeles
© Bildrecht Wien, 2020
             25
Coleman Collins, Guilt Coin, 2020
Courtesy DER KÜNSTLER

Dass im Deutschen Schuld und Schul-        die Schwarmintelligenz oder ameisen-
den, also kapitalistische und mora-        hafte Ambitioniertheit von Gitarreros,
lisch-ethische Kontrolle, den gleichen     die sich – gewissermaßen – als Arbeits-
Namen tragen, war für Coleman Col-         speicherleistung selbst darstellen.
lins eine der Inspirationen, die von der
ultrakybernetischen Bitcoin-Währung        In seiner kurzen Regierungszeit, die
abgeleiteten Guilt Coins zu entwickeln.    durch einen US-gestützten faschisti-
Sie können sie hier erwerben, denn wir     schen Putsch am 11. September 1973
gehen davon aus, dass Sie sich schuldig    beendet wurde, hat Salvador Allende
fühlen, schuldig sind.                     den bekannten britischen Kybernetiker
                                           Stafford Beer mit der Gründung des
Tutorials als eine Form der Kybernetik     Cybersyn-Instituts beauftragt, das den
der Armen waren eine Unterkatego-          Aufbau der sozialistischen Wirtschaft
rie unserer Vorläuferausstellung in der    nach neuesten kybernetischen Metho-
Tabakalera im Baskenland. Hier treffen     den regeln sollte. Mario Navarro hat
(nicht immer naiver) Gebrauchswert­        diese Episode der Geschichte des chi-
optimismus, Zurichtung und Selbst-         lenischen Sozialismus als Film und in
zurichtung auf Wissensideale und           Multiples aufbereitet.
subversive oder verschwörungstheo­
retische Selbsthilfekonzepte. Cory
Arcangel lehrt uns die notorisch su-                                    RECHTE SEITE
perschwierige Virtuosität von Paganini,                              Mario Navarro
so wie Rechner die Welt verarbeiten und                                 Letter, 2020
kontrollieren: durch Akkumulation von            Courtesy der Künstler und Die Ecke,
unübersichtlich vielen Einzelleistungen,                        Santiago/Barcelona
          26
27
Kunstwerke können Container von un-
bestimmten, doch wohlbeschriebenen
Formen von Gebrauch sein. Sie sind wie
Applikationen (oder Apps), aber von
einer anderen Art. In dieser vielfältigen
Arbeit können Texte, Objekte, benutz-
bare Gegenstände und Performances
in teils unvorhersehbarer Weise ihrer
ihnen normalerweise zugeschriebenen
Logik widersprechen. (Jon Mikel Euba)

Wer nicht, wie einst Douglas Huebler,
einfach jede Person aufzeichnet, son-
dern jede Person, die einen bestimmten          Jon Mikel Euba, 29 Conditions for a Self-Imposition.
Ort betritt, erzeugt Überwachungs-              Setting of a Body that Is Made Available for Writing,
kunst – avant la lettre im Falle des Han-       2020, Ausstellungsansicht, Tabakalera 2020
nover’schen Pressefotografen Heinrich           Foto: Mikel Eskauriaza. Courtesy der Künstler und
Riebesehl, der im Jahr 1969 die Kunst           CarrerasMugica, Bilbao. © Bildrecht Wien, 2020

Heinrich Riebesehl, aus der Serie Menschen im Fahrstuhl, 20. 11. 1969, 1969
Courtesy Galerie Kicken Berlin. © Bildrecht Wien, 2020
           28
des Alltagsprotokolls — anders als Zeit-
genoss*innen wie On Kawara — als
fotografische Dokumentation einer
alltäglichen, berechenbaren Anony-
mität konzipierte.

Insistierende Wiederholung ist ein Feind
der Kybernetik und der Datensamm-
lung. Wiederholung aber wird Rhyth-
mus. Rhythmus wird synkopiert, wird
irregulärer Rhythmus, wird Tanz (Pedro
G. Romero, aber auch Lili Reynaud-De-
war). Romero lässt einen berühmten
Flamencotänzer ein normiertes, Verhal-
ten antizipierendes Sozialbau-Apart-
ment neu vermessen.

Die Technologien, die in der neuen Stadt
allgegenwärtig werden, interessieren
Isidoro Valcárcel Medina genau,
um jede Vorstellung von Effizienz zu
stören und sie nur sehr umständlich
zu nutzen. Von der Verwendung des
Telefons als künstlerisches Medium bis
zur Umwandlung des Galerieraums in
ein Büro für die Verwaltung von Ideen;
die mediale Natur der Technologie
wird zu einem bestimmten Zeitpunkt
zum neuen Material, das den Werken
des Künstlers Gestalt verleiht. Motores
(1973) präsentiert zwei Aufnahmen, die
auf der gleichen Strecke, aber mit zwei
verschiedenen Autos gemacht wurden:
einem Citroën Dyane (1973) 602 ccm
und einem Ford Zephyr (1954) 2270 ccm.

 Pedro G. Romero, Arquitectura prematura.
Archivo F.X. / La ciudad vacía / Comunidad,
                            2005, Filmstills
              Courtesy der Künstler und
          Galería Alarcón Criado, Sevilla
          29
Auch die Partitur war ein Unterthema           Weibliche Figuren klassischer progres-
der ersten Ausgabe von Cybernetics             siver Filme erheben sich gegen die Um-
of the Poor. Bei den Arbeiten von              stände ihrer fiktiven Tode, Exekutionen
Camila Sposati erscheint der Anwei-            eines nicht nur patriarchalen, sondern
sungsgestus des Notentextes als skulp-         immer schon vorbestimmten Plots, der
turale Form, die wiederum durch den            aus dem immateriellen Himmel der
tatsächlichen Instrumentencharakter            traditionellen Narrative und Ideen zu
der Skulpturen unterminiert wird: Man          stammen scheint (eine alte Tarnung der
kann die Partitur wirklich spielen.            herrschenden kybernetischen Ordnung).
                                               (Constanze Ruhm)

Constanze Ruhm
CRASH SITE / My_Never_Ending_Burial_Plot, 2010, Filmstill
Courtesy die Künstlerin und sixpackfilm
           30
Lili Reynaud-Dewar untersucht mit
                                         den Mitteln des Tanzes und des kör-
                                         perlichen Einsatzes institutionelle Ar-
                                         chitekturen der Kunst. Synkopierte
                                         afromodernistische Tänze testen nicht
                                         nur die Architektur eines Gebäudes, sie
                                         erweitern auch seine möglichen Nut-
                                         zungen und stellen den Blick auf weitere
                                         (unmögliche) Gebrauchswerte scharf:
                                         hier in Lili Reynaud-Dewars Film das
                                         polysoziale Multifunktionszentrum der
                                         kunsthalle wien sowie der Tabakalera
                                         in Donostia/San Sebastián, in dem die
                                         erste Episode von Cybernetics of­
Lili Reynaud-Dewar                       the Poor stattfand. ●
I Want All of the Above to Be the Sun
(Tabakalera), 2020, Filmstills
Courtesy die Künstlerin und LAYR, Wien
           31
case studies
— dokumente, materialien,
ergänzungen

                            Tafel 74 aus
                            Gesellschaft und
                            Wirtschaft, 1930
                            Courtesy Otto
                            and Marie
                            Neurath Isotype
                            Collection,
                            University of
                            Reading
    32
Otto Neurath und die                        Bänden (herausgegeben von Otto Neu-
Proto-Kybernetik                            rath – posthum –, Rudolf Carnap und
Otto Neurath war ein Wissenschafts­ Charles Morris), die in den 1950er-Jah-
aktivist. Er sah sein Projekt einer „Ein- ren das ursprünglich auf 26 Bände an-
heitswissenschaft“ als großes auf­kläre­ gelegte Projekt zusammenfassten, ver-
risches Vorhaben in der Tradition der öffentlichte der Semiotiker Morris seine
französischen Enzyklopädisten. Als Mit- „Foundations of the Theory of Signs“ und
glied des Wiener Kreises und Vertre- Abraham Edel seine „Science and the
ter seiner Wissenschaftsphilosophie         Structure of Ethics“.
des Logischen Empirismus (oder: Lo- Neuraths visuelles Programm wur-
gischen Positivismus) sah er sich als de nach seinem frühen Tod (1945 im
Gegner jeder Metaphysik. Diese Geg- britischen Exil) von seiner Frau Marie
nerschaft positivistischer Philosophie      Neurath, mit der er es gemeinsam
wurde vonseiten der Kritischen Theorie entwickelt hatte, fortgeführt – auch
aus Frankfurt, hier vor allem Max Hork- dies nimmt, unter anderen, nämlich an-
heimer, scharf attackiert – nicht zuletzt tikapitalistischen Vorzeichen, die global
wegen ihrer relativistischen Forderung verstandenen Symbole des digitalen
nach einer neutralen Wissenschaft. Neu- Zeitalters und die nun privatwirtschaft-
tral war der Sozialist Neurath aber au- lich verantworteten Ordnungen von
ßerhalb seiner Wissenschaftsphiloso- Verbindung, Vernetzung, Planung und
phie überhaupt nicht: Er leitete Ämter Quantifizierung vorweg.
zur Seuchenbekämpfung, ein „Gesell-
schafts- und Wirtschaftsmuseum“, war Situationismus gegen Kybernetik
eine zentrale Figur der Wiener Siedler- Die Gruppe SPUR, die sich kurz Deutsche
bewegung und generell des Roten Wien        Sektion der Situationistischen Interna-
und entwickelte ein System aus Bildzei- tionale (SI) nennen durfte, hasste, wie
chen, das gesellschaftliche Verhältnis- die SI allgemein, die Kybernetik sowie
se unabhängig von Bildungswissen zu- die an Kybernetik orientierte Informati-
gänglich machen sollte. Seine Idee einer onsästhetik des damals in Deutschland
alle Wissenschaften verbindenden Auf- sehr populären Max Bense und des in
klärung nahm viele der von den Kyber- Frankreich sehr populären Abraham
netiker*innen auf den Macy-Konferen- Moles. Die SPUR spielte Bense einen
zen diskutierten Anliegen vorweg, und       Streich, indem sie einen Vortrag des
Neurath glaubte an einen direkten Ästhetikers ankündigte, dann dessen
gesellschaftlich-gestaltenden Einfluss      Verhinderung bekannt gab und ihn
von Wissenschaft. Kybernetikbegründer durch eine Tonbandcollage ersetzte,
Norbert Wiener kannte sein von Promi- auf der er Unsinn redete, der seinem
nenten wie Bertrand Russell, Niels Bohr Publikum aber nicht als solcher auffiel.
und John Dewey unterstütztes „Unity Moles wurde von den Situationisten,
of Science Project”, fand es aber zu links. mit denen er erst zusammenarbeiten
In den zwei großen enzyklopädischen         wollte, nicht nur beschimpft, sondern
          33
später auch gezielt körperlich ange-        de Choreografie beeindruckte unter
griffen (Tomatenattentat).                  anderen einen der Begründer einer Ky-
                                            bernetik zweiter Ordnung, Heinz von
Software und Information                    Foerster, dermaßen, dass er Eshkol in
Der Kurator und Theoretiker Kynas-          den 1970ern an die NASA vermittelte, der
ton McShine und der Künstler, Kurator       sie bei der Vorbereitung auf die Schwe-
und Autor Jack Burnham bündelten            relosigkeit helfen sollte. Die Künstlerin
um 1970 die kybernetischen Anteile          Sharon Lockhart entdeckte das Werk
der konzeptuellen, prozessuellen und        Eshkols kurz nach deren Tod wieder
elektronischen Künste in Ausstellungen      und fotografierte unter anderem die
(McShine: Information im MoMA, New          originalen Globen.
York; Burnham: Software im Jewish
Museum, New York) und Überblicksdar-        Kybernetische Ökologie
stellungen (Burnham: Beyond Modern          1972 erscheint Die Grenzen des Wachs-
Sculpture). Während bei Burnham mehr        tums. Bericht des Club of Rome zur Lage
explizit an Kybernetik orientierte Künst-   der Menschheit, herausgegeben von
ler*innen vorgestellt werden (Enrique       Donella Meadows, Dennis Meadows
Castro-Cid, Nicolas Schöffer, Hans          und anderen. Die auf klassisch kyber-
Haacke), wird McShines Po­si­tion bes-      netischen Analysen der Parameter
ser durch den Katalog deutlich, den         menschlicher Existenz (Energieressour-
wir hier in Ausschnitten zeigen. In sei-    cen, Ernährung, Bevölkerungswachstum
ner epochemachenden Ausstellung             etc.) beruhende Studie wird oft als In-
Information waren viele anderweitig         itialzündung der Ökologiebewegung
berühmte Künstler*innen – von Yvonne        verstanden; auf jeden Fall trägt sie zur
Rainer bis Robert Smithson, von Ed          Konvergenz kybernetisch geprägter
Ruscha bis Jeff Wall, von Yoko Ono bis      und ökologischer Betrachtungen bei:
Michael Snow – in ihren „informations-      Es geht nun nicht mehr so sehr um
ästhetischen“ Phasen zu sehen.              Optimierung von einzelnen Systemen,
                                            sondern um einen Zusammenhang
Noa Eshkol und die Movement                 der Systeme im Bild des ausgebeu-
Notation / Sharon Lockhart                  teten Planeten, natürlich vorbereitet
Die israelische Künstlerin und Choreo-      durch das planetarische Denken der
grafin Noa Eshkol arbeitete seit 1951 an    kalifornischen Hippies (The Whole Earth
einem System, das über Tanznotation         Catalogue). Frederic Vester war ein Phy-
hinaus alle möglichen Bewegungen            siker, der in populärwissenschaftlichen
des menschlichen Körpers anschreiben        Büchern den Zusammenhang zwischen
können sollte. Dafür baute sie dreidi-      Vernetzung und Ökologie aufgriff und
mensionale Globen, füllte sie mit ide-      verbreitete. Mit seinem überaus erfolg-
altypischen Bewegungen und bildete          reichen Brettspiel Ökolopoly, das an
diese dann wieder zweidimensional ab.       Monopoly orientiert war, trug er diese
Die sehr formale, auf Musik verzichten-     Idee in die Kinderzimmer der 1980er-
          34
und 90er-Jahre. Seine Position steht         produced by a number of x sound sour-
aber auch für einen bio-/ökologisch          ces, which were unforeseeable in their
erweiterten Positivismus, der Interes-       chronological sequence, have been
senkonflikte und politische Gegensätze       referred to an information-esthetical
zu gleich wichtigen Systemfaktoren           reality, not a numeral reality, by me-
neutralisierte und „nach Vorbild der         ans of preliminarily given or self-sta-
Pflanze“ biologisierte.                      bilizing adjustable res. control circles
                                             and multiply reproduced micro-esthetic
 Kybernetische Musik                         single operation.“ Für die afrofuturis-
 Der Begriff der Kybernetik taucht in        tische Perspektive von Hieroglyphic
 der Musik in ganz unterschiedlichen         Being, der zeitgenössische elektroni-
 Formaten auf. In einer ersten Welle         sche Musik aus dem Post-Dub- und
 waren es vor allem die reichhaltigen       -Techno-Spektrum mit den Einflüssen
 Kontrollmöglichkeiten elektronischer        von afrofuturistischem Free Jazz zu-
 Studios und das Aufkommen subjekt­          sammenführt (unter Beteiligung von
 unabhängiger, aleatorischer und par-        Mitstreitern Sun Ras), gilt hingegen
 tizipativer Kompositionsstrategien, die     der Satz „Cybernetics is an Old Science“.
 als kybernetisch verstanden und/oder        Während die Synthesizer-Experimente
 deklariert wurden: In diesem Zusam-         von Tonto’s Expanding Head Band –
 menhang berief sich Lejaren Hiller          später als Synthesizer-Spezialisten an
 schon 1957 auf Kybernetik. Karlheinz        Tausenden von Produktionen von Ste-
 Stockhausens Kurzwellen verlangt von        vie Wonder bis Free Jazz und Hip-Hop
 den Ausführenden, auf das zu reagie-        beteiligt – 1971 einen Cybernaut ent-
 ren, „was im Radio läuft“, also etwas       werfen, für den die Datenwelt schon
 ganz Unvorhergesehenes, das den-            ein immersiver Erlebnisraum zu sein
 noch vorhergesehen werden muss.             scheint. Und wohingegen der Millen-
 In Pierre Henrys Mise en Musique du         nial-Synthie-Pop von Princess Chelsea
 Corticalart de Roger Lafosse werden Ge-     die Great Cybernetic Depression begeht,
 hirnströme in Klänge umgesetzt – Hen-       ist diese den Cybernetic:Fuckheadz,
 ry schrieb auch die Musik für Nicolas       Drum ’n’ Bass von der Jahrtausendwen-
 Schöffers kybernetische Oper Kyldex I       de, schon wieder schnuppe: Sie zelebrie-
– Kybernetisch-luminodynamische Expe-        ren den Cybernetic:Defect. Etwa zeit-
 rimente. In Roland Kayns programma-         gleich nehmen die späten Punker von
 tisch Kybernetische Musik genannten         Servotron gar ein altes Walt-Whitman-
 Kompositionen wird ein bestimmtes           Wort auf: I Sing! The Body Cybernetic.
 Manifest umgesetzt, das sich schon ge-
 gen mögliche Missverständnisse vertei-     Gedankendisziplin
 digt: Es handle sich nicht um „concrete,   Die Reputation der Kybernetik als
 electronic, computer music“, sondern       Zukunftstechnik schlechthin erreichte
 im Gegenteil um eine „music between        irgendwann auch den stets zukunftsori-
 these scopes: […] The acoustic signals     entierten, wenn auch zuweilen politisch
          35
überaus reaktionären Salvador Dalí,        (1979) zurück. Als er von der Presse nach
der allerdings auch immer schon eine       der Technik gefragt wurde, antwortete
Nähe zu Camp und einigen Protago-          er, er sei der einzige Maler, der die Ky-
nist*innen des queeren New York der        bernetik tatsächlich als künstlerische
1950er bis 70er hatte (beispielsweise      Technik einsetze, verstanden nämlich
zu Holly Woodlawn). 1960 wurde Dalí        als eine Gedankendisziplin.
eingeladen, bei der Fifth Annual Con-
vention on Visual Communications           Oswald Wiener / Axel Stockburger
im Waldorf Astoria in New York einen       Oswald Wiener veröffentlichte sein
Vortrag zu halten. Er schlug ein Video     Haupt­werk die verbesserung von mit-
vor, das er gemeinsam mit dem Fo-          teleuropa, roman im Jahr 1969. Schon
tografen Philippe Halsman im Studio        sehr früh also lieferte er damit, im Spe-
der damals avanciertesten Videotape        ziellen im Kapitel „notizen zum kon-
Productions of New York, Inc. drehen       zept des bio-adapters“, eine präzise
würde. Chaos and Creation (1960) gilt      kritische Extrapolation der kulturellen,
als eines der ersten (wenn nicht das       sozialen und politischen Auswirkungen
vielleicht allererste) Künstlervideos.     einer kybernetisch geregelten Welt, die
Darin argumentiert Dalí gegen die          nicht zuletzt zahlreiche Science-Fic­tion-
Zurückweisung des Fleischlichen und        Filme und kulturkritische Dystopien in-
Körperlichen in abstrakter Kunst und       spiriert hat. In dem Interview mit Axel
bemüht dafür kybernetische Theorien.       Stockburger von 2020 in dieser Aus-
Die Gleichsetzung der Kybernetik mit       stellung bezieht sich Wiener auf seine
Abstraktion in der Kunst lehnte er ab.     Überlegungen und Vorarbeiten aus
Er verfolgte diese Diskussion weiter in    den 1960er-Jahren und entwickelt eine
seiner Installation The Cybernetic Prin-   heutige Perspektive auf seine Thesen.
cess (1974), in der unter anderem eine
chinesische Mumie auftritt, die in Stoff   Kybernetik in Wien
eingewickelt ist, auf den kybernetische    In den 1950er-Jahren wurden an der
Berechnungen gedruckt sind. Seine be-      Technischen Universität Wien unter der
rühmte Begegnung eines Hummers             Leitung von Professor Heinz Zemanek
mit einem Telefon erscheint auch in        zentrale kybernetische Modelle erarbei-
einer typischen Traumlandschaft in der     tet, darunter von Zemanek selbst und
Lithografie Cybernetic Lobster Telepho-    Ewald Eichler die Künstliche Schildkröte.
ne (1975–1976), während man für seine      Ein umweltabhängiger Automat (1954),
Odalisque cybernétique (um 1978) aus       die auf William Grey Walters CORA auf-
einer Serie von Gemälden, die als Hom-     baut und bedingte Pawlow’sche Reflexe
mage auf den ungarischen Physiker          verkörpert. 1959 schuf Zemanek gemein-
und Holografie-Erfinder Dennis Gabor       sam mit Richard Eier das Modell Maus
entstand, 3D-Brillen benutzen muss. Da-    im Labyrinth. Dieses bezieht sich auf
rauf kommt er mit seinem Porträt des       das Thema der automatischen Orien-
spanischen Königs The Prince's Reverie     tierung und geht namentlich auf eine
          36
Heinz Zemanek,
      Richard Eier,
     Modell-Maus
     im Labyrinth,
             1959
        courtesy
     Technisches
Museum Wien, Wien

vom Informationstheoretiker Claude E.      re Verbindung treten. Die Abstraktion
Shannon entwickelte elektromechani-        der Strategie von den Kämpfen und
sche Maus-im-Labyrinth-Version zurück.     ihren Inhalten interessierte stets auch
In der Zeitschrift e & i. Elektrotechnik   Guy Debord, den Strategen der Situ-
und Informationstechnik ließ Zemanek       ationistischen Internationale. In Das
2004 „50 Jahre Kybernetik in Österreich“   Dritte Reich, einem von Bolaños ersten
Revue passieren.                           Romanen, der aber erst posthum ver-
                                           öffentlicht wurde, gibt es einen jungen
Roberto Bolaño und die Kriegsspiele        deutschen Costa-Brava-Touristen, der
Roberto Bolaño beschäftigte sich stets     professionell dasselbe Kriegsspiel spielt
mit der ungemütlichen Möglichkeit ei-      wie Debord: Im Spiel trägt der Deutsche
ner faschistischen Literatur – deren       den Zweiten Weltkrieg gegen einen la-
Einzugsgebiet in Südamerika der chi-       teinamerikanischen Saisonarbeiter mit
lenische Autor gerade entronnen war.       Folterspuren am Rücken aus. Bolaño
Doch auch im europäischen Exil setzte      besaß dieses Spiel und kannte es aus-
er sich mit Ernst Jünger und deutschen     wendig, die Aufzeichnungen in seinen
Weltkriegsromanen auseinander, lange       Notizbüchern sind ein beredtes Zeug-
bevor die Existenz sogenannter rechter     nis seines Versuchs, über das Spiel an
Intellektueller wieder Thema wurde         genau die Techniken von Antizipation
(siehe unter anderem seine Romane Die      und Feedback zu gelangen, aus denen
Nazi-Literatur in Amerika und Das Dritte   die Kybernetik im Zweiten Weltkrieg
Reich). Dabei ging es auch immer da­       entstanden ist: wie das Verstehen von
rum, wie Rechte und Linke und andere       Räumen, Territorien und Waffen mit der
Antagonisten durch die Kategorien der      Vorausberechnung menschlicher und
Strategie und des Spiels in eine prekä-    technischer Akteure zusammengeht. ●
         37
Paolo Cirio, Property, White House, 2019
Courtesy der Künstler und NOME, Berlin
künstler*innen- und werkliste

robert adrian x                             Display Artist, Harris Display, 1979
 Toronto, 1935;  Wien, 2015
                                            Barman, The Bull & Star, The Admiral
Theatre Usher, Royal Alexandra Theatre,     Keppel, The Quebec, 1979
1979
                                            Exhibition Officer/Designer, National Coal
Managing Partner, Fulham Artisans, 1979     Board, 1979

Packer and Transporteur, 1979               Art Mover, Jon Holt Fine Art Transport,
                                            1979
Hotel Desk Clerk, Albion Hotel, 1979
                                            Furniture Restorer, 1979
Display Designer, Vincent De Vita
Enterprises, 1979                           Painter and Decorator, Brian Pollard, 1979

Exhibition Sculptor, Ontario Dept. of       Gallery Assistant, Waddington’s Gallery,
Lands and Forests, 1979                     1979

Fruit Picker, 1979                          Fake Painter, Portobello Bookstore, 1979

Computer Clerk, Canadian Pacific            Houseman, 1979
Railway (Car Accounting), 1979
                                            Picture Framer, Lord’s Picture Framing,
Labourer, Toronto Parks Dept., 1979         1979

Scenic Artist Display Services, ABC         Film Extra “Hudson’s Bay” (TV Series) etc.,
Television, 1979                            1979

Baths Attendant, Fulham Borough               24 Figuren aus der Serie 24 Jobs, Fimo
Council (Public Baths), 1979                  (Knetmasse), Höhe je 9 cm

Art School Model, Ontario College of Art,   Courtesy mumok – Museum moderner
Putney Art School, 1979                     Kunst Stiftung Ludwig Wien, Wien,
                                            erworben 1980
Spray Painter, Spaldings Sporting Goods,
1979
           40
agentur                                     elena asins
Versammlung (Kybernetik der Armen), 1992—    Madrid, 1940;  Azpirotz, Navarra,
  Installation, verschiedene Materialien,   Spanien, 2015
  verschiedene Maße
                                            Ludwig Wittgenstein. Zettel. Modular
Dieses Projekt wurde in Kooperation mit     group (0 to 5), 1987
Tabakalera realisiert.                         Künstlerbuch, 28,5 × 22 cm
Courtesy List of Things
                                            Courtesy Archivo Lafuente, Heras,
                                            Spanien
ana de almeida,
alicja rogalska &
                                            paolo cirio
vanja smiljanić
                                             Turin, 1979
Ana de Almeida  Prag, 1987
lebt und arbeitet in Wien                   Property, White House,
Alicja Rogalska  Ostrołęka, Polen, 1979    Donald J. Trump, 2019
lebt und arbeitet in London                    Digitaler C-Print, 28 × 38,5 × 3 cm
Vanja Smiljanić  Belgrad, 1986
                                            Property, White House,
lebt und arbeitet in Köln
                                            Barack Obama, 2019
NOVA, 2020                                     Digitaler C-Print, 28 × 38,5 × 3 cm
  HD-Video
                                            Property, White House,
Courtesy die Künstlerinnen                  George W. Bush, 2019
                                               Digitaler C-Print, 28 × 38,5 × 3 cm
eleanor antin
                                            Property, White House,
 New York, 1935
                                            Bill Clinton, 2019
lebt und arbeitet in San Diego, CA
                                               Digitaler C-Print, 28 × 38,5 × 3 cm
Representational Painting, 1971
                                            Property, White House,
  Video, Schwarzweiß, ohne Ton, 38 min
                                            George H. W. Bush, 2019
Courtesy die Künstlerin und Electronic         Digitaler C-Print, 28 × 38,5 × 3 cm
Arts Intermix (EAI), New York
                                            Property, White House,
                                            Richard Nixon, 2019
cory arcangel
                                               Digitaler C-Print, 28 × 38,5 × 3 cm
 New York, 1978
lebt und arbeitet in Stavanger, Norwegen    Property, White House,
                                            Ronald Reagan, 2019
Paganini Caprice No. 5, 2011
                                               Digitaler C-Print, 28 × 39,5 × 3 cm
  Ein-Kanal-Video, Farbe, Ton, 3:41 min
                                            Property, White House,
Courtesy der Künstler
                                            John F. Kennedy, 2019
                                               Digitaler C-Print, 28 × 38,5 × 3 cm
           41
Property, White House,                     jon mikel euba
Franklin D. Roosevelt, 2019                 Amorebieta, Spanien, 1967
   Digitaler C-Print, 28 × 32 × 3 cm       lebt und arbeitet in Bilbao

Sociality, 2019                            29 Conditions for a Self-Imposition.
   Inkjet Prints, je 42 × 29,7 cm (A3)     Setting of a Body that Is Made Available
                                           for Writing, 2020
Courtesy der Künstler und NOME, Berlin
                                             Installation, verschiedene Maße
Capture, 2020
                                           400 Moves to Elude the Predictable, 2020
   Videoaktion Paris, Farbe, Ton, 6 min
                                             Videoinstallation, Doppelprojektion
Courtesy der Künstler
                                           Dieses Projekt wurde in Zusammenarbeit
                                           mit Tabakalera realisiert.
coleman collins
 Princeton, NJ, 1986                      Courtesy der Künstler und
lebt und arbeitet in New York              CarrerasMugica, Bilbao

Guilt Coin, 2020
                                           michael hakimi
   Installation, Performance,
                                            Eutin, Deutschland, 1968
   Finanzinstrument
                                           lebt und arbeitet in Berlin
   3D-Animation: Courtesy Sara Drake
   Musik: Courtesy Celia Hollander         All I know is it’s all related, maybe
                                           someone can explain why?, 2019
Courtesy der Künstler
                                             Bleistift auf Papier, 21 × 14,8 cm
                                             (gerahmt: 33,4 × 27,2 cm)
salvador dalí & philippe halsman
Salvador Dalí  Figueres, Spanien, 1904;   Abfall, 2019
 Figueres, 1989                             Bleistift auf Papier, 21 × 14,8 cm
Philippe Halsman  Riga, 1906;               (gerahmt: 33,4 × 27,2 cm)
 New York, 1979
                                           Ohne Laune, 2019
Chaos and Creation, 1960                     Bleistift auf Papier, 21 × 14,8 cm
   Video, Schwarzweiß, Ton, 18 min           (gerahmt: 33,4 × 27,2 cm)

Courtesy Philippe Halsman Archive, New     Why can’t I B U?, 2019
York. © Philippe Halsman Archive &           Bleistift auf Papier, 21 × 14,8 cm
Fundació Gala–Salvador Dalí                  (gerahmt: 33,4 × 27,2 cm)

                                           Die, 2019
hanne darboven
                                             Bleistift auf Papier, 21 × 14,8 cm
 München, 1941;  Hamburg, 2009
                                             (gerahmt: 33,4 × 27,2 cm)
Theatre, 1987
                                           Hammerverkäufer, 2019
   Offsetlithografie, 60 × 53 cm
                                             Bleistift auf Papier, 21 × 14,8 cm
Courtesy Raphaela Vogel                      (gerahmt: 33,4 × 27,2 cm)
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