KWA-REPORT - Perspektiven auf eine umstrittene Behörde
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KWA-REPORT Perspektiven auf eine umstrittene Behörde Ausschuss Erwerbslosigkeit, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik (ESA)
INHALT Vorwort von Gudrun Nolte, KWA 3 Einleitung: Jobcenter in Bewegung 4 JOBCENTER DER ZUKUNFT 1. „Passt das wirklich in die Biografie des Kunden?“ Das Jobcenter als Arbeitsvermittler 6 2. „ Jeder, der sich weiterbilden möchte, sollte die Chance dazu haben.“ Das Jobcenter als Bildungsagentur 8 3. „ Da gehören Menschen hin, die eine sozialpsychologische Zusatzqualifikation haben.“ Das Jobcenter als Begleiter in schwierigen Lebenslagen 10 4. „ Vertrauen kann sich gar nicht aufbauen, weil es immer mit Geld zu tun hat.“ Das Jobcenter als Garant des Lebensunterhalts 12 5. „Wie soll das gehen, wenn die Leute überfordert sind?“ Das Jobcenter zwischen Fördern und Strafen 14 6. „Es muss die schönsten Räume für die ärmsten Menschen geben.“ Das Jobcenter als Gebäude 18 7. „Es wäre schön, ein Stück Vereinfachung in die Zukunft zu retten.“ Visionen der Interviewten für das Jobcenter 20 8. Jobcenter der Zukunft – Existenzsicherung neu denken Zeit für einen Neuanfang Gastkommentar von Maria Loheide, Diakonie Deutschland 23 9. Die Würde wieder herstellen Eine biblische Perspektive von Ralf Weidner, Ev. Kirche von Kurhessen-Waldeck 25 10. Zehn Thesen für das Jobcenter der Zukunft Impuls des KWA 27 Links & Literatur30 Impressum 31 KWA-Ausschuss Erwerbslosigkeit, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik 31 2 KWA-REPORT
VORWORT Gudrun Nolte Vorsitzende des Evangelischen Verbandes Kirche-Wirtschaft-Arbeitswelt (KWA), Hannover LIEBE LESERINNEN UND LESER! A n der Grundsicherung für Arbeits werbslosenberater*innen geführt. Den authen suchende scheiden sich die Geister. tischen Stimmen dieser Praxis-Expert*innen, Kaum ein Sozialgesetz ist so umstritten ihrer Kritik und ihren Ideen, wird hier Raum ge- wie Hartz IV. Dasselbe gilt für die Behörde, die geben. Die Interviews haben den KWA auch zu für dessen Umsetzung verantwortlich ist: das einer eigenen Vision für ein Jobcenter der Zu Jobcenter. kunft angeregt, die wir am Ende der Publikation in zehn Thesen zur Diskussion stellen. Einerseits ist das Jobcenter eine wesentliche Säule unserer gesellschaftlichen Solidarität. Ich möchte mich bei den Mitgliedern des ESA- Millionen Haushalte in Deutschland sind auf Ausschusses, die in ihren jeweiligen Landes seine Geldzahlungen und Fördermaßnahmen kirchen Fachleute für dieses wichtige Themen existenziell angewiesen. Andererseits ist es für feld sind, herzlich für die Erarbeitung des viele Menschen ein Ort, der mit dem Stigma der KWA-Reports bedanken. Ein großes Danke Armut verbunden ist und Ängste erzeugt. schön geht zudem an die Nürnberger Illustra torin Käthe Leipold, die das Thema mit der Doch das Jobcenter befindet sich im Wandel. Geschichte von der Erwerbssuchenden Lisa Inzwischen werden in fast allen Parteien grund- und dem Jobcenterangestellten Emre ein- legende Reformen an Hartz IV gefordert. Schon drucksvoll in die Bildsprache einer Graphic in der Coronakrise haben sich viele Regeln ge- Novel übersetzt hat. ändert. Nach der Bundestagswahl 2021 könnte ein Umbau dieser Behörde weit oben auf der Mein besonderer Dank gilt dem Vorstand der politischen Agenda stehen. Diakonie Deutschland für den Gastkommentar und die fachliche Zusammenarbeit. In einer ge- Mit diesem Report will der KWA als kirchlicher meinsamen Online-Fachtagung werden Dia Verband einen Beitrag zur Diskussion um die konie und KWA ihre Positionen zum Jobcenter Zukunft des Jobcenters leisten. Unser Aus der Zukunft vorstellen und mit Politiker*innen gangspunkt sind nicht statistische Zahlen, son- diskutieren. dern die Menschen, die das Jobcenter aus per- sönlicher Betroffenheit oder durch ihre tägliche Ich wünsche Ihnen eine gewinnbringende Arbeit genau kennen. Unser Bundesausschuss Lektüre! „Erwerbslosigkeit, Sozial- und Arbeitsmarkt politik“ (ESA) hat deshalb Interviews mit Leis tungsberechtigten, Jobcenterbeschäftigten, Er KWA-REPORT 3
EINLEITUNG JOBCENTER IN BEWEGUNG Das Jobcenter ist die wichtigste Institution zur Bekämpfung der Armut in Deutschland. Menschen in vielfältigen Notlagen wenden sich an diese Behörde: Langzeitarbeitslose und Geringverdienende, Soloselbstständige mit unregelmäßigen Einnahmen, Alleinerziehende, Menschen mit fehlenden Bildungsabschlüssen und gebrochenen Erwerbsbiografien, mit Erkrankungen, Suchtproblemen, Überschuldung oder Fluchterfahrung. Bundesweit gibt es 406 Jobcenter. Sie sind Anlaufstellen für mehr als fünf Millionen Bürgerinnen und Bürger, die „Hartz IV“ beziehen. D as Jobcenter ist für sie ein Garant ihrer den Einführung des Namens „Jobcenter“ – Existenzsicherung und doch umstritten scheinen manche Arbeitsweisen und Prinzipien und angstbesetzt wie kaum eine andere dieser Behörde in Bewegung zu geraten. Früher Behörde. Es bietet ihnen Förderung und Unter gehörte das unbedingte Aktivieren von Men stützung, aber kann bei Fehlverhalten das Geld schen zu den ehernen Prinzipien des Job für den Lebensunterhalt bis unter das Exis centers. Das vorrangige Ziel war es, Menschen tenzminimum kürzen. Das Jobcenter engagiert mit Druck aus dem Leistungsbezug heraus- sich für Teilhabe und Integration, ist aber auch und in den ersten Arbeitsmarkt hineinzuholen. gekennzeichnet durch eine Regelungsdichte Doch Reformen wie das Teilhabechancengesetz und Bürokratie, an der Leistungsberechtigte (2019) gaben Erwerbssuchenden mit vielfachen wie Mitarbeitende mitunter verzweifeln. Vermittlungshemmnissen wieder mehr Zeit für ihre Stabilisierung und Integration. Die Corona krise führte zudem zu einem zwischenzeit- ABSCHIED VON HARTZ IV? lichen Bürokratieabbau. Hürden zu den Sozial Heute – 16 Jahre nach der Einführung von leistungen des Jobcenters wurden verringert, Hartz IV und 10 Jahre nach der flächendecken Kindergeldzuschläge bedürftigen Familien nicht 4 KWA-REPORT
DAS JOBCENTER … … ist die deutsche Behörde, die für Hartz IV Grundsicherung für Arbeitsuchende, geregelt zuständig ist. Die Hartz-Kommission hatte im im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Jahr 2002 empfohlen, die damals verstaubt Die meisten deutschen Kommunen bildeten zur anmutende Arbeits- und Sozialverwaltung zu Durchführung des Gesetzes Arbeitsgemein revolutionieren und allen erwerbsfähigen Hilfe- schaften mit der Bundesagentur für Arbeit. Seit bedürftigen Dienstleistungen aus einer Hand 2011 heißen diese Behörden flächendeckend anzubieten. Die Arbeitslosenhilfe und die kom- Jobcenter. 104 Jobcenter befinden sich in munale Sozialhilfe wurden daraufhin im Jahr alleiniger Trägerschaft von Kommunen, der 2005 zusammengelegt. Seitdem gibt es die sogenannte „Optionskommunen“. mehr auf das Existenzminimum angerechnet, in 30 Gesprächen insgesamt 34 Personen Sanktionen vorübergehend ausgesetzt. In ver- befragt, darunter Leistungsberechtigte und schiedenen politischen Parteien wird nun der Er werbslosenberater*innen, Jobcenter-Mit Wunsch immer lauter, noch weiter gehende arbeitende und Geschäftsleitungen, Verant Reformen an der Grundsicherung für Arbeits wortliche von Beschäftigungsinitiativen und suchende vorzunehmen und das negative öf- Maßnahmenträger*innen. Die Interviews, die fentliche Image von Hartz IV endgültig abzu- wir teils anonymisierten, wurden quer durch schütteln. Deutschland in 16 Städten gesammelt. Sie zeigen ein vielfältiges und kontroverses Bild Die Zukunft des Jobcenters könnte also ganz des Jobcenter-Alltags, wenn auch kein reprä anders aussehen als seine Gegenwart. Aber sentatives Abbild im statistischen Sinne. Sie wie? Welche Ideen gibt es für eine effiziente reflektieren nicht alle verwaltungstechnischen und zugleich menschenfreundliche Behörde? Details, aber werfen authentische Schlaglichter Welche derzeitigen Strukturen und Instrumente auf tatsächlich erlebte Probleme und Erfolge sollten erhalten, welche verworfen werden? dieser Behörde. Wir gewinnen Einblicke in Wie lässt sich das Jobcenter weiterentwickeln, das Erfahrungswissen, die Kritik und auch die damit es seine grundlegenden Versprechen gut Zukunftsvisionen von Menschen, die das Job einlösen kann: Teilhabe zu sichern und Men center von innen kennen und intensiv erleben. schen in Arbeit zu bringen? Angeregt von den 30 Gesprächen hat der KWA zehn Thesen für die Weiterentwicklung des Job 30 GESPRÄCHE – 10 THESEN centers formuliert. Sie sollen ein Anstoß sein, Der Evangelische Verband Kirche-Wirtschaft- Hartz IV und seine behördliche Praxis neu zu Arbeitswelt (KWA) hat sich zur Beantwortung denken und engagiert zu diskutieren – gerade dieser Fragen nicht an die Politik oder die auch vor und nach der Bundestagswahl 2021. Wiss enschaft gewandt, sondern an Praxis- Denn kaum eine Institution wird für den Zusam Expert*innen, die das Jobcenter aus eigener menhalt unseres Gemeinwesens so entschei- Erfahrung kennen. Für diesen Report wurden dend sein wie das Jobcenter der Zukunft. KWA-REPORT 5
JOBCENTER DER ZUKUNFT 1. „PASST DAS WIRKLICH IN DIE BIOGRAFIE DES KUNDEN?“ DAS JOBCENTER ALS ARBEITSVERMITTLER Das Jobcenter ist – anders als sein Name nahelegt – weit mehr als eine Behörde, die Jobs vermittelt. In der Jobvermittlung liegt nicht einmal der Schwerpunkt seiner Arbeit. Denn nur der kleinere Teil der von ihm betreuten Menschen steht dem Arbeitsmarkt überhaupt zur Verfügung. Eine Mehrheit von 55 Prozent der Leistungsberechtigten ist nicht zur Arbeitssuche verpflichtet, zum Beispiel weil sie derzeit kleine Kinder betreuen, Angehörige pflegen oder gesundheitlich zu stark eingeschränkt sind (IAB-Kurzbericht 23/2020). Und auch für diejenigen, die in den Arbeitsmarkt integriert werden sollen, ist der Weg dorthin oft weit. In vielen Fällen geht es erst einmal darum, überhaupt die Voraussetzung für eine spätere Arbeitsaufnahme zu schaffen. 6 KWA-REPORT
VERMITTLUNG MIT BEGRENZTEM ERFOLG I m Spiegel unserer Interviews erscheinen die Erfolge des Jobcenters als Beschäfti gungsvermittler begrenzt. Eine Erwerbslose aus Schleswig-Holstein, die anonym bleiben möchte, gibt ein Beispiel eines gescheiterten Versuchs der Arbeitsvermittlung: „Ich habe zum Beispiel einen Vorschlag bekommen für einen Job in einer Pralinenfabrik in B. Wie soll ich von „Wir müssen uns davon verab M. nach B. kommen? Die Schicht in der Fabrik schieden, dass alle Menschen hier beginnt um sieben Uhr. Von hier fährt ein Bus in dieser digitalisierten Welt noch erst um sechs Uhr und braucht knapp zwei einen Arbeitsplatz finden.“ Stunden. Das ist unmöglich zu schaffen.“ Heike Tempel, Arbeitslosenzentrum München-Nord Waltraud Reimann aus Freiburg, ehemals lang- zeitarbeitslos, bemängelt, dass die Beratungs gespräche im Jobcenter zu stark von Ver aussuchen und Bewerbungen hierzu schreiben, waltungsarbeit geprägt sind: „Vermittlung ohne dass man dafür die Arbeitsvermittlung be- heißt, man geht die ganzen Stellenanzeigen nötigen würde. Gut ist dies für eher unselbst- durch. Das wurde relativ kurz abgehandelt, ständige Kunden vom Jobcenter.“ dann musste was ausgedruckt werden, dann musste eine neue Eingliederungsvereinbarung Arbeitssuchende und Arbeitsstellen kommen unterschrieben werden, dann musste der nach diesen und ähnlichen Erfahrungen nur Bogen mit den bereits erfolgten Bewerbungen schwer zusammen, sei es wegen des un irgendwie abgezeichnet werden – also sehr viel passenden Stellenangebots, der mangelnden Verwaltung und zu wenig mein persönliches Qualifikationen oder der fehlenden Zeit der Bedürfnis.“ Arbeitsv ermittler*innen im Jobcenter. Ilse Valentin von der kirchlichen „Hilfe im Nordend“ Ein 30-jähriger Erwerbsloser aus Celle wie in Frankfurt am Main kritisiert: „(…) es wird derum kann für sich wenig Nutzen im Stellen einfach nicht geguckt, passt das wirklich in die angebot des Jobcenters erkennen: „Die Ar Biografie des Kunden? Sondern, wenn eine beitsvermittlung übernimmt nur das, was man Stelle frei ist, wird der Kunde dorthin vermittelt. auch selbst leisten kann. Die Vermittlungs Der Kunde, die Kundin muss das auch anneh- vorschläge kann man sich selbstständig her men, denn wenn er oder sie absagt, gibt es DAS TEILHABECHANCENGESETZ … … erweitert seit 2019 die staatlich geförderten Personen, die sechs Jahre oder länger Möglichkeiten zur Eingliederung und Teilhabe Arbeitslosengeld II (Hartz IV) beziehen, können von besonders arbeitsmarktfernen Erwerbs bei einer Arbeitsaufnahme sogar bis zu fünf losen. Erstmalig müssen geförderte Arbeits Jahre lang gefördert werden. Sie sollen so plätze dabei nicht mehr wettbewerbsneutral, wieder eine Chance auf längerfristige sozial zusätzlich und gemeinnützig sein. Arbeitslose, versicherungspflichtige Beschäftigung die über 25 Jahre alt und mindestens zwei erhalten, sei es in Sozialbetrieben oder am Jahre arbeitslos gemeldet sind, können bei der allgemeinen Arbeitsmarkt. Beschäftigten Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen wie Unternehmen wird eine Begleitung der Tätigkeit bis zu zwei Jahre lang durch Lohn Maßnahme angeboten, damit das Arbeitsver- kostenzuschüsse unterstützt werden. hältnis stabil bleibt. KWA-REPORT 7
JOBCENTER DER ZUKUNFT möglicherweise Sanktionen, deswegen ent- Der mit dem Teilhabechancengesetz von 2019 steht solch ein Druck. So entwickelt sich da- erfolgte Einstieg in den Sozialen Arbeitsmarkt raus kein langfristiges Arbeitsverhältnis.“ wird in den Gesprächen ganz überwiegend ge- lobt. Die neuen Förderinstrumente, durch die Menschen oft nach langer Zeit erstmals wieder STABILISIEREN STATT VERMITTELN eine Chance auf längerfristige und sozialver Zugleich stellt eine Reihe von Interviewten das sicherte Beschäftigung erhalten, erreichen ganze Unterfangen der Arbeitsvermittlung für derzeit etwa 50.000 Menschen bundesweit. In einen Teil der Leistungsberechtigten grund unseren Interviews wird ein weiterer Ausbau sätzlich infrage. Heike Tempel, Erwerbslosen und eine Verstetigung solcher Beschäftigung beraterin in einem Münchner Arbeitslosen für besonders arbeitsmarktferne Erwerbssu zentrum, ist der Meinung, „dass wir uns davon chende gefordert. Simone Burger, als Gewerk verabschieden müssen, dass alle Menschen schaftsvertreterin Mitglied im Münchner Job hier in dieser digitalisierten Welt noch einen center-Beirat, wünscht sich allerdings auch Arbeitsplatz finden. Ich glaube, wir müssen mal Änderungen am Teilhabechancengesetz. Die anerkennen, dass es vielleicht zwanzig Prozent Förderung müsse entfristet werden und dürfe gibt, die das nicht können. Bei denen geht es nicht von Jahr zu Jahr abschmelzen, da sie nicht mehr ums Vermitteln, sondern eigentlich sonst für Menschen mit dauerhaften Ein ums Stabilisieren.“ schränkungen keine Lösung sei. 2. „JEDER, DER SICH WEITERBILDEN MÖCHTE, SOLLTE DIE CHANCE DAZU HABEN.“ DAS JOBCENTER ALS BILDUNGSAGENTUR Das Jobcenter vermittelt nicht nur Arbeit, sondern auch Bildung – wenn auch in einem spürbar geringeren Maße als etwa die Arbeitsagenturen, die Menschen im Bereich der Arbeitslosenversicherung betreuen. Das Gros der Bildungsmaßnahmen der Jobcenter ist eher kleinteilig und kurz, in teurere Ausbildungen wird seltener investiert. Im Jahr 2018 gab der Bund für die Aus- oder Weiterbildung von Langzeiterwerbslosen in den Jobcentern durchschnittlich 331 Euro pro Person aus, während die Weiterbildung der Erwerbslosen in den Arbeitsagenturen mit durchschnittlich 1605 Euro pro Person gefördert wurde (IW-Kurzbericht 45/2019). manchmal nicht einmal anwesend seien und ES FEHLT AN PASSGENAUIGKEIT die Inhalte am Bedarf vorbeigingen. Eine lang- I n unseren Interviews werden die Bildungs zeiterwerbslose Restaurantfachfrau aus Gießen maßnahmen in ähnlicher Weise kritisiert wie beschreibt ein Bewerbungstraining als Maß die Arbeitsvermittlung: Es fehle an indivi nahme, die sie „allein vor dem PC“ abgesessen dueller Passgenauigkeit. Die Geschäftsführerin habe. Christiane Rouini, alleinerziehende Mutter einer kommunalen Beschäftigungsgesellschaft von sechs Kindern aus Erfurt, hält Bewerbungs in Vorpommern berichtet, dass sie von Weiter trainings generell für wenig sinnvoll: „Wir brau- bildungsteilnehmenden wenig Gutes höre. Diese chen mehr berufliche Bildung oder Schulaus beklagten, dass die eingeplanten Dozent*innen bildung, die zu einem Beruf führt.“ 8 KWA-REPORT
Ein-Euro-Jobs machen, dann ist das sehr ent täuschend und keine Hilfe.“ Es gibt andererseits auch Zufriedenheit und Erfolgsmeldungen. Unsere Gesprächspartnerin Carmen Giss, zum Zeitpunkt des Gesprächs Geschäftsführerin des Jobcenters in Oldenburg, berichtet davon, dass die Weiterbildung inzwi- schen deutlich reibungsloser funktioniere als noch zehn Jahre zuvor und auch bessere Be wertungen der Teilnehmenden erhielte: „Schul note 2,3“. Ein junger erwerbsloser Mann aus Gießen erzählt, dass er durch eine geförderte Bildungsmaßnahme eine Ausbildungsstätte ge- „Wir brauchen mehr berufliche Bildung oder Schulausbildung, funden habe. die zu einem Beruf führt.“ Christiane Rouini, alleinerziehende Mutter von sechs Kindern aus Erfurt ANREIZE UND ANSPRÜCHE AUF BILDUNG Viele Interviewte stimmen in dem Punkt über- Eine erwerbslose Frau aus Schleswig-Holstein ein, dass Qualifikationen gerade für arbeits- verleiht ihrer Enttäuschung Ausdruck: „Ich habe marktferne Erwerbslose wesentlich seien und immer gedacht, dass das Jobcenter einem hilft ausgebaut werden müssten. So auch Anette weiterzukommen und Unterstützung bietet in Farrenkopf, Geschäftsführerin des Jobcenters der Entwicklung von Perspektiven. Wenn man München, die für höhere finanzielle Anreize zur dann aber gleich eingestuft wird als nicht ge- Weiterbildung plädiert. Simone Burger, Beirätin eignet für den Arbeitsmarkt und deshalb keine desselben Jobcenters, pocht auf rechtliche An Umschulung oder Weiterbildung bekommt, son- sprüche: „Jeder, der sich wirklich weiterbilden dern einem gesagt wird, dass man einfach so möchte, sollte auch die Chance dazu haben. weitermachen soll, also im Bezug bleiben und Die Mittel müssen zur Verfügung stehen.“ KWA-REPORT 9
JOBCENTER DER ZUKUNFT 3. „DA GEHÖREN MENSCHEN HIN, DIE EINE SOZIALPSYCHOLOGISCHE ZUSATZQUALIFIKATION HABEN.“ DAS JOBCENTER ALS BEGLEITER IN SCHWIERIGEN LEBENSLAGEN Das Jobcenter ist Anlaufstelle für Menschen mit vielfältigen sozialen Problemen. Aufgabe des Jobcenters ist deshalb oft zunächst das Stabilisieren in der gegenwärtigen Lebenssituation. Dass die Behörde dieser Aufgabe personell gewachsen ist, sehen einige Interviewpartner*innen skeptisch. Sowohl hinsichtlich des Personalschlüssels als auch in Bezug auf die Qualifikationen des Personals gibt es Kritik. tenzen.“ Da das Jobcenter die Lebenslagen der Zielgruppe oft nicht verstehe, hätten bisher oft Beratungsstellen und Bildungsträger außerhalb des Jobcenters die Aufgabe übernommen, mit den Leistungsberechtigen passgenaue Ideen zu entwickeln. Ebenso gibt es aber auch die Erfahrungen, dass sich Mitarbeiter*innen trotz hohen Arbeits drucks auf die Situation der Leistungsberech tigten einlassen. So erzählt die gelernte Bank „Ich habe keine Probleme mit den kauffrau Sabine Schwager aus Erfurt: „Als ich Vermittlern. Sie sind immer sehr zu einem Zeitpunkt krank geworden bin und die unterstützend.“ bis dahin rabiate Mitarbeiterin im Jobcenter das Sabine Schwager, Sozialberaterin bei merkte, war sie wie ausgewechselt. Ich habe TALISA Erfurt, zuvor erwerbslos keine Probleme mit den Vermittlern. Sie sind immer sehr unterstützend.“ Eine in vielen Interviews wiederkehrende DIE ZIELGRUPPE VERSTEHEN Beobachtung: Es ist die hohe Fluktuation des A us Sicht der Beraterin Ilse Valentin aus Jobcenterpersonals, die die Zusammenarbeit Frankfurt sollte das Jobcenter perso- mit den Erwerbslosen erschwert. So litt Wal nell auf Pädagog*innen und Sozial traud Reimann aus Freiburg als Leistungs psycholog*innen setzen und weniger auf Ver bezieherin darunter, dass die für sie zuständige waltungsfachwirt*innen: „Ich würde erst einmal Ansprechperson ständig wechselte: „Und da innerhalb des Jobcenters das Personal auf war halt nichts mit Kontinuität und ja, das war stocken. Ja, dass die mehr Zeit haben. Ich stressig. Ich musste halt als Kundin immer von denke nicht, dass die Mitarbeitenden schlechte vorne anfangen, immer meinen Werdegang von Arbeit machen, sondern glaube, sie haben ein- Neuem erzählen.“ fach keine Zeit. Ich finde zudem, dass sie eine sozialpsychologische Zusatzqualifikation ma- Wolfdieter Laux, Sprachausbilder für Migrant* chen sollten. Verwaltungsfachwirte haben zu innen in Magdeburg, erklärt: „Negativ muss ich wenig pädagogisch-psychologische Kompe leider feststellen, dass die Bezugspersonen des 10 KWA-REPORT
WANN IST DAS JOBCENTER ERFOLGREICH? „… wenn Wege für Menschen gefunden wer- „… wenn die Menschen in die passenden den, die nicht vermittelbar sind; dazu muss Stellen hineinkämen und nicht 10 Jahre in man auch mal Schleifen gehen, um dann einem Maßnahmenkarussell landen würden.“ gerade gehen zu können.“ (Leistungsberech- (Ilse Valentin, Sozialpsychologische Beratung tigte aus Mecklenburg-Vorpommern) für Erwerbslose, Frankfurt) „… wenn es sich auf die Bedingungen in der „… wenn es einem helfen und Unterstützung Region einlässt, offen ist für seine Bürger*in geben kann und nicht abrupt Leistungen nen, mit den Partnern auf Augenhöhe umgeht abbricht und den Kund*innen das Gefühl gibt: und gemeinsam nach Lösungen sucht.“ ‚Seht zu, wie ihr fertig werdet!‘“ (Geschäftsführerin einer kommunalen (Leistungsberechtigte aus Schleswig-Holstein) Beschäftigungsgesellschaft in Vorpommern) „… wenn der Kunde bei uns rausgeht und „… wenn die Migranten dauerhaft in den sagt: ‚Die haben mir helfen können.‘“ deutschen Arbeitsmarkt integriert sind.“ (Anette Farrenkopf, Jobcenter-Geschäfts (Dr. Wolfdieter Laux, Sprachausbilder in führerin, München) Magdeburg) Jobcenters für die Migranten, also für die Kunden und Kundinnen des Jobcenters, perma- HARTZ-IV-LOTS*INNEN nent wechseln. Damit gehen sehr viele individu- Neben der häufigen Forderung nach mehr und elle Informationen, die Migranten betreffend, pädagogisch geschultem Personal werden in verloren.“ Seine Forderung: „Das ideale Job den Gesprächen weitere Ideen vorgestellt, wie center müsste dann natürlich selbst über eine die Betreuung und Begleitung verbessert wer- ausreichende Anzahl von qualifizierten und mo- den könnte. Heike Tempel vom Arbeitslosen tivierten Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen ver- zentrum München-Nord schlägt vor, einen fügen, einen festen Betreuer, der sie auf ihrem Lots*innen-Dienst für die Arbeitslosengeld-II- nicht einfachen Weg in den deutschen Arbeits Empfangenden einzurichten, der vermitteln und markt individuell begleitet. Diese Begleitung Ängste abbauen könnte. Eine Erwerbslose aus muss vor Ort bei den Schulungsmaßnahmen Gießen fordert eine bessere Anbindung des und in den Betrieben erfolgen und nicht nur Hilfesystems aus örtlichen sozialen Einrich vom Schreibtisch aus.“ tungen an das Jobcenter. KWA-REPORT 11
JOBCENTER DER ZUKUNFT 4. „VERTRAUEN KANN SICH GAR NICHT AUFBAUEN, WEIL ES IMMER MIT GELD ZU TUN HAT.“ DAS JOBCENTER ALS GARANT DES LEBENSUNTERHALTS Das Jobcenter ist die wichtigste Behörde zur Existenzsicherung in Deutschland. Das be lastete Image dieser Behörde rührt nicht zuletzt vom gesellschaftlichen Dauerstreit um die Höhe von Hartz IV. Die Leistungen zum Lebensunterhalt, die das SGB II gewährt, werden seit seiner Einführung von Sozialverbänden als um mindestens ein Viertel zu niedrig klassi fiziert, das Berechnungsverfahren der Regelbedarfe als intransparent und realitätsfern be- klagt. Die Leistungen gelten dementsprechend in der Öffentlichkeit geradezu als Synonym für Armut statt für Armutsbekämpfung. Hinzu kommt, dass dieses Niveau der Existenz sicherung nicht einmal in jedem Fall garantiert ist. Mitarbeitende der Jobcenter entschei- den über die leistungsmindernde Anrechnung von Einkommen und Rücklagen, über die vollständige oder nur anteilige Erstattung der Miete, über Leistungskürzungen durch Sanktionen, kurz: über die materielle Existenz von Menschen. Es liegt ein hoher psycholo- gischer und existenzieller Druck auf dem Verhältnis zwischen den Leistungsberechtigten und dem Jobcenter, was dem Ziel der Beratung und Förderung nicht dienlich ist. ARMUT IN ÜBERGANGSSITUATIONEN D ie Höhe der Leistungen selbst wird da- bei von den Interviewten durchaus dif- ferenziert betrachtet. Einerseits werden sie fast durchgängig als sehr niedrig bewertet, andererseits wird diese Bewertung jedoch auch in mancherlei Hinsicht differenziert. Aus Sicht des Münchner Arbeitslosenseelsorgers Mike Gallen wirkt sich der Mangel besonders in be- stimmten Lebensphasen aus: „Es sind vor allem die Übergangssituationen im Leben, in denen die Armut besonders hervortritt. Etwa „Es sind vor allem die Übergangs wenn Familien Kinder kriegen oder in eine an- situationen im Leben, in denen die Armut besonders hervortritt. dere Wohnung umziehen. Extrem ist die Situa Etwa wenn Familien Kinder tion, wenn die Kids in die Schule kommen. kriegen oder in eine andere Auch in Ferienzeiten oder in der Coronazeit, Wohnung umziehen.“ wenn die Kids daheim sind, bräuchten Familien Mike Gallen, katholischer Arbeitslosen mehr Geld.“ seelsorger, München Andere Befragte reflektieren die unterschied- lichen Folgen, die eine Erhöhung der Regelbe darfe bei unterschiedlichen Leistungsempfän ger*innen haben könnte. Die Geschäftsführerin einer Beschäftigungsgesellschaft in Vorpom 12 KWA-REPORT
centers in Schleswig-Holstein bringt in diesem Zusamm enhang die politische Option eines deutlich höheren Mindestlohns ins Spiel, um den Anreiz zur Arbeitsaufnahme zu steigern, denn: „Belastend für viele Hilfebedürftige ist, selbst bei einer Arbeitsaufnahme in Vollzeit für die Be darfsgemeinschaft weiterhin auf die Sozialleis tungen des Jobcenters angewiesen zu bleiben.“ VERMISCHUNG VON GELDLEISTUNG UND INTEGRATION „Es geht hier um Rechte, nicht um Geschenke. Hilfebedürftige sind Derselbe Gesprächspartner weist auch auf die keine Bittsteller.“ schwierige Verbindung von Existenzsicherung Efthymia Tsakiri, Diakonie Bayern, und Arbeitsintegration hin: „Die Vermischung Nürnberg der existenziellen Angewiesenheit auf die SGB- II-Sozialleistungen mit den Erfordernissen der sozialen und beruflichen Integration ist proble- mern meint einerseits, es sei nicht möglich, mit matisch.“ Ähnlich kritisiert es Eva Haas: „Das Hartz IV ein Leben zu führen, in dem man an Vertrauen kann sich gar nicht aufbauen, weil es allen Dingen teilhaben könne. Doch sie sieht immer mit Geld zu tun hat. Beispiel Sanktionen: andererseits auch Probleme im Fall einer Er Eine Beratungssituation mit Hintergrund finan- höhung: „Höhere Leistungen sind aber auch zieller Einbuße kann nicht funktionieren.“ nicht durchgängig gut: Es hängt von den Ein zelnen ab, was er/sie daraus macht. Manch Und es macht einen Unterschied in der Ver einer würde sich noch mehr einrichten; andere trauensbeziehung zwischen Leistungsberech nutzen es für Teilhabe.“ tigten und Jobcenter, ob Sozialleistungen als verlässlicher Rechtsanspruch betrachtet wer- Eva Haas und Susanne Wich, Leiterinnen von den oder als Gefälligkeit. Efthymia Tsakiri, Re „mitarbeiten“, der kirchlichen Beschäftigungs ferentin für Hilfen für Arbeitslose beim Diako initiative in Fürth, sehen es als schwierig an, nischen Werk in Bayern, nennt hier das Beispiel „wenn vom Amt mehr kommt, als die Leute einer jungen Alleinerziehenden in Fürth, die ein jemals verdienen werden.“ Für Alleinstehende Kind bekommen hatte. „Der jungen Frau wurde sei die Leistung viel zu niedrig, für Familien mit im Jobcenter gesagt: ‚Wir schenken Ihnen die drei Kindern jedoch in der Regel höher als das Erstausstattung für Ihr Baby.‘ Dabei geht es Einkommen, das sie je durch Erwerbsarbeit hier um Rechte, nicht um Geschenke. Hilfe erzielen könnten. Der Mitarbeiter eines Job bedürftige sind keine Bittsteller.“ DAS ARBEITSLOSENGELD II … … bezeichnet die im SGB II geregelte Sozial mit Arbeitslosengeld-II-Beziehenden in einer leistung, mit der erwerbsfähige Hilfebedürftige Bedarfsgemeinschaft leben, erhalten das ihren Lebensunterhalt abdecken, soweit eigene sogenannte Sozialgeld. Die Höhe der Geldleis Mittel dazu nicht ausreichen. Sie wird auch tung ist orientiert am staatlich errechneten Grundsicherung für Arbeitssuchende oder inof Existenzminimum einer Bedarfsgemeinschaft, fiziell Hartz IV genannt. Das Arbeitslosengeld II das auch für die Höhe der Grundsicherung im wird im Gegensatz zur Versicherungsleistung Alter und andere Grundsicherungsleistungen Arbeitslosengeld I, die im SGB III geregelt ist, maßgebend ist. aus Steuermitteln finanziert. Die Kinder, die KWA-REPORT 13
JOBCENTER DER ZUKUNFT 5. „WIE SOLL DAS GEHEN, WENN DIE LEUTE ÜBERFORDERT SIND?“ DAS JOBCENTER ZWISCHEN FÖRDERN UND STRAFEN Der Umgang des Jobcenters mit seinen Leistungsberechtigten gilt als schwierig. In der Debatte um Hartz IV werden immer wieder Beispiele dafür angeführt, dass Erwerbslose im Jobcenter sinnlose Maßnahmen aufgezwungen bekommen, in den Mühlen der Bürokratie untergehen oder empfindliche Sanktionen erleiden. Die positiven Fälle, in denen Leistungsberechtigte mit ihren Fallmanagerinnen oder Vermittlern vertrauensvoll zusammenarbeiten und echte Hilfe erfahren, finden öffentlich weniger Beachtung. wenn man die Arbeit der Jobcenter analysiert. ZWEI DRITTEL VERTRAUEN, Aber es muss auch gefragt werden: Was läuft EIN DRITTEL NICHT bei dem übrigen Drittel bzw. Viertel der unzu- D abei überwiegen Letztere, wie eine friedenen Leistungsberechtigten schief? Warum Studie des Instituts für Arbeitsmarkt bewerten zum Beispiel Personen mit gesund- und Berufsforschung zeigt (IAB-Kurz heitlichen Einschränkungen und anderen bericht 23/2020): Zwei Drittel der repräsentativ Vermittlungshemmnissen die Leistungen des befragten Leistungsberechtigten geben danach Jobcenters laut Statistik signifikant schlechter an, sie vertrauten den Mitarbeitenden des als andere? Es sind diese Menschen, die offen- Jobcenters. Ebenso viele verneinen, dass das bar kein vertrauensvolles Verhältnis zum Job Jobcenter nur Forderungen stelle und keine center aufbauen können, die dann verstärkt bei echte Hilfe anböte. Drei Viertel der Befragten kirchlichen Beratungsstellen und anderen sozi- sagen, dass ihre eigenen Vorstellungen im alen Einrichtungen von Schwierigkeiten berich- Jobcenter berücksichtigt würden. Diese gute ten. Ihre Probleme werden von vielen unserer Bilanz darf man nicht aus dem Auge verlieren, Interviewpartner*innen thematisiert. WO LIEGEN DIE PROBLEME? Birgit Czarschka, Geschäftsführerin einer Be schäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft in Bützow in Mecklenburg, listet auf, was in ih- ren Augen im Jobcenter schiefgeht: „Vorver urteilungen von Langzeitarbeitslosen, Miss achtung von Lebensbiografien, Schriftverkehr mithilfe von Textbausteinen in Form von An drohungen. Einige Teilnehmer*innen kriegen schon Panik, wenn ein grauer Umschlag vom Jobcenter kommt.“ „Wie soll man Respekt und würdigen Umgang pflegen, wenn die Zeit gar nicht da ist?“ Die Frankfurter Beraterin Ilse Valentin be- Ilse Valentin, Sozialpsychologische schreibt eine strukturelle Überforderung auf Beratung für Erwerbslose, Frankfurt beiden Seiten: „Solange dieses Machtsystem besteht, kann man nur versuchen, an kleinen 14 KWA-REPORT
Stellschrauben im System zu drehen. Mehr barungen“ und signalisiert so auf sprachlicher Respekt fordern, ja, aber wie? Mehr Respekt Ebene, dass sie selbstbestimmt und ebenbürtig beiden Seiten gegenüber, wie soll das gehen, seien. Doch dieser Anspruch steht im Kontrast wenn die Leute überfordert sind? Wie soll man zur existenziellen Abhängigkeit der Hilfebe Respekt und würdigen Umgang pflegen, wenn dürftigen. Die „Kunden und Kundinnen“ des die Zeit gar nicht da ist?“ Das Machtgefälle, Jobcenters kommen nicht aus freien Stücken, die Zielvorgaben und der Zeitdruck lassen die sondern aus Not. Sie erleben eine faktische Zusammenarbeit von Jobcenter und Leistungs Hierarc hie, in der Termine vorgegeben und berechtigten nach ihrer Darstellung mitunter Zielvereinbarungen vorformuliert werden (vgl. scheitern. IAB-Kurzbericht 5/2020). Die Entscheidungs- und Ermessensspielräume liegen hauptsäch- lich aufseiten des Jobcenters. EBENBÜRTIG ODER ABHÄNGIG? Das Jobcenter hat ein spannungsreiches Ver Vor diesem Hintergrund schildern Interviewte hältnis zum Thema Augenhöhe. Anders als an- einen oft angespannten Jobcenteralltag. Es dere Behörden nennt das Jobcenter Menschen, wird von Ängsten und Traurigkeit berichtet. die zu ihm kommen, „Kundinnen und Kunden“. Christiane Rouini aus Erfurt sagt als Betroffene: Es schließt mit ihnen „Eingliederungsverein „Mir wird übel, wenn ich einen persönlichen KWA-REPORT 15
JOBCENTER DER ZUKUNFT Termin habe.“ Grund sei der Druck, den das Interviewte berichten von unterschwelligen Jobcenter ausübe. Die frühere Verkäuferin Vorwürfen seitens der Jobcenter-Beschäftigten, Sigrid Fischer, ebenfalls aus Erfurt, bescheinigt wenn eine Arbeitsvermittlung fehlschlage. Die dem Jobcenter: „Der menschliche Umgang war Jobcenter-Beschäftigten hätten ihrerseits Angst in Ordnung, allerdings hatte ich immer ein mul- vor den unmittelbaren emotionalen, auch ag- miges Gefühl.“ Der Münchner Arbeitslosen gressiven Reaktionen der Leistungsber ech seelsorger Mike Gallen erlebt, dass bei einigen tigten. Hierin wird eine Ursache für die hohe Leistungsberechtigten bereits das Wort Job Fluktuation beim Personal gesehen. center Verfolgungswahn auslöse. Aus den Interviews wird deutlich, dass Angst Vermei dungshaltungen auslösen kann. Das kommt SPRACHLICHE HÜRDEN zum Ausdruck, wenn die Post vom Jobcenter Unter den Vorzeichen einer oft angespannten, nicht geöffnet oder Termine nicht wahrgenom- nicht immer zielführenden Arbeitsatmosphäre men werden. Auch gesundheitliche Beschwer verkehrt sich die Wirkung freundlich klingender den können die Folge sein. Begriffe wie „Kunde“ oder „Eingliederungsver einbarung auf Gegenseitigkeit” in ihr Gegenteil Wie Befragte berichten, ist der Druck auch auf und wird als beschönigend oder sogar als ma- der anderen Seite hoch. Die Mitarbeitenden des kaber wahrgenommen. Die Sprache des Job Jobcenters hätten eine schwierige Aufgabe, zu centers wird aber auch noch in anderer Hinsicht wenig Zeit für den Einzelfall und dabei noch problematisiert. Ins Jobcenter kommen Men eine komplexe Rechtsmaterie zu beachten. Die schen mit guten und schlechten Sprachkennt Zielvorgaben für Integrationsquoten seien hoch. nissen, mit in- und ausländischen Sozialisie „SANKTIONEN SIND NOTWENDIG, UM GRUNDLEGENDE REGELN DER GEMEINSAMEN ARBEIT EINZUHALTEN.“ STIMMEN SIE DIESER AUSSAGE ZU? „Eine intensive Begleitung wäre da besser. „Sanktionen führen zu einer Angstkultur. Das Ich will Sanktionen nicht völlig verteufeln, aber Jobcenter sollte aber fördern.“ (Alleinerzie- ich glaube am Existenzminimum darf man nicht hende aus Mecklenburg-Vorpommern) noch weiter rumschrauben. Existenzminimum „Wenn man alle möglichen Programme anbie- ist, wie der Name schon sagt Existenz tet, aber die Sachbearbeiterin keinerlei Mög- minimum. Da darf man nicht drunter gehen.“ lichkeiten hat, auf das Klientel einzuwirken, (Uta Schütte-Haermeyer, Geschäftsführerin des damit sie sich zum Beispiel zumindest erst Diakonisches Werkes Dortmund und Lünen) einmal über die Inhalte und die Sinnhaftigkeit „Nein, das fördert die Angst bei den Kund*innen der Qualifizierung informieren, dann ist das und führt langfristig zu einer Haltung des auch ein Verheizen von Zeit und Geld aufseiten Widerstands und der Verweigerung von Maß- des Jobcenters.“ (Heike Tempel, Sozialpäda nahmen.“ (Leistungsberechtigte aus gogin, Arbeitslosenzentrum München-Nord) Schleswig-Holstein) „Schlimm ist es, wenn Maßnahmen eingesetzt „Angemessen sind Sanktionen, wenn zum werden, um jemanden in die Sanktionen Beispiel ein Arbeitsplatz, der gut passt, nicht hineinzuführen. Aber so ganz ohne Sanktionen angenommen wird oder wenn sie nicht am geht es nicht.“ (Geschäftsführerin einer Arbeitsplatz erscheinen, sich aber auch keinen kommunalen Beschäftigungsgesellschaft in Krankenschein holen oder vielleicht schwarz Vorpommern) arbeiten. Das nicht zu sanktionieren, ist gegen- „Negativ, da ALG2 schon das Existenzminimum über denen, die sich bemühen, ungerecht.“ ist und Sanktionen für Arbeitssuchende das (Birgit Czarschka, Geschäftsführerin einer Leben nur schwerer gestalten und nicht dien- Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesell- lich dazu sind, etwas zu verbessern.“ schaft in Bützow) (Leistungsberechtigter aus Celle) 16 KWA-REPORT
Das Meinungsspektrum unserer Befragten bil- det diverse Argumente pro und kontra Sank tionen ab, wobei es keineswegs so ist, dass Jobcenter-Mitarbeitende einmütig dafür und Leistungsberechtigte einmütig dagegen wären. Auf der Pro-Seite stehen Überlegungen, dass Sanktionen einfach notwendig seien, damit Leistungsberechtigte sich den Förder- und Integrationsmaßnahmen des Jobcenters nicht entziehen könnten. Franziska Zühlke, Bereichs leiterin der Arbeitsvermittlung im Jobcenter Nürnberg-Stadt, vertritt diese Position: „Sank „Die langjährigen Erfahrungen haben mir gezeigt, dass es ohne tionen braucht es, um eine gewisse Verbind Sanktionen und deren lichkeit aufrecht zu erhalten, die notwendig ist. Durchsetzung nicht geht.“ Auch teilweise, um wieder den Kontakt herzu- Wolfdieter Laux, Sprachausbilder für stellen. Manche Menschen wollen einfach nicht Migrant*innen, Magdeburg durch diese Tür des Jobcenters gehen.“ Ähnlich sieht es Wolfdieter Laux aus Magdeburg: „Die langjährigen Erfahrungen haben mir gezeigt, rungen und unterschiedlichen Bildungsniveaus. dass es ohne Sanktionen und deren Durch Für viele dieser Leistungsberechtigten ist die setzung nicht geht.“ Sprache in den Antragsformularen und An schreiben eine große Hürde. So kritisiert Wolf Auf der Kontra-Seite stehen Bedenken von dieter Laux, Lehrbeauftragter für die Sprach Interviewten, dass Sanktionen das Existenz ausbildung von Migrant*innen in Magdeburg, minimum verletzen, eine Angst- und Einschüch dass die Mitteilungen des Jobcenters in einem terungskultur befördern, die Falschen treffen gerade für seine Klient*innen „unverständlichen können und Menschen in ihrer Lebenslage wei- Amts- und Behördendeutsch“ verfasst seien. ter destabilisieren. Bernd-Michael Vollandt aus Aufgefangen würden diese Schwierigkeiten Erfurt, selbst ehemals erwerbslos, hat Sank häufig nur durch Hilfe im Bekanntenkreis oder tionen als staatlichen Zeigefinger erlebt. „Da von Beratungsstellen. sagen diejenigen, die in Lohn und Brot stehen, die Arbeitslosen sind doch nur Schmarotzer.“ REIZTHEMA SANKTIONEN Ein weiteres, alles überlagerndes Problem in der Beziehung zwischen Jobcenter und Leis tungsberechtigten ist das Instrument der Sank tionen. Es ist das Reizthema in der Jobcenter- Debatte, auch wenn das Bundesverfassungs gericht Kürzungen von mehr als 30 Prozent im November 2019 unterbunden hat und die Sanktionspraxis in der Coronakrise zeitweise ausgesetzt wurde. Laut amtlicher Statistik der Bundesagentur für Arbeit wurden im Jahr 2019 – also vor der Pandemie – 8,3 Prozent der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten min „Das ist so ein staatlicher Zeige destens einmal mit einer Leistungskürzung be- finger, da sagen diejenigen, die in legt (statistik.arbeitsagentur.de). Sanktionen Lohn und Brot stehen, die Arbeits treffen somit eine kleinere Gruppe direkt. Als losen sind doch nur Schmarotzer.“ Androhung allerdings betreffen sie alle und ver- Bernd-Michael Vollandt, Erfurt ändern das Klima im Jobcenter. KWA-REPORT 17
JOBCENTER DER ZUKUNFT Auch auf der Seite des Jobcenterpersonals natürlich noch besser, weil das ist ja eine gibt es Kritik. Aus Sicht eines Jobcentermitar Drohung und das kollidiert natürlich mit der beiters und Integrationsberaters aus Schleswig- vertrauensvollen Zusammenarbeit.“ Holstein, der anonym bleiben möchte, sind sie nicht das wirkungsvollste Mittel, um das Ver halten von Menschen zu beeinflussen: „In fast BONI STATT STRAFEN? 16 Jahren Praxis gab es für mich persönlich Schließlich gibt es auch noch eine dritte Posi sehr wenige Anlässe, Leistungskürzungen tion. Das Jobcenter solle statt auf Strafen auf durchzusetzen. (…) Die Mühe, argumentativ positive Anreize setzen, meint die Münchner und wertschätzend um Einsicht für die notwen- DGB-Geschäftsführerin und Jobcenter-Beirätin digen Schritte zur Integration in Beschäftigung Simone Burger: „Ich finde, anstatt von Sank und in die Gesellschaft zu werben, ist aus mei- tionen zu reden, könnten wir einfach mal über ner Sicht allermeist zielführend und nachhal- Belohnung reden. Also: Wer freiwillig eine tig.“ Der Bundesvorsitzende der Jobcenter längere Weiterbildung macht, bekommt extra personalr äte Uwe Lehmensiek wünscht sich Geld. Wer seine Termine immer wahrnimmt sogar die Abschaffung der Sanktionen: „Ich und sich immer um alles kümmert, bekommt finde die Bedingungen für eine vertrauensvolle extra Geld. Überall gibt es Boni, warum sollte Zusammenarbeit sind da. Wenn man jetzt noch es in diesem System keinen Bonus für gutes die Sanktionen abschaffen würde, wäre das Handeln geben?“ 6. „ES MUSS DIE SCHÖNSTEN RÄUME FÜR DIE ÄRMSTEN MENSCHEN GEBEN.“ DAS JOBCENTER ALS GEBÄUDE „Es gibt nur zwei Dinge in der Architektur: Menschlichkeit oder keine.“ Diese Feststellung des berühmten finnischen Architekten Alvar Aalto wirft die Frage auf, welcher Anteil am Erfolg oder Misserfolg eines Jobcenters womöglich seiner Architektur und Raumgestal tung zukommt. Gerade ein Gebäude, in dem Menschen in Not Unterstützung erfahren sol- len, darf nicht unmenschlich sein. Deswegen baten wir am Ende unserer Interviews die Gesprächspartner*innen – Leistungsberechtigte ebenso wie Jobcenter-Angestellte und andere Befragte –, sich vorzustellen, sie wären Architekt*in und könnten ein Jobcenter nach eigenen Vorstellungen gestalten. Wie würde es aussehen? transparent werden, denn auch die Diskretion TRANSPARENZ UND DISKRETION soll gewahrt und der Schutz der Privatsphäre V iele Interviewte beschreiben große gewährleistet bleiben. Fensterflächen und starken Lichteinfall als wünschenswert. Typischerweise Der Eingangsbereich des Jobcenters setzt den werden – in Mitteleuropa kulturell geprägt – Ton für die Beziehung zwischen Mensch und Transparenz und Licht positiv bewertet. Aller Behörde. Er soll ein Klima des Willkommens dings wird diese Präferenz im Fall des Job ausstrahlen, das durch Großzügigkeit, Farben centers auch wieder eingeschränkt: Nach den freude, eine Spielecke für Kinder inklusive Be Vorstellungen der Interviewten kann nicht alles treuung, eine Rezeption für schnelle Auskünfte 18 KWA-REPORT
„WENN SIE ALS ARCHITEKT*IN EIN JOBCENTER GESTALTEN KÖNNTEN, WIE SÄHE ES AUS?“ „Ein moderner Bau, der nicht nach typisch hinzugefügt werden.“ (Leistungsberechtigter, ‚Amt‘ aussieht. Ein freundlicher, heller Ein- Landkreis Celle) gangsbereich, helle Gänge, helle Wartebe- „Vielleicht wie auf einem Flughafen mit einem reiche. Ausreichend Besuchertoiletten. Diskrete Zentrum, wo dann verschiedene Gates sind, wo Wartebereiche und Schalter, wo sich nicht es vielleicht unterschiedliche Eingänge gibt, für Menschenmassen sammeln.“ (Leistungsbe- Erstbesucher, für Frauen, für Jüngere, für Men- rechtiger, Stadt Celle) schen, die auf dem Weg in die Fortbildung „Für die Mitarbeiter und auch für die Kunden sind.“ (Waltraud Kämper, Projekt „PonteAzubis – würde ich mir wünschen, dass es große Büros Brücken in den Arbeitsmarkt“, Hannover) gibt, wo man sich auch mit 1,5 Meter Abstand „Da fällt mir jetzt ein, dass man eine ganze unterhalten kann. Die Büros wären aber auch Reihe von Erwerbslosen, die dazu Lust haben, abgeschlossen, damit niemand mithört.“ rekrutieren könnte, die Fassade vom Jobcenter (Simone Burger, Jobcenter-Beirätin, München) nach ihrem Gusto zu gestalten. Bunt, vertrau- „Die Räumlichkeiten sollten großzügiger sein enserweckend. Was ich mir auch gut vorstellen und mehr Schutz für Intimsphäre zulassen.“ könnte, wäre eine Mensa im Jobcenter.“ (Leistungsberechtigte, Schleswig-Holstein) (Waltraud Reimann, ehemals Leistungs „Beim Bau eines neuen Jobcenters könnte berechtigte, Freiburg) mehr Glas verbaut werden, die Räume groß „Klein und regional ist besser als eine riesige, zügiger gestaltet werden. Eine Abteilung, die zentralisierte Behörde. Small is beautiful – kurzfristig auf Anliegen der Kunden eingeht das könnte ein Motto für das Jobcenter der und/oder ein Büro, das Telefonauskünfte für Zukunft sein.“ (Mike Gallen, Arbeitslosenseel- das entsprechende Jobcenter erteilt, könnten sorger, München) oder einen digitalen Selfservice gekennzeichnet sein könnte. Ein Hemmnis solcher Empfangs kultur liegt in der von einigen Gesprächs partner*innen problematisierten Präsenz von Ordnungs- und Sicherheitsdiensten, die vieler- orts nach Übergriffen auf Mitarbeitende not- wendig wurden. Selbst wenn diese Sicher heitskräfte auch Lotsenaufgaben übernehmen, prägt ihr Erscheinungsbild doch von Anfang an die Stimmung und Wahrnehmung. Für die weiteren Räume würden die Befragten mehr Grün, weniger Barrieren und freundlichere „Den Bürger nicht von Leistung zu Farbgebung, aber auch ausreichend Besucher Leistung laufen lassen, sondern toiletten und Wasserspender einplanen. Die die Angebote um den Bürger Räume sollten großzügig und individuell ge- herum organisieren.“ schnitten sein. Es gibt zudem nicht nur ästhe- Anette Farrenkopf, Geschäftsführerin tische, sondern auch funktionale Gestaltungs im Jobcenter München ideen. Die Leistungs- und die Vermittlungs abteilungen würden räumlich getrennt, es gäbe ein mehrsprachiges Leitsystem, und der Geist der Inklusion wäre sichtbar, indem etwa Migrant*innen nicht von anderen Leistungs berechtigten separiert würden. KWA-REPORT 19
JOBCENTER DER ZUKUNFT mag diese Person im Jobcenter gemacht ha- ARCHITEKTUR DER AUGENHÖHE ben, wenn sie solche Selbstverständlichkeiten Viele Befragte möchten ein Jobcenter gestal- formuliert? An diesem Beispiel zeigt sich, dass ten, das dem Gefühl des Stigmas und der die Hierarchie zwischen dem Wohltätigkeit ge- Machtlosigkeit entgegenwirkt. „Ich finde, es währenden Staat und der sie empfangenden muss die schönsten Räume für die ärmsten Bürgerin noch nicht überall überwunden ist. Ein Menschen geben,“ sagt die Geschäftsführerin durch Architektur und Möbel spürbares pater- des Diakonischen Werkes Dortmund und Lünen, nalistisches Staatsverständnis kann das effek- Uta Schütte-Haermeyer. „Man darf sich durch tive Zusammenwirken zwischen Institution und die Architektur nicht entwürdigt fühlen, das er- Leistungsberechtigten nur erschweren. höht die Schwelle, Hilfe entgegenzunehmen.“ Augenhöhe zwischen Leistungsberechtigten Diese Gefahr sehen auch Verantwortungsträ und Jobcenter drücke sich, so Schütte- ger*innen. Anette Farrenkopf, Geschäftsfüh Haermeyer, schon in der Architektur aus. rerin im Jobcenter München, stellt sich künftig ein Beratungssetting in Lounges vor, in denen Diese Augenhöhe wird aber auch durch schein- man auch einen Kaffee erhält und „sich nicht bare Kleinigkeiten hergestellt – oder verhindert. am Schreibtisch mit Computer gegenübersitzt“. Eine Interviewte aus Mecklenburg-Vorpom Beibehalten möchte sie die räumliche Bünde mern, die mit ihrem Kind in einer Bedarfs lung vieler sozialer Dienstleistungen in einem gemeinschaft lebt, wünscht sich neben freund- Haus. Sie möchte nicht den Bürger von Leis licheren Büroräumen „die Möglichkeit zum tung zu Leistung laufen lassen, sondern „die Gespräch vis-à-vis, Mensch mit Mensch, auf Netzwerke und Angebote um den Bürger herum gleich hohen Stühlen.“ Welche Erfahrungen organisieren.“ 7. „ES WÄRE SCHÖN, EIN STÜCK VEREIN FACHUNG IN DIE ZUKUNFT ZU RETTEN.“ VISIONEN DER INTERVIEWTEN FÜR DAS JOBCENTER Das Gesamtbild, das unsere Gespräche vermitteln, ist das einer Organisation, die unter einem gehörigen Druck steht. Die Fülle der Aufgaben des Jobcenters erscheinen als strukturelle Überlastung bei knapper Personal- und Mittelausstattung. Die äußeren Umstände seines Auftrags – eine dauerhaft hitzige gesellschaftliche Debatte um Hartz IV, die Kompliziertheit der rechtlichen Vorgaben – erleichtern die Arbeit sicher nicht. Viele Vorschläge der Interviewten zielen vor diesem Hintergrund darauf, Druck aus dem System zu nehmen, Bürokratie ab- und Personal aufzubauen und so mehr Raum für ein zugleich effektiv arbeitendes und menschliches Jobcenter zu schaffen. V ertreter*innen der Arbeitslosenselbst Beratung und schnelle Hilfe durch gut qualifi- hilfe Oldenburg e. V. listen im Gespräch zierte Mitarbeiter*innen in ausreichender Zahl“, eine ganze Reihe von aus ihrer Sicht „umfassende Informationen über zustehende wünschenswerten strukturellen Vereinfachun Leistungen wie Warmwasserkosten“, „per gen und Verbesserungen auf, darunter: „gute sönliches Vorsprechen ohne langes Warten“, 20 KWA-REPORT
JOBCENTER DER ZUKUNFT „schnelle und umfassende Hilfen in dringenden Fällen“, „automatische Eingangsbestätigungen für eingereichte Anträge und Unterlagen“, „Termine nach Absprache und nicht von oben angeordnet“. WENIGER BÜROKRATIE, MEHR BERATUNG Auch Anette Farrenkopf wünscht sich aus ihrer Perspektive als Münchner Jobcenter-Chefin Vereinfachungen im System. Sie denkt dabei an ihre Mitarbeitenden: „Es ist nicht einfach, im Jobcenter zu arbeiten. Die Kolleginnen und Kollegen wollen sich für Menschen enga- gieren. Da kann die umfassende Rechtsmaterie manchmal schon erschwerend sein.“ Die Be schäftigten würden sich lieber mehr um die Integration kümmern, anstatt beispielsweise „Das ideale Jobcenter der Zukunft wäre mit einem anderen Menschen- für eine einzige Bedarfsgemeinschaft fünf bild verbunden. Niemand müsste Einzelbescheide erstellen zu müssen. Anette Angst haben zuzugeben, dass er Farrenkopf setzt gewisse Hoffnungen darauf, gerade Unterstützung braucht.“ dass von den in der Coronakrise erfolgten Simone Burger, DGB-Vorsitzende und bürokratischen Vereinfachungen nach der Krise Jobcenter-Beirätin in München etwas übrig bleibt: „Ja, wenn man sich den Grundsicherungsantrag anschaut mit den vielen Unterlagen, wäre es schon schön, ein Stück Vereinfachung in die Zukunft zu retten.“ Einen wichtigen Lösungsansatz sieht eine Reihe von Interviewten auch darin, mehr in das Per sonal zu investieren, hinsichtlich seiner Anzahl und seiner Qualifikationen. Für Ilse Valentin von der „Hilfe im Nordend“ in Frankfurt würde sich eine Personalaufstockung unmittelbar auf die Qualität der Betreuung der Leistungs berechtigten auswirken: „Wenn man mehr Personal hätte, könnte man die Zielgruppen noch einmal unterteilen, man könnte grund- sätzlich bessere Erstgespräche, Anamnese gespräche führen.“ Die Münchner Erwerbs losenberaterin Heike Tempel erachtet es als nötig, „dass ich die Menschen, die da arbeiten, erst einmal wirklich ausreichend und gut in die- sem sehr komplexen und sich stetig verän- dernden Rechtsgebiet qualifiziere, sie anständig bezahle und auch die Fallzahlen so gestalte, dass sie mit ausreichend Zeit arbeiten können. „Eine Grundhaltung, die den Menschen zugewandt ist, muss Ich würde viel mehr Wert auf Pädagogik und vorhanden sein.“ Psychologie legen.“ Mehr Beratungskompetenz, Uwe Lehmensiek, Bundesvorsitzender Einfühlungsvermögen, Begleitung auf Augen der Jobcenter-Personalräte höhe und nicht zuletzt einfach mehr Zeit werden von vielen Befragten als wesentliche KWA-REPORT 21
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