KWA-REPORT - Perspektiven auf eine umstrittene Behörde

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KWA-REPORT - Perspektiven auf eine umstrittene Behörde
KWA-REPORT

Perspektiven auf eine umstrittene Behörde

             Ausschuss Erwerbslosigkeit,
             Sozial- und Arbeitsmarktpolitik (ESA)
KWA-REPORT - Perspektiven auf eine umstrittene Behörde
INHALT

	Vorwort von Gudrun Nolte, KWA                                                           3

         Einleitung: Jobcenter in Bewegung                                                4

         JOBCENTER DER ZUKUNFT

	
    1.
 „Passt das wirklich in die Biografie des Kunden?“
 Das Jobcenter als Arbeitsvermittler                                                      6

    2.   „ Jeder, der sich weiterbilden möchte, sollte die Chance dazu haben.“
          Das Jobcenter als Bildungsagentur                                               8

    3.   „ Da gehören Menschen hin, die eine sozial­psychologische
          Zusatzqualifikation haben.“
          Das Jobcenter als Begleiter in schwierigen Lebenslagen	                        10

    4.   „ Vertrauen kann sich gar nicht aufbauen, weil es immer mit Geld zu tun hat.“
         Das Jobcenter als Garant des Lebensunterhalts                                 12

	
    5.
 „Wie soll das gehen, wenn die Leute überfordert sind?“
 Das Jobcenter zwischen Fördern und Strafen                                              14

	
    6.
 „Es muss die schönsten Räume für die ärmsten Menschen geben.“
 Das Jobcenter als Gebäude                                                               18

	
    7.
 „Es wäre schön, ein Stück Vereinfachung in die Zukunft zu retten.“
 Visionen der Interviewten für das Jobcenter                                             20

	
    8.
 Jobcenter der Zukunft – Existenzsicherung neu denken
 Zeit für einen Neuanfang
  Gastkommentar von Maria Loheide, Diakonie Deutschland                                  23

    9.   Die Würde wieder herstellen
         Eine biblische Perspektive von Ralf Weidner, Ev. Kirche von Kurhessen-Waldeck   25

10.
 Zehn Thesen für das Jobcenter der Zukunft
	
 Impuls des KWA                                                                          27

         Links & Literatur30

         Impressum 31

 KWA-Ausschuss Erwerbslosigkeit, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik 31
	

2    KWA-REPORT
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VORWORT

                                                         Gudrun Nolte
                                                         Vorsitzende des Evangelischen
                                                         Verbandes Kirche-Wirtschaft-Arbeitswelt
                                                         (KWA), Hannover
LIEBE LESERINNEN UND LESER!­

A
        n der Grundsicherung für Arbeits­          werbslosenberater*innen geführt. Den au­then­­
        suchende scheiden sich die Geister.        tischen Stimmen dieser Praxis-Exper­t*in­nen,
        Kaum ein Sozialgesetz ist so umstritten    ihrer Kritik und ihren Ideen, wird hier Raum ge-
wie Hartz IV. Dasselbe gilt für die Behörde, die   geben. Die Interviews haben den KWA auch zu
für dessen Umsetzung verantwortlich ist: das       einer eigenen Vision für ein Jobcenter der Zu­
Jobcenter.                                         kunft angeregt, die wir am Ende der Publikation
                                                   in zehn Thesen zur Diskussion stellen.
Einerseits ist das Jobcenter eine wesentliche
Säule unserer gesellschaftlichen Solidarität.      Ich möchte mich bei den Mitgliedern des ESA-
Millionen Haushalte in Deutschland sind auf        Ausschusses, die in ihren jeweiligen Landes­
seine Geldzahlungen und Fördermaßnahmen            kirchen Fachleute für dieses wichtige Themen­
existenziell angewiesen. Andererseits ist es für   feld sind, herzlich für die Erarbeitung des
viele Menschen ein Ort, der mit dem Stigma der     KWA-Reports bedanken. Ein großes Danke­
Armut verbunden ist und Ängste erzeugt.            schön geht zudem an die Nürnberger Illustra­
                                                   torin Käthe Leipold, die das Thema mit der
Doch das Jobcenter befindet sich im Wandel.        Geschichte von der Erwerbssuchenden Lisa
Inzwischen werden in fast allen Parteien grund-    und dem Jobcenterangestellten Emre ein-
legende Reformen an Hartz IV gefordert. Schon      drucksvoll in die Bildsprache einer Graphic
in der Coronakrise haben sich viele Regeln ge-     Novel übersetzt hat.
ändert. Nach der Bundestagswahl 2021 könnte
ein Umbau dieser Behörde weit oben auf der         Mein besonderer Dank gilt dem Vorstand der
politischen Agenda stehen.                         Diakonie Deutschland für den Gastkommentar
                                                   und die fachliche Zusammenarbeit. In einer ge-
Mit diesem Report will der KWA als kirchlicher     meinsamen Online-Fachtagung werden Dia­
Verband einen Beitrag zur Diskussion um die        konie und KWA ihre Positionen zum Jobcenter
Zukunft des Jobcenters leisten. Unser Aus­         der Zukunft vorstellen und mit Politiker*innen
gangs­punkt sind nicht statistische Zahlen, son-   diskutieren.
dern die Menschen, die das Jobcenter aus per-
sönlicher Betroffenheit oder durch ihre tägliche   Ich wünsche Ihnen eine gewinnbringende
Arbeit genau kennen. Unser Bundesausschuss         Lektüre!
„Erwerbslosigkeit, Sozial- und Arbeitsmarkt­
politik“ (ESA) hat deshalb Interviews mit Leis­
tungsberechtigten, Jobcenterbeschäftigten, Er­

                                                                                       KWA-REPORT   3
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EINLEITUNG

JOBCENTER IN BEWEGUNG
Das Jobcenter ist die wichtigste Institution zur Bekämpfung der Armut in Deutschland.
Menschen in vielfältigen Notlagen wenden sich an diese Behörde: Langzeitarbeitslose und
Geringverdienende, Soloselbstständige mit unregelmäßigen Einnahmen, Alleinerziehende,
Menschen mit fehlenden Bildungsabschlüssen und gebrochenen Erwerbsbiografien, mit
Erkrankungen, Suchtproblemen, Überschuldung oder Fluchterfahrung. Bundesweit gibt es
406 Jobcenter. Sie sind Anlaufstellen für mehr als fünf Millionen Bürgerinnen und Bürger,
die „Hartz IV“ beziehen.

D
        as Jobcenter ist für sie ein Garant ihrer   den Einführung des Namens „Jobcenter“ –
        Existenzsicherung und doch umstritten       scheinen manche Arbeitsweisen und Prinzipien
        und angstbesetzt wie kaum eine andere       dieser Behörde in Bewegung zu geraten. Früher
Behörde. Es bietet ihnen Förderung und Un­ter­      gehörte das unbedingte Aktivieren von Men­
stützung, aber kann bei Fehlverhalten das Geld      schen zu den ehernen Prinzipien des Job­
für den Lebensunterhalt bis unter das Exis­         centers. Das vorrangige Ziel war es, Menschen
tenzminimum kürzen. Das Jobcenter en­ga­giert       mit Druck aus dem Leistungsbezug heraus-
sich für Teilhabe und Integration, ist aber auch    und in den ersten Arbeitsmarkt hineinzuholen.
gekennzeichnet durch eine Rege­lungsdichte          Doch Reformen wie das Teilhabechancengesetz
und Bürokratie, an der Leistungs­berechtigte        (2019) gaben Erwerbssuchenden mit vielfachen
wie Mitarbeitende mitunter verzweifeln.             Vermittlungshemmnissen wieder mehr Zeit für
                                                    ihre Stabilisierung und Integration. Die Corona­
                                                    krise führte zudem zu einem zwischenzeit-
ABSCHIED VON HARTZ IV?                              lichen Bürokratieabbau. Hürden zu den Sozial­
Heute – 16 Jahre nach der Einführung von            leistungen des Jobcenters wurden verringert,
Hartz IV und 10 Jahre nach der flächendecken­       Kindergeldzuschläge bedürftigen Familien nicht

4    KWA-REPORT
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DAS JOBCENTER …
   … ist die deutsche Behörde, die für Hartz IV      Grundsicherung für Arbeitsuchende, geregelt
   zu­ständig ist. Die Hartz-Kommission hatte im     im Zweiten Buch Sozialgesetz­buch (SGB II).
   Jahr 2002 empfohlen, die damals verstaubt         Die meisten deutschen Kommunen bil­deten zur
   anmutende Arbeits- und Sozial­verwaltung zu       Durchführung des Gesetzes Arbeits­gemein­
   revolutionieren und allen erwerbsfähigen Hilfe-   schaften mit der Bundesagentur für Arbeit. Seit
   bedürftigen Dienst­leis­tungen aus einer Hand     2011 heißen diese Behörden flächendeckend
   anzubieten. Die Arbeits­losenhilfe und die kom-   Jobcenter. 104 Job­center be­finden sich in
   munale Sozial­hilfe wurden daraufhin im Jahr      alleiniger Träger­schaft von Kommunen, der
   2005 zusammengelegt. Seitdem gibt es die          sogenannte „Options­kom­munen“.

mehr auf das Existenzminimum angerechnet,            in 30 Gesprächen insgesamt 34 Personen
Sanktionen vorübergehend ausgesetzt. In ver-         be­fragt, darunter Leistungsberechtigte und
schiedenen politischen Parteien wird nun der         Er ­werbslosenberater*innen, Jobcenter-Mit­
Wunsch immer lauter, noch weiter gehende             arbeitende und Geschäftsleitungen, Verant­
Reformen an der Grundsicherung für Arbeits­          wort­liche von Beschäftigungsinitiativen und
suchende vorzunehmen und das negative öf-            Maß­nah­­men­träger*innen. Die Interviews, die
fentliche Image von Hartz IV endgültig abzu-         wir teils anonymisierten, wurden quer durch
schütteln.                                           Deutsch­land in 16 Städten gesammelt. Sie
                                                     zeigen ein vielfältiges und kontroverses Bild
Die Zukunft des Jobcenters könnte also ganz          des Jobcenter-Alltags, wenn auch kein re­­prä­
anders aussehen als seine Gegenwart. Aber            sentatives Abbild im statistischen Sinne. Sie
wie? Welche Ideen gibt es für eine effiziente        reflektieren nicht alle verwaltungstechnischen
und zugleich menschenfreundliche Behörde?            De­tails, aber werfen authentische Schlaglichter
Welche derzeitigen Strukturen und Instrumente        auf tatsächlich erlebte Probleme und Erfolge
sollten erhalten, welche verworfen werden?           dieser Behörde. Wir gewinnen Einblicke in
Wie lässt sich das Jobcenter weiterentwickeln,       das Erfahrungswissen, die Kritik und auch die
damit es seine grundlegenden Versprechen gut         Zu­kunftsvisionen von Menschen, die das Job­
einlösen kann: Teilhabe zu sichern und Men­          cen­ter von innen kennen und intensiv erleben.
schen in Arbeit zu bringen?
                                                     Angeregt von den 30 Gesprächen hat der KWA
                                                     zehn Thesen für die Weiterentwicklung des Job­
30 GESPRÄCHE – 10 THESEN                             centers formuliert. Sie sollen ein Anstoß sein,
Der Evangelische Verband Kirche-Wirtschaft-          Hartz IV und seine behördliche Praxis neu zu
Arbeitswelt (KWA) hat sich zur Beantwortung          denken und engagiert zu diskutieren – gerade
dieser Fragen nicht an die Politik oder die          auch vor und nach der Bundestagswahl 2021.
Wis­s enschaft gewandt, sondern an Praxis-           Denn kaum eine Institution wird für den Zusam­
Ex­per­t*in­nen, die das Jobcenter aus eigener       menhalt unseres Gemeinwesens so entschei-
Erfah­rung kennen. Für diesen Report wurden          dend sein wie das Jobcenter der Zukunft.

                                                                                         KWA-REPORT    5
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JOBCENTER DER ZUKUNFT

1.       „PASST DAS WIRKLICH IN DIE BIOGRAFIE
           DES KUNDEN?“
           DAS JOBCENTER ALS ARBEITSVERMITTLER

Das Jobcenter ist – anders als sein Name nahelegt – weit mehr als eine Behörde, die Jobs
vermittelt. In der Jobvermittlung liegt nicht einmal der Schwerpunkt seiner Arbeit. Denn
nur der kleinere Teil der von ihm betreuten Menschen steht dem Arbeitsmarkt überhaupt
zur Verfügung. Eine Mehrheit von 55 Prozent der Leistungsberechtigten ist nicht zur
Arbeitssuche verpflichtet, zum Beispiel weil sie derzeit kleine Kinder betreuen, Angehörige
pflegen oder gesundheitlich zu stark eingeschränkt sind (IAB-Kurzbericht 23/2020). Und
auch für diejenigen, die in den Arbeitsmarkt integriert werden sollen, ist der Weg dorthin
oft weit. In vielen Fällen geht es erst einmal darum, überhaupt die Voraussetzung für eine
spätere Arbeitsaufnahme zu schaffen.

6   KWA-REPORT
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VERMITTLUNG MIT BEGRENZTEM
ERFOLG

I
   m Spiegel unserer Interviews erscheinen
   die Erfolge des Jobcenters als Beschäfti­
   gungs­vermittler begrenzt. Eine Erwerbslose
aus Schleswig-Holstein, die anonym bleiben
möchte, gibt ein Beispiel eines gescheiterten
Versuchs der Arbeitsvermittlung: „Ich habe zum
Beispiel einen Vorschlag bekommen für einen
Job in einer Pralinenfabrik in B. Wie soll ich von
                                                             „Wir müssen uns davon verab­
M. nach B. kommen? Die Schicht in der Fabrik
                                                              schieden, dass alle Menschen hier
beginnt um sieben Uhr. Von hier fährt ein Bus                 in dieser digitalisierten Welt noch
erst um sechs Uhr und braucht knapp zwei                      einen Arbeits­platz finden.“
Stunden. Das ist unmöglich zu schaffen.“                      Heike Tempel, Arbeitslosenzentrum
                                                              München-Nord
Waltraud Reimann aus Freiburg, ehemals lang-
zeitarbeitslos, bemängelt, dass die Beratungs­
gespräche im Jobcenter zu stark von Ver­              aussuchen und Bewerbungen hierzu schreiben,
waltungsarbeit geprägt sind: „Vermittlung             ohne dass man dafür die Arbeitsver­mittlung be-
heißt, man geht die ganzen Stellenanzeigen            nötigen würde. Gut ist dies für eher unselbst-
durch. Das wurde relativ kurz abgehandelt,            ständige Kunden vom Jobcenter.“
dann muss­te was ausgedruckt werden, dann
musste eine neue Eingliederungsvereinbarung           Arbeitssuchende und Arbeitsstellen kommen
unterschrieben werden, dann musste der                nach diesen und ähnlichen Erfahrungen nur
Bogen mit den bereits erfolgten Bewerbungen           schwer zusammen, sei es wegen des un­
irgendwie abgezeichnet werden – also sehr viel        passenden Stellenangebots, der mangelnden
Verwal­tung und zu wenig mein persönliches            Qua­lifikationen oder der fehlenden Zeit der
Bedürfnis.“                                           Arbeits­v ermittler*innen im Jobcenter. Ilse
                                                      Valentin von der kirchlichen „Hilfe im Nordend“
Ein 30-jähriger Erwerbsloser aus Celle wie­           in Frankfurt am Main kritisiert: „(…) es wird
derum kann für sich wenig Nutzen im Stellen­          einfach nicht geguckt, passt das wirklich in die
angebot des Jobcenters erkennen: „Die Ar­             Biografie des Kunden? Sondern, wenn eine
beits­vermittlung übernimmt nur das, was man          Stelle frei ist, wird der Kunde dorthin vermittelt.
auch selbst leisten kann. Die Vermittlungs­­          Der Kunde, die Kundin muss das auch anneh-
vorschläge kann man sich selbstständig her­           men, denn wenn er oder sie absagt, gibt es

    DAS TEILHABECHANCENGESETZ …
    … erweitert seit 2019 die staatlich geförderten   Per­so­nen, die sechs Jahre oder länger
    Möglichkeiten zur Eingliederung und Teilhabe      Arbeits­losengeld II (Hartz IV) beziehen, können
    von besonders arbeitsmarktfernen Erwerbs­         bei einer Arbeitsaufnahme sogar bis zu fünf
    losen. Erstmalig müssen geförderte Arbeits­       Jahre lang gefördert werden. Sie sollen so
    plätze dabei nicht mehr wettbewerbsneutral,       wieder eine Chance auf längerfristige sozial­
    zusätzlich und gemeinnützig sein. Arbeitslose,    ver­siche­rungspflichtige Beschäftigung
    die über 25 Jahre alt und mindestens zwei         erhalten, sei es in Sozialbetrieben oder am
    Jahre arbeitslos gemeldet sind, können bei der    allgemeinen Arbeits­markt. Beschäftigten
    Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen     wie Unternehmen wird eine Begleitung der
    Tätigkeit bis zu zwei Jahre lang durch Lohn­      Maß­nahme angebo­ten, damit das Arbeitsver-
    kos­tenzuschüsse unterstützt werden.              hältnis stabil bleibt.

                                                                                           KWA-REPORT    7
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JOBCENTER DER ZUKUNFT

möglicherweise Sanktionen, deswegen ent-          Der mit dem Teilhabechancengesetz von 2019
steht solch ein Druck. So ent­wickelt sich da-    erfolgte Einstieg in den Sozialen Arbeitsmarkt
raus kein lang­fristiges Arbeits­verhältnis.“     wird in den Gesprächen ganz überwiegend ge-
                                                  lobt. Die neuen Förderinstrumente, durch die
                                                  Menschen oft nach langer Zeit erstmals wieder
STABILISIEREN STATT VERMITTELN                    eine Chance auf längerfristige und sozialver­
Zugleich stellt eine Reihe von Interviewten das   sicherte Beschäftigung erhalten, erreichen
ganze Unterfangen der Arbeitsvermittlung für      derzeit etwa 50.000 Menschen bundesweit. In
einen Teil der Leistungsberechtigten grund­       unseren Interviews wird ein weiterer Ausbau
sätzlich infrage. Heike Tempel, Erwerbs­losen­    und eine Verstetigung solcher Beschäftigung
beraterin in einem Münchner Arbeitslosen­         für besonders arbeitsmarktferne Erwerbs­su­
zentrum, ist der Meinung, „dass wir uns davon     chende gefordert. Simone Burger, als Ge­werk­
verabschieden müssen, dass alle Menschen          schafts­vertreterin Mitglied im Münchner Job­
hier in dieser digitalisierten Welt noch einen    center-Beirat, wünscht sich allerdings auch
Arbeitsplatz finden. Ich glaube, wir müssen mal   Änderungen am Teilhabechancengesetz. Die
anerkennen, dass es vielleicht zwanzig Prozent    Förderung müsse entfristet werden und dürfe
gibt, die das nicht können. Bei denen geht es     nicht von Jahr zu Jahr abschmelzen, da sie
nicht mehr ums Vermitteln, sondern eigentlich     sonst für Menschen mit dauerhaften Ein­
ums Stabilisieren.“                               schränkungen keine Lösung sei.

2.        „JEDER, DER SICH WEITERBILDEN MÖCHTE,
            SOLLTE DIE CHANCE DAZU HABEN.“
            DAS JOBCENTER ALS BILDUNGSAGENTUR

Das Jobcenter vermittelt nicht nur Arbeit, sondern auch Bildung – wenn auch in einem
spürbar geringeren Maße als etwa die Arbeitsagenturen, die Menschen im Bereich
der Arbeitslosenversicherung betreuen. Das Gros der Bildungsmaßnahmen der Jobcenter
ist eher kleinteilig und kurz, in teurere Ausbildungen wird seltener investiert. Im Jahr
2018 gab der Bund für die Aus- oder Weiterbildung von Langzeiterwerbslosen in den
Job­centern durchschnittlich 331 Euro pro Person aus, während die Weiterbildung
der Erwerbs­losen in den Arbeitsagenturen mit durchschnittlich 1605 Euro pro Person
ge­fördert wurde (IW-Kurzbericht 45/2019).

                                                   manchmal nicht einmal anwesend seien und
ES FEHLT AN PASSGENAUIGKEIT                        die Inhalte am Bedarf vorbeigingen. Eine lang-

I
    n unseren Interviews werden die Bildungs­      zeiterwerbslose Restaurantfachfrau aus Gießen
    maßnahmen in ähnlicher Weise kritisiert wie    beschreibt ein Bewerbungstraining als Maß­
    die Arbeitsvermittlung: Es fehle an indivi­    nahme, die sie „allein vor dem PC“ abgesessen
dueller Passgenauigkeit. Die Geschäftsführerin     habe. Christiane Rouini, alleinerzie­hen­de Mutter
einer kommunalen Beschäftigungsgesellschaft        von sechs Kindern aus Erfurt, hält Be­wer­bungs­
in Vorpommern berichtet, dass sie von Wei­ter­    ­trainings generell für wenig sinnvoll: „Wir brau-
bildungsteilnehmenden wenig Gutes höre. Diese      chen mehr berufliche Bildung oder Schulaus­
beklagten, dass die eingeplanten Do­zent*innen     bildung, die zu einem Beruf führt.“

8    KWA-REPORT
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Ein-Euro-Jobs machen, dann ist das sehr ent­
                                                  täuschend und keine Hilfe.“

                                                  Es gibt andererseits auch Zufriedenheit und
                                                  Erfolgsmeldungen. Unsere Gesprächspartnerin
                                                  Carmen Giss, zum Zeitpunkt des Gesprächs
                                                  Geschäftsführerin des Jobcenters in Oldenburg,
                                                  berichtet davon, dass die Weiterbildung inzwi-
                                                  schen deutlich reibungsloser funktioniere als
                                                  noch zehn Jahre zuvor und auch bessere Be­
                                                  wertungen der Teilnehmenden erhielte: „Schul­
                                                  note 2,3“. Ein junger erwerbsloser Mann aus
                                                  Gießen erzählt, dass er durch eine geförderte
                                                  Bildungsmaßnahme eine Ausbildungs­stätte ge-
      „Wir brauchen mehr berufliche
       Bildung oder Schulausbildung,              funden habe.
       die zu einem Beruf führt.“
       Christiane Rouini, alleinerziehende
       Mutter von sechs Kindern aus Erfurt        ANREIZE UND ANSPRÜCHE
                                                  AUF BILDUNG
                                                  Viele Interviewte stimmen in dem Punkt über-
Eine erwerbslose Frau aus Schleswig-Holstein      ein, dass Qualifikationen gerade für arbeits-
verleiht ihrer Enttäuschung Ausdruck: „Ich habe   marktferne Erwerbslose wesentlich seien und
immer gedacht, dass das Jobcenter einem hilft     ausgebaut werden müssten. So auch Anette
weiterzukommen und Unterstützung bietet in        Farrenkopf, Geschäftsführerin des Jobcenters
der Entwicklung von Perspektiven. Wenn man        München, die für höhere finanzielle Anreize zur
dann aber gleich eingestuft wird als nicht ge-    Weiterbildung plädiert. Simone Burger, Beirätin
eignet für den Arbeitsmarkt und deshalb keine     desselben Jobcenters, pocht auf rechtliche An­
Umschulung oder Weiterbildung bekommt, son-       sprüche: „Jeder, der sich wirklich weiterbilden
dern einem gesagt wird, dass man einfach so       möchte, sollte auch die Chance dazu haben.
weitermachen soll, also im Bezug bleiben und      Die Mittel müssen zur Verfügung stehen.“

                                                                                  KWA-REPORT   9
KWA-REPORT - Perspektiven auf eine umstrittene Behörde
JOBCENTER DER ZUKUNFT

3.        „DA GEHÖREN MENSCHEN HIN,
           DIE EINE SOZIALPSYCHOLOGISCHE
           ZUSATZQUALIFIKATION HABEN.“
            DAS JOBCENTER ALS BEGLEITER IN
            SCHWIERIGEN LEBENSLAGEN

Das Jobcenter ist Anlaufstelle für Menschen mit vielfältigen sozialen Problemen.
Aufgabe des Jobcenters ist deshalb oft zunächst das Stabilisieren in der gegenwärtigen
Lebens­situation. Dass die Behörde dieser Aufgabe personell gewachsen ist, sehen
einige Inter­viewpartner*innen skeptisch. Sowohl hinsichtlich des Personalschlüssels
als auch in Bezug auf die Qualifikationen des Personals gibt es Kritik.­­

                                                    tenzen.“ Da das Jobcenter die Lebenslagen der
                                                    Ziel­gruppe oft nicht verstehe, hätten bisher oft
                                                    Beratungsstellen und Bildungsträger außerhalb
                                                    des Jobcenters die Aufgabe übernommen, mit
                                                    den Leistungsberechtigen passgenaue Ideen zu
                                                    entwickeln.

                                                    Ebenso gibt es aber auch die Erfahrungen, dass
                                                    sich Mitarbeiter*innen trotz hohen Arbeits­
                                                    drucks auf die Situation der Leistungs­berech­
                                                    tigten einlassen. So erzählt die gelernte Bank­
      „Ich habe keine Probleme mit den              kauffrau Sabine Schwager aus Erfurt: „Als ich
       Vermittlern. Sie sind immer sehr             zu einem Zeitpunkt krank geworden bin und die
       unterstützend.“                              bis dahin rabiate Mitarbeiterin im Jobcenter das
       Sabine Schwager, Sozialberaterin bei         merkte, war sie wie ausgewechselt. Ich habe
       TALISA Erfurt, zuvor erwerbslos              keine Probleme mit den Vermittlern. Sie sind
                                                    immer sehr unterstützend.“

                                                    Eine in vielen Interviews wiederkehrende
DIE ZIELGRUPPE VERSTEHEN                            Beobachtung: Es ist die hohe Fluktuation des

A
         us Sicht der Beraterin Ilse Valentin aus   Jobcenterpersonals, die die Zusammenarbeit
         Frankfurt sollte das Jobcenter perso-      mit den Erwerbslosen erschwert. So litt Wal­
         nell auf Pädagog*innen und Sozial­         traud Reimann aus Freiburg als Leistungs­
psycho­log*innen setzen und weniger auf Ver­        bezieherin darunter, dass die für sie zuständige
wal­tungsfachwirt*innen: „Ich würde erst einmal     Ansprechperson ständig wechselte: „Und da
innerhalb des Jobcenters das Personal auf­          war halt nichts mit Kontinuität und ja, das war
stocken. Ja, dass die mehr Zeit haben. Ich          stressig. Ich musste halt als Kundin immer von
denke nicht, dass die Mitarbeitenden schlechte      vorne anfangen, immer meinen Werdegang von
Arbeit machen, sondern glaube, sie haben ein-       Neuem erzählen.“
fach keine Zeit. Ich finde zudem, dass sie eine
sozial­psychologische Zusatzqualifikation ma-       Wolfdieter Laux, Sprachausbilder für Mi­grant*­
chen sollten. Verwaltungsfachwirte haben zu         in­nen in Magdeburg, erklärt: „Negativ muss ich
wenig pädagogisch-psychologische Kompe­             leider feststellen, dass die Bezugspersonen des

10   KWA-REPORT
WANN IST DAS JOBCENTER ERFOLGREICH?
   „… wenn Wege für Menschen gefunden wer-           „… wenn die Menschen in die passenden
   den, die nicht vermittelbar sind; dazu muss       Stellen hineinkämen und nicht 10 Jahre in
   man auch mal Schleifen gehen, um dann             einem Maßnahmenkarussell landen würden.“
   gerade gehen zu können.“ (Leistungsberech-        (Ilse Valentin, Sozialpsychologische Beratung
   tigte aus Mecklenburg-Vorpommern)                 für Erwerbslose, Frankfurt)
   „… wenn es sich auf die Bedingungen in der        „… wenn es einem helfen und Unterstützung
   Region einlässt, offen ist für seine Bürger*in­   geben kann und nicht abrupt Leistungen
   nen, mit den Partnern auf Augenhöhe umgeht        abbricht und den Kund*innen das Gefühl gibt:
   und gemeinsam nach Lösungen sucht.“               ‚Seht zu, wie ihr fertig werdet!‘“
   (Geschäftsführerin einer kommunalen               (Leistungsberechtigte aus Schleswig-Holstein)
   Beschäftigungsgesellschaft in Vorpommern)         „… wenn der Kunde bei uns rausgeht und
   „… wenn die Migranten dauerhaft in den            sagt: ‚Die haben mir helfen können.‘“
   deutschen Arbeitsmarkt integriert sind.“          (Anette Farrenkopf, Jobcenter-Geschäfts­
   (Dr. Wolfdieter Laux, Sprachausbilder in          führerin, München)
   Magdeburg)

Jobcenters für die Migranten, also für die
Kunden und Kundinnen des Jobcenters, perma-          HARTZ-IV-LOTS*INNEN
nent wechseln. Damit gehen sehr viele individu-      Neben der häufigen Forderung nach mehr und
elle Informationen, die Migranten betreffend,        pädagogisch geschultem Personal werden in
verloren.“ Seine Forderung: „Das ideale Job­         den Gesprächen weitere Ideen vorgestellt, wie
center müsste dann natürlich selbst über eine        die Betreuung und Begleitung verbessert wer-
ausreichende Anzahl von qualifizierten und mo-       den könnte. Heike Tempel vom Arbeits­losen­
tivierten Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen ver-     zentrum München-Nord schlägt vor, einen
fügen, einen festen Betreuer, der sie auf ihrem      Lots*innen-Dienst für die Arbeits­losengeld-II-
nicht einfachen Weg in den deutschen Arbeits­        Empfangenden einzurichten, der vermitteln und
markt individuell begleitet. Diese Begleitung        Ängste abbauen könnte. Eine Erwerbslose aus
muss vor Ort bei den Schulungsmaßnahmen              Gießen fordert eine bessere Anbindung des
und in den Betrieben erfolgen und nicht nur          Hilfesystems aus örtlichen sozialen Einrich­
vom Schreibtisch aus.“                               tungen an das Jobcenter.

                                                                                         KWA-REPORT   11
JOBCENTER DER ZUKUNFT

4.        „VERTRAUEN KANN SICH GAR
           NICHT AUFBAUEN, WEIL ES IMMER
           MIT GELD ZU TUN HAT.“
            DAS JOBCENTER ALS GARANT
            DES LEBENSUNTERHALTS

Das Jobcenter ist die wichtigste Behörde zur Existenzsicherung in Deutschland. Das be­
las­tete Image dieser Behörde rührt nicht zuletzt vom gesellschaftlichen Dauerstreit um die
Höhe von Hartz IV. Die Leistungen zum Lebensunterhalt, die das SGB II gewährt, werden
seit seiner Einführung von Sozialverbänden als um mindestens ein Viertel zu niedrig klassi­
fiziert, das Berechnungsverfahren der Regelbedarfe als intransparent und realitätsfern be-
klagt. Die Leistungen gelten dementsprechend in der Öffentlichkeit geradezu als Syno­nym
für Armut statt für Armutsbekämpfung. Hinzu kommt, dass dieses Niveau der Existenz­
siche­rung nicht einmal in jedem Fall garantiert ist. Mitarbeitende der Jobcenter entschei-
den über die leistungsmindernde Anrechnung von Einkommen und Rücklagen, über die
vollständige oder nur anteilige Erstattung der Miete, über Leistungskürzungen durch
Sank­tionen, kurz: über die materielle Existenz von Menschen. Es liegt ein hoher psycholo-
gischer und existenzieller Druck auf dem Verhältnis zwischen den Leistungsbe­rechtigten
und dem Jobcenter, was dem Ziel der Beratung und Förderung nicht dienlich ist.

ARMUT IN ÜBERGANGSSITUATIONEN

D
        ie Höhe der Leistungen selbst wird da-
        bei von den Interviewten durchaus dif-
        ferenziert betrachtet. Einerseits werden
sie fast durchgängig als sehr niedrig bewertet,
andererseits wird diese Bewertung jedoch auch
in mancherlei Hinsicht differenziert. Aus Sicht
des Münchner Arbeitslosenseelsorgers Mike
Gallen wirkt sich der Mangel besonders in be-
stimmten Lebensphasen aus: „Es sind vor
allem die Über­gangssituationen im Leben, in
denen die Armut besonders hervortritt. Etwa          „Es sind vor allem die Übergangs­
wenn Familien Kin­der kriegen oder in eine an-        situationen im Leben, in denen
                                                      die Armut besonders hervortritt.
dere Wohnung umziehen. Extrem ist die Situa­
                                                      Etwa wenn Familien Kinder
tion, wenn die Kids in die Schule kommen.             kriegen oder in eine andere
Auch in Ferienzeiten oder in der Coronazeit,          Wohnung umziehen.“
wenn die Kids daheim sind, bräuchten Familien         Mike Gallen, katholischer Arbeitslosen­
mehr Geld.“                                           seelsorger, München

Andere Befragte reflektieren die unterschied-
lichen Folgen, die eine Erhöhung der Regel­be­
darfe bei unterschiedlichen Leistungs­empfän­
ger*innen haben könnte. Die Ge­schäftsführerin
einer Beschäftigungsgesellschaft in Vorpom­

12   KWA-REPORT
centers in Schleswig-Holstein bringt in diesem
                                                         Zusam­m enhang die politische Option eines
                                                         deutlich höheren Mindestlohns ins Spiel, um den
                                                         Anreiz zur Arbeitsaufnahme zu steigern, denn:
                                                         „Belas­tend für viele Hilfebedürftige ist, selbst
                                                         bei einer Arbeitsaufnahme in Vollzeit für die Be­
                                                         darfsgemeinschaft weiterhin auf die Sozial­leis­
                                                         tungen des Jobcenters angewiesen zu bleiben.“

                                                         VERMISCHUNG VON GELDLEISTUNG
                                                         UND INTEGRATION
       „Es geht hier um Rechte, nicht um
        Geschenke. Hilfebedürftige sind                  Derselbe Gesprächspartner weist auch auf die
        keine Bittsteller.“                              schwierige Verbindung von Existenzsicherung
       Efthymia Tsakiri, Diakonie Bayern,                und Arbeitsintegration hin: „Die Vermischung
       Nürnberg                                          der existenziellen Angewiesenheit auf die SGB-
                                                         II-Sozialleistungen mit den Erfordernissen der
                                                         sozialen und beruflichen Integration ist proble-
mern meint einerseits, es sei nicht möglich, mit         matisch.“ Ähnlich kritisiert es Eva Haas: „Das
Hartz IV ein Leben zu führen, in dem man an              Vertrauen kann sich gar nicht aufbauen, weil es
allen Dingen teilhaben könne. Doch sie sieht             immer mit Geld zu tun hat. Beispiel Sanktionen:
andererseits auch Probleme im Fall einer Er­             Eine Beratungssituation mit Hintergrund finan-
höhung: „Höhere Leistungen sind aber auch                zieller Einbuße kann nicht funktionieren.“
nicht durchgängig gut: Es hängt von den Ein­
zelnen ab, was er/sie daraus macht. Manch                Und es macht einen Unterschied in der Ver­
einer würde sich noch mehr einrichten; andere            trauensbeziehung zwischen Leistungs­berech­
nutzen es für Teilhabe.“                                 tig­ten und Jobcenter, ob Sozialleistungen als
                                                         verlässlicher Rechtsanspruch betrachtet wer-
Eva Haas und Susanne Wich, Leiterinnen von               den oder als Gefälligkeit. Efthymia Tsakiri, Re­­
„mitarbeiten“, der kirchlichen Beschäfti­gungs­          fe­rentin für Hilfen für Arbeitslose beim Dia­ko­
initiative in Fürth, sehen es als schwierig an,          nischen Werk in Bayern, nennt hier das Bei­spiel
„wenn vom Amt mehr kommt, als die Leute                  einer jungen Alleinerziehenden in Fürth, die ein
jemals verdienen werden.“ Für Alleinstehende             Kind bekommen hatte. „Der jungen Frau wurde
sei die Leistung viel zu niedrig, für Familien mit       im Jobcenter gesagt: ‚Wir schenken Ihnen die
drei Kindern jedoch in der Regel höher als das           Erstausstattung für Ihr Baby.‘ Dabei geht es
Ein­kommen, das sie je durch Erwerbsarbeit               hier um Rechte, nicht um Geschenke. Hilfe­
erzielen könnten. Der Mitarbeiter eines Job­             bedürftige sind keine Bittsteller.“

    DAS ARBEITSLOSENGELD II …
    … bezeichnet die im SGB II geregelte Sozial­         mit Arbeitslosengeld-II-Beziehenden in einer
    leis­tung, mit der erwerbsfähige Hilfebedürftige     Be­darfs­gemeinschaft leben, erhalten das
    ihren Lebensunterhalt abdecken, soweit eigene        sogenannte Sozialgeld. Die Höhe der Geldleis­
    Mittel dazu nicht ausreichen. Sie wird auch          tung ist orientiert am staatlich errechneten
    Grundsicherung für Arbeitssuchende oder inof­        Exis­tenz­minimum einer Bedarfsgemeinschaft,
    fi­ziell Hartz IV genannt. Das Arbeitslosengeld II   das auch für die Höhe der Grundsicherung im
    wird im Gegensatz zur Versicherungs­leistung         Alter und andere Grund­sicherungsleistungen
    Arbeit­slosengeld I, die im SGB III geregelt ist,    maßgebend ist.
    aus Steuermitteln finanziert. Die Kinder, die

                                                                                            KWA-REPORT   13
JOBCENTER DER ZUKUNFT

5.        „WIE SOLL DAS GEHEN, WENN DIE LEUTE
           ÜBERFORDERT SIND?“
            DAS JOBCENTER ZWISCHEN FÖRDERN
            UND STRAFEN

Der Umgang des Jobcenters mit seinen Leistungsberechtigten gilt als schwierig.
In der Debatte um Hartz IV werden immer wieder Beispiele dafür angeführt,
dass Erwerbslose im Jobcenter sinnlose Maßnahmen aufgezwungen bekommen,
in den Mühlen der Büro­kratie untergehen oder empfindliche Sanktionen erleiden.
Die positiven Fälle, in denen Leistungsberechtigte mit ihren Fallmanage­rinnen oder
Vermittlern vertrauensvoll zusammenarbeiten und echte Hilfe erfahren, finden
öffentlich weniger Beachtung.

                                                   wenn man die Arbeit der Jobcenter analysiert.
ZWEI DRITTEL VERTRAUEN,                            Aber es muss auch gefragt werden: Was läuft
EIN DRITTEL NICHT                                  bei dem übrigen Drittel bzw. Viertel der unzu-

D
        abei überwiegen Letztere, wie eine         friedenen Leistungsberechtigten schief? Warum
        Studie des Instituts für Arbeitsmarkt      bewerten zum Beispiel Personen mit gesund-
        und Berufsforschung zeigt (IAB-Kurz­       heitlichen Einschränkungen und anderen
bericht 23/2020): Zwei Drittel der repräsentativ   Vermittlungshemmnissen die Leistungen des
befragten Leistungsberechtigten geben danach       Jobcenters laut Statistik signifikant schlechter
an, sie vertrauten den Mitarbeitenden des          als andere? Es sind diese Menschen, die offen-
Jobcenters. Ebenso viele verneinen, dass das       bar kein vertrauensvolles Verhältnis zum Job­
Jobcenter nur Forderungen stelle und keine         center aufbauen können, die dann verstärkt bei
echte Hilfe anböte. Drei Viertel der Befragten     kirchlichen Beratungsstellen und anderen sozi-
sagen, dass ihre eigenen Vorstellungen im          alen Einrichtungen von Schwierigkeiten berich-
Jobcenter berücksichtigt würden. Diese gute        ten. Ihre Probleme werden von vielen unserer
Bilanz darf man nicht aus dem Auge verlieren,      Interviewpartner*innen thematisiert.

                                                   WO LIEGEN DIE PROBLEME?
                                                   Birgit Czarschka, Geschäftsführerin einer B­e­
                                                   schäftigungs- und Qualifizierungsgesell­schaft
                                                   in Bützow in Mecklenburg, listet auf, was in ih-
                                                   ren Augen im Jobcenter schiefgeht: „Vorver­
                                                   urteilungen von Langzeitarbeitslosen, Miss­
                                                   achtung von Lebensbiografien, Schrift­verkehr
                                                   mithilfe von Textbausteinen in Form von An­
                                                   drohungen. Einige Teilnehmer*innen kriegen
                                                   schon Panik, wenn ein grauer Um­schlag vom
                                                   Jobcenter kommt.“
      „Wie soll man Respekt und
       würdigen Umgang pflegen, wenn
       die Zeit gar nicht da ist?“                 Die Frankfurter Beraterin Ilse Valentin be-
       Ilse Valentin, Sozialpsychologische         schreibt eine strukturelle Überforderung auf
       Beratung für Erwerbslose, Frankfurt         bei­den Seiten: „Solange dieses Machtsystem
                                                   besteht, kann man nur versuchen, an kleinen

14   KWA-REPORT
Stellschrauben im System zu drehen. Mehr         barungen“ und signalisiert so auf sprachlicher
Re­spekt fordern, ja, aber wie? Mehr Respekt     Ebene, dass sie selbstbestimmt und ebenbürtig
beiden Seiten gegenüber, wie soll das gehen,     seien. Doch dieser Anspruch steht im Kontrast
wenn die Leute überfordert sind? Wie soll man    zur existenziellen Abhängigkeit der Hilfebe­­
Respekt und würdigen Umgang pflegen, wenn        dürftigen. Die „Kunden und Kundinnen“ des
die Zeit gar nicht da ist?“ Das Machtgefälle,    Job­centers kommen nicht aus freien Stücken,
die Zielvorgaben und der Zeitdruck lassen die    sondern aus Not. Sie erleben eine faktische
Zusammenarbeit von Jobcenter und Leistungs­      Hie­­rar­c hie, in der Termine vorgegeben und
berechtigten nach ihrer Darstellung mitunter     Zielvereinbarungen vorformuliert werden (vgl.
scheitern.                                       IAB-Kurzbericht 5/2020). Die Ent­­scheidungs-
                                                 und Ermessensspielräume liegen haupt­säch­­-
                                                ­lich aufseiten des Jobcenters.
EBENBÜRTIG ODER ABHÄNGIG?
Das Jobcenter hat ein spannungsreiches Ver­     Vor diesem Hintergrund schildern Interviewte
hältnis zum Thema Augenhöhe. Anders als an-     einen oft angespannten Jobcenteralltag. Es
dere Behörden nennt das Jobcenter Menschen,     wird von Ängsten und Traurigkeit berichtet.
die zu ihm kommen, „Kundinnen und Kunden“.      Christiane Rouini aus Erfurt sagt als Betroffene:
Es schließt mit ihnen „Eingliederungsverein­    „Mir wird übel, wenn ich einen persönlichen

                                                                                  KWA-REPORT   15
JOBCENTER DER ZUKUNFT

Termin habe.“ Grund sei der Druck, den das               Interviewte berichten von unterschwelligen
Jobcenter ausübe. Die frühere Verkäuferin                Vorwürfen seitens der Jobcenter-Beschäftigten,
Sigrid Fischer, ebenfalls aus Erfurt, bescheinigt        wenn eine Arbeitsvermittlung fehlschlage. Die
dem Jobcenter: „Der menschliche Umgang war               Jobcenter-Beschäftigten hätten ihrerseits Angst
in Ordnung, allerdings hatte ich immer ein mul-          vor den unmittelbaren emotionalen, auch ag-
miges Gefühl.“ Der Münchner Arbeitslosen­                gressiven Reaktionen der Leistungsbe­r ech­
seelsorger Mike Gallen erlebt, dass bei einigen          tigten. Hierin wird eine Ursache für die hohe
Leistungsberechtigten bereits das Wort Job­              Fluktuation beim Personal gesehen.
center Verfolgungswahn auslöse. Aus den
Inter­views wird deutlich, dass Angst Vermei­
dungshaltungen auslösen kann. Das kommt                  SPRACHLICHE HÜRDEN
zum Ausdruck, wenn die Post vom Jobcenter                Unter den Vorzeichen einer oft angespannten,
nicht geöffnet oder Termine nicht wahrgenom-             nicht immer zielführenden Arbeitsatmosphäre
men werden. Auch gesundheitliche Beschwer­               verkehrt sich die Wirkung freundlich klingender
den können die Folge sein.                               Begriffe wie „Kunde“ oder „Eingliede­rungsver­
                                                         einbarung auf Gegenseitigkeit” in ihr Gegenteil
Wie Befragte berichten, ist der Druck auch auf           und wird als beschönigend oder sogar als ma-
der anderen Seite hoch. Die Mitarbeitenden des           kaber wahrgenommen. Die Sprache des Job­
Jobcenters hätten eine schwierige Aufgabe, zu            centers wird aber auch noch in anderer Hinsicht
wenig Zeit für den Einzelfall und dabei noch             problematisiert. Ins Jobcenter kommen Men­
eine komplexe Rechtsmaterie zu beachten. Die             schen mit guten und schlechten Sprachkennt­
Zielvorgaben für Integrationsquoten seien hoch.          nissen, mit in- und ausländischen Sozialisie­

     „SANKTIONEN SIND NOTWENDIG, UM GRUNDLEGENDE REGELN
     DER GEMEINSAMEN ARBEIT EINZUHALTEN.“
     STIMMEN SIE DIESER AUSSAGE ZU?
     „Eine intensive Begleitung wäre da besser.          „Sanktionen führen zu einer Angstkultur. Das
     Ich will Sanktionen nicht völlig verteufeln, aber   Jobcenter sollte aber fördern.“ (Alleinerzie-
     ich glaube am Existenzminimum darf man nicht        hende aus Mecklenburg-Vorpommern)
     noch weiter rumschrauben. Existenzminimum           „Wenn man alle möglichen Programme anbie-
     ist, wie der Name schon sagt Existenz­              tet, aber die Sachbearbeiterin keinerlei Mög-
     minimum. Da darf man nicht drunter gehen.“          lichkeiten hat, auf das Klientel einzuwirken,
     (Uta Schütte-Haermeyer, Geschäftsführerin des       damit sie sich zum Beispiel zumindest erst
     Diakonisches Werkes Dortmund und Lünen)             einmal über die Inhalte und die Sinnhaftigkeit
     „Nein, das fördert die Angst bei den Kund*in­nen    der Qualifizierung informieren, dann ist das
     und führt langfristig zu einer Haltung des          auch ein Verheizen von Zeit und Geld aufseiten
     Wider­stands und der Verweigerung von Maß-          des Jobcenters.“ (Heike Tempel, Sozialpäda­
     nahmen.“ (Leistungsberechtigte aus                  gogin, Arbeitslosenzentrum München-Nord)
     Schleswig-Holstein)                                 „Schlimm ist es, wenn Maßnahmen eingesetzt
     „Angemessen sind Sanktionen, wenn zum               werden, um jemanden in die Sanktionen
     Beispiel ein Arbeitsplatz, der gut passt, nicht     hineinzuführen. Aber so ganz ohne Sanktionen
     angenommen wird oder wenn sie nicht am              geht es nicht.“ (Geschäftsführerin einer
     Arbeitsplatz erscheinen, sich aber auch keinen      kommunalen Beschäftigungsgesellschaft in
     Krankenschein holen oder vielleicht schwarz­        Vorpommern)
     arbeiten. Das nicht zu sanktionieren, ist gegen-    „Negativ, da ALG2 schon das Existenzminimum
     über denen, die sich bemühen, ungerecht.“           ist und Sanktionen für Arbeitssuchende das
     (Birgit Czarschka, Geschäftsführerin einer          Leben nur schwerer gestalten und nicht dien-
     Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesell-          lich dazu sind, etwas zu verbessern.“
     schaft in Bützow)                                   (Leistungsberechtigter aus Celle)

16    KWA-REPORT
Das Meinungsspektrum unserer Befragten bil-
                                                     det diverse Argumente pro und kontra Sank­
                                                     tionen ab, wobei es keineswegs so ist, dass
                                                     Jobcenter-Mitarbeitende einmütig dafür und
                                                     Leistungsberechtigte einmütig dagegen wären.
                                                     Auf der Pro-Seite stehen Überlegungen, dass
                                                     Sanktionen einfach notwendig seien, damit
                                                     Leistungsberechtigte sich den Förder- und
                                                     Integrationsmaßnahmen des Jobcenters nicht
                                                     entziehen könnten. Franziska Zühlke, Bereichs­
                                                     leiterin der Arbeitsvermittlung im Jobcenter
                                                     Nürnberg-Stadt, vertritt diese Position: „Sank­
      „Die langjährigen Erfahrungen
       haben mir gezeigt, dass es ohne               tionen braucht es, um eine gewisse Verbind­
       Sanktionen und deren                          lichkeit aufrecht zu erhalten, die notwendig ist.
       Durchsetzung nicht geht.“                     Auch teilweise, um wieder den Kontakt herzu-
       Wolfdieter Laux, Sprachausbilder für          stellen. Manche Menschen wollen einfach nicht
       Migrant*innen, Magdeburg                      durch diese Tür des Jobcenters gehen.“ Ähnlich
                                                     sieht es Wolfdieter Laux aus Magdeburg: „Die
                                                     langjährigen Erfahrungen haben mir gezeigt,
rungen und unterschiedlichen Bildungsniveaus.        dass es ohne Sanktionen und deren Durch­
Für viele dieser Leistungsberechtigten ist die       setzung nicht geht.“
Sprache in den Antragsformularen und An­
schreiben eine große Hürde. So kritisiert Wolf­      Auf der Kontra-Seite stehen Bedenken von
dieter Laux, Lehrbeauftragter für die Sprach­        Interviewten, dass Sanktionen das Existenz­
ausbildung von Migrant*innen in Magdeburg,           minimum verletzen, eine Angst- und Ein­schüch­
dass die Mitteilungen des Jobcenters in einem        terungskultur befördern, die Falschen treffen
gerade für seine Klient*innen „unverständlichen      können und Menschen in ihrer Lebenslage wei-
Amts- und Behördendeutsch“ verfasst seien.           ter destabilisieren. Bernd-Michael Vollandt aus
Aufgefangen würden diese Schwierigkeiten             Erfurt, selbst ehemals erwerbslos, hat Sank­
häufig nur durch Hilfe im Bekanntenkreis oder        tionen als staatlichen Zeigefinger erlebt. „Da
von Beratungsstellen.                                sagen diejenigen, die in Lohn und Brot stehen,
                                                     die Arbeitslosen sind doch nur Schmarotzer.“

REIZTHEMA SANKTIONEN
Ein weiteres, alles überlagerndes Problem in
der Beziehung zwischen Jobcenter und Leis­
tungsberechtigten ist das Instrument der Sank­
tionen. Es ist das Reizthema in der Jobcenter-
Debatte, auch wenn das Bundesverfas­sungs­
gericht Kürzungen von mehr als 30 Prozent im
November 2019 unterbunden hat und die
Sanktionspraxis in der Coronakrise zeitweise
ausgesetzt wurde. Laut amtlicher Statistik
der Bundesagentur für Arbeit wurden im Jahr
2019 – also vor der Pandemie – 8,3 Prozent der
erwerbsfähigen Leistungsberechtigten min­
                                                           „Das ist so ein staatlicher Zeige­
destens einmal mit einer Leistungskürzung be-               finger, da sagen diejenigen, die in
legt (statistik.arbeitsagentur.de). Sanktionen              Lohn und Brot stehen, die Arbeits­
treffen somit eine kleinere Gruppe direkt. Als              losen sind doch nur Schmarotzer.“
An­dro­hung allerdings betreffen sie alle und ver-          Bernd-Michael Vollandt, Erfurt
ändern das Klima im Jobcenter.

                                                                                             KWA-REPORT   17
JOBCENTER DER ZUKUNFT

Auch auf der Seite des Jobcenterpersonals          natürlich noch besser, weil das ist ja eine
gibt es Kritik. Aus Sicht eines Jobcentermitar­    Drohung und das kollidiert natürlich mit der
bei­ters und Integrationsberaters aus Schleswig-   vertrauensvollen Zusammenarbeit.“
Holstein, der anonym bleiben möchte, sind sie
nicht das wirkungsvollste Mittel, um das Ver­
halten von Menschen zu beeinflussen: „In fast      BONI STATT STRAFEN?
16 Jahren Praxis gab es für mich persönlich        Schließlich gibt es auch noch eine dritte Posi­
sehr wenige Anlässe, Leistungskürzungen            tion. Das Jobcenter solle statt auf Strafen auf
durch­zusetzen. (…) Die Mühe, argumentativ         positive Anreize setzen, meint die Münchner
und wertschätzend um Einsicht für die notwen-      DGB-Geschäftsführerin und Jobcenter-Beirätin
digen Schritte zur Integration in Beschäftigung    Simone Burger: „Ich finde, anstatt von Sank­
und in die Gesellschaft zu werben, ist aus mei-    tionen zu reden, könnten wir einfach mal über
ner Sicht allermeist zielführend und nachhal-      Belohnung reden. Also: Wer freiwillig eine
tig.“ Der Bundesvorsitzende der Jobcenter­         längere Weiterbildung macht, bekommt extra
personal­r äte Uwe Lehmensiek wünscht sich         Geld. Wer seine Termine immer wahrnimmt
sogar die Abschaffung der Sank­tionen: „Ich        und sich immer um alles kümmert, bekommt
finde die Bedingungen für eine vertrauensvolle     extra Geld. Überall gibt es Boni, warum sollte
Zusammenarbeit sind da. Wenn man jetzt noch        es in diesem System keinen Bonus für gutes
die Sanktionen abschaffen würde, wäre das          Handeln geben?“

6.        „ES MUSS DIE SCHÖNSTEN RÄUME
            FÜR DIE ÄRMSTEN MENSCHEN GEBEN.“
            DAS JOBCENTER ALS GEBÄUDE

„Es gibt nur zwei Dinge in der Architektur: Menschlichkeit oder keine.“ Diese Feststellung
des berühmten finnischen Architekten Alvar Aalto wirft die Frage auf, welcher Anteil am
Erfolg oder Misserfolg eines Jobcenters womöglich seiner Architektur und Raumgestal­
tung zukommt. Gerade ein Gebäude, in dem Menschen in Not Unterstützung erfahren sol-
len, darf nicht unmenschlich sein. Deswegen baten wir am Ende unserer Interviews die
Gesprächspartner*innen – Leistungsberechtigte ebenso wie Jobcenter-Angestellte und
andere Befragte –, sich vorzustellen, sie wären Architekt*in und könnten ein Jobcenter
nach eigenen Vorstellungen gestalten. Wie würde es aussehen?

                                                   transparent werden, denn auch die Diskretion
TRANSPARENZ UND DISKRETION                         soll gewahrt und der Schutz der Privatsphäre

V
        iele Interviewte beschreiben große         gewährleistet bleiben.
        Fensterflächen und starken Lichteinfall
        als wünschenswert. Typischerweise          Der Eingangsbereich des Jobcenters setzt den
werden – in Mitteleuropa kulturell geprägt –       Ton für die Beziehung zwischen Mensch und
Transparenz und Licht positiv bewertet. Aller­     Behörde. Er soll ein Klima des Willkommens
dings wird diese Präferenz im Fall des Job­        ausstrahlen, das durch Großzügigkeit, Farben­
centers auch wieder eingeschränkt: Nach den        freude, eine Spielecke für Kinder inklusive Be­
Vorstellungen der Interviewten kann nicht alles    treuung, eine Rezeption für schnelle Auskünfte

18   KWA-REPORT
„WENN SIE ALS ARCHITEKT*IN EIN JOBCENTER GESTALTEN
   KÖNNTEN, WIE SÄHE ES AUS?“
   „Ein moderner Bau, der nicht nach typisch         hinzugefügt werden.“ (Leistungsberechtigter,
   ‚Amt‘ aussieht. Ein freundlicher, heller Ein-     Landkreis Celle)
   gangsbereich, helle Gänge, helle Wartebe-         „Vielleicht wie auf einem Flughafen mit einem
   reiche. Ausreichend Besuchertoiletten. Diskrete   Zentrum, wo dann verschiedene Gates sind, wo
   Wartebereiche und Schalter, wo sich nicht         es vielleicht unterschiedliche Eingänge gibt, für
   Menschenmassen sammeln.“ (Leistungsbe-            Erstbesucher, für Frauen, für Jüngere, für Men-
   rechtiger, Stadt Celle)                           schen, die auf dem Weg in die Fortbildung
   „Für die Mitarbeiter und auch für die Kunden      sind.“ (Waltraud Kämper, Projekt „PonteAzubis –
   würde ich mir wünschen, dass es große Büros       Brücken in den Arbeitsmarkt“, Hannover)
   gibt, wo man sich auch mit 1,5 Meter Abstand      „Da fällt mir jetzt ein, dass man eine ganze
   unterhalten kann. Die Büros wären aber auch       Reihe von Erwerbslosen, die dazu Lust haben,
   abgeschlossen, damit niemand mithört.“            rekrutieren könnte, die Fassade vom Jobcenter
   (Simone Burger, Jobcenter-Beirätin, München)      nach ihrem Gusto zu gestalten. Bunt, vertrau-
   „Die Räumlichkeiten sollten großzügiger sein      enserweckend. Was ich mir auch gut vorstellen
   und mehr Schutz für Intimsphäre zulassen.“        könnte, wäre eine Mensa im Jobcenter.“
   (Leistungsberechtigte, Schleswig-Holstein)        (Waltraud Reimann, ehemals Leistungs­
   „Beim Bau eines neuen Jobcenters könnte           berechtigte, Freiburg)
   mehr Glas verbaut werden, die Räume groß­         „Klein und regional ist besser als eine riesige,
   zügiger gestaltet werden. Eine Abteilung, die     zentralisierte Behörde. Small is beautiful –
   kurzfristig auf Anliegen der Kunden eingeht       das könnte ein Motto für das Jobcenter der
   und/oder ein Büro, das Telefonauskünfte für       Zukunft sein.“ (Mike Gallen, Arbeitslosenseel-
   das entsprechende Jobcenter erteilt, könnten      sorger, München)

oder einen digitalen Selfservice gekennzeichnet
sein könnte. Ein Hemmnis solcher Empfangs­
kultur liegt in der von einigen Gesprächs­
partner*innen problematisierten Präsenz von
Ordnungs- und Sicherheitsdiensten, die vieler-
orts nach Übergriffen auf Mitarbeitende not-
wendig wurden. Selbst wenn diese Sicher­
heitskräfte auch Lotsenaufgaben übernehmen,
prägt ihr Erscheinungsbild doch von Anfang an
die Stimmung und Wahrnehmung.

Für die weiteren Räume würden die Befragten
mehr Grün, weniger Barrieren und freundlichere
                                                            „Den Bürger nicht von Leistung zu
Farbgebung, aber auch ausreichend Besucher­
                                                             Leistung laufen lassen, sondern
toiletten und Wasserspender einplanen. Die                   die Angebote um den Bürger
Räume sollten großzügig und individuell ge-                  herum organisieren.“
schnitten sein. Es gibt zudem nicht nur ästhe-               Anette Farrenkopf, Geschäftsführerin
tische, sondern auch funktionale Gestaltungs­                im Jobcenter München
ideen. Die Leistungs- und die Vermittlungs­
abteilungen würden räumlich getrennt, es gäbe
ein mehrsprachiges Leitsystem, und der Geist
der Inklusion wäre sichtbar, indem etwa
Migrant*innen nicht von anderen Leistungs­
berechtigten separiert würden.

                                                                                           KWA-REPORT    19
JOBCENTER DER ZUKUNFT

                                                    mag diese Person im Jobcenter gemacht ha-
ARCHITEKTUR DER AUGENHÖHE                           ben, wenn sie solche Selbstverständlichkeiten
Viele Befragte möchten ein Jobcenter gestal-        formuliert? An diesem Beispiel zeigt sich, dass
ten, das dem Gefühl des Stigmas und der             die Hierarchie zwischen dem Wohltätigkeit ge-
Machtlosigkeit entgegenwirkt. „Ich finde, es        währenden Staat und der sie empfangenden
muss die schönsten Räume für die ärmsten            Bürgerin noch nicht überall überwunden ist. Ein
Menschen geben,“ sagt die Geschäftsführerin         durch Architektur und Möbel spürbares pater-
des Diakonischen Werkes Dortmund und Lünen,         nalistisches Staatsverständnis kann das effek-
Uta Schütte-Haermeyer. „Man darf sich durch         tive Zusammenwirken zwischen Institution und
die Architektur nicht entwürdigt fühlen, das er-    Leistungsberechtigten nur erschweren.
höht die Schwelle, Hilfe entgegenzunehmen.“
Augenhöhe zwischen Leistungs­berechtigten           Diese Gefahr sehen auch Verantwortungs­trä­
und Jobcenter drücke sich, so Schütte-              ger*innen. Anette Farrenkopf, Geschäfts­füh­
Haermeyer, schon in der Architektur aus.            rerin im Jobcenter München, stellt sich künftig
                                                    ein Beratungssetting in Lounges vor, in denen
Diese Augenhöhe wird aber auch durch schein-        man auch einen Kaffee erhält und „sich nicht
bare Kleinigkeiten hergestellt – oder verhindert.   am Schreibtisch mit Computer gegen­übersitzt“.
Eine Interviewte aus Mecklenburg-Vorpom­            Beibehalten möchte sie die räumliche Bün­de­
mern, die mit ihrem Kind in einer Bedarfs­          lung vieler sozialer Dienstleistungen in einem
gemeinschaft lebt, wünscht sich neben freund-       Haus. Sie möchte nicht den Bürger von Leis­
licheren Büroräumen „die Möglichkeit zum            tung zu Leistung laufen lassen, sondern „die
Gespräch vis-à-vis, Mensch mit Mensch, auf          Netzwerke und Angebote um den Bürger herum­
gleich hohen Stühlen.“ Welche Erfahrungen           organisieren.“

7.        „ES WÄRE SCHÖN, EIN STÜCK VEREIN­
           FACHUNG IN DIE ZUKUNFT ZU RETTEN.“
            VISIONEN DER INTERVIEWTEN FÜR
            DAS JOBCENTER

Das Gesamtbild, das unsere Gespräche vermitteln, ist das einer Organisation, die unter
einem gehörigen Druck steht. Die Fülle der Aufgaben des Jobcenters erscheinen als
strukturelle Überlastung bei knapper Personal- und Mittelausstattung. Die äußeren
Umstände seines Auftrags – eine dauerhaft hitzige gesellschaftliche Debatte um Hartz IV,
die Kompliziertheit der rechtlichen Vorgaben – erleichtern die Arbeit sicher nicht. Viele
Vorschläge der Interviewten zielen vor diesem Hintergrund darauf, Druck aus dem System
zu nehmen, Bürokratie ab- und Personal aufzubauen und so mehr Raum für ein zugleich
effektiv arbeitendes und menschliches Jobcenter zu schaffen.

V
      ertreter*innen der Arbeitslosenselbst­        Beratung und schnelle Hilfe durch gut qualifi-
      hilfe Oldenburg e. V. listen im Gespräch      zierte Mitarbeiter*innen in ausreichender Zahl“,
      eine ganze Reihe von aus ihrer Sicht          „umfassende Informationen über zustehende
wünschenswerten strukturellen Verein­fachun­        Leistungen wie Warmwasserkosten“, „per­
gen und Verbesserungen auf, darunter: „gute         sönliches Vorsprechen ohne langes Warten“,

20   KWA-REPORT
JOBCENTER DER ZUKUNFT

„schnelle und umfassende Hilfen in dringenden
Fällen“, „automatische Eingangsbestätigungen
für eingereichte Anträge und Unterlagen“,
„Termine nach Absprache und nicht von oben
angeordnet“.

WENIGER BÜROKRATIE,
MEHR BERATUNG
Auch Anette Farrenkopf wünscht sich aus ihrer
Perspektive als Münchner Jobcenter-Chefin
Vereinfachungen im System. Sie denkt dabei
an ihre Mitarbeitenden: „Es ist nicht einfach,
im Jobcenter zu arbeiten. Die Kolleginnen
und Kollegen wollen sich für Menschen enga-
gieren. Da kann die umfassende Rechtsmaterie
manch­mal schon erschwerend sein.“ Die Be­
schäftigten würden sich lieber mehr um die
Integration kümmern, anstatt beispielsweise            „Das ideale Jobcenter der Zukunft
                                                        wäre mit einem anderen Menschen-
für eine einzige Bedarfsgemeinschaft fünf
                                                        bild verbunden. Niemand müsste
Ein­zelbescheide erstellen zu müssen. Anette            Angst haben zuzugeben, dass er
Farrenkopf setzt gewisse Hoffnungen darauf,             gerade Unterstützung braucht.“
dass von den in der Coronakrise erfolgten               Simone Burger, DGB-Vorsitzende und
­bürokratischen Vereinfachungen nach der Krise          Jobcenter-Beirätin in München
 etwas übrig bleibt: „Ja, wenn man sich den
 Grundsicherungsantrag anschaut mit den vielen
 Unterlagen, wäre es schon schön, ein Stück
 Vereinfachung in die Zukunft zu retten.“        Einen wichtigen Lösungsansatz sieht eine Reihe
                                                 von Interviewten auch darin, mehr in das Per­
                                                 sonal zu investieren, hinsichtlich seiner An­zahl
                                                 und seiner Qualifikationen. Für Ilse Valentin
                                                 von der „Hilfe im Nordend“ in Frankfurt würde
                                                 sich eine Personalaufstockung unmittelbar
                                                 auf die Qualität der Betreuung der Leistungs­
                                                 berech­tigten auswirken: „Wenn man mehr
                                                 Personal hätte, könnte man die Zielgruppen
                                                 noch einmal unterteilen, man könnte grund-
                                                 sätzlich bessere Erstgespräche, Anamnese­
                                                 gespräche führen.“ Die Münchner Erwerbs­
                                                 losenberaterin Heike Tempel erachtet es als
                                                 nötig, „dass ich die Menschen, die da arbeiten,
                                                 erst einmal wirklich ausreichend und gut in die-
                                                 sem sehr komplexen und sich stetig verän-
                                                 dernden Rechtsgebiet qualifiziere, sie anständig
                                                 bezahle und auch die Fallzahlen so gestalte,
                                                 dass sie mit aus­reichend Zeit arbeiten können.
      „Eine Grundhaltung, die den
       Menschen zugewandt ist, muss              Ich würde viel mehr Wert auf Pädagogik und
       vorhanden sein.“                          Psychologie legen.“ Mehr Beratungskompetenz,
       Uwe Lehmensiek, Bundesvorsitzender        Einfüh­lungsvermögen, Begleitung auf Augen­
       der Jobcen­ter­-Personalräte              höhe und nicht zuletzt einfach mehr Zeit
                                                 werden von vielen Befragten als wesentliche

                                                                                    KWA-REPORT   21
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