Armut in der Pandemie - Der Paritätische Armutsbericht 2021 - Der Paritätische Armutsbericht 2021
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Armut in der Pandemie. Der Paritätische Armutsbericht 2021 DEUTSCHER PARITÄTISCHER WOHLFAHRTSVERBAND GESAMTVERBAND e. V. | www.paritaet.org
Inhalt In Kürze ........................................................................................................................................................................................................ 3 1. Armut in Deutschland 2020 ........................................................................................................................................................... 5 2. Armut in den Bundesländern ...................................................................................................................................................... 10 3. Soziodemografie der Armut ....................................................................................................................................................... 13 4. Sozialstruktur der Armut ............................................................................................................................................................... 17 5. Kritische Würdigung der Armutspolitik in der Pandemie ................................................................................................. 19 6. Politische Forderungen ................................................................................................................................................................. 23 7. Methodische Hinweise .................................................................................................................................................................. 26 Anhang ...................................................................................................................................................................................................... 30 Impressum Herausgeber: Der Paritätische Gesamtverband Oranienburger Str. 13-14 | 10178 Berlin Telefon: 030 24636-0 | Telefax: 030 24636-110 E-Mail: info@paritaet.org Internet: www.der-paritaetische.de/armutsbericht Verantwortlich im Sinne des Presserechts: Dr. Ulrich Schneider Autor*innen: Jonas Pieper Joachim Rock Ulrich Schneider Wiebke Schröder Gestaltung: Christine Maier Titelbild: peterschreiber.media – Adobe Stock Grafiken: © Der Paritätische Gesamtverband 1. Auflage, Dezember 2021 ISBN 978-3-947792-07-8
In Kürze Mit der aktuellen Auswertung des Mikrozensus des Sta- berg einerseits und dem Rest der Republik verfestigt, tistischen Bundesamtes erhalten wir erstmals Armuts- wenn nicht sogar vertieft hat. Kommen die beiden süd- daten für das Pandemiejahr 2020. Verschiedene Studien deutschen Länder auf eine gemeinsame Armutsquote setzten sich bereits mit der Frage von Einkommensein- von „nur“ 12,2 Prozent – und liegen damit weit unter bußen, insbesondere von Arbeitnehmer*innen und dem Bundesdurchschnitt –, sind es für die übrigen Selbständigen, in der Pandemie auseinander. Die Mi- Bundesländer gemeinsam 17,7 Prozent. Der Abstand krozensusdaten geben nun Hinweise darauf, wie weit zwischen Bayern (11,6 Prozent) und dem schlechtplat- diese Einkommenseinbußen Menschen tatsächlich un- ziertesten Bundesland Bremen (28,4 Prozent) beträgt ter die Armutsschwelle drückten. mittlerweile 16,8 Prozentpunkte. Mit außerordentlich hohen Armutsquoten von um die 20 Prozent fallen Der erste wichtige Befund: Noch nie wurde auf der Da- auch Mecklenburg-Vorpommern, Berlin und Sachsen- tenbasis des Mikrozensus eine höhere Armutsquote Anhalt auf. in Deutschland gemessen als 2020. 16,1 Prozent der Bevölkerung bzw. 13,4 Millionen Menschen müssen Wenngleich die auf Grundlage des Mikrozensus ge- danach zu den Armen in diesem Lande gerechnet wer- messene Armutsquote mit 16,1 Prozent einen neuen den – ein neuer trauriger Rekord. Höchststand erreicht hat, ist das große Beben in der Armutsstatistik infolge der Pandemie bisher ausge- Wenn auch der Vergleich der Daten aus den Erhe- blieben. Für rund vier Fünftel der Bevölkerung war bungen 2020 und 2019 aus methodischen Gründen das Krisenjahr mit überhaupt keinen finanziellen Ein- nur eingeschränkt möglich ist, passen die Daten in das bußen verbunden. Politische Maßnahmen wie das Bild eines besorgniserregenden Aufwärtstrends der Kurzarbeitergeld und diverse Unterstützungsmaß- Armutsquoten, der seit 2006 zu beobachten ist. nahmen von Bund und Ländern für Selbständige und die Wirtschaft insgesamt verhinderten noch höhere Angesichts des tiefen wirtschaftlichen Einbruchs im Pan- Armutswerte. Sie sorgten dafür, dass das Ausmaß der demiejahr 2020 und einer sprunghaft angestiegenen Ar- Armut nicht proportional zum Wirtschaftseinbruch beitslosenquote überrascht die hohe Armutsquote nicht. und dem Beschäftigungsabbau zunahm. Allerdings Auf der anderen Seite erwiesen sich Kurzarbeitergeld, unternahm die Bundesregierung so gut wie nichts, um aber auch Arbeitslosengeld I als wirksame Instrumente im Pandemiejahr 2020 die Not derer zu lindern, die be- der Armutsvermeidung. Sie verhinderten zwar keine Ein- reits in Armut und insbesondere im Bezug von Hartz kommenseinbußen, bewahrten aber ganz offensichtlich IV oder Altersgrundsicherung waren. In der zweiten viele Menschen in der Krise vor dem Fall in die Armut. Es Jahreshälfte 2020 wurde ein Kinderbonus von 300 fällt auf, dass unter den Erwerbstätigen im Pandemiejahr Euro pro Kind gezahlt, der auch Familien in Hartz-IV- vergleichsweise mehr Selbständige als abhängig Be- Haushalten zu Gute kam. Ansonsten dauerte es trotz schäftigte unter die Armutsgrenze gerutscht sind. des pandemiebedingten Wegfalls vieler Hilfsangebote wie der Tafeln, des kostenlosen Schulessens oder der Davon abgesehen bleibt das soziodemografische Risi- Sozialkaufhäuser und trotz der zusätzlichen Kosten koprofil das der Vorjahre: Nach wie vor zeigen Haus- für Desinfektionsmittel oder Masken, fast ein ganzes halte mit drei und mehr Kindern (30,9 Prozent) sowie Jahr, bis sich die Große Koalition dazu durchringen Alleinerziehende (40,5 Prozent) die höchste Armuts- konnte, auch an alle erwachsenen Bezieher*innen von betroffenheit aller Haushaltstypen. Erwerbslose (52 Hartz IV und von Altersgrundsicherung wenigstens Prozent) und Menschen mit niedrigen Bildungsab- eine einmalige kleine Zahlung von 150 Euro zu leisten. schlüssen (30,9 Prozent) sind ebenfalls sehr stark über- Ausgezahlt wurde das Geld dann im Mai 2021. Auch proportional betroffen. Das gleiche gilt für Menschen brauchte es erst einschlägige Gerichtsurteile, bevor mit Migrationshintergrund (27,9 Prozent) und ohne das Bundesarbeitsministerium in 2021 der Arbeitsver- deutsche Staatsangehörigkeit (35,8 Prozent). waltung endlich Anweisung gab, notwendige Ausga- ben zur digitalen Teilhabe am Unterricht als Mehrbe- Im Ländervergleich zeigt sich, dass sich der Wohl- darf anzuerkennen. Die Pandemie traf und trifft Arm standsgraben zwischen Bayern und Baden-Württem- und Reich sehr unterschiedlich hart. 3
Die Not derer, die in zu kleinen Wohnungen mit nur schlechter Ausstattung von ohnehin nicht mal das Exi- stenzminimum deckenden Regelsätzen leben muss- ten, wurde geradezu erdrückend. Doch findet sich dies in keiner Statistik wieder. Wir haben uns deshalb ent- schlossen, in diesem Armutsbericht auch den Betrof- fenen selbst Platz einzuräumen. In zwei Konferenzen unseres Verbandes, im Juni und im November 20211, berichteten sie über ihre Alltagserfahrungen in einem Leben in Armut und mit Hartz IV. Wir haben darauf ver- zichtet, die für sich stehenden kurzen Statements wei- ter zu kommentieren, möchten sie den Leser*innen dieses Berichts jedoch sehr ans Herz legen.2 Zitat von Yaska K. „Es geht ja wieder auf Weihnachten zu. Das ist eine Zeit, wo ich immer besonders niedergeschlagen bin – obwohl ich Weihnachten liebe – weil ich da die absolute Ausgrenzung sehe. In diesen Regelsätzen gibt es keinen Posten für Weihnachten und Geburtstage.” Zitat von Hanke L. „Es gibt insgesamt 1000 Wohnungen in der Größe 40 bis 50 Quadratmeter bei uns im Kreis. Und genau so hoch ist auch der Bedarf allein von denjenigen, die Arbeitslosengeld II beziehen. Da haben wir ungefähr 1000 Haushalte. Die Gesamtzahl reicht schon nicht – und dann ist ein Großteil davon teurer als das, was die Jobcenter an Kosten übernehmen, sodass Menschen gezwungen sind, bei der Miete drauf zu zahlen. Davon bin ich auch betroffen, obwohl meine Wohnung nur 42 Quadratmeter groß ist, bezahl ich jeden Monat noch 70 Euro bei der Miete dazu. Das ist Geld, das fehlt.” 1 Mehr Informationen unter www.aktionskongress.de 2 Zum Schutz der Anonymität der Betroffenen werden Pseudonyme genutzt. 4
1. Armut in Deutschland 2020 Der Paritätische Armutsbericht 2021 setzt, wie in je- Ob dies ausreichen könnte, einen weiteren Anstieg dem Jahr, auf den Erhebungen und Berechnungen des der Armut zu verhindern, wurde nicht nur vom Paritä- Statistischen Bundesamtes auf, womit wir erstmals tischen angezweifelt – nicht wegen der Höhe der ein- Armutsdaten für das Pandemiejahr 2020 analysieren gesetzten Mittel, sondern weil klare armutspolitische können. Akzente in diesen Programmen fehlten.3 Die Wirt- schaftsforschungsinstitute befürchteten in ihrer Ge- Schon vor Ausbruch der Pandemie war Deutschland meinschaftsdiagnose 2020 sogar, die Maßnahmen der ein in tiefer Ungleichheit zerrissenes Land. Bereits seit Bundesregierung zur Nachfragestimulierung trügen 2006 wurde die Gruppe der über mangelndes Einkom- insgesamt dazu bei, dass sich die Einkommensschere men Marginalisierten im Trend beständig größer. Die zwischen denjenigen, die Einkommenseinbußen hät- fast alljährlichen Steigerungen des Bruttoinlandspro- ten, und der übrigen Bevölkerung eher vergrößert.4 dukts kamen bei den Armen nicht an, sondern vergrö- ßerten in ihrer Verteilungswirkung ganz offensichtlich Mit dem Armutsbericht 2021 können wir nunmehr noch Ungleichheit und Ausgrenzung. die Armutslage im ersten Pandemiejahr statistisch ausleuchten. Datengrundlage ist der Mikrozensus, Der durch Corona ausgelöste wirtschaftliche Einbruch eine jährliche repräsentative amtliche Befragung von ab dem zweiten Quartal 2020 führte zu einem mas- rund einem Prozent aller Haushalte und Personen in siven Rückgang der Erwerbstätigenzahlen und einem Deutschland. Wenn die Pandemie die Datenerhebung ebensolchen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Die Bun- auch erschwert hat, wie das Statistische Bundesamt desregierung reagierte mit einer beispiellosen Offen- einräumt, und die Ergebnisse aus 2020 nur mit Ein- sive an ökonomischen und arbeitsmarktpolitischen schränkungen mit dem Vorjahr vergleichbar sind, be- Stützungsmaßnahmen. Schutzschirme wurden auf- kommen wir doch ein valides Bild über die Lage 2020 gespannt. Ein 130 Milliarden starkes Konjunkturpro- und in der Gegenüberstellung der Mikrozensuserhe- gramm wurde Mitte des Jahres aufgelegt, dessen Inhalt bungen von 2019 und 2020 durchaus interessante von der befristeten Absenkung der Mehrwertsteuer und plausible Erkenntnisse über die Armut in dem er- über einen Familienbonus bis hin zur Absenkung der sten Pandemiejahr.5 EEG-Umlage als Bestandteil des Strompreises reichte. Von außerordentlicher Bedeutung war die Auswei- Die Armutsquote in 2020 beträgt 16,1 Prozent (Tabel- tung des Kurzarbeitergeldes, ein Instrument, das sich le 1). Selbst wenn man die vom Statistischen Bundes- bereits in der Rezession 2009 bewährt hatte. amt angemerkten methodischen Einschränkungen ins Kalkül zieht, bleibt die Tatsache, dass auf der Datenbasis des Mikrozensus noch nie ein höherer Armutswert für Deutschland Zitat von Ranja H. gemessen wurde. 16,1 Prozent „Mein Backofen ist kaputt gegangen. Schon am entsprechen 13,4 Millionen Anfang des Monats nach allen Abzügen bleiben mir Menschen, die hierzulan- 200 Euro. Mit diesen 200 Euro muss ich abwägen, ob ich den de zu den Armen gezählt Backofen ersetzen soll oder meiner Tochter im Übergang Winter- werden müssen. Dies sind 0,2 Prozentpunkte bzw. schuhe kaufen soll oder eher ihren Geburtstag vorbereiten soll. 200.000 mehr als in der Er- Oder meine Vorbeugung, meine zahnärztliche Behandlung hebung aus 2019. für 90 Euro, die ich selber bezahlen muss. Ich frage mich, wie soll ich das hinkriegen?” 3 Der Paritätische Gesamtverband (2020): Der Paritätische Armutsbericht 2020, S. 22 ff. 4 Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose (2020): Erholung verliert an Fahrt – Wirtschaft und Politik weiter im Zeichen der Pandemie. Gemeinschaftsdiagnose 2-22, Kiel, S. 74. 5 Vergleiche Kapitel 7 zu methodischen Fragen. 5
Tabelle 1: Armutsquoten und SGB II-Quoten nach Bundesländern seit 2005 (in %) 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 Armutsquote 14,7 14,0 14,3 14,4 14,6 14,5 15,0 Deutschland SGB II-Quote 9,5 10,9 10,8 10,3 10,1 9,9 9,5 Armutsquote 20,4 19,2 19,5 19,5 19,5 19,0 19,4 Ostdeutschland (einschl. Berlin) SGB II-Quote 16,5 18,5 18,4 17,7 16,9 16,3 15,6 Armutsquote 13,2 12,7 12,9 13,1 13,3 13,3 13,8 Westdeutschland SGB II-Quote 7,7 9,0 8,9 8,5 8,4 8,4 8,0 Armutsquote 10,6 10,1 10,0 10,2 10,9 11,0 11,1 Baden-Württemberg SGB II-Quote 4,9 5,8 5,6 5,3 5,3 5,4 5,0 Armutsquote 11,4 10,9 11,0 10,8 11,1 10,8 11,1 Bayern SGB II-Quote 4,8 5,4 5,1 4,7 4,7 4,6 4,2 Armutsquote 19,7 17,0 17,5 18,7 19,0 19,2 20,6 Berlin SGB II-Quote 19,1 21,3 21,7 21,4 21,2 21,1 21,2 Armutsquote 19,2 18,9 17,5 16,8 16,7 16,3 16,8 Brandenburg SGB II-Quote 15,0 16,9 16,8 16,0 15,1 14,3 13,6 Armutsquote 22,3 20,4 19,1 22,2 20,1 21,1 22,0 Bremen SGB II-Quote 17,4 19,0 18,7 18,1 17,9 18,1 17,7 Armutsquote 15,7 14,3 14,1 13,1 14,0 13,3 14,7 Hamburg SGB II-Quote 13,1 14,2 14,2 13,8 13,6 13,5 13,1 Armutsquote 12,7 12,0 12,0 12,7 12,4 12,1 12,8 Hessen SGB II-Quote 7,6 9,1 9,2 9,0 8,9 8,8 8,4 Armutsquote 24,1 22,9 24,3 24,0 23,1 22,4 22,1 Mecklenburg-Vorpommern SGB II-Quote 18,9 20,6 20,2 18,8 17,2 16,2 15,4 Armutsquote 15,5 15,3 15,5 15,8 15,3 15,3 15,5 Niedersachsen SGB II-Quote 9,3 10,8 10,7 10,3 10,0 9,7 9,3 Armutsquote 14,4 13,9 14,6 14,7 15,2 15,4 16,4 Nordrhein-Westfalen SGB II-Quote 9,5 11,5 11,5 11,2 11,1 11,2 11,0 Armutsquote 14,2 13,2 13,5 14,5 14,2 14,8 15,1 Rheinland-Pfalz SGB II-Quote 7,0 7,8 7,7 7,4 7,3 7,2 6,7 Armutsquote 15,5 16,0 16,8 15,8 16,0 14,3 15,2 Saarland SGB II-Quote 9,2 10,4 10,4 10,0 9,8 9,8 9,4 Armutsquote 19,2 18,5 19,6 19,0 19,5 19,4 19,5 Sachsen SGB II-Quote 15,2 17,2 17,0 16,2 15,5 14,7 13,8 Armutsquote 22,4 21,6 21,5 22,1 21,8 19,8 20,6 Sachsen-Anhalt SGB II-Quote 17,9 19,9 19,9 19,2 18,4 17,4 16,6 Armutsquote 13,3 12,0 12,5 13,1 14,0 13,8 13,6 Schleswig-Holstein SGB II-Quote 10,2 11,2 11,0 10,6 10,1 9,9 9,7 Armutsquote 19,9 19,0 18,9 18,5 18,1 17,6 16,7 Thüringen SGB II-Quote 13,5 15,0 14,8 13,8 13,0 12,2 11,3 Ab 2011: Armutsquoten sind Ergebnisse des Mikrozensus mit Hochrechnungsrahmen auf Grundlage des Zensus 2011,davor auf Grundlage der Volkszählung 1987 (Westen) bzw. 1990 (Osten), IT.NRW. * Die Ergebnisse des Mikrozensus für 2020, auf denen die Armutsquote beruht, sind aus methodischen Gründen nur eingeschränkt mit Vorjahreswerten vergleichbar. Datenquelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Bundesagentur für Arbeit. © Der Paritätische Gesamtverband, Armutsbericht 2021 6
Fortsetzung Tabelle 1: Armutsquoten und SGB II-Quoten nach Bundesländern... 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020* 15,0 15,5 15,4 15,7 15,7 15,8 15,5 15,9 16,1 Deutschland 9,3 9,4 9,3 9,3 9,2 9,3 8,9 8,4 8,3 19,6 19,8 19,2 19,7 18,4 17,8 17,5 17,9 18,5 Ostdeutschland (einschl. Berlin) 15,3 15,1 14,7 14,1 13,4 13,0 12,0 11,1 10,7 13,9 14,4 14,5 14,7 15,0 15,3 15,0 15,4 15,5 Westdeutschland 7,9 8,0 8,1 8,1 8,2 8,5 8,2 7,8 7,8 11,1 11,4 11,4 11,8 11,9 12,1 11,9 12,3 13,0 Baden-Württemberg 4,9 4,9 4,9 5,0 5,0 5,3 5,1 4,8 4,9 11,0 11,3 11,5 11,6 12,1 12,1 11,7 11,9 11,6 Bayern 4,0 4,0 4,1 4,1 4,2 4,3 4,1 3,7 3,8 20,8 21,4 20,0 22,4 19,4 19,2 18,2 19,3 20,6 Berlin 21,2 20,7 20,3 19,9 19,1 18,5 17,5 16,4 16,5 18,1 17,7 16,9 16,8 15,6 15,0 15,2 15,2 14,5 Brandenburg 13,3 13,2 12,7 11,9 11,3 10,7 9,7 8,8 8,2 22,9 24,6 24,1 24,8 22,6 23,0 22,7 24,9 28,4 Bremen 17,6 17,7 17,8 18,2 18,3 18,9 18,5 18,1 18,2 14,8 16,9 15,6 15,7 14,9 14,7 15,3 15,0 17,8 Hamburg 12,9 12,8 12,6 12,6 12,5 12,6 12,2 11,8 12,2 13,3 13,7 13,8 14,4 15,1 15,4 15,8 16,1 17,4 Hessen 8,2 8,4 8,5 8,5 8,5 8,8 8,5 8,0 8,1 22,8 23,6 21,3 21,7 20,4 19,4 20,9 19,4 19,7 Mecklenburg-Vorpommern 15,1 15,0 14,6 13,8 13,2 12,6 11,5 10,4 9,7 15,7 16,1 15,8 16,5 16,7 16,7 15,9 17,1 17,6 Niedersachsen 9,1 9,2 9,1 9,1 9,1 9,4 9,1 8,6 8,5 16,3 17,1 17,5 17,5 17,8 18,7 18,1 18,5 17,4 Nordrhein-Westfalen 11,0 11,2 11,4 11,5 11,5 11,9 11,6 11,2 11,1 14,6 15,4 15,5 15,2 15,5 15,6 15,4 15,6 15,9 Rheinland-Pfalz 6,6 6,7 6,8 6,9 7,0 7,4 7,1 6,7 6,8 15,4 17,1 17,5 17,2 17,2 16,8 16,0 17,0 16,9 Saarland 9,3 9,6 9,9 10,2 11,3 11,7 11,3 10,9 10,8 18,8 18,8 18,5 18,6 17,7 16,8 16,6 17,2 17,9 Sachsen 13,3 13,0 12,5 11,7 10,9 10,4 9,5 8,7 8,3 21,1 20,9 21,3 20,1 21,4 21,0 19,5 19,5 20,6 Sachsen-Anhalt 16,4 16,4 15,9 15,2 14,6 14,2 13,2 12,2 11,4 13,8 14,0 13,8 14,6 15,1 14,8 15,3 14,5 15,9 Schleswig-Holstein 9,6 9,8 9,8 9,8 9,8 10,2 9,8 9,3 9,1 16,8 18,0 17,8 18,9 17,2 16,3 16,4 17,0 17,7 Thüringen 10,9 10,8 10,5 10,0 9,6 9,4 8,7 8,0 7,6 Ab 2011: Armutsquoten sind Ergebnisse des Mikrozensus mit Hochrechnungsrahmen auf Grundlage des Zensus 2011, davor auf Grundlage der Volkszählung 1987 (Westen) bzw. 1990 (Osten), IT.NRW. * Die Ergebnisse des Mikrozensus für 2020, auf denen die Armutsquote beruht, sind aus methodischen Gründen nur eingeschränkt mit Vorjahreswerten vergleichbar. Datenquelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Bundesagentur für Arbeit. © Der Paritätische Gesamtverband, Armutsbericht 2021 7
Zitat von Inge S. Legen wir die Erhebungen von 2005 bis 2019 und die tersuchung des aus 2020 nebeneinander, muss nicht nur von einem „Ich habe Angst vor der DIW, die zu dem neuen Rekordwert der Armut ausgegangen werden, Zukunft.” Schluss kommt, sondern auch davon, dass sich der besorgniserre- dass bei positiver gende Aufwärtstrend der Armutsquoten, der seit 2006 Konjunktur die Einkom- zu beobachten ist, mit höchster Wahrscheinlichkeit mensungleichheiten zwischen niedrigen und ho- auch in 2020 fortgesetzt hat. hen Einkommen eher noch zunehmen.6 Ihre weitere These, wonach in Krisenzeiten die Einkommensun- In der längerfristigen Betrachtung bleibt der Befund, gleichheit sinken würde, findet in den Armutszahlen dass sich wirtschaftliche Entwicklung und Armutsent- für Deutschland allerdings keine Entsprechung. Statt- wicklung weitgehend entkoppelt haben (Grafik 1). Der dessen stellten alle einschlägigen Forschungen bei- Wohlstand dieses Landes findet nicht seinen Weg zu spielsweise für den wirtschaftlichen Einbruch durch den Armen. Zunehmender gesamtgesellschaftlicher Wirtschafts- und Finanzkrise im Jahr 2009 einen An- Reichtum geht mit steigenden Armutsraten einher. stieg der Armut fest.7 Dieser Befund korrespondiert mit einer aktuellen Un- Grafik 1: Armuts- und Wirtschaftsentwicklung 2008 bis 2019 und 2020* 45.000 18 41.801 40.623 40.494 39.527 40.000 38.067 17,5 37.046 36.149 34.135 34.860 35.000 33.554 17 31.530 31.942 30.862 30.388 29.383 30.000 28.134 16,5 16,1 25.000 15,9 16 15,7 15,8 BIP/Einwohner*in Armutsquote 15,5 15,7 20.000 15,5 15,5 Ab 2011: Ergebnisse des Mikrozensus 15,4 15,0 mit Hochrechnungsrahmen auf 15.000 15 Grundlage des Zensus 2011, davor 14,7 15,0 auf Grundlage der Volkszählung 1987 14,6 (Westen) bzw. 1990 (Osten). 10.000 14,3 14,5 *Die Ergebnisse des Mikrozensus für 14,5 2020, auf denen die Armutsquote 14,4 beruht, sind aus methodischen 5.000 14 Gründen nur eingeschränkt mit 14,0 Vorjahreswerten vergleichbar. Datenquelle: Bundesbank, 0 13,5 Statistische Ämter des Bundes 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 und der Länder. Euro % © Der Paritätische Gesamtverband, Armutsbericht 2021 6 DIW (2021): Einkommensungleichheit in Deutschland sinkt in Krisenzeiten temporär, in: DIW-Wochenbericht 46 / 2021, S. 755-761. 7 Nach Daten des EU-SILC stieg in 2009 die Armutsquote von 15,5 auf 15,6 Prozent, auf Basis des Mikrozensus von 14,4 auf 14,6 Prozent und auf der Grundlage des SOEP sogar von 14,7 auf 15,1 Prozent. Siehe dazu: BMAS 2021: Armuts- und Reichtumsbericht – Armutsrisikoquote, online: www. armuts-und-reichtumsbericht.de/DE/Indikatoren/Armut/Armutsrisikoquote/ A01-Indikator-Armutsrisikoquote.html, letzter Abruf: 3.12.2021. 8
Im Krisenjahr 2020 steht einer für deutsche Verhält- Dieser Wellenbewegung folgte auch die größer wer- nisse sehr hohen Armutsquote eine geradezu sprung- dende Arbeitslosigkeit. Die Zahl der registrierten Ar- haft gestiegene Arbeitslosenquote (von 5,0 auf 5,9 beitslosen stieg im 2. Quartal 2020 von 2,3 auf 2,9 Mil- Prozent), aber eine im Jahresdurchschnitt überra- lionen Menschen, um bis Jahresende wieder leicht auf schenderweise sogar sehr leicht gesunkene Hartz IV- noch 2,7 Millionen zurückzufallen. Die jahresdurch- Quote (von 8,4 auf 8,3 Prozent) gegenüber (Grafik 2). schnittliche Arbeitslosenquote von 5,9 Prozent war im Monat August bis 6,4 Prozent geklettert.10 Hintergrund ist ein spürbarer Stellenabbau – trotz des sehr schnellen und entschlossenen Handelns der Die Zahl der Bezieher*innen von Hartz IV landete nach Bundesregierung, trotz Kurzarbeitergeld und Über- einem rasanten Anstieg um 330.000 bis zum Juni 2020 brückungshilfen. Von 2019 auf 2020 sank die Zahl der zu Jahresende wieder bei 5,6 Millionen und lag damit Erwerbstätigen von 45,3 Millionen auf 44,9 Millionen.8 nur relativ wenig über dem Stand vor der Pandemie. Die hohen Armutszahlen im ersten Pandemiejahr – 13,4 Der Abbau geschah in einer Wellenbewegung. Im Millionen Menschen in Armut – lassen sich somit nicht 2. Quartal – also mit Einsetzen der Pandemie – ging die allein mit höheren Arbeitslosenquoten und mehr Hartz Erwerbstätigenzahl um gleich 600.000 zurück. Beson- IV-Beziehenden erklären. Ein Großteil der Armut spielt ders betroffen war mit rund 250.000 die Gruppe aus- sich vielmehr im Dunkelzifferbereich11 der Mindestsi- schließlich geringfügig Beschäftigter. Nach Branchen cherungsleistungen ab oder aber knapp oberhalb der zeigten das Gastgewerbe und die Leiharbeit die größ- Schwelle zu Hartz IV und Altersgrundsicherung. (s. auch ten „Schwankungen“.9 Kapitel 3). Grafik 2: Armutsquote, SGB II-Quote und Arbeitslosenquote 2005 bis 2019 und 2020* (in %) 18 15,8 15,9 16,1 15,7 16 15,5 14,7 15,0 14,6 14,3 14 Armutsquote SGB II-Quote Arbeitslosenquote 11,7 12 10,8 Ab 2011: Ergebnisse des Mikro- zensus mit Hochrechnungs- 10,1 9,5 rahmen auf Grundlage des 10 9,5 9,4 9,3 9,3 Zensus 2011, davor auf Grund- lage der Volkszählung 1987 9,0 8,4 (Westen) bzw. 1990 (Osten). 8,3 8,1 *Die Ergebnisse des Mikrozensus 8 für 2020, auf denen die Armuts- 7,1 6,9 quote beruht, sind aus methodischen 6,4 Gründen nur eingeschränkt mit 5,7 5,9 Vorjahreswerten vergleichbar. 6 5,0 Datenquelle: Bundesbank, Statistische Ämter des Bundes und der Länder. 4 © Der Paritätische Gesamtverband, % 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Armutsbericht 2021 10 Statistisches Bundesamt: Arbeitslosenquote Deutschland https:// www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Konjunkturindikatoren/ Arbeitsmarkt/arb210a.html, letzter Abruf: 3.12.2021. 8 Statistisches Bundesamt (2021): Eckzahlen zum Arbeitsmarkt, online: 11 Die Nicht-Inanspruchnahme von Sozialleistungen wird auf 43 bis 56 www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Erwerbstaetigkeit/ Prozent in der Grundsicherung für Arbeitssuchende und auf 60 Prozent Tabellen/eckwerttabelle.html, letzter Abruf: 3.12.2021. in der Grundsicherung im Alter geschätzt. Siehe dazu: Friedrichsen, Jana/ 9 Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose (2020): Erholung verliert Schmacker, Renke 2019: Die Angst vor Stigmatisierung hindert Menschen 9 an Fahrt – Wirtschaft und Politik weiter im Zeichen der Pandemie. daran, Transferleistungen in Anspruch zu nehmen. In: DIW-Wochenbericht Gemeinschaftsdiagnose 2-22 Kiel S. 57 f. Nr. 26/2019. Berlin.
2. Armut in den Bundesländern In den Bundesländern lag die Armutsquote 2020 zwi- Der Unterschied ist damit durchaus bemerkenswert: schen 11,6 Prozent und 28,4 Prozent. Die niedrigsten Während in Bayern etwas mehr als jede neunte Person Quoten hatten dabei Bayern, Baden-Württemberg von Armut betroffen ist, ist es in Sachsen-Anhalt und und Brandenburg, die höchsten Berlin, Sachsen-An- Berlin jede fünfte Person, in Bremen sogar mehr als halt und Bremen (Karte 1). jede*r Vierte. Karte 1: Armutsquoten 2020 nach Bundesländern 10
In elf Bundesländern lag die Armutsquote 2020 ober- Wie verhalten sich nun die Armutsquoten der Länder halb des Bundesdurchschnitts von 16,1 Prozent. Ne- zur jeweiligen Quote der Personen in Hartz IV (SGB II- ben Bayern und Baden-Württemberg liegen nur Bran- Quote)? Zunächst einmal sind beide Quoten auf un- denburg, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein terschiedlichem Niveau, die Armutsquote für Deutsch- unterhalb des deutschlandweiten Werts. Damit wird land bei 16,1 Prozent, die SGB II-Quote bei 8,3 Prozent. deutlich, dass es vor allem auf die vergleichsweise Allerdings gibt es auch 2020 einen starken statisti- niedrigen Quoten in den bevölkerungsreichen Bun- schen Zusammenhang zwischen den jeweiligen Quo- desländern Bayern und Baden-Württemberg zurück- ten eines Bundeslandes. Grundsätzlich gilt: Je höher zuführen ist, dass die Armutsquote deutschlandweit die SGB II-Quote in einem Bundesland, desto höher nicht noch höher liegt. Wie stark diese beiden Bundes- ist auch die Armutsquote. Dieser Zusammenhang ist länder zur Quote beitragen, lässt sich exemplarisch an aus sozialpolitischer Perspektive nicht überraschend, einer Armutsquote allein für die anderen 14 Bundes- schließlich ist das Einkommen von Menschen in der ländern zeigen. Wer Bayern und Baden-Württemberg Mindestsicherung durch die Höhe von Regelsätzen zu diesem Zweck herausrechnet, erhält eine Armuts- bestimmt, die nicht armutsfest sind.12 quote für den Rest von Deutschland, die bei 17,7 Pro- zent liegt. Darüber hinaus ist ein Blick auf die zeitliche Entwick- lung beider Quoten interessant. Seit 2006, dem Jahr, in dem der Aufwärtstrend der Armut einsetzte, ent- Karte 2: Zweiteilung Deutschlands wickeln sich Armutsquote und SGB II-Quote in un- terschiedliche Richtungen. Während 2019 weniger Menschen in Hartz IV lebten als noch 2006 (10,9 zu 8,4 Armutsquoten 2020 Prozent), hat die Zahl der Menschen in Armut in die- sem Zeitraum zugenommen (14,0 zu 15,9 Prozent). Beim näheren Blick auf Ostdeutschland fallen für 2020 große Unterschiede zwischen den Bundesländern auf, insbesondere bei der Armutsquote. Der großen Armut in Sachsen-Anhalt, Berlin und Mecklenburg-Vorpom- mern stehen die – im deutschlandweiten Vergleich – guten Zahlen in Brandenburg entgegen. Die Armuts- quoten von Sachsen und Thüringen von 17,9 bzw. 17,7 Prozent sind denen der west- und norddeutschen Flä- chenländer sehr ähnlich. Erst auf den zweiten Blick auffällig ist eine Gruppe von Bundesländern, deren Armutsquote oberhalb des bun- desweiten Durchschnitts von 16,1 Prozent liegt. Hierzu zählen das Saarland, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Nie- dersachsen, Thüringen, Hamburg und Sachsen. Diese sieben Bundesländer liegen mit einer Spanne von nur einem Prozentpunkt sehr eng beieinander. Alleine in dieser Gruppe leben über sieben Millionen Menschen in Armut, mehr als die Hälfte aller armen Menschen in Deutschland. Mit Abstand dazu folgen Mecklenburg- Vorpommern, Berlin und Sachsen-Anhalt, ebenfalls sehr 12 Siehe z.B. Aust, Andreas (2020): Arm, abgehängt, ausgegrenzt. Eine Untersuchung zu Mangellagen eines Leben mit Hartz IV. Berlin: Der Paritätische Gesamtverband. 11
eng zusammenliegend, mit Quoten zwischen 19,7 und Berlin und Sachsen-Anhalt auf, wo jede fünfte Person 20,6 Prozent. Dann folgt mit Abstand und mittlerweile in Armut lebt. Berechnete man für diese drei Länder völlig abgeschlagen Bremen mit 28,4 Prozent. Interes- eine eigene Quote, so läge sie bei 20,4 Prozent. Die sant ist, dass die letzten vier Länder mit ihren besonders restlichen Bundesländer des Ostens fügen sich hin- hohen Armutsquoten 2020 noch einmal deutlich hö- sichtlich der Armutsquote dagegen eher in den Rest here Quoten zeigen als 2019 (Grafik 3). der westlichen, zentralen und nördlichen Bundeslän- der ein. Zwei Prozentpunkte ober- und unterhalb des Armutsgeografisch zeigt sich so eine Dreiteilung deutschlandweiten Schnitts versammeln sich insge- Deutschlands: Im Süden zwei große Bundesländer samt zehn Bundesländer, darunter große Flächenlän- mit Armutsquoten, die bis zu 4,5 Prozentpunkte un- der wie Nordrhein-Westfalen, Hessen, Niedersachsen terhalb des Bundesschnitts liegen. Wobei allerdings in und Sachsen. Für diese geografisch weit verteilte, aber den Jahren 2005 bis 2019 sowohl in Bayern als auch hinsichtlich der Armutsquote konsistente Gruppe, Baden-Württemberg eine insgesamt steigende Ten- läge die gemeinsame Armutsquote bei 17,1 Prozent. denz der Armutszahlen zu beobachten ist. Zusam- Bremen hebt sich mit einer Armutsquote von 28,4 Pro- men hat der Süden 2020 eine Armutsquote von 12,2 zent ausgesprochen deutlich von allen anderen Bun- Prozent. Im Osten fallen Mecklenburg-Vorpommern, desländern ab. Grafik 3: Armutsquoten 2020 – Ranking nach Bundesländern 1. Bayern 11,6 % 2. Baden-Württemberg 13,0 % 3. Brandenburg 14,5 % 4. Rheinland-Pfalz 15,9 % 5. Schleswig-Holstein 15,9 % Deutschland 16,1 % 6. Saarland 16,9 % 7. Hessen 17,4 % 8. Nordrhein-Westfalen 17,4 % 9. Niedersachsen 17,6 % 10. Thüringen 17,7 % 11. Hamburg 17,8 % 12. Sachsen 17,9 % 13. Mecklenburg-Vorpommern 19,7 % 14. Berlin 20,6 % 15. Sachsen-Anhalt 20,6 % 16. Bremen 28,4 % 0 5 10 15 20 25 30 Datenquelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder. © Der Paritätische Gesamtverband, Armutsbericht 2021 12
3. Soziodemografie der Armut Das soziodemografische Profil der Armut in der Erhe- würde, würden Pensionär*innen auf der einen Seite und bung 2020 unterscheidet sich nicht wesentlich vom Rentner*innen auf der anderen Seite nicht „in einen Topf Armutsrisikoprofil der Vorgängererhebungen. Nach geworfen”, sondern die Quoten für beide getrennt aus- wie vor zeigen Haushalte mit drei und mehr Kindern gewiesen, wie entsprechende Berechnungen des Statis- sowie Alleinerziehenden-Haushalte die höchste Ar- tischen Bundesamtes für 2019 zeigten. In jenem Jahr be- mutsbetroffenheit aller Haushalte. Erwerbslose und trug die gemeinsame Armutsquote für Rentner*innen Menschen mit niedrigen Bildungsabschlüssen sowie und Pensionär*innen 17,1 Prozent. Tatsächlich waren es Migrationshintergrund sind ebenfalls stark überpro- bei den Rentner*innen jedoch 20,7 Prozent und bei den portional betroffen (Tabelle 2). Pensions-Beziehenden nur 1,1 Prozent.14 Im Einzelnen kann festgehalten werden: Weiterhin sehr stark von Armut betroffen sind auch in 2020 Personen mit nur niedrigem Bildungsabschluss Geschlecht: Frauen weisen 2020 mit 16,9 Prozent eine (30,9 Prozent) sowie ohne deutsche Staatsangehö- deutlich höhere Armutsquote auf als Männer mit 15,3 rigkeit (35,8 Prozent) oder mit Migrationshintergrund Prozent. Besonders gravierend ist die Diskrepanz zwi- (27,9 Prozent). schen den Geschlechtern bei älteren Personen ab 65 Jahren. Besonders viele Frauen sind von Altersarmut Wenn damit auch das gruppenspezifische Risikoprofil betroffen (18,4 Prozent zu 13,9 Prozent bei Männern). der Armut in 2020 im Wesentlichen dem aus der Erhe- Die Altersarmut ist damit überwiegend weiblich. bung in 2019 entspricht, so verdienen vor dem Hin- tergrund der Pandemie zwei Kennzahlen besondere Alter: Deutlich überdurchschnittlich von Armut be- Beachtung. Es betrifft die Erwerbstätigen und die Er- troffen sind Kinder und Jugendliche (20,2 Prozent) werbslosen. sowie junge Erwachsene bis 25 Jahre (26,0 Prozent). Dabei dürfte bei letzteren insbesondere die hohe Ein- kommensarmut unter Studierenden und Auszubil- Zitat von Hanke L. denden eine Rolle spielen.13 „Ich engagiere mich in einem Mehrgeneratio- Haushaltstyp: Ein-Personen-Haushalte (27,8 nenhaus. Da kommen ältere Leute hin, Prozent), aber vor allem kinderreiche Paare einmal die Woche, manchmal auch nur alle 14 Tage. mit drei und mehr Kindern (30,9 Prozent) und Das ist für sie die einzige Anlaufstelle, wo sie preiswerten Alleinerziehende (40,5 Prozent) sind die Haus- Kaffee trinken können oder auch nur mal sich hinsetzen, haltstypen mit ganz deutlich herausragender ohne einen Kaffee zu trinken. Und die beklagen sich, Armutsbetroffenheit. wir würden gerne öfter kommen: Erwerbsstatus: Es fallen die Erwerbslosen (52 Pro- Uns fehlt das Geld für die Fahrt.” zent) sowie die deutlich überproportionale Armuts- betroffenheit der Gruppe der Rentner*innen und Pensionär*innen (17,6 Prozent) ins Auge. Letzte- res ist insofern bemerkenswert als Armut unter Rentner*innen und Pensionär*innen bis 2013 sta- tistisch eine nur untergeordnete Rolle spielte. Erst seit 2014 entwickelte auch diese Gruppe ein immer ausge- prägteres überdurchschnittliches Armutsrisiko. Dieses 13 Zu den quantitativen und qualitativen Aspekten der Armut unter Auszubildenden und Studierenden siehe ausführlich: Der Paritätische 14 Paritätischer Gesamtverband (2021): „Paritätischer kritisiert Gesamtverband (2018): Wer die Armen sind – Der Paritätische eklatante soziale Ungleichheit zwischen Rentnern und Pensionären“, Armutsbericht 2018, Berlin, S. 16 ff. Danach musste rund jede*r Pressemitteilung vom 13. August 2021, online: https://www.der- dritte Studierende zu den Armen gezählt werden, unabhängig von paritaetische.de/alle-meldungen/eklatante-soziale-ungleichheit- Familienstand, Kinderzahl oder Haushaltszusammensetzung. zwischen-rentnern-und-pensionaeren/, letzter Abruf: 3.12.2021. 13
Tabelle 2: Armutsquote nach soziodemografischen Merkmalen (Bundesmedian) Armutsquote in % Merkmal 2019 2020* Insgesamt 15,9 16,1 Alter Unter 18 20,5 20,2 18 bis unter 25 25,8 26,0 25 bis unter 50 14,1 14,3 50 bis unter 65 12,0 12,2 65 und älter 15,7 16,4 Geschlecht Männlich 15,2 15,3 Weiblich 16,6 16,9 Alter und Geschlecht Männlich 18 bis unter 25 24,7 24,5 25 bis unter 50 13,7 13,9 50 bis unter 65 11,5 11,7 65 und älter 13,5 13,9 Weiblich 18 bis unter 25 27,0 27,6 25 bis unter 50 14,6 14,7 50 bis unter 65 12,6 12,8 65 und älter 17,4 18,4 Haushaltstyp Einpersonenhaushalt 26,5 27,8 Zwei Erwachsene ohne Kind 8,7 8,7 Sonstiger Haushalt ohne Kind 8,8 9,8 Ein(e) Erwachsene(r) mit Kind(ern) 42,7 40,5 Zwei Erwachsene und ein Kind 8,8 8,9 Zwei Erwachsene und zwei Kinder 11,0 11,2 Zwei Erwachsene und drei oder mehr Kinder 30,9 30,9 Sonstiger Haushalt mit Kind(ern) 19,3 20,6 Erwerbsstatus Erwerbstätige 8,0 8,7 Selbständige (einschließlich mithelfende Familienangehörige) 9,0 13,0 Abhängig Erwerbstätige 7,9 8,3 Erwerbslose 57,9 52,0 Nichterwerbspersonen 23,1 22,5 Rentner*innen und Pensionär*innen 17,1 17,6 Personen im Alter von unter 18 Jahren 20,8 20,3 Sonstige Nichterwerbspersonen 42,8 38,8 Qualifikationsniveau der Person mit dem höchsten Einkommen im Haushalt (Haupteinkommensbezieher*in) Niedrig 41,7 38,8 Mittel 15,2 16,1 Hoch 5,9 6,4 Qualifikationsniveau (Personen im Alter von 25 Jahren und älter) Niedrig 32,9 30,9 Mittel 12,4 13,2 Hoch 6,2 6,8 Staatsangehörigkeit Ohne deutsche Staatsangehörigkeit 35,2 35,8 Mit deutscher Staatsangehörigkeit 13,2 13,3 Migrationshintergrund Mit Migrationshintergrund 27,8 27,9 Ohne Migrationshintergrund 11,7 11,8 Datenquelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder * Die Ergebnisse des Mikrozensus für 2020, auf denen die Armutsquote beruht, 14 sind aus methodischen Gründen nur eingeschränkt mit Vorjahreswerten vergleichbar. © Der Paritätische Gesamtverband, Armutsbericht 2021
Zitat von Ranja H. „Man geht ins Bett mit sorgenvollen Gedanken und soll am nächsten Morgen tipptopp fit sein, um den Tag wieder zu bewältigen. Ich frage mich, wie soll ich das hinkriegen? Als alleinerziehende Mutter jongliere ich tagtäglich mit vielen Sachen auf einmal. Ich muss Nachhilfelehrerin für meine Tochter sein, Bürokram erledigen, einkaufen, kochen, für alles mögliche muss ich sorgen. Und dann frage ich mich, wie kann ich das in Zukunft schaffen für meine Tochter da zu sein, für unseren Alltag zu sorgen? Für mich ist es wie ein Teufelskreis. Wenn ich sparen möchte und alles allein machen will, braucht das Zeit, es braucht Kraft, es braucht Gesundheit. Aber letztendlich kostet mich das meine psychische Kraft mit der Armut umzugehen. Und so schaffe ich den Absprung nie.” Auffällig ist, dass in der Erhebung 2020 Erwerbstäti- Unter den Erwerbspersonen – Erwerbstätige und Ar- ge mit 8,7 Prozent eine deutlich höhere Armutsquote beitslose – wiederum identifizierte die Hans-Böckler- aufweisen als noch 2019 (8,0 Prozent). Dies betrifft so- Stiftung von Beginn der Pandemie bis November wohl die abhängig Beschäftigten (8,3 zu 7,9 Prozent), 2020 47,9 Prozent, die Corona-bedingt Einkommen- vor allem aber die Selbständigen. Mit 13,0 Prozent seinbußen zu verzeichnen hatten.16 Dabei waren liegt deren Armutsquote gleich um 44 Prozent höher Bezieher*innen niedrigerer Einkommen (bis 900 Euro als in der Erhebung aus 2019 mit 9,0 Prozent. netto monatlich) deutlich stärker betroffen als die Gruppe mit höheren Einkommen ab 4.500 Euro, wie Eine spürbar niedrigere Quote als 2019 errechneten eine Befragung der Hans-Böckler-Stiftung bereits im die Wiesbadener Statistiker im aktuellen Mikrozensus April und Juni 2020 ergab.17 dagegen für die Erwerbslosen (52 Prozent zu 57,9 Pro- zent). Beide Phänomene sind eine nähere Betrachtung Der Einkommensverlust in Folge von Kurzarbeit wert. spielte dabei eine noch größere Rolle als der Verlust des Arbeitsplatzes, was vor dem Hintergrund der Ar- Die auffällig höhere Quote bei den abhängig Beschäf- beitsmarktdaten plausibel erscheint. Immerhin stieg tigten ist durchaus mit der Pandemie erklärbar. Rund die Zahl der Kurzarbeiter*innen im April 2020 auf über vier Fünftel der Bevölkerung mussten in der Pandemie sechs Millionen. Ab dem Sommer 2020 waren es dann gar keine finanziellen Einbußen hinnehmen: Beamte, immer noch je nach Monat zwischen zwei und drei Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, Rentner*innen Millionen.18 oder aber auch Bezieher*innen von Fürsorgelei- 16 WSI-Pressedienst vom 03.08.2021: “Weniger Erwerbstätige fürchten stungen. Das verbleibende Fünftel, auf das sich die um Job, Belastungsgefühle sinken, aber hohe Unzufriedenheit mit coronabedingten finanziellen Verluste konzentrierten, Krisenmanagement der Politik”, online: https://www.boeckler.de/pdf/ waren vor allem Erwerbstätige, wie das Leibnitz-Insti- pm_wsi_2021_08_03.pdf, letzter Abruf: 7.12.2021. 17 WSI-Pressedienst vom 29.10.2020: „Krise verstärkt soziale tut für Finanzmarktforschung in seinem „Haushaltskri- Ungleichheit und Sorgen um Demokratie Wer hat durch die Corona-Krise senbarometer“ 2020 feststellte.15 Einkommen verloren? Neue Analyse leuchtet Ursachen und Folgen aus“, online: https://www.boeckler.de/pdf/pm_wsi_2020_10_29.pdf, letzter 15 Siehe Auswertung vom 17. September 2020: „Stabile Lage der Abruf: 3.12.2021. Haushaltseinkommen in der Coronakrise Haushaltskrisenbarometer: Nach 18 Statista (2021): „Anzahl der Kurzarbeiter in Deutschland von 1991 bis sechs Monaten zeigt sich ein konstantes Bild mit leichten Verbesserungen, 2019 (Jahresdurchschnittswerte) und in den Monaten von Januar 2020 bis online: https://haushaltskrisenbarometer.de/auswertung-17-09-2020, Oktober 2021“, online: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/2603/ letzter Abruf: 3.12.2021. umfrage/entwicklung-des-bestands-an-kurzarbeitern, letzter Abruf: 15
Zitat von Elisabeth K. „Die Armut macht mich krank. Dadurch, dass ich Auch der starke Anstieg der Teil- Stress habe, geht noch mal der Blutdruck hoch. Und zeitbeschäftigung in 2020 ist unter das ist so fies, weil dadurch halt auch mehr Medikamente dem Stichwort „Einkommensein- gebraucht werden. Und dann hab ich noch weniger Geld bußen” in den Blick zu nehmen. zur Verfügung als das, was mir sowieso nur bleibt. Während die Zahl der abhängig Be- Und immer die Sorge darüber, wie es jetzt schäftigten von 2019 auf 2020 nach eigentlich weitergeht…” Auf- Daten des Statistischen Bundesamtes von fällig ist 34,2 auf 33,4 Millionen zurückging, stieg zudem, dass die Zahl der nur Teilzeitbeschäftigten die Zahl der Selb- mit mehr als 20 Wochenstunden von 4,1 auf ständigen in 2020 von 4,2 auf 4,0 Millionen abnahm 4,5 Millionen. Es kann vermutet werden, dass pande- – ein deutlich stärkerer Rückgang als in den Jahren miebedingte Arbeitszeitreduzierungen ihren Beitrag zuvor.22 zu dieser Entwicklung geleistet haben.19 Kurzarbeitergeld und diverse Hilfsprogramme für Für die Selbständigen stellt sich die Situation im Kri- Selbständige konnten damit sehr viele Menschen vor senjahr 2020 noch einmal deutlich schlechter dar als der Arbeitslosigkeit und vor der Insolvenz oder Ge- für die abhängig Beschäftigten. Auch hierzu gibt uns schäftsaufgabe bewahren. Gleichwohl konnte damit die Erwerbspersonenerhebung der Hans-Böckler-Stif- nicht verhindert werden, dass die jeweiligen Einkom- tung wertvolle Auskünfte.20 Die zwischen April 2020 menseinbußen auch mit einer stärkeren Armutsbe- und Juni/Juli 2021 in fünf Wellen befragten Selbstän- troffenheit einhergingen. Hierbei spielte insbesonde- digen gaben zum überwiegenden Teil (55 Prozent) an, re die Tatsache eine Rolle, dass Einkommensverluste soloselbständig zu sein. Jede*r Dritte erklärte, im Lau- vor allem jene Erwerbstätigen betrafen, die ohnehin fe der Pandemie seine Tätigkeiten reduziert zu haben. über kein hohes Einkommen verfügten bzw. in pre- 40 Prozent von ihnen nannten betriebliche Gründe kären Beschäftigungsverhältnisse waren. (Auftragsrückgänge u. ä.), zwei Drittel verwiesen auf gesetzliche Vorgaben im Zuge der Pandemiebekämp- Was die im Vergleich zur 2019-er Erhebung niedrigere fung. Insgesamt musste somit mehr als jede*r fünfte Armutsquote der Erwerbslosen anbelangt (52 zu 57,9 Selbständige, so die Forscher*innen, die Arbeitszeit Prozent), muss berücksichtigt werden, dass dem ra- durch corona-bedingte Einschränkungen reduzieren. piden Arbeitsplatzverlust 2020 ein wieder höherer Anteil von Arbeitslosengeld I-Bezieher*innen an den 37 Prozent aller befragten Selbständigen und sogar 44 registrierten Arbeitslosen und den Erwerbslosen ge- Prozent aller Soloselbständigen haben in der Pande- genüberstand.23 mie Einkommenseinbußen erlitten. Es fand eine auffäl- lige Einkommensverschiebung nach unten statt. Der Erhielten im Jahresdurchschnitt 2019 noch 810.000 Anteil der Einkommensbezieher von nur unter 1.500 Menschen Arbeitslosengeld I, waren es 2020 über Euro vergrößerte sich in der Pandemie (bis Juli 2021) eine Million. Hatten 2019 nur knapp 36 Prozent der bei den Selbständigen mit weiteren Beschäftigten von Arbeitslosen ein Anrecht auf Arbeitslosengeld I, waren 5 auf 11 Prozent und bei den Soloselbständigen von es 2020 fast 40 Prozent, ein Fingerzeig auf die armuts- 17 auf 23 Prozent.21 politische Bedeutung des Arbeitslosengeldes I. 3.12.2021. 19 Statistisches Bundesamt (2021): Kernerwerbstätige in 22 Statistisches Bundesamt (2021): Eckzahlen zum Arbeitsmarkt, online: unterschiedlichen Erwerbsformen - Atypische Beschäftigung, www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Erwerbstaetigkeit/ online: https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/ Tabellen/eckwerttabelle.html, letzter Abruf: 3.12.2021. Erwerbstaetigkeit/Tabellen/atyp-kernerwerb-erwerbsform-zr.html, letzter 23 Als Arbeitslose werden in der Statistik alle Personen gezählt, die Abruf: 3.12.2021. als solche bei der Bundesagentur registriert sind und die in keinem 20 Schulze-Buschoff, Karin / Emmler, Helge (2021): Selbstständige in Beschäftigungsverhältnis stehen bzw. eine Beschäftigung unter 15 der Corona-Krise - Ergebnisse aus der HBS-Erwerbspersonenbefragung, Wochenstunden ausüben. Als Erwerbslose werden dagegen nur jene Wellen 1 bis 5, WSI Policy Brief Nr. 60, 09/2021. definiert, die in den letzten vier Wochen aktiv nach einer Beschäftigung 21 Ebd. suchten und in der Lage wären, diese innerhalb von zwei Wochen 16 anzutreten.
4. Sozialstruktur der Armut Wie setzt sich die Gruppe der 13,4 Millionen Menschen Betrachten wir die erwachsenen Armen nach Erwerbs- in Armut zusammen? Diese Frage verlangt nach dem status, so fällt eine nahezu gleichmäßige Dreiteilung vorangegangenen Kapitel zunächst einen Perspektiv- auf (Grafik 4): Mehr als ein Drittel der erwachsenen wechsel. Es geht hierbei nicht um die Armutsquote Armen in Deutschland sind aktuell erwerbstätig (35 von Gruppen mit bestimmten demografischen Merk- Prozent). Weitere 35 Prozent sind erwerbslos, darunter malen, sondern um die Sozialstruktur der armen Men- ein großer Teil, der dem Arbeitsmarkt aus unterschied- schen. Ein Beispiel veranschaulicht den Unterschied: lichen Gründen nicht kurzfristig zur Verfügung steht, Gut 40 Prozent aller Alleinerziehenden waren 2020 beispielsweise wegen der Betreuung von kleinen von Armut betroffen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Kindern oder alten Menschen oder wegen einer lau- 40 Prozent aller Menschen in Armut alleinerziehend fenden Ausbildung oder Weiterqualifikation. 30 Pro- sind. Stattdessen machen die 1,2 Millionen Alleinerzie- zent der Armen sind in Rente oder Pension. Diese Ver- henden in Armut 8,8 Prozent aller armen Menschen in teilung ist folgenreich für die passenden politischen Deutschland aus. Instrumente: Einem Großteil der Armen in Deutsch- land wird durch eine rein arbeitsmarktorientierte Po- Es ist daher äußerst sinnvoll, die Berichterstattung litik nach dem vielzitierten Motto „Sozial ist was Arbeit über besondere Risikogruppen für Armut um einen schafft” nicht geholfen. Eine Armutspolitik, die wirklich Blick auf die Gesamtgruppe der Armen zu ergänzen. Wirkung entfaltet, wird nicht um eine sehr direkte Ver- Ansonsten drohen falsche Typisierungen, wonach es besserung der finanziellen Situation der Armen umhin sich bei armen Menschen vor allem um Alleinerzie- kommen (siehe Kapitel 6, Politische Forderungen). hende, Erwerbslose, Migrant*innen oder Menschen mit schlechter Ausbildung oder ohne Ausbildung han- dele. Denn dem ist nicht so. Zitat von Johannes O. So ist Armut beispielsweise nicht nur ein Problem von „Ich glaube schon, dass in der Menschen mit niedriger Qualifikation. Die Hälfte aller Öffentlichkeit ein Gefühl vorhanden ist. Armen hat ein mittleres Qualifikationsniveau, knapp 14 ‘Hartz IV, das ist wenig Geld’. Prozent sogar ein hohes (Tabelle 3). Armut ist auch nicht Aber kaum einer sieht, dass es nicht hauptsächlich ein Problem von Migrant*innen: Fast drei nur wenig, sondern eben in wirklich Viertel aller Armen besitzt die deutsche Staatsangehö- keinem der Lebensbereiche rigkeit, 54 Prozent hat keinen Migrationshintergrund. ausreichend ist.” Grafik 4: Erwachsene Arme nach Erwerbsstatus 2020 erwerbstätig 30,4 % 34,5 % nicht erwerbstätig / erwerbslos in Rente / Pension 35,1 % Datenquelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder; eigene Berechnungen. © Der Paritätische Gesamtverband, Armutsbericht 2021 17
Tabelle 3: Struktur der armen Bevölkerung (Bundesmedian), in % Merkmal 2020 Alter Unter 18 21,0 18 bis unter 25 12,0 25 bis unter 50 28,0 50 bis unter 65 17,6 65 und älter 21,4 Geschlecht Männlich 46,9 Weiblich 53,1 Alter und Geschlecht Männlich 18 bis unter 25 5,9 25 bis unter 50 13,8 50 bis unter 65 8,4 65 und älter 8,1 Weiblich 18 bis unter 25 6,1 25 bis unter 50 14,2 50 bis unter 65 9,2 65 und älter 13,3 Haushaltstyp Einpersonenhaushalt 34,6 Zwei Erwachsene ohne Kind 15,3 Sonstiger Haushalt ohne Kind 8,8 Ein(e) Erwachsene(r) mit Kind(ern) 8,8 Zwei Erwachsene und ein Kind 4,9 Zwei Erwachsene und zwei Kinder 8,8 Zwei Erwachsene und drei oder mehr Kinder 9,9 Sonstiger Haushalt mit Kind(ern) 8,9 Erwerbsstatus Erwerbstätige 27,4 Selbständige (einschließlich mithelfende Familienangehörige) 3,6 Abhängig Erwerbstätige 23,8 Erwerbslose 6,5 Nichterwerbspersonen 66,1 Rentner*innen und Pensionär*innen 24,1 Personen im Alter von unter 18 Jahren 20,6 Sonstige Nichterwerbspersonen 21,4 Qualifikationsniveau der Person mit dem höchsten Einkommen im Haushalt (Haupteinkommensbezieher*in) Niedrig 34,6 Mittel 51,8 Hoch 13,5 Qualifikationsniveau (Personen im Alter von 25 Jahren und älter) Niedrig 35,2 Mittel 50,9 Hoch 13,9 Staatsangehörigkeit Ohne deutsche Staatsangehörigkeit 28,0 Mit deutscher Staatsangehörigkeit 72,0 Migrationshintergrund Mit Migrationshintergrund 46,3 Ohne Migrationshintergrund 53,7 18 Datenquelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder. © Der Paritätische Gesamtverband, Armutsbericht 2021
ritische Würdigung der Armutspolitik 5. K in der Pandemie Die Covid-19-Pandemie war und ist eine Herausforde- gruppen angehörten, waren gerade zu Beginn der rung für den Sozialstaat in Deutschland. Sie war und Pandemie bis zur Hälfte der Tafeln geschlossen. Wäh- ist aber auch eine Bewährungsprobe für die Respon- rend mehr und mehr Menschen Hilfe und Unterstüt- sivität von Politik in Deutschland, für die Frage, ob zung suchten, verringerte sich das Angebot an Hilfen auch die Interessen von Armut betroffener Menschen dramatisch. Ähnliche Meldungen gab es auch aus No- hinreichend Gehör in den politischen Gremien finden. tunterkünften und von Beratungs- und medizinischen Forschungen für den 5. Armuts- und Reichtumsbericht Behandlungsstellen. der Bundesregierung haben gezeigt, dass das minde- stens bis 2015 nicht der Fall ist: „Was Bürger_innen Einkommensarme Menschen sahen sich plötzlich mit geringem Einkommen in besonders großer Zahl einer Konkurrenz von einkommensstarken Gruppen wollten, hatte in den Jahren von 1998 bis 2015 eine um Güter des täglichen Bedarfs ausgesetzt, etwa um besonders niedrige Wahrscheinlichkeit, umgesetzt zu haltbare Grundnahrungsmittel und preiswerte Hy- werden“.24 Hat sich dieser Befund während der Pande- gieneartikel, zum Beispiel Toilettenpapier. Es kam zu mie bestätigt? einem Verteilungskampf an den Supermarktrega- len, mit sehr ungleichen Ausgangsbedingungen und Schon zu Beginn der Pandemie wurde deutlich, dass einem vorher feststehenden Verlierer: den Armen. die Not einkommensarmer Menschen zu – und ihre Beides, steigende Lebenshaltungskosten und das Sichtbarkeit im öffentlichen Raum abnahm: Woh- Schwinden der Hilfeinfrastruktur, zählen zur Alltags- nungs- und obdachlosen Menschen wurde mit zu- erfahrung einkommensarmer Menschen in der Pan- sätzlichem Misstrauen begegnet, der Zugang zu von demie. Zusätzliche Hilfen wären hier besonders nötig ihnen und anderen einkommensarmen Menschen ge- gewesen, sie blieben aber lange aus und dann auch nutzten öffentlichen (Schutz-)Räumen eingeschränkt. weit hinter den Erwartungen zurück. Streetworker berichteten schon früh in der Krise von wachsender Ablehnung von Obdachlosen, die von Or- Der Bundestag hat schnell auf die Krise reagiert und ten vertrieben werden, an denen sie bisher geduldet weitreichende Maßnahmen beschlossen. In gerade wurden. Mit der Schließung öffentlich zugänglicher einmal einer Stunde und 19 Minuten beschloss er am Orte, von Bibliotheken über Einkaufszentren und Ge- Freitag, dem 13. März 2020, einstimmig vereinfachte meindehäuser, verloren obdachlose Menschen zudem Bezugsmöglichkeiten für das Kurzarbeitergeld. Eben- Zugang zu frei zugänglichen Sanitäreinrichtungen falls in Rekordzeit wurde innerhalb weniger Tage ein und zur Wasserversorgung. Spendeneinnahmen gin- über 750 Milliarden Euro umfassendes Maßnahmen- gen zurück und mit der sozialen Distanzierung der paket aus Zuschüssen, Garantien und Beteiligungen Menschen verschwanden, ganz banal, auch Pfand- beschlossen. Die Antragsverfahren in der Grundsi- flaschen aus dem öffentlichen Raum. Zugänge zur cherung wurden vereinfacht, bürokratische Barrie- bestehenden Infrastruktur für soziale Hilfen wurden ren bei der Antragstellung beseitigt, Meldepflichten reduziert. Dies betraf auch die persönlichen Unterstüt- und Sanktionen ausgesetzt. Vermögen von neu auf zungsangebote durch die Jobcenter, die Angebote Grundsicherung angewiesenen Menschen blieben der Tafeln, aber auch kostenlose Essensversorgung im für ein halbes Jahr unberücksichtigt, Aufwendungen Rahmen der Ganztagsbetreuung. Allein die Tafeln ver- für Unterkunft und Heizung wurden vorübergehend teilen unter normalen Umständen in ganz Deutsch- grundsätzlich anerkannt, ein Mietmoratorium ein- land in über 2.000 Ausgabestellen 500 kg Lebensmit- geführt, damit Menschen nicht auf Grund von Miet- tel, pro Minute. Davon profitieren über 1,6 Millionen schulden ihre Wohnung verlieren, und der Zugang Nutzer*innen regelmäßig. Da viele der freiwilligen zum Kinderzuschlag erleichtert. Gleichzeitig zeigten Helfer*innen bereits im Rentenalter sind und Risiko- diese Maßnahmen, wie viele unnötige Schikanen und Prüfungen im bestehenden System vorhanden waren 24 Elsässer, Lea / Hense, Svenja / Schäfer, Armin (2017): „Dem Deutschen und wie leicht man sie entbehren kann. Als Beleg für Volke“? Die ungleiche Responsivität des Bundestags, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft (2017) 27, S. 177. eine neue Offenheit für die Interessen einkommens- 19
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