Federico Zuccaris Dante Historiato - Ein multimediales Bilderbuch
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Federico Zuccaris Dante Historiato – Ein multimediales Bilderbuch Tanja Westermann, Berlin Qual di pennel fu maestro o di stile che ritraesse l’ombre e'tratti ch'ivi mirar fariendo uno ingegno sottile? Morti li morti e i vivi parean vivi: non vide mei di me chi vide il vero, quant'io calcai, fin che chinato givi.1 (Purg. XII, 64-69) Federico Zuccaris (1542–1609) monumentaler Dante Historiato2 stellt gleichzeitig sowohl das umfangreichste, als auch das ungewöhn- lichste künstlerische Dante-Projekt des 16. Jahrhunderts dar. In ins- gesamt 88 Zeichnungen wird das Jenseitsepos nicht bloß illustriert; vielmehr gehen Zeichnungen und Commedia-Exzerpte, die entweder zusammen mit mehr oder weniger ausführlichen Annotationen des 1 „Wer von des Pinsels und des Stiftes Meistern / Vermöchte so die Linien und die Schatten / Zu zeichnen, die der feinste Geist bewundert? / Tot schien der Tote, lebend der Leben- dige; / Besser sah nicht, der die Wahrheit schaute, / Als ich, der gebeugt auf sie getreten.“ Im Folgenden werden die Zitate aus der Commedia der Lesbarkeit halber aus der deut- schen Übersetzung von Hermann Gmelin wiedergegeben (Komödie 2011). In Originalspra- che sind die Zitate online abrufbar: (19.12.2014). 2 Der heute im Florentiner Kupferstichkabinett aufbewahrte Codex entstand in den Jahren um 1585–1588 während Zuccaris Aufenthalt am Escorial Philipps II. und wurde erst im späten 17. Jh. gebunden. Heute ist das Album, das Salerno 2004 als Faksimile herausgab (Zuccari 2004; dazu erschien 2005 ein Kommentarband, hrsg. von Andrea Mazzucchi; Mazzucchi 2005), zum Teil wieder aufgelöst. Einige der Zeichnungen wurden kürzlich in Bonn ausgestellt (siehe Kunst- und Ausstellungshalle 2013, 258.). Zur Forschung zu Zuccaris Zeichnungen siehe zusammenfassend Stoltz 2011, 11–17 und Brunner 1999, 11 f. 23–32. www.visualpast.de
554 Visual Past 2015 Künstlers auf separate Textblätter im Inferno oder direkt in die Zeich- nungen im Purgatorio und im Paradiso geschrieben sind, eine Synthese ein, die das Werk zu einem multimedialen Kunsterlebnis werden lässt. Das Zusammenwirken von Text und Bild wird in Zuccaris Zeichnungen zu Purgatorio X-XII ganz besonders deutlich und gera- dezu symbiotisch, ist es doch hier das berühmte „visibile parlare“, das auf eine in älteren Illustrationen nie zuvor dagewesene Weise ver- bildlicht werden soll. Die erste Terrasse des Läuterungsberges ist und war nicht nur für die Kunstgeschichte, sondern auch für die Philologie und andere Disziplinen aufgrund von Dantes bildhaften Beschreibungen ein ganz besonderer Ort der Commedia. Auf beispiellose Weise erschafft Zuccari für die drei Gesänge eine Bildwelt auf insgesamt acht Blät- tern: Nachdem Dante und Vergil das von einem Engel bewachte Tor durchschritten haben und durch eine Felsspalte gestiegen sind (Blatt 42, Abb. 1), erreichen sie die erste Terrasse des Läuterungsberges, wo sie an der Felswand drei monumentale Wandbilder entdecken (Blatt 43, Abb. 2). Nachdem die beiden Dichter diese betrachtet ha- ben, weist Vergil den jüngeren Dichter auf die Superbi hin, die er her- annahen sieht (Blatt 44, Abb. 3) und mit denen Dante schon bald ins Gespräch kommen soll (Blatt 45, Abb. 4). Die Hochmütigen sind zudem in ihrem Gebet gezeigt (Blatt 46, Abb. 5), bevor Dante und Vergil endlich die Bodenbilder entdecken (Blatt 47, Abb. 6), die den Boden aller sechs zentralen Zeichnungen zieren. Die Reihe endet da- mit, dass Dante und Vergil am Ende der Terrasse auf einen Wäch- terengel treffen (Blatt 48, Abb. 7), der den beiden den Weg zur nächs- ten Terrasse zeigen wird und Dante mit seinem Flügel das erste der sieben P von der Stirn wischt, worüber Vergil den verwirrten Dante erst aufklärt, als beide schon auf den Stufen sind, die hinauf zur Ter- rasse der Neider führen (Blatt 49, Abb. 8). Der besondere Stellenwert der drei Gesänge beziehungsweise die- ses Ortes für den Künstler wird schon allein dadurch deutlich, dass Zuccari der ersten Terrasse des Läuterungsberges ganze acht Blätter widmet – und damit mehr Raum als jedem anderen Höllenring, jeder
Westermann, Federico Zuccaris Dante Historiato 555 anderen Terrasse des Läuterungsberges und jeder Himmelssphäre.3 Während die erste und die letzte Zeichnung das Betreten beziehungs- weise das Verlassen der Terrasse der Superbi zeigen, sind die sechs zentralen Blätter friesartig komponiert; hier gehen die Protagonisten von rechts nach links4 vor einer bildparallelen Wand, die durch eine 3 Zumindest zwei der acht Zeichnungen waren jedoch offenbar zunächst gar nicht vorge- sehen bzw. wurden vermutlich erst während des Arbeitsprozesses hinzugefügt, da der Platz für die prominenten Bodenbilder nicht ausreichte. Zahlreiche Pentimenti bei den Rahmenbegrenzungen der Bodenbilder (Saul, Rehabeam) geben u. a. Anhaltspunkte dafür. Die Blätter 44 und 46 scheinen als Reaktion auf den fehlenden Platz etwas anders gestal- tet als die anderen: Der Figurenmaßstab ist etwas kleiner und es wird viel Platz für die Bodenbilder gelassen. Zudem scheinen die Figuren in engem Bezug mit den Bodenbildern zu stehen (siehe weiter unten); die auf diesen Blättern gezeigten Commedia-Episoden (Gebet und Wegweisung) sind für den Handlungsablauf kaum von Bedeutung. Der Einschub erklärt auch das teilweise Abweichen der Bild- von der Textchronologie. So scheinen beispielsweise die Zeichnungen 45 und 46 vertauscht, da das Gespräch mit den Superbi in der Commedia eigentlich erst nach ihrem Gebet stattfindet. Tatsächlich sind sie jedoch nicht vertauscht, denn die Reihe der Bodenbilder und die dazugehörigen Text- exzerpte entsprechen nur in dieser Reihenfolge ihrer Erwähnung bei Dante. Das schein- bare Vertauschen der Blätter erklärt sich vermutlich vielmehr über die Komposition der Bodenbilder im Einzelnen, denn die Episoden von Nimrod vor dem Turm zu Babel und Niobe mit ihren Kindern hätten nur schwer in die größtenteils durch Bildpersonal ver- deckten Bodenpaneele auf Blatt 45 eingefügt werden können. Die sowieso nur schwer darstellbare Arachne-Episode konnte hier mit der Darstellung einer Frauenbüste am Spinnrocken und eines Spinnennetzes neben Sauls Selbstmord identifizierbar eingefügt werden. Die Tatsache, dass Zuccari die Serie zugunsten der vollständigen Folge der Bo- denbilder so erweiterte, verdeutlicht nicht nur die Prominenz des Ortes, sondern zeigt auch, dass Zuccari die Darstellung der Bilder in den Bildern ganz besonders wichtig war. 4 Die Leserichtung von rechts nach links verwirrt den Betrachter zunächst und findet ihre Begründung am Anfang der Illustrationen zum Purgatorium. Laut Text wissen Dante und Vergil zunächst nicht, in welche Richtung sie gehen sollen (Purg. II, 58–66, 130–133 und Purg. III, 4–7, 52–57). Sie laufen also weiter in die aus der Hölle gewohnte Richtung im Uhrzeigersinn um den Berg. Da sich nun aber für den Betrachter die Perspektive geändert hat (wir blicken nun nicht mehr vom inneren des Höllentrichters auf die Höllenkreise, was die Leserichtung der Illustrationen von links nach rechts erlaubte, sondern von außen auf den Bergkegel), müssten die Illustrationen an dieser Stelle eigentlich von rechts nach links verlaufen. Dies hat Zuccari beim Beginn der Arbeiten an den Zeichnungen zum Läuterungsberg allerdings verpasst. Erst in Purg. III ändert sich die Laufrichtung der Jen- seitswanderer als Dante und Vergil eine Büßerschar nach dem Weg fragen und auf ihren Rat hin umkehren (Purg. III, 100–103). Die Umwanderung des Läuterungsberges muss laut Text also erst ab jetzt gegen den Uhrzeigersinn passieren (vgl. z. B. Purg. XXII, 121–123), was für Illustratoren die Darstellung der Laufrichtung von links nach rechts erzwingt, sofern der Berg im Rücken der Protagonisten gezeigt wird. Zuccari beachtet hier (also ab Zeichnung 33) den Richtungswechsel; durch den Fehler in der Laufrichtung am Anfang ergibt sich für ihn jedoch auch hier die eigentlich falsche Laufrichtung und die nächsten 16 Zeichnungen sind demzufolge von rechts nach links zu lesen. Ab dem Betreten der zweiten Terrasse des Läuterungsberges wird die gewohnte und dem Text entsprechende Leserichtung von links nach rechts wieder hergestellt, ohne dass in der Commedia ein
556 Visual Past 2015 durchgängige Sockelzone, darüber meist drei Wandpaneele pro Blatt sowie einen schlichten Fries und ein profiliertes Gesims als oberen Abschluss gegliedert ist. Der durchweg mit den in der Commedia er- wähnten Szenen bebilderte Boden5 vor dieser Wand bildet die Büh- ne, auf der die Protagonisten die Terrasse durchwandern. Stellt man sich die Zeichnungen rückwärts6 aneinandergelegt vor, ergeben sie ein zusammenhängendes Raumkontinuum, das sowohl von den Pro- tagonisten als auch vom Blick des Betrachters in einer Art „Bildwan- derung“ nach und nach durchschritten wird (Abb. 9). Besonders deutlich wird die gedachte Zusammengehörigkeit der Blätter durch die Fragmente einiger der Bodenbilder, die sich ergänzen, sobald man die Blätter aneinander legt. (Abb. 10. 11).7 Die Wandpaneele, die nur auf Blatt 43 mit Bildern gefüllt sind und ansonsten bis auf einige Commedia-Exzerpte leer geblieben sind, verstärken den Ein- druck des einheitlichen Raumgefüges. Unter anderem durch das Zu- sammenfassen der drei Gesänge in einem durchgängigen Bildgefüge unterscheiden sich Zuccaris Zeichnungen deutlich von älteren Illu- strationen, die im Normalfall der Struktur des Textes, also der Ein- teilung in die einzelnen Gesänge, streng unterworfen waren. Zuccari weiterer Richtungswechsel stattgefunden hätte. Vermutlich kehrte Zuccari aus Gründen der Lesbarkeit der Zeichnungen zu der gewohnten Leserichtung zurück. Dies könnte in der Anlage der Bodenbilder von links nach rechts in der Reihe vorbereitet sein. 5 Die Szenen sind entsprechend ihrer Reihenfolge in der Commedia (Purg. XII, 25–63) beginnend auf Zeichnung 47 von links nach rechts zu lesen: 47: Engelssturz, Sturz der Giganten; 46: Nimrod vor dem Turm zu Babel, Niobe und der Tod ihrer Kinder; 45: Sauls Selbstmord, Metamorphose Arachnes, oberes Fragment des Rehabeam-Bildes; 44: unteres Fragment des Rehabeam-Bildes, Alkmäons Mutter, oberes Fragment des Sanherib-Bildes; 43: Sanherib, der von seinen Söhnen erschlagen wird (unteres Fragment), Kyros und Tomiris, Judith mit dem Kopf des Holofernes, Troja (sehr kleines Fragment); 48: Troja. Der entsprechende Text steht einer Inschrift gleich jeweils unter dem dazugehöri- gen Bild. 6 Also rechts beginnend mit 43 und weiter nach links bis 48. Die Leserichtung der Reihe von rechts nach links ergibt sich aufgrund der Leserichtung der Zeichnungen in dieselbe Richtung. Vgl. Anm. 4. 7 Die Zeichnungen ergeben zwar gedacht eine Reihe, sollten aber offensichtlich im Gegen- satz zu einigen anderen Zeichnungen des Albums nicht zusammengeklebt werden, denn jedes Blatt hat einen eigenen, zentralen Fluchtpunkt. Außerdem haben die Architekturen an den Blattkanten zumindest auf einigen Blättern einen äußeren Abschluss. Da die hori- zontalen Gliederungslinien der Architektur auf anderen Blättern aber – soweit erkennbar – über die Bildkanten hinweg gezogen wurden, war ein „Weiterdenken“ der Bildräume dennoch mit ziemlicher Sicherheit von Zuccari intendiert.
Westermann, Federico Zuccaris Dante Historiato 557 weicht zudem von der linearen Erzählweise des Textes und der daran stets orientierten Darstellungskonvention ab, wenn die Bodenreliefs „den ganzen Boden, der den Berg umgürtet“ (Purg. XII, 24) zieren, obwohl sie erst im 12. Gesang erwähnt werden und in älteren Illust- rationen deshalb auch erst dort zu sehen sind. Zuccari und Botticelli. Illustration und Innovation Dieser Umgang mit dem dantesken Ort ist in der Kunstgeschichte bis dahin beispiellos und nur bei Sandro Botticellis berühmten Dante-Zeichnungen im Ansatz zu beobachten. Hier ist zwar (noch) jedem Gesang genau eine Zeichnung zugeordnet, jedoch sind die drei Blätter miteinander verknüpft, denn Botticelli gibt häufig An- haltspunkte über das Vor- und Nachher, wenn zum Beispiel bei Dante und Vergil über die Felsspalte die Terrasse errei- chen, dann die Wandreliefs betrachten und zuletzt schon die Superbi zu sehen sind, deren Begegnung mit den Jenseitswanderern erst in illustriert ist. In der Zeichnung zu sieht man die Superbi noch davongehen, während Dante und Vergil die Bodenbilder betrachten und schlussendlich die Terrasse über eine Treppe verlassen. Botticelli verknüpft im Gegensatz zu Zuccari je- doch lediglich die einzelnen Handlungsmomente, wobei eine konti- nuierliche Raumeinheit wenn überhaupt nur angedeutet wird. Zuccaris und Botticellis Dante-Projekte haben jedoch noch wei- tere Parallelen, denn beide Künstler verwenden die bereits zu Bot- ticellis Zeiten recht unüblich gewordene kontinuierende Darstel- lungsweise,8 zeigen also mehrere Momente der Erzählung in einem Bildraum, wodurch Dante und Vergil auf vielen Blättern mehrfach zu sehen sind. Auch Format und Komplexität der ungewöhnlich mo- numentalen Zeichnungsfolgen sind recht ähnlich; der Aufbau der Terrasse der Superbi ist durchaus vergleichbar. Der Weg um den Läu- terungsberg wird bildparallel gezeigt, beide Künstler setzen die Wandreliefs wie große Historien ins Bild, wenngleich die Wandbilder 8 Diesen auch heute noch häufig verwendeten Begriff zur Unterscheidung und Beschrei- bung verschiedener Erzählweisen in der Kunst prägte v. a. Wickhoff 1912, 11–15.
558 Visual Past 2015 selbst bis auf das von Dante vorgegebene Thema keine Parallelen aufweisen und Botticellis Bodenbilder, noch weitgehend einer älteren Tradition verpflichtet, rahmenlos lediglich auf dem Boden der Zeich- nung zu Purg. XII gezeigt sind.9 Einzelne Szenen auf der Terrasse weisen jedoch erstaunliche Ähnlichkeiten auf, wie zum Beispiel die Begegnung der Dichter mit dem Wächterengel und das Verlassen der Terrasse über die Treppe (vgl. Botticellis Purg. XII mit Abb. 7. 8).10 Nicht zuletzt aufgrund der ungeklärten Provenienz von Botticellis Zeichnungen, wird noch immer diskutiert, inwiefern Zuccaris Blätter mit ihnen in Zusammenhang gebracht werden können.11 Selbst wenn angesichts der Parallelen bei der Illustration der Terrasse der Hoch- mütigen nicht auszuschließen ist, dass Zuccari Botticellis Zeichnun- gen gekannt haben könnte, werden sie kaum eine direkte Vorlage ge- wesen sein. Wenn überhaupt kann man hier von der Weiterentwick- lung einer Idee sprechen, die bei Botticelli im Ansatz zu erkennen ist. Erst Zuccari entwickelt ein tatsächliches Raumkontinuum und setzt letztendlich auch als erster die Bodenbilder in Rahmen! Diese sind zudem offensichtlich Kinder von Zuccaris Zeit: Weit entfernt von dem, was Dante sich anhand der seinerzeit zeitgenössischen Kunst vorgestellt haben kann, sind die hochrechteckigen Historien an der Monumentalmalerei des Manierismus orientiert – sowohl in ihrer 9 Vgl. dazu vor allem Brieger u. a. 1969, 165 ff. 10 Die Tatsache, dass Botticellis Zeichnungen zu Purg. XI und XII ebenfalls von der gewöhnlichen Leserichtung abweichen und von rechts nach links zu lesen sind, darf allerdings nicht als Hinweis auf eine eventuelle Abhängigkeit gewertet werden, da sich die ungewohnte Leserichtung bei Zuccari auf einen Fehler an einer anderen Stelle zurück- führen lässt. Vgl. Anm. 4. Warum diese zwei der drei entsprechenden Zeichnungen Botticellis zu Purg. X–XII die ungewohnte Leserichtung verfolgen, ist unklar. Vielleicht liegt es daran, dass die Superbi in der Zeichnung zu Purg. X von rechts – also von vorn und damit nicht dem Text entsprechend von hinten – zu den beiden Dichtern kommen und Dante und Vergil sich umdrehen müssen, um mit ihnen mitgehen und im Folgenden mit ihnen sprechen zu können. Da Botticelli den in Purg. III stattfindenden Richtungswechsel überhaupt nicht beachtet hatte, lässt sich vermuten, dass er sich für die Laufrichtungen allgemein eher weniger interessierte. 11 Siehe dazu vor allem Brunner 1999, 52 und Stoltz 2011, 62–68, zur Provenienz der Botticelli-Zeichnungen siehe Schulze Altcappenberg 2000, 21–23.
Westermann, Federico Zuccaris Dante Historiato 559 Form als auch in Hinblick auf ihre kompositorischen Eigenschaf- ten.12 Beide Serien unterscheiden sich jedoch auch noch in anderer Hin- sicht von den traditionelleren Lösungen, da sie sich in ihrem Verhält- nis zum Text deutlich von Illustrationen im klassische Sinne abgren- zen: Wie bereits nachgewiesen wurde, sollten Botticellis Zeichnun- gen nicht – wie eigentlich üblich – den bereits vorhandenen Text il- lustrierend begleiten; vielmehr entstanden sie zunächst, ohne dass überhaupt an eine Abschrift der Commedia gedacht war. Vielleicht weil sich ein möglicher Käufer gestört haben mag, wurde der Text erst zu einem späten Zeitpunkt des Werkprozesses auf die jeweils gegenüberliegende Fellseite der Pergamentbögen geschrieben und ist somit eine Ergänzung der zunächst autonom gedachten Zeichnun- gen.13 Auch wenn Zuccaris Zeichnungen im Gegensatz dazu sicher- lich nie ganz ohne Text auskommen sollten, sind sie keine Illustrati- onen im klassischen Sinne.14 Wieder begleiten die Bilder keinen zu- vor geschriebenen und gesetzten Text; sie gehen vielmehr eine Syn- these mit den mehr oder weniger kurzen Exzerpten ein. Dies wird besonders bei den Purgatorio-Zeichnungen deutlich, da der Text hier direkt in die Zeichnungen, an die jeweils zur Handlung gehörende Stelle eingefügt wurde. So werden beispielsweise auf Blatt 45 (Abb. 4), wo die Exzerpte mit der wörtlichen Rede der Protagonisten 12 Dante vergleicht die Bodenbilder mit Grabplatten, die jedoch seinerzeit keineswegs nar- rativ ausgesehen haben, sondern viel eher einzelne Liegefiguren (Gisants), evtl. begleitet von Attributen und Inschriften, gezeigt hätten. Zuccari lehnt sich hier nicht an die histori- sche oder zeitgenössische Sepulkralkunst an, sondern interpretiert die Bodenbilder als große, erzählerische Historien, die mit den wenigen existierenden Bildern auf Fußböden kaum vergleichbar sind. Am ehesten erinnern sie an Domenico Beccafumis Bilder auf dem Fußboden des Domes zu Siena. Doch ebenso wie diese, leiten sich Zuccaris Bodenbilder bezüglich Format und Bildaufbau vielmehr von der monumentalen Tafelmalerei als einer eigenen Tradition ab. Zuccaris hochformatige, häufig in mehrere Zonen unterteilte Kom- positionen entsprechen den Bildtraditionen v. a. der sakralen Tafelmalerei, die sich im Laufe des Cinquecento zunehmend auf die einzelne Tafel und den sich darin ent- wickelnden Bildraum konzentrierte. Des Künstlers eigene Werke können hier als Ver- gleichsbeispiele dienen: Seine erhaltenen, in etwa zeitgleich entstandenen Tafeln für das retabolo mayor in der Basilika San Lorenzo des Escorial weisen ganz ähnliche Komposi- tionsschemata wie die Bodenbilder im Dante Historiato auf. Zu den Tafeln im Escorial siehe z. B. Acidini Luchinat 1999, 160–167. 13 Vgl. Schulze Altcappenberg 2000, 28–30. 14 Vgl. zum Problem des Begriffs Illustration im Dante Historiato Stoltz 2011, 121–127.
560 Visual Past 2015 in die Steine eingeschrieben sind, welche die Superbi auf ihren Rücken tragen, die Steine beinahe zu Sprechblasen, die den modernen Be- trachter an eine Art Comic erinnern. Dantes „visibile parlare“ Zuccaris durch alle drei Gesänge hindurch führendes Raumgefüge und die darin sequentiell zu den inhaltlich dazugehörigen visuellen Bildelementen angeordneten Commedia-Exzerpte führen dazu, dass sich die Handlung dem Betrachter über das direktional-kausale Durchwandern des visionären Raumes erschließt und nicht mittels einer konsekutiv-linearen Worterzählung. Zumal eine lineare Lesart der Commedia-Exzerpte hier gar nicht mehr möglich ist, denn der Text ist so stark gekürzt, dass die Exzerpte kaum Aufschluss über die Handlung geben. Solch ein Umgang mit dem Text kann aber keines- wegs als allzu eklektisch bezeichnet werden.15 Denn grundsätzlich geht Zuccari mit den Exzerpten durchaus vorsichtig um und ver- sucht, die sprachlichen Qualitäten der Dichtung zu erhalten, wie zum Beispiel bei der wunderbaren Paraphrase des Vaterunser (Purg. XI, 1–24, Abb. 5) oder der Beschreibung der Bodenbilder (Purg. XII, 25–63, Abb. 9), die in ihrer dichterischen Schönheit jeweils unge- kürzt wiedergegeben werden. Der Inhalt ergibt sich aber dennoch nun nicht mehr vor allem durch den Text, der von der Bebilderung losgelöst steht und von dieser eher ergänzt beziehungsweise illus- triert (von lat. illustrare: erläutern, veranschaulichen, verschönern) wird, sondern durch das Zusammenwirken von Text und Bild. Das Zusammenwirken von Text und Bild beziehungsweise viel- mehr das von Wort und Bild oder Dichtung und bildender Kunst ist bereits Thema in Dantes Text. Schließlich wurde die Terrasse der 15 Barbara Stoltz meint, der Text würde durch die Selektion zum bloßen informativen Ver- satzstück, zum „Sprachrohr“ für die Bilder. Die Dichtung verliere dadurch ihre Autonomie; vgl. Stoltz 2011, 146. – Zuccaris Umgang mit der Dichtung ist m. E. allerdings nicht so eklektisch wie von Stoltz angenommen; schließlich achtet Zuccari trotz Selektion und neuem Arrangement penibelst auf die Vollständigkeit der Terzinen und eine angemessene typographische Gestaltung der kopierten Verse.
Westermann, Federico Zuccaris Dante Historiato 561 Superbi vor allem als Meisterleistung der Ekphrasis, also aufgrund ih- rer Kunstbeschreibungen berühmt. Dante beschreibt die Bilder an den Wänden und auf dem Boden in Anlehnung an die antike Rheto- rik, wobei er sich vor allem an Vergil orientiert, den er an mehreren Stellen der Commedia als sein Vorbild bezeichnet; zu denken ist bei- spielsweise an Vergils berühmte Beschreibung des Schildes des Äneas (Aen. 8, 626–728).16 Ziel der Ekphrasen ist es, dem Leser mit Worten Bilder vor Augen zu führen, also das Beschriebene „erzähle- risch zur Wirkung einer realen Szenerie“17 zu restituieren. Hierbei ging es Dante offensichtlich aber nicht nur um einen Anschaulich- keitseffekt oder um das Erschaffen von möglichst realitätsnahen (Wort-)Bildern. Denn der Dichter entzieht den göttlichen Reliefs auf der Terrasse der Superbi schon einleitend den Bezug zur Realität, wenn er nicht nur ihren göttlichen Ursprung erwähnt, sondern ihre Schönheit beschreibt „so, dass nicht nur Polykletus, auch die Natur sich davor schämen müsste“ (Purg. X, 32 f). Die Göttlichkeit der Bilder und ihre nicht-weltliche Perfektion manifestieren sich aller- dings nicht nur in ihrer Schönheit, sondern in einer Art von „An- schaulichkeit“ beziehungsweise evidentia, die die Grenzen der menschlichen Bildkunst überschreitet: So gesteht der Dichter den Wandbildern eine synästhetische Wirkung zu, die Bilder in unserer Welt freilich nur assoziieren könnten. Es heißt, der Verkündigungs- engel „(…) war vor unsren Augen so wahrhaftig dort eingemeißelt (…) dass es nicht schien, es sei ein Bild, das schweiget. Man könnte schwören, dass er ‚Ave‘ spreche (…)“ und in Marias „(…) Haltung prägten sich die Worte: ‚Dies ist die Magd des Herrn‘, so unverkenn- bar, gleich wie ein Bild sich prägt im weichen Wachse“ (Purg. X, 37– 16 Vergils Schildbeschreibung lässt sich auf die älteste überlieferte Ekphrasis, Homers Beschreibung des Achilles-Schildes (Ilias, 18, 478–608), zurückführen, die Dante zwar noch unbekannt, Zuccari aber geläufig war. Die wichtigsten Bezugstexte für die mittelal- terliche Tradition der Ekphrasis bildeten Vergils Aeneis und Georgica, Statius’ Silvae und Ovids Metamorphosen; vgl. Löhr 2003, 78. Dante kannte sicher einen Großteil der im Mittelalter bekannten ekphrastischen Texte; die Silvae waren ihm aber unbekannt (vgl. Barth 2003, 285), wobei er aber Statius’ Epen Thebais und Achilleis (unvollendet) sicher kannte (vgl. Purg. XXI, 92). Dante sagt über Vergil bspw.: „Du bist ein Vorbild und du bist mein Meister, / Du ganz allein bist der, dem ich verdanke / Den schönen Stil, der mich zu Ehren brachte.“ (Inf. I, 85–87). 17 Löhr 2003, 76 f.
562 Visual Past 2015 45). In dem darauf folgenden Wandrelief mit dem tanzenden König David vor der Bundeslade zeigen sich laut Dante „(…) Leute, abge- teilet in sieben Chöre, daß Gehör und Auge in mir sich streiten muß- ten, ob sie sangen. Und gleichermaßen gab die Weihrauchwolke, die dort gemeißelt, für Geruch und Auge ein widerstreitend Rätsel zu erraten“ (Purg. X., 58–63). Und auch das dritte Relief, das eine Witwe vor Kaiser Trajan zeigt, verfügt über übernatürliche Fähigkeiten: Nicht nur scheinen sich einige Bildelemente zu bewegen („Die Adler über ihm im Winde flattern“, Purg. X, 81), auch gibt das Bild ohne einen Hinweis auf Inschriften18 den recht umfangreichen Dialog zwi- schen Trajan und der Witwe offenbar wörtlich wieder (Purg. X, 83– 93). Dabei wird nicht nur der Sprechakt der Figuren in den Bildern – etwa durch Gesten – sichtbar, ihre Worte werden tatsächlich hör- bar und auch Gerüche und Bewegungen wahrnehmbar. Es entsteht eine Realitätsnähe innerhalb der beschriebenen Bilder, die sie von der weltlichen Realität gleichsam entfernt. Dante betont: Der Herr, der niemals etwas Neues kannte, Hat jenes Sprechen sichtbar abgebildet, das uns so neu, weil wir es nie gesehen. (Purg. X, 94–96) Damit verdeutlicht er noch einmal ihre übernatürlichen, synästheti- schen Fähigkeiten, die allein auf ihren göttlichen Ursprung zurück- zuführen sind. Im Geist des Rezipienten kann nun jedoch nicht nur ein visuelles Bild, sondern die multimediale Vorstellung einer Wirk- lichkeit19 entstehen, die wie die Realität mehrere Sinne anspricht. Während die Reliefs die medialen Grenzen der Bildkunst mit ihrem „visibile parlare“ und der Allusion anderer Sinneseindrücke überwin- den, überwindet Dante die mediale Grenze der Sprache im doppelten 18 Dante erwähnt keine Inschrift und deutet auch nichts dergleichen an. Eine Inschrift be- schreibt er dagegen in Inf. III, 1–9. Hier wird die Inschrift am Höllentor wiedergegeben, und auch dezidiert als solche bezeichnet (Inf. III, 10 f.). 19 Die Wirklichkeit bzw. Wahrheit („il vero“, Purg. XII, 68), die durch Gott vermittelt wird, versucht der Dichter mit seinen Ekphrasen abzubilden („ritraesse“, Purg. XII, 65), indem er sich an Gottes Schöpfung, also der Natur oder der weltlichen Bildkunst, orientiert. Der Realitäts- bzw. Wahrheitsanspruch Dantes Dichtung scheint damit seinen Forderung an die bildende Kunst, also Naturnähe und damit Wahrheit, zu entsprechen.
Westermann, Federico Zuccaris Dante Historiato 563 Sinne. Er erzeugt eine bildhafte Vorstellung von Bildern, die zu spre- chen scheinen, und führt sie wiederum mittels Sprache vor Augen. Indem Dante die Reliefs mit dieser synästhetischen Ekphrasis be- schreibt und dem Leser mittels seiner Sprache ein inneres Bild ver- mittelt, wird seine Poesie ebenfalls zu „visibile parlare“. Zuccaris sprechende Bilder Sprechende oder synästhetische und wahre Bilder zu erschaffen, ist in der Renaissance eines der großen Ziele der bildenden Künstler. Nicht zuletzt diese schwierige Aufgabe schürte den Wettstreit nicht nur zwischen den Gattungen der bildenden Kunst, sondern auch zwischen Bild- und Dichtkunst. Zum paragone ist in der Kunstge- schichte beinahe unendlich viel geforscht und geschrieben worden und auch der Dante Historiato wurde – vor allem von Barbara Stoltz – bereits in dieser Hinsicht betrachtet. Allerdings muss man sich doch fragen, inwiefern Zuccaris zeichnerische Umsetzung von Pur- gatorio X–XII diesem Kontext zuzuordnen ist und ob Kunst und Dichtung hier überhaupt miteinander konkurrieren. Dabei muss man sich vor der Untersuchung des kunsttheoretischen Gehalts der Blät- ter die Frage stellen, wie die Übertragung des Jenseitsepos aus dem rein sprachlichen in Zuccaris Medium praktisch funktioniert. Grundsätzlich übernimmt Zuccari Dantes Schilderungen ziem- lich genau in seine Zeichnungen. Ohne die Vorstellung des Dichters grundlegend zu verändern, erweitert Zuccari das von ihm Beschrie- bene aber um Vieles, wie der Blick auf die Wandreliefs zeigt (Abb. 2). Das Bild mit der Verkündigung zeigt neben Maria und dem Engel viele Elemente, die Dante in seiner knappen Beschreibung des Ge- genständlichen im Bild nicht erwähnt. Ähnliches gilt auch für die an- deren beiden Szenen, die der Künstler vor eine Stadtkulisse setzt; beide Male ist das Pantheon – einmal links im Bild von der Seite, einmal im Hintergrund frontal – neben etlichen anderen Gebäuden zu erkennen. Hinter Trajan ist die Trajanssäule zu sehen, die ihn ein- deutig identifizierbar macht.
564 Visual Past 2015 Zuccaris Schilderungen konkretisieren Dantes Beschreibungen und gehen im Detail darüber hinaus; denn die Ekphrasen sind freilich keine vollständigen Bildbeschreibungen, die ein Nachzeichnen ermög- lichen würden. Im Dante Historiato ersetzten und erweitern bildliche Schilderungen zwar die schriftliche Beschreibung der Wandreliefs, jedoch kommen sie nicht ganz ohne Text aus, denn ein wichtiges Merkmal der göttlichen Reliefs vermag auch Zuccari nur anzudeuten: Der Redegestus des Engels impliziert zwar, dass er mit Maria spricht, was er sagt, beziehungsweise dass das Bild scheinbar selbst spricht, können allerdings nur die über das Bild geschriebenen Verse aus der Commedia (Purg. X, 40–42) andeuten, selbst wenn der Betrachter die biblische Episode gut genug kennt, um zu wissen, dass der Engel hier nur „Ave!“ und den darauf folgenden Bibelvers aus Luk 1, 2820 sagen kann. Die von Dante beschriebene Lebendigkeit der Wandreliefs deutet Zuccari auf eine Weise an, die den bildkünstlerischen Konventionen seiner Zeit entspricht. Ein wichtiges Darstellungsmittel ist hierbei Bewegung im Bild. Zum Beispiel lässt der Künstler eine Figur am vorderen rechten Bildrand des mittleren Wandreliefs beinahe rück- lings aus dem Bild stürzen. Zudem schwingt ein Mann in der Mitte des Bildes, der seinen Kopf auffällig nach hinten dreht, ein Weih- rauchgefäß auf sehr artikulierte Weise. Dass Dante den Weihrauch zu riechen meint und die Chöre, die Zuccari singend darstellt, tat- sächlich zu hören glaubt, können auch hier nur die kopierten Comme- dia-Verse (Purg. X, 59–63) vermitteln. Ähnliches gilt für das letzte Wandrelief. Zuccari setzt Dantes bildhafte Beschreibung der Szene in seiner Zeichnung um; den Inhalt des Dialoges kann sie jedoch nicht vermitteln, sodass er den wichtigsten Teil des Gesprächs zwi- schen Trajan und der Witwe über das Bild schreiben muss (Purg. X, 88–93). 20 Und der Engel kam zu ihr hinein und sprach: Gegrüßet seist du, Holdselige! Der Herr ist mit dir, du Gebenedeite unter den Weibern! / Et ingressus angelus ad eam dixit: Ave gratia plena: Dominus tecum: benedicta tu in mulieribus.
Westermann, Federico Zuccaris Dante Historiato 565 Das Problem der bildlichen Darstellung der Synästhesie der Wandreliefs, also von Bildern, die sich bewegen, sprechen und sogar riechen, löst Zuccari, indem er jeweils genau die Textstellen in seine Bilder kopiert, die diese Phänomene beschreiben. Die Textstellen, die Visuelles beschreiben, lässt er im Gegensatz dazu grundsätzlich weg. Sie hat er gewissermaßen in sein Medium, die Zeichnung, über- setzt und damit ersetzt. Den von Dante mehrmals erwähnten und durchaus betonten göttlichen Ursprung der Reliefs deutet der Künst- ler interessanter Weise nur an. Erst in Zeichnung 47 (Abb. 6) kopiert er zwei der Textstellen, in denen Dante darauf hinweist, dass die Re- liefs schöner als die (weltliche) Kunst sind (Purg. XII, 22–24) und der Realität beziehungsweise Wahrheit entsprechen (Purg. XII, 64– 69). In dieser Zeichnung erblicken Dante und Vergil die Bodenbil- der, die sich von hier aus über die sechs zentralen Zeichnungen zu Purg. X–XII erstrecken (Abb. 9). Zuccari überschreitet hier die Grenzen der linear und konsekutiv beschreibenden Dichtung. Er gibt verschiedene Aspekte gleichzeitig wieder, die in der Commedia an völlig unterschiedlichen Stellen beschrieben werden. Denn dadurch, dass die Bodenbilder, die bei Dante erst im zwölften Gesang erwähnt werden, jetzt tatsächlich den gesamten Boden der Terrasse zieren (Purg. XII, 22–24), werden sie mit den Wandreliefs parallelisiert, so- dass sich ihre Gegensätzlichkeit – Demut und Hochmut – manifes- tiert. Außerdem werden die Bodenbilder nun ganz konkret mit Fü- ßen getreten, was in der Commedia erst ganz am Ende der Beschrei- bung der Bodenbilder überhaupt erwähnt wird.21 Nicht nur Dante und Vergil betreten die Bilder; auch die Superbi werden von den schweren Lasten auf ihren Rücken zum Hinschauen gezwungen, sie müssen dem Hochmut und der Strafe dafür immer wieder ins Auge sehen. Was Dante nur nacheinander beschreiben kann, setzt Zuccari nebeneinander und macht die gleichzeitige Rezeption möglich, ja, er- laubt dem Betrachter verschiedene Aspekte ins Verhältnis zu setzen. 21 Bei Zuccari stehen die Figuren immer direkt auf den Bodenbildern, nie in den Zwischen- räumen. So werden beinahe alle Bodenreliefs tatsächlich betreten, während der Leser der Commedia erst ganz am Ende der Beschreibung der Bodenreliefs erfährt, dass Dante sie auch betreten hat („calcai“, Purg. XII, 69). Das Moment des Betretens ist somit bei Zuccari viel offensichtlicher.
566 Visual Past 2015 Die bei Zuccari so präsenten Bodenbilder gehen ganz augen- scheinlich weit über Dantes knappen Wortlaut hinaus, denn der Dichter beschreibt hier keine Historien, wie Zuccari sie später zeigt, sondern erschafft eher einen „punktuellen Gesamteindruck“22, der sich stets auf den tragischen Ausgang der Geschichten konzentriert. Visuelle Elemente und Affekte werden bei Dante – wenn auch sehr kurz – kontrastreich miteinander verbunden. Beispielsweise über das Relief mit Niobe schreibt er: O Niobe, mit voller Trauer Sah ich dich abgebildet auf dem Wege Inmitten deiner vierzehn toten Kinder. (Purg. XII, 37–39) Dass Niobes Kinder wegen des Hochmuts ihrer Mutter sterben mussten, weiß der gebildete Leser zwar, Dante erwähnt dies aber mit keinem Wort. Ebenso wenig erzählt er, wie sie starben, von wem sie getötet wurden oder irgendein anderes Detail der Geschichte. Die Figuren auf dem Boden stehen somit als Zeichen23 und wirken emb- lematisch für ganze Geschichten, die ihre Bedeutung erst in der sprachlichen Ausdeutung des Jenseitswanderers offenbaren. Dadurch dass Zuccari die Bodenbilder zu großen Historien macht, werden sie tatsächlich narrativ und können nicht nur den tra- gischen Ausgang der Geschichten zeigen, sondern auch andere De- tails schildern. Zu den Bodenbildern kopiert der Künstler jeweils die zum Bild dazugehörige Terzine wie eine Inschrift unter das Bild. So bleiben auch die weniger bekannten und halb verdeckten Geschich- ten identifizierbar. Zuccari hält sich bei der Komposition seiner Bo- denbilder jedoch wenig an die knappen Beschreibungen Dantes. Bei- spielsweise ist Niobe (Abb. 5, rechts) nicht inmitten ihrer vierzehn toten Kinder zu sehen; vielmehr leben einige der sieben Söhne in der 22 Vgl. Boehm 1995, 35. Laut Gottfried Boehm können Ekphrasen eben auch solche kurzen, aber intensiven, meist auf Affekte hin zielende Schilderungen sein. Zu verschiedenen Ausformungen von Ekphrasis siehe ebd. passim. 23 Dante benutzt bei der Beschreibung der Bodenreliefs mehrmals die Begriffe „segno“ oder „segnare“. Die Bodenbilder können bei Dante eigentlich auch nur Zeichen für ihre Ge- schichten sein, da man davon ausgehen muss, dass der Dichter, der sie mit Grabplatten vergleicht, sie sich als Gisants, nicht als Historien, vorgestellt hat.
Westermann, Federico Zuccaris Dante Historiato 567 Zeichnung noch, während die sieben Töchter bereits von Artemis’ Pfeilen niedergestreckt zu Füßen ihrer dem Hochmut verfallenen Mutter liegen. Apoll spannt gerade den Bogen, um einen weiteren von ihnen zu töten. Zuccaris Bild erzählt also weitaus mehr von der Geschichte als Dante in seinen drei Zeilen erwähnen kann. Für die künstlerische Umsetzung der Szene reicht hier wie an vielen anderen Stellen die bloße Lektüre der Commedia nicht aus. Wie von Ovid be- schrieben, aber von Dante nicht erwähnt, reiten die Söhne auf Pfer- den (Metamorphosen 6, 221–223), bevor sie von Apoll niederge- schossen werden. Außerdem treten die von Dante unerwähnt geblie- benen Kinder Letos, Apoll und Artemis, zu der Szene hinzu, die ge- rade noch geschieht und nicht wie bei Dante schon zu Ende ist.24 Eine ähnliche „Ungenauigkeit“ gegenüber dem Text – wenn auch viel weniger eine Ausschmückung – geschieht bei dem Bodenbild mit Arachne (Abb. 4, rechts). Sie wird nicht der Commedia entsprechend „schon halb als Spinne (…) auf den Fetzen des Werks“ (Purg. XII, 44 f) gezeigt, mit dem sie Pallas Athene herausgefordert hatte. Statt- dessen zeichnet Zuccari nur ein Spinnennetz und die Büste einer Frau, die offenbar an einem Webstuhl sitzt. Das wenige, das vom Arachne-Relief zu erkennen ist, deutet darauf hin, dass das durchaus seltene Motiv vielleicht von einem inspiriert sein könnte. Der Stich aus der Serie Menselijke Bedrijvigheden25 zeigt die Personifikation der Webkunst an einem Spinnrad sitzend wie sie gerade einige Fasern von einem hohen Spinnrocken zupft, um sie zu Garn zu spinnen, das dann an dem Webstuhl im Hinter- grund verarbeitet werden wird. In der oberen rechten Bildecke hängt 24 Zuccari hält sich jedoch auch nicht an den Text Ovids, denn hier sterben die Söhne vor den Töchtern. Als letztes stirbt die jüngste Tochter, die in Zuccaris Umsetzung bereits tot im Schoß der Mutter liegt. Dieses Motiv dürfte – vielleicht durch die Druckgraphik vermit- telt – auf die berühmte antike Niobidengruppe zurückzuführen sein (Siehe die römische Kopie (2. Jh.) nach hellenistischem Original (4. oder 2./1. Jh. v. Chr.) in der Galleria degli Uffizi, Florenz). 25 Siehe zur Stichserie, auf deren erstem Blatt Frans Floris als Inventor genannt wird, die aber erst posthum gestochen wurde: van de Velde 1975a, 42 f. 108. Der Stich De Weefkunst geht vermutlich nicht auf Floris’ Entwurf, sondern auf eine im Berliner Kupferstichkabinett aufbewahrte Zeichnung mit dem Monogramm von Maarten van Cleve zurück (Inv. Nr. 12.443; Abb. bei van de Velde 1975b, Abb. 341).
568 Visual Past 2015 ein großes Spinnennetz, das die Personifikation der Webkunst mit der mythologischen Figur überblendet, wie auch die Beischrift „Ara- chne“ zu ihren Füßen zeigt. Bei Zuccari ist nur wenig davon übrig geblieben, jedoch erinnern das Frauenprofil am Spinnrocken und das Netz mit der großen Spinne an den Stich. Diesen kann Zuccari durch seine persönlichen Verbindungen zu Philip Galle oder aus der gra- phischen Sammlung des Escorial,26 die dem Künstler während der Anfertigung der Zeichnungen sicherlich zugänglich war und viel- leicht auch an anderen Stellen Inspirationsquellen lieferte, durchaus gekannt haben. Von Arachnes Metamorphose selbst ist bei beiden nichts zu erkennen; bei Galle nicht, da es hier ja die Webkunst und nicht die mythologische Figur im Vordergrund steht. Bei Zuccari mag das auf die Tatsache zurückzuführen sein, dass er für die Ver- wandlung von der Frau zur Spinne kaum Vorbilder gekannt haben kann und diesem Problem durch den selbst verursachten Platzman- gel aus dem Weg geht. Hier, wie auch bei Niobe und allen anderen Bodenbildern zeigt Zuccari meist den Moment kurz vor dem tragischen Ende, der aber bereits auf den Untergang hinführt. Durch die drastische Bildsprache werden Handlung und Moral für den Betrachter nachfühlbar. Hier kommt ganz deutlich die berühmte Idee zum Tragen, die Lessing als den „fruchtbaren Augenblick“ bezeichnen wird, der den Ausgang der Geschichten bereits enthält.27 Die übernatürliche Wirkung der Bodenbilder manifestiert sich in ihrer Lebendigkeit, die es ihnen scheinbar erlaubt, mit ihren Betrachtern zu kommunizieren: Die noch lebendigen Söhne Niobes, deren Tod unvermeidlich ist, wen- den sich flehend gen Himmel, doch es wirkt, als würden sie sich ebenso wie ihre Mutter an die beiden knienden Hochmütigen wen- den, die von ihren schweren Lasten niedergezwungen das Bild und die schreckliche Strafe für den mütterlichen Hochmut betrachten müssen. Die versuchte Kontaktaufnahme seitens des Reliefs bezie- hungsweise dessen Protagonisten ist an vielen Stellen wiederzufinden 26 Der Stich war und ist zweimal in der Escorialbibliothek vorhanden, 28-II-17, fol. 221; 28- II-19; fol. 118. 27 Vgl. Lessing 1766/2006, 16 ff.
Westermann, Federico Zuccaris Dante Historiato 569 und wird stets durch Blicke und Körpersprache der Figuren ange- deutet. Zuccari wird dabei aber an keiner Stelle konkret. Die Figuren der Bodenbilder überschreiten ihre Bildgrenzen nie direkt, doch an vielen Stellen verschwimmen ihre Bildräume dennoch mit der Ter- rasse der Superbi.28 Die scheinbare Kommunikation zwischen den Superbi im Purga- torium und den Gestalten auf den Bodenbildern funktioniert in um- gekehrter Richtung auch auf dem Blatt, das die Hochmütigen im Ge- spräch mit Dante zeigt (Abb. 4, links): Der sienesische Condottiero Provenzan Salvani, den Dante in der Commedia nur eine Generation nach seinem Tod mit den anderen Superbi für seinen Hochmut büßen aber selbst gar nicht zu Wort kommen lässt, scheint bei Zuccari in das Relief unter ihm vertieft zu sein und nicht nur das Bild, sondern den alttestamentarischen König Saul darin anzublicken. Dieser wird sich gleich in sein Schwert stürzen und erwidert Provenzans Blick nicht. Der Sieneser kann den König nicht mehr von seinem Selbst- mord zurückhalten, sondern muss – als Strafe für seinen eigenen Hochmut – von der Last des Steins auf seinem Rücken niederge- zwungen dem Untergang des ersten Königs von Israel immer wieder tatenlos zusehen.29 Die Art und Weise, wie Provenzan Salvani hier und die anderen Hochmütigen auf Blatt 46 (Abb. 5) gezwungen sind, die Bodenbilder zu betrachten und scheinbar mit ihnen in Kontakt treten, ist beispiellos. Dennoch bleibt dort, wo die Bilder mit ihrer Außenwelt oder umgekehrt in Kontakt zu treten scheinen, Vieles 28 An manchen Stellen scheinen sogar die Superbi aus den Bildern zu klettern: zum Beispiel Umberto Aldobrandesco ganz rechts auf Zeichnung 45 oder der Hochmütige ganz rechts auf Zeichnung 46; auch bei Dante rechts auf Zeichnung 48 könnte man meinen, er käme gerade aus dem Troja-Relief geklettert und habe sich gerade noch vor den Flammen retten können. An dieser Stelle greift Zuccari Dantes Spiel mit den Realitätsebenen (Schein und Sein/Kunst und Realität) auf und setzt es auf sehr subtile Weise seinem Medium entsprechend ein. 29 Dass Zuccari ausgerechnet Provenzan Salvani den alttestamentarischen König ansehen lässt, kann kaum Zufall sein. Beide haben sich zu Lebzeiten durch politischen Hochmut versündigt. Saul verlor aufgrund seiner Selbstüberschätzung eine Schlacht gegen seine ewigen Widersacher, die Philister, und stürzte sich in sein eigenes Schwert, damit er ihnen nicht lebend in die Hände fallen konnte. Provenzan Salvani maßte sich laut Dante zu Unrecht den Titel „Signore di Siena“ an. Zuccari parallelisiert hier die beiden Figuren, die bei Dante in keinerlei Zusammenhang stehen.
570 Visual Past 2015 vage und ist für den Betrachter schwer begreiflich. Dieser sieht sich nun gewissermaßen in den Superbi wiedergespiegelt. So wie diese auf die Bodenreliefs mit den Exempla für bestraften Hochmut blicken, schaut der Betrachter der Zeichnungen auf Bilder, die büßende Hochmütige zeigen. Die Betrachter im Bild werden zu Identifikati- onsfiguren für den Betrachter außerhalb des Bildes; denn so wie die Bodenbilder den Superbi eine Lehre erteilen wollen, haben auch Zuc- caris Zeichnungen eine didaktische Funktion, die sie uns selbst über- mitteln.30 Indem Zuccari die Figuren innerhalb der Bodenbilder mit denen außerhalb kommunizieren lässt, setzt er ihre von Dante beschriebene Lebendigkeit genialisch um. Die Figuren erzählen, oder besser, schil- dern ihre Geschichten scheinbar selbst und klären ihren Betrachter über die Gefahren des Hochmuts auf, indem sie sich mit Blicken und Gesten an ihn wenden. Die Darstellung von nonverbaler Kommuni- kation wird damit in den Zeichnungen zu Purg. X–XII zum wichti- gen Motiv. Gleichermaßen vermittelt Zuccari in seinen Zeichnungen nicht nur den Inhalt der Dialoge mit den Commedia-Exzerpten, son- dern legt den Fokus auch auf den direkten Sprechakt. Auf Blatt 45 (Abb. 4) wenden sich die Dichter zu den sich auf allen Vieren über den Boden bewegenden Superbi, sodass der Betrachter sie lediglich als Rückenfiguren wahrnehmen kann. Deutliche Redegesten verstär- ken den Eindruck, dass hier gesprochen wird, obwohl die meisten Superbi aufgrund der schweren Lasten auf ihren Rücken gar keinen Blickkontakt zu Dante herstellen können. Dies gibt die Commedia vor, wo Umberto Aldobrandesco Dante bittet, sich vorzustellen, da er ihn nicht sehen kann (Purg. XI, 52–57). Die Ausnahme bildet Oderisi da Gubbio, der sich angestrengt zu Dante wendet, welcher ihn darauf- hin erkennt, wie ebenfalls der Text vorgibt (Purg. XI, 73–81). All dies zeigt Zuccari ohne auch nur eine Zeile des dazugehörigen Textes zu 30 Zur didaktischen Funktion der Zeichnungen siehe z. B. Brunner 1999, 65–68. und Stoltz 2011, 109. 159 ff. 221.
Westermann, Federico Zuccaris Dante Historiato 571 kopieren. Die in diese Zeichnung kopierten Verse beziehen sich al- lein auf den Inhalt der Reden der Superbi, die Tatsache, dass und wie gesprochen wird, vermittelt Zuccari bildlich. Zuccari thematisiert das Sprechen über das, was die beiden Jen- seitswanderer auf der Terrasse der Superbi sehen immer wieder. Dante und Vergil zeigen auf die Wand- und Bodenbilder (Abb. 2. 6. 7) und treten offenbar in einen Dialog darüber. In der Commedia be- schreibt Dante nur, was er sieht und wie er die Bilder wahrnimmt, während Vergil ihn lediglich kurz auf die Bilder hinweist (Purg. X, 31–96). Ein Gespräch zwischen den Dichtern über das Gesehene findet im Text nicht statt! Im Gegenteil: Während Dante noch das letzte Wandbild betrachtet, hat Vergil bereits die herannahenden Bü- ßer entdeckt und fordert den Jüngeren sogleich auf, sich ihnen zuzu- wenden (Purg. X, 97–102). Beispielsweise auf Blatt 43 (Abb. 2), das offenbar das Betrachten der Wandbilder zum Thema hat, gibt Zuc- cari allerdings beiden Dichtern einen deutlichen Redegestus und lässt sie offenbar über die Bilder sprechen. Ähnliches gilt für Zeichnung 47 (Abb. 6): Auch hier werden Dante und Vergil im Dialog gezeigt. In der Commedia weist Vergil wieder lediglich kurz auf die Bodenbil- der hin (Purg. XII, 13–15), während Dante noch über die Büßerscha- ren sinniert. Dies wird rechts in dieser Zeichnung illustriert. Dante weist mit seiner rechten Hand noch nach hinten beziehungsweise auf die vorhergehende Zeichnung und hat seinen Kopf gerade erst zu Vergil gedreht, wie der fliegende Mantel andeutet. Vergil zeigt auf das Bild am Boden und fordert Dante damit zum Hinsehen auf. In der linken Bildhälfte lehnen nun beide Dichter über dem Bodenbild mit dem Engelssturz und diskutieren offensichtlich das Gesehene. In dieser Zeichnung scheinen die beiden Dichter wie auch auf Blatt 43 nicht nur das zu sagen, was über ihnen geschrieben steht, sondern tatsächlich über die Reliefs in einen Dialog zu verfallen. Durch die offenkundige Thematisierung des Betrachtens von Bil- dern und den scheinbaren Dialog darüber integriert Zuccari den Re- zipienten, der Zeichnungen betrachtet, in sein Werk. Er wird gewis- sermaßen selbst zum Durchwanderer der Terrasse und wird zudem erneut angesprochen, wenn Zuccari einige Textstellen so in die
572 Visual Past 2015 Zeichnungen einfügt, dass sie ihren ursprünglichen Kontext verlie- ren und scheinbar zum direkten Appell an den Betrachter werden. Denn neben dem Teil der Rede des Buchmalers Oderisi da Gubbio, der wie in einer Sprechblase auf dem Stein, den er auf dem Rücken trägt, eingeschrieben ist (Purg. XI, 85–90), hat Zuccari zwei weitere Terzinen (Purg. XI, 91–94. 100–102) daraus oben links und in der Mitte in die leer gebliebenen Wandpaneele geschrieben (Abb. 4). Dass diese eigentlich von Oderisi gesprochen werden, merkt Zuccari in keiner Weise an, auch ordnet er sie dem Buchmaler komposito- risch nicht zu. In diesen Zeilen geht es aber auch nicht um ihn oder einen der anderen Superbi; stattdessen wird hier auf die Vergänglich- keit jeglichen Ruhmes aufmerksam gemacht, während im rechten Pa- neel eine Terzine steht, in der Dante die Menschen anmahnt, ihren eigenen Hochmut zu reflektieren (Purg. XII, 70–72). Durch die Po- sitionierung von Oderisis Warnungen in den leeren Wandpaneelen und der Verschmelzung mit Dantes Aufforderung werden diese Zei- len zu einem allgemeinen Aufruf, wenn nicht sogar zu einem Appell an den Betrachter der Zeichnungen. Auch wenn die Zeilen, die Dante hier Oderisi oder an anderen Stellen anderen Persönlichkeiten, die er als Jenseitswanderer in der Commedia trifft, in den Mund legt, bei der Lektüre als Appelle an die Rezipienten verstanden werden können, war eine derartige Ver- schmelzung des Jenseitsepos und seiner Szenerie mit der Ebene des Rezipienten bis zu Zuccaris Zeichnungen nicht möglich. Die vielfäl- tigen und wechselseitigen, teilweise nur angedeuteten Bezüge zwi- schen Bildern, Figuren und den Betrachtern innerhalb und außerhalb der Bilder sind im Text und seiner Erzählweise nicht existent; ja, der- gleichen wäre in Dantes sprachlichem Medium nur schwer vorstell- bar. So entwickelt Zuccari ein „visibile parlare“, das über Dantes Ekphrasis in seiner Sichtbarkeit weit hinausgeht. Obwohl Zuccari die Grenzen der Sprache mit seinen Zeichnun- gen offenbar zu überwinden sucht, erkennt er offensichtlich auch die Grenzen seines eigenen Mediums. Spätestens bei dem Versuch der Darstellung der synästhetischen Fähigkeiten der Wandreliefs müssen diese Grenzen evident geworden sein. Denn die auf andere Sinne als
Westermann, Federico Zuccaris Dante Historiato 573 das Sehen abzielenden Fähigkeiten der Wandbilder (Riechen oder Hören) kann Zuccari mit seinen Mitteln kaum zeigen. Deshalb schreibt er die Dialoge zwischen den Protagonisten der Wandreliefs und die Hinweise auf olfaktorische Reize über die Bilder. Hier muss er auf Dantes Verse zurückgreifen, um das „visibile parlare“ darstel- len zu können. Gleiches gilt für den Inhalt der Dialoge zwischen Dante, Vergil und den Superbi, den Zuccari jeweils an die passenden Stellen in die Zeichnungen kopiert. Mit visuellen Mitteln kann Zuc- cari nur darstellen, dass gesprochen wird. Um zu vermitteln, was ge- sagt wird, bedient er sich der entsprechenden Terzinen. Insgesamt übernimmt Zuccari 67 der 138 Terzinen von Purg. X–XII in seine Zeichnungen. Dabei kopiert er allerdings nie visuelle Angaben, die auf sich Form und Gestalt des Raumes oder der Personen beziehen, sondern übersetzt sie ins Bild. In der Synthese von Text und Bild scheinen nun beide Gattungen das zu tun, was sie am besten können und sich gleichzeitig gewissermaßen gegenseitig ihre Grenzen aufzu- zeigen. Dabei ist die Zeichnung ihren eigenen medialen Grenzen in- sofern unterworfen als dass erst der Text den Inhalt von Gesproche- nem vollends enthüllen kann. Die Sprache erfährt eine Grenze, wenn Zuccari den von Dante beschriebenen Raum (re-)konstruiert. Dantes sprachliche Raumkonstruktion funktioniert nämlich für das bildliche Medium insofern nicht, als dass nur drei Wandreliefs, aber dreizehn Bodenbilder beschrieben werden, die den Boden der ersten Terrasse des Läuterungsberges zieren. Hier stößt Zuccari auf ein komposito- risches Problem. Weil er sich entscheidet, sowohl die Wand- als auch die Bodenreliefs in ähnlichen Maßen31 darzustellen, ergeben sich et- liche Leerstellen. Während nur auf einer der sechs Zeichnungen die Wände mit Reliefs verziert sind, verbleiben auf fünfen lediglich leere Wandpaneele, in die zumindest teilweise die Commedia-Zitate einge- schrieben sind. Ob sich Zuccari aus einem anderen als einem kompositorischen Grund für diese leeren Wände entschied, die den Betrachter zunächst 31 Die Höhe der Wandbilder entspricht in etwa der Höhe der Bodenreliefs; der Figurenmaß- stab ist ebenfalls ähnlich.
574 Visual Past 2015 irritieren können, bleibt unklar. Die Darstellung der Leerstellen als Hinweis auf einen möglichen Mangel der Raumkonzeption Dantes beziehungsweise der Dichtung als solcher ist meines Erachtens un- wahrscheinlich, da sich diese auch auf Zuccaris Umsetzung übertra- gen würde. Die architektonische Rahmung ist in den Zeichnungen 44–48 zwar leer, sorgt jedoch für die Kontinuität des Raums von Blatt zu Blatt. Die spezifische Raumgestaltung ermöglicht zudem die Erweiterung des Texts um noch eine weitere Sinnebene, die es in der Commedia nicht gibt: In Zeichnung 43 (Abb. 2) stehen das Wandrelief mit der Trajansgeschichte und das Bodenrelief mit Tomyris in un- mittelbarer Nähe zueinander. Hier scheint Zuccari zwei Geschichten miteinander zu verbinden; denn die Geschichten von Trajan und der Witwe beziehungsweise Kyros und Tomyris sind im Kern sehr ähn- lich. Während die Witwe den Kaiser um Vergeltung für ihren ermor- deten Sohn bittet und sie später auch erhalten soll, rächt Tomyris den Tod ihres Sohnes, indem sie den Perserkönig Kyros tötet, dem ihr Sohn zum Opfer gefallen war. Indem Zuccari die beiden Episoden, die in der Commedia in keinerlei Zusammenhang stehen, räumlich so nah zusammen rückt, entsteht eine Gegenüberstellung von Positiv- und Negativbeispiel; die ähnlichen Geschichten werden einmal aus der tugend- und einmal aus der lasterhaften Perspektive gezeigt. Stutzig macht die Tatsache, dass Zuccari in seinen Annotationen zur folgenden Zeichnung (Abb. 3) anmerkte: „Qui sono figurati altri essempi d’humilita.“ Die Wände blieben jedoch leer; lediglich die Bo- denbilder zeigen Bespiele für Hochmut. Aufgrund von Zuccaris An- merkung mag man mutmaßen, dass der Künstler über weitere De- mutsbilder nachgedacht hat.32 Diese hätten ebenfalls als Gegensätze 32 Aufgrund der prominenten Leerstellen hält Brunner weitere Demutsexempla für möglich; einen möglichen Bezug zu den Bodenreliefs sieht er allerdings nicht (vgl. Brunner 1999, 235). Stoltz schließt weitere möglicherweise geplante Wandreliefs wegen der teilweise in die leeren Wandpaneele eingeschriebenen Textstellen aus (vgl. Stoltz 2011, 46, Anm. 73). Geht man aber nicht (so wie Stoltz Brunner offenbar falsch verstanden hat) davon aus, dass die Zeichnungen unfertig geblieben sind, sondern davon, dass Zuccari sich ument- schied und den Text erst am Ende einfügte (was m. E. unbestreitbar ist), hat Brunners These doch etwas für sich.
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