Federico Zuccaris Dante Historiato - Ein multimediales Bilderbuch

Die Seite wird erstellt Luca Haase
 
WEITER LESEN
Federico Zuccaris Dante Historiato –
                Ein multimediales Bilderbuch
                               Tanja Westermann, Berlin

                           Qual di pennel fu maestro o di stile
                            che ritraesse l’ombre e'tratti ch'ivi
                           mirar fariendo uno ingegno sottile?
                             Morti li morti e i vivi parean vivi:
                           non vide mei di me chi vide il vero,
                           quant'io calcai, fin che chinato givi.1
                                      (Purg. XII, 64-69)

Federico Zuccaris (1542–1609) monumentaler Dante Historiato2 stellt
gleichzeitig sowohl das umfangreichste, als auch das ungewöhn-
lichste künstlerische Dante-Projekt des 16. Jahrhunderts dar. In ins-
gesamt 88 Zeichnungen wird das Jenseitsepos nicht bloß illustriert;
vielmehr gehen Zeichnungen und Commedia-Exzerpte, die entweder
zusammen mit mehr oder weniger ausführlichen Annotationen des

1   „Wer von des Pinsels und des Stiftes Meistern / Vermöchte so die Linien und die Schatten
    / Zu zeichnen, die der feinste Geist bewundert? / Tot schien der Tote, lebend der Leben-
    dige; / Besser sah nicht, der die Wahrheit schaute, / Als ich, der gebeugt auf sie getreten.“
    Im Folgenden werden die Zitate aus der Commedia der Lesbarkeit halber aus der deut-
    schen Übersetzung von Hermann Gmelin wiedergegeben (Komödie 2011). In Originalspra-
    che sind die Zitate online abrufbar: 
    (19.12.2014).
2   Der heute im Florentiner Kupferstichkabinett aufbewahrte Codex entstand in den Jahren
    um 1585–1588 während Zuccaris Aufenthalt am Escorial Philipps II. und wurde erst im
    späten 17. Jh. gebunden. Heute ist das Album, das Salerno 2004 als Faksimile herausgab
    (Zuccari 2004; dazu erschien 2005 ein Kommentarband, hrsg. von Andrea Mazzucchi;
    Mazzucchi 2005), zum Teil wieder aufgelöst. Einige der Zeichnungen wurden kürzlich in
    Bonn ausgestellt (siehe Kunst- und Ausstellungshalle 2013, 258.). Zur Forschung zu
    Zuccaris Zeichnungen siehe zusammenfassend Stoltz 2011, 11–17 und Brunner 1999, 11
    f. 23–32.

                                    www.visualpast.de
554                         Visual Past 2015

Künstlers auf separate Textblätter im Inferno oder direkt in die Zeich-
nungen im Purgatorio und im Paradiso geschrieben sind, eine Synthese
ein, die das Werk zu einem multimedialen Kunsterlebnis werden
lässt. Das Zusammenwirken von Text und Bild wird in Zuccaris
Zeichnungen zu Purgatorio X-XII ganz besonders deutlich und gera-
dezu symbiotisch, ist es doch hier das berühmte „visibile parlare“,
das auf eine in älteren Illustrationen nie zuvor dagewesene Weise ver-
bildlicht werden soll.
   Die erste Terrasse des Läuterungsberges ist und war nicht nur für
die Kunstgeschichte, sondern auch für die Philologie und andere
Disziplinen aufgrund von Dantes bildhaften Beschreibungen ein
ganz besonderer Ort der Commedia. Auf beispiellose Weise erschafft
Zuccari für die drei Gesänge eine Bildwelt auf insgesamt acht Blät-
tern: Nachdem Dante und Vergil das von einem Engel bewachte Tor
durchschritten haben und durch eine Felsspalte gestiegen sind (Blatt
42, Abb. 1), erreichen sie die erste Terrasse des Läuterungsberges,
wo sie an der Felswand drei monumentale Wandbilder entdecken
(Blatt 43, Abb. 2). Nachdem die beiden Dichter diese betrachtet ha-
ben, weist Vergil den jüngeren Dichter auf die Superbi hin, die er her-
annahen sieht (Blatt 44, Abb. 3) und mit denen Dante schon bald ins
Gespräch kommen soll (Blatt 45, Abb. 4). Die Hochmütigen sind
zudem in ihrem Gebet gezeigt (Blatt 46, Abb. 5), bevor Dante und
Vergil endlich die Bodenbilder entdecken (Blatt 47, Abb. 6), die den
Boden aller sechs zentralen Zeichnungen zieren. Die Reihe endet da-
mit, dass Dante und Vergil am Ende der Terrasse auf einen Wäch-
terengel treffen (Blatt 48, Abb. 7), der den beiden den Weg zur nächs-
ten Terrasse zeigen wird und Dante mit seinem Flügel das erste der
sieben P von der Stirn wischt, worüber Vergil den verwirrten Dante
erst aufklärt, als beide schon auf den Stufen sind, die hinauf zur Ter-
rasse der Neider führen (Blatt 49, Abb. 8).
   Der besondere Stellenwert der drei Gesänge beziehungsweise die-
ses Ortes für den Künstler wird schon allein dadurch deutlich, dass
Zuccari der ersten Terrasse des Läuterungsberges ganze acht Blätter
widmet – und damit mehr Raum als jedem anderen Höllenring, jeder
Westermann, Federico Zuccaris Dante Historiato                       555

anderen Terrasse des Läuterungsberges und jeder Himmelssphäre.3
Während die erste und die letzte Zeichnung das Betreten beziehungs-
weise das Verlassen der Terrasse der Superbi zeigen, sind die sechs
zentralen Blätter friesartig komponiert; hier gehen die Protagonisten
von rechts nach links4 vor einer bildparallelen Wand, die durch eine

3   Zumindest zwei der acht Zeichnungen waren jedoch offenbar zunächst gar nicht vorge-
    sehen bzw. wurden vermutlich erst während des Arbeitsprozesses hinzugefügt, da der
    Platz für die prominenten Bodenbilder nicht ausreichte. Zahlreiche Pentimenti bei den
    Rahmenbegrenzungen der Bodenbilder (Saul, Rehabeam) geben u. a. Anhaltspunkte dafür.
    Die Blätter 44 und 46 scheinen als Reaktion auf den fehlenden Platz etwas anders gestal-
    tet als die anderen: Der Figurenmaßstab ist etwas kleiner und es wird viel Platz für die
    Bodenbilder gelassen. Zudem scheinen die Figuren in engem Bezug mit den Bodenbildern
    zu stehen (siehe weiter unten); die auf diesen Blättern gezeigten Commedia-Episoden
    (Gebet und Wegweisung) sind für den Handlungsablauf kaum von Bedeutung. Der
    Einschub erklärt auch das teilweise Abweichen der Bild- von der Textchronologie. So
    scheinen beispielsweise die Zeichnungen 45 und 46 vertauscht, da das Gespräch mit den
    Superbi in der Commedia eigentlich erst nach ihrem Gebet stattfindet. Tatsächlich sind sie
    jedoch nicht vertauscht, denn die Reihe der Bodenbilder und die dazugehörigen Text-
    exzerpte entsprechen nur in dieser Reihenfolge ihrer Erwähnung bei Dante. Das schein-
    bare Vertauschen der Blätter erklärt sich vermutlich vielmehr über die Komposition der
    Bodenbilder im Einzelnen, denn die Episoden von Nimrod vor dem Turm zu Babel und
    Niobe mit ihren Kindern hätten nur schwer in die größtenteils durch Bildpersonal ver-
    deckten Bodenpaneele auf Blatt 45 eingefügt werden können. Die sowieso nur schwer
    darstellbare Arachne-Episode konnte hier mit der Darstellung einer Frauenbüste am
    Spinnrocken und eines Spinnennetzes neben Sauls Selbstmord identifizierbar eingefügt
    werden. Die Tatsache, dass Zuccari die Serie zugunsten der vollständigen Folge der Bo-
    denbilder so erweiterte, verdeutlicht nicht nur die Prominenz des Ortes, sondern zeigt
    auch, dass Zuccari die Darstellung der Bilder in den Bildern ganz besonders wichtig war.
4   Die Leserichtung von rechts nach links verwirrt den Betrachter zunächst und findet ihre
    Begründung am Anfang der Illustrationen zum Purgatorium. Laut Text wissen Dante und
    Vergil zunächst nicht, in welche Richtung sie gehen sollen (Purg. II, 58–66, 130–133 und
    Purg. III, 4–7, 52–57). Sie laufen also weiter in die aus der Hölle gewohnte Richtung im
    Uhrzeigersinn um den Berg. Da sich nun aber für den Betrachter die Perspektive geändert
    hat (wir blicken nun nicht mehr vom inneren des Höllentrichters auf die Höllenkreise, was
    die Leserichtung der Illustrationen von links nach rechts erlaubte, sondern von außen auf
    den Bergkegel), müssten die Illustrationen an dieser Stelle eigentlich von rechts nach links
    verlaufen. Dies hat Zuccari beim Beginn der Arbeiten an den Zeichnungen zum
    Läuterungsberg allerdings verpasst. Erst in Purg. III ändert sich die Laufrichtung der Jen-
    seitswanderer als Dante und Vergil eine Büßerschar nach dem Weg fragen und auf ihren
    Rat hin umkehren (Purg. III, 100–103). Die Umwanderung des Läuterungsberges muss laut
    Text also erst ab jetzt gegen den Uhrzeigersinn passieren (vgl. z. B. Purg. XXII, 121–123),
    was für Illustratoren die Darstellung der Laufrichtung von links nach rechts erzwingt,
    sofern der Berg im Rücken der Protagonisten gezeigt wird. Zuccari beachtet hier (also ab
    Zeichnung 33) den Richtungswechsel; durch den Fehler in der Laufrichtung am Anfang
    ergibt sich für ihn jedoch auch hier die eigentlich falsche Laufrichtung und die nächsten 16
    Zeichnungen sind demzufolge von rechts nach links zu lesen. Ab dem Betreten der zweiten
    Terrasse des Läuterungsberges wird die gewohnte und dem Text entsprechende
    Leserichtung von links nach rechts wieder hergestellt, ohne dass in der Commedia ein
556                                    Visual Past 2015

durchgängige Sockelzone, darüber meist drei Wandpaneele pro Blatt
sowie einen schlichten Fries und ein profiliertes Gesims als oberen
Abschluss gegliedert ist. Der durchweg mit den in der Commedia er-
wähnten Szenen bebilderte Boden5 vor dieser Wand bildet die Büh-
ne, auf der die Protagonisten die Terrasse durchwandern. Stellt man
sich die Zeichnungen rückwärts6 aneinandergelegt vor, ergeben sie
ein zusammenhängendes Raumkontinuum, das sowohl von den Pro-
tagonisten als auch vom Blick des Betrachters in einer Art „Bildwan-
derung“ nach und nach durchschritten wird (Abb. 9). Besonders
deutlich wird die gedachte Zusammengehörigkeit der Blätter durch
die Fragmente einiger der Bodenbilder, die sich ergänzen, sobald
man die Blätter aneinander legt. (Abb. 10. 11).7 Die Wandpaneele,
die nur auf Blatt 43 mit Bildern gefüllt sind und ansonsten bis auf
einige Commedia-Exzerpte leer geblieben sind, verstärken den Ein-
druck des einheitlichen Raumgefüges. Unter anderem durch das Zu-
sammenfassen der drei Gesänge in einem durchgängigen Bildgefüge
unterscheiden sich Zuccaris Zeichnungen deutlich von älteren Illu-
strationen, die im Normalfall der Struktur des Textes, also der Ein-
teilung in die einzelnen Gesänge, streng unterworfen waren. Zuccari

      weiterer Richtungswechsel stattgefunden hätte. Vermutlich kehrte Zuccari aus Gründen
      der Lesbarkeit der Zeichnungen zu der gewohnten Leserichtung zurück. Dies könnte in
      der Anlage der Bodenbilder von links nach rechts in der Reihe vorbereitet sein.
5     Die Szenen sind entsprechend ihrer Reihenfolge in der Commedia (Purg. XII, 25–63)
      beginnend auf Zeichnung 47 von links nach rechts zu lesen: 47: Engelssturz, Sturz der
      Giganten; 46: Nimrod vor dem Turm zu Babel, Niobe und der Tod ihrer Kinder; 45: Sauls
      Selbstmord, Metamorphose Arachnes, oberes Fragment des Rehabeam-Bildes; 44:
      unteres Fragment des Rehabeam-Bildes, Alkmäons Mutter, oberes Fragment des
      Sanherib-Bildes; 43: Sanherib, der von seinen Söhnen erschlagen wird (unteres Fragment),
      Kyros und Tomiris, Judith mit dem Kopf des Holofernes, Troja (sehr kleines Fragment); 48:
      Troja. Der entsprechende Text steht einer Inschrift gleich jeweils unter dem dazugehöri-
      gen Bild.
6     Also rechts beginnend mit 43 und weiter nach links bis 48. Die Leserichtung der Reihe von
      rechts nach links ergibt sich aufgrund der Leserichtung der Zeichnungen in dieselbe
      Richtung. Vgl. Anm. 4.
7     Die Zeichnungen ergeben zwar gedacht eine Reihe, sollten aber offensichtlich im Gegen-
      satz zu einigen anderen Zeichnungen des Albums nicht zusammengeklebt werden, denn
      jedes Blatt hat einen eigenen, zentralen Fluchtpunkt. Außerdem haben die Architekturen
      an den Blattkanten zumindest auf einigen Blättern einen äußeren Abschluss. Da die hori-
      zontalen Gliederungslinien der Architektur auf anderen Blättern aber – soweit erkennbar
      – über die Bildkanten hinweg gezogen wurden, war ein „Weiterdenken“ der Bildräume
      dennoch mit ziemlicher Sicherheit von Zuccari intendiert.
Westermann, Federico Zuccaris Dante Historiato                557

weicht zudem von der linearen Erzählweise des Textes und der daran
stets orientierten Darstellungskonvention ab, wenn die Bodenreliefs
„den ganzen Boden, der den Berg umgürtet“ (Purg. XII, 24) zieren,
obwohl sie erst im 12. Gesang erwähnt werden und in älteren Illust-
rationen deshalb auch erst dort zu sehen sind.

            Zuccari und Botticelli. Illustration und Innovation
Dieser Umgang mit dem dantesken Ort ist in der Kunstgeschichte
bis dahin beispiellos und nur bei Sandro Botticellis berühmten
Dante-Zeichnungen im Ansatz zu beobachten. Hier ist zwar (noch)
jedem Gesang genau eine Zeichnung zugeordnet, jedoch sind die
drei Blätter miteinander verknüpft, denn Botticelli gibt häufig An-
haltspunkte über das Vor- und Nachher, wenn zum Beispiel bei
 Dante und Vergil über die Felsspalte die Terrasse errei-
chen, dann die Wandreliefs betrachten und zuletzt schon die Superbi
zu sehen sind, deren Begegnung mit den Jenseitswanderern erst in
 illustriert ist. In der Zeichnung zu  sieht
man die Superbi noch davongehen, während Dante und Vergil die
Bodenbilder betrachten und schlussendlich die Terrasse über eine
Treppe verlassen. Botticelli verknüpft im Gegensatz zu Zuccari je-
doch lediglich die einzelnen Handlungsmomente, wobei eine konti-
nuierliche Raumeinheit wenn überhaupt nur angedeutet wird.
    Zuccaris und Botticellis Dante-Projekte haben jedoch noch wei-
tere Parallelen, denn beide Künstler verwenden die bereits zu Bot-
ticellis Zeiten recht unüblich gewordene kontinuierende Darstel-
lungsweise,8 zeigen also mehrere Momente der Erzählung in einem
Bildraum, wodurch Dante und Vergil auf vielen Blättern mehrfach
zu sehen sind. Auch Format und Komplexität der ungewöhnlich mo-
numentalen Zeichnungsfolgen sind recht ähnlich; der Aufbau der
Terrasse der Superbi ist durchaus vergleichbar. Der Weg um den Läu-
terungsberg wird bildparallel gezeigt, beide Künstler setzen die
Wandreliefs wie große Historien ins Bild, wenngleich die Wandbilder

8   Diesen auch heute noch häufig verwendeten Begriff zur Unterscheidung und Beschrei-
    bung verschiedener Erzählweisen in der Kunst prägte v. a. Wickhoff 1912, 11–15.
558                                    Visual Past 2015

selbst bis auf das von Dante vorgegebene Thema keine Parallelen
aufweisen und Botticellis Bodenbilder, noch weitgehend einer älteren
Tradition verpflichtet, rahmenlos lediglich auf dem Boden der Zeich-
nung zu Purg. XII gezeigt sind.9 Einzelne Szenen auf der Terrasse
weisen jedoch erstaunliche Ähnlichkeiten auf, wie zum Beispiel die
Begegnung der Dichter mit dem Wächterengel und das Verlassen der
Terrasse über die Treppe (vgl. Botticellis Purg. XII mit Abb. 7. 8).10
    Nicht zuletzt aufgrund der ungeklärten Provenienz von Botticellis
Zeichnungen, wird noch immer diskutiert, inwiefern Zuccaris Blätter
mit ihnen in Zusammenhang gebracht werden können.11 Selbst wenn
angesichts der Parallelen bei der Illustration der Terrasse der Hoch-
mütigen nicht auszuschließen ist, dass Zuccari Botticellis Zeichnun-
gen gekannt haben könnte, werden sie kaum eine direkte Vorlage ge-
wesen sein. Wenn überhaupt kann man hier von der Weiterentwick-
lung einer Idee sprechen, die bei Botticelli im Ansatz zu erkennen ist.
Erst Zuccari entwickelt ein tatsächliches Raumkontinuum und setzt
letztendlich auch als erster die Bodenbilder in Rahmen! Diese sind
zudem offensichtlich Kinder von Zuccaris Zeit: Weit entfernt von
dem, was Dante sich anhand der seinerzeit zeitgenössischen Kunst
vorgestellt haben kann, sind die hochrechteckigen Historien an der
Monumentalmalerei des Manierismus orientiert – sowohl in ihrer

9 Vgl. dazu vor allem Brieger u. a. 1969, 165 ff.
10 Die Tatsache, dass Botticellis Zeichnungen zu Purg. XI und XII ebenfalls von der
   gewöhnlichen Leserichtung abweichen und von rechts nach links zu lesen sind, darf
   allerdings nicht als Hinweis auf eine eventuelle Abhängigkeit gewertet werden, da sich die
   ungewohnte Leserichtung bei Zuccari auf einen Fehler an einer anderen Stelle zurück-
   führen lässt. Vgl. Anm. 4. Warum diese zwei der drei entsprechenden Zeichnungen
   Botticellis zu Purg. X–XII die ungewohnte Leserichtung verfolgen, ist unklar. Vielleicht liegt
   es daran, dass die Superbi in der Zeichnung zu Purg. X von rechts – also von vorn und damit
   nicht dem Text entsprechend von hinten – zu den beiden Dichtern kommen und Dante
   und Vergil sich umdrehen müssen, um mit ihnen mitgehen und im Folgenden mit ihnen
   sprechen zu können. Da Botticelli den in Purg. III stattfindenden Richtungswechsel
   überhaupt nicht beachtet hatte, lässt sich vermuten, dass er sich für die Laufrichtungen
   allgemein eher weniger interessierte.
11 Siehe dazu vor allem Brunner 1999, 52 und Stoltz 2011, 62–68, zur Provenienz der
   Botticelli-Zeichnungen siehe Schulze Altcappenberg 2000, 21–23.
Westermann, Federico Zuccaris Dante Historiato                       559

Form als auch in Hinblick auf ihre kompositorischen Eigenschaf-
ten.12
    Beide Serien unterscheiden sich jedoch auch noch in anderer Hin-
sicht von den traditionelleren Lösungen, da sie sich in ihrem Verhält-
nis zum Text deutlich von Illustrationen im klassische Sinne abgren-
zen: Wie bereits nachgewiesen wurde, sollten Botticellis Zeichnun-
gen nicht – wie eigentlich üblich – den bereits vorhandenen Text il-
lustrierend begleiten; vielmehr entstanden sie zunächst, ohne dass
überhaupt an eine Abschrift der Commedia gedacht war. Vielleicht
weil sich ein möglicher Käufer gestört haben mag, wurde der Text
erst zu einem späten Zeitpunkt des Werkprozesses auf die jeweils
gegenüberliegende Fellseite der Pergamentbögen geschrieben und ist
somit eine Ergänzung der zunächst autonom gedachten Zeichnun-
gen.13 Auch wenn Zuccaris Zeichnungen im Gegensatz dazu sicher-
lich nie ganz ohne Text auskommen sollten, sind sie keine Illustrati-
onen im klassischen Sinne.14 Wieder begleiten die Bilder keinen zu-
vor geschriebenen und gesetzten Text; sie gehen vielmehr eine Syn-
these mit den mehr oder weniger kurzen Exzerpten ein. Dies wird
besonders bei den Purgatorio-Zeichnungen deutlich, da der Text hier
direkt in die Zeichnungen, an die jeweils zur Handlung gehörende
Stelle eingefügt wurde. So werden beispielsweise auf Blatt 45
(Abb. 4), wo die Exzerpte mit der wörtlichen Rede der Protagonisten

12 Dante vergleicht die Bodenbilder mit Grabplatten, die jedoch seinerzeit keineswegs nar-
   rativ ausgesehen haben, sondern viel eher einzelne Liegefiguren (Gisants), evtl. begleitet
   von Attributen und Inschriften, gezeigt hätten. Zuccari lehnt sich hier nicht an die histori-
   sche oder zeitgenössische Sepulkralkunst an, sondern interpretiert die Bodenbilder als
   große, erzählerische Historien, die mit den wenigen existierenden Bildern auf Fußböden
   kaum vergleichbar sind. Am ehesten erinnern sie an Domenico Beccafumis Bilder auf dem
   Fußboden des Domes zu Siena. Doch ebenso wie diese, leiten sich Zuccaris Bodenbilder
   bezüglich Format und Bildaufbau vielmehr von der monumentalen Tafelmalerei als einer
   eigenen Tradition ab. Zuccaris hochformatige, häufig in mehrere Zonen unterteilte Kom-
   positionen entsprechen den Bildtraditionen v. a. der sakralen Tafelmalerei, die sich im
   Laufe des Cinquecento zunehmend auf die einzelne Tafel und den sich darin ent-
   wickelnden Bildraum konzentrierte. Des Künstlers eigene Werke können hier als Ver-
   gleichsbeispiele dienen: Seine erhaltenen, in etwa zeitgleich entstandenen Tafeln für das
   retabolo mayor in der Basilika San Lorenzo des Escorial weisen ganz ähnliche Komposi-
   tionsschemata wie die Bodenbilder im Dante Historiato auf. Zu den Tafeln im Escorial siehe
   z. B. Acidini Luchinat 1999, 160–167.
13 Vgl. Schulze Altcappenberg 2000, 28–30.
14 Vgl. zum Problem des Begriffs Illustration im Dante Historiato Stoltz 2011, 121–127.
560                                  Visual Past 2015

in die Steine eingeschrieben sind, welche die Superbi auf ihren Rücken
tragen, die Steine beinahe zu Sprechblasen, die den modernen Be-
trachter an eine Art Comic erinnern.

                             Dantes „visibile parlare“
Zuccaris durch alle drei Gesänge hindurch führendes Raumgefüge
und die darin sequentiell zu den inhaltlich dazugehörigen visuellen
Bildelementen angeordneten Commedia-Exzerpte führen dazu, dass
sich die Handlung dem Betrachter über das direktional-kausale
Durchwandern des visionären Raumes erschließt und nicht mittels
einer konsekutiv-linearen Worterzählung. Zumal eine lineare Lesart
der Commedia-Exzerpte hier gar nicht mehr möglich ist, denn der
Text ist so stark gekürzt, dass die Exzerpte kaum Aufschluss über die
Handlung geben. Solch ein Umgang mit dem Text kann aber keines-
wegs als allzu eklektisch bezeichnet werden.15 Denn grundsätzlich
geht Zuccari mit den Exzerpten durchaus vorsichtig um und ver-
sucht, die sprachlichen Qualitäten der Dichtung zu erhalten, wie zum
Beispiel bei der wunderbaren Paraphrase des Vaterunser (Purg. XI,
1–24, Abb. 5) oder der Beschreibung der Bodenbilder (Purg. XII,
25–63, Abb. 9), die in ihrer dichterischen Schönheit jeweils unge-
kürzt wiedergegeben werden. Der Inhalt ergibt sich aber dennoch
nun nicht mehr vor allem durch den Text, der von der Bebilderung
losgelöst steht und von dieser eher ergänzt beziehungsweise illus-
triert (von lat. illustrare: erläutern, veranschaulichen, verschönern)
wird, sondern durch das Zusammenwirken von Text und Bild.
   Das Zusammenwirken von Text und Bild beziehungsweise viel-
mehr das von Wort und Bild oder Dichtung und bildender Kunst ist
bereits Thema in Dantes Text. Schließlich wurde die Terrasse der

15 Barbara Stoltz meint, der Text würde durch die Selektion zum bloßen informativen Ver-
   satzstück, zum „Sprachrohr“ für die Bilder. Die Dichtung verliere dadurch ihre Autonomie;
   vgl. Stoltz 2011, 146. – Zuccaris Umgang mit der Dichtung ist m. E. allerdings nicht so
   eklektisch wie von Stoltz angenommen; schließlich achtet Zuccari trotz Selektion und
   neuem Arrangement penibelst auf die Vollständigkeit der Terzinen und eine angemessene
   typographische Gestaltung der kopierten Verse.
Westermann, Federico Zuccaris Dante Historiato                      561

Superbi vor allem als Meisterleistung der Ekphrasis, also aufgrund ih-
rer Kunstbeschreibungen berühmt. Dante beschreibt die Bilder an
den Wänden und auf dem Boden in Anlehnung an die antike Rheto-
rik, wobei er sich vor allem an Vergil orientiert, den er an mehreren
Stellen der Commedia als sein Vorbild bezeichnet; zu denken ist bei-
spielsweise an Vergils berühmte Beschreibung des Schildes des
Äneas (Aen. 8, 626–728).16 Ziel der Ekphrasen ist es, dem Leser mit
Worten Bilder vor Augen zu führen, also das Beschriebene „erzähle-
risch zur Wirkung einer realen Szenerie“17 zu restituieren. Hierbei
ging es Dante offensichtlich aber nicht nur um einen Anschaulich-
keitseffekt oder um das Erschaffen von möglichst realitätsnahen
(Wort-)Bildern. Denn der Dichter entzieht den göttlichen Reliefs auf
der Terrasse der Superbi schon einleitend den Bezug zur Realität,
wenn er nicht nur ihren göttlichen Ursprung erwähnt, sondern ihre
Schönheit beschreibt „so, dass nicht nur Polykletus, auch die Natur
sich davor schämen müsste“ (Purg. X, 32 f). Die Göttlichkeit der
Bilder und ihre nicht-weltliche Perfektion manifestieren sich aller-
dings nicht nur in ihrer Schönheit, sondern in einer Art von „An-
schaulichkeit“ beziehungsweise evidentia, die die Grenzen der
menschlichen Bildkunst überschreitet: So gesteht der Dichter den
Wandbildern eine synästhetische Wirkung zu, die Bilder in unserer
Welt freilich nur assoziieren könnten. Es heißt, der Verkündigungs-
engel „(…) war vor unsren Augen so wahrhaftig dort eingemeißelt
(…) dass es nicht schien, es sei ein Bild, das schweiget. Man könnte
schwören, dass er ‚Ave‘ spreche (…)“ und in Marias „(…) Haltung
prägten sich die Worte: ‚Dies ist die Magd des Herrn‘, so unverkenn-
bar, gleich wie ein Bild sich prägt im weichen Wachse“ (Purg. X, 37–

16 Vergils Schildbeschreibung lässt sich auf die älteste überlieferte Ekphrasis, Homers
   Beschreibung des Achilles-Schildes (Ilias, 18, 478–608), zurückführen, die Dante zwar
   noch unbekannt, Zuccari aber geläufig war. Die wichtigsten Bezugstexte für die mittelal-
   terliche Tradition der Ekphrasis bildeten Vergils Aeneis und Georgica, Statius’ Silvae und
   Ovids Metamorphosen; vgl. Löhr 2003, 78. Dante kannte sicher einen Großteil der im
   Mittelalter bekannten ekphrastischen Texte; die Silvae waren ihm aber unbekannt (vgl.
   Barth 2003, 285), wobei er aber Statius’ Epen Thebais und Achilleis (unvollendet) sicher
   kannte (vgl. Purg. XXI, 92). Dante sagt über Vergil bspw.: „Du bist ein Vorbild und du bist
   mein Meister, / Du ganz allein bist der, dem ich verdanke / Den schönen Stil, der mich zu
   Ehren brachte.“ (Inf. I, 85–87).
17 Löhr 2003, 76 f.
562                                   Visual Past 2015

45). In dem darauf folgenden Wandrelief mit dem tanzenden König
David vor der Bundeslade zeigen sich laut Dante „(…) Leute, abge-
teilet in sieben Chöre, daß Gehör und Auge in mir sich streiten muß-
ten, ob sie sangen. Und gleichermaßen gab die Weihrauchwolke, die
dort gemeißelt, für Geruch und Auge ein widerstreitend Rätsel zu
erraten“ (Purg. X., 58–63). Und auch das dritte Relief, das eine Witwe
vor Kaiser Trajan zeigt, verfügt über übernatürliche Fähigkeiten:
Nicht nur scheinen sich einige Bildelemente zu bewegen („Die Adler
über ihm im Winde flattern“, Purg. X, 81), auch gibt das Bild ohne
einen Hinweis auf Inschriften18 den recht umfangreichen Dialog zwi-
schen Trajan und der Witwe offenbar wörtlich wieder (Purg. X, 83–
93). Dabei wird nicht nur der Sprechakt der Figuren in den Bildern
– etwa durch Gesten – sichtbar, ihre Worte werden tatsächlich hör-
bar und auch Gerüche und Bewegungen wahrnehmbar. Es entsteht
eine Realitätsnähe innerhalb der beschriebenen Bilder, die sie von der
weltlichen Realität gleichsam entfernt. Dante betont:
      Der Herr, der niemals etwas Neues kannte,
      Hat jenes Sprechen sichtbar abgebildet,
      das uns so neu, weil wir es nie gesehen.
      (Purg. X, 94–96)

Damit verdeutlicht er noch einmal ihre übernatürlichen, synästheti-
schen Fähigkeiten, die allein auf ihren göttlichen Ursprung zurück-
zuführen sind. Im Geist des Rezipienten kann nun jedoch nicht nur
ein visuelles Bild, sondern die multimediale Vorstellung einer Wirk-
lichkeit19 entstehen, die wie die Realität mehrere Sinne anspricht.
Während die Reliefs die medialen Grenzen der Bildkunst mit ihrem
„visibile parlare“ und der Allusion anderer Sinneseindrücke überwin-
den, überwindet Dante die mediale Grenze der Sprache im doppelten

18 Dante erwähnt keine Inschrift und deutet auch nichts dergleichen an. Eine Inschrift be-
   schreibt er dagegen in Inf. III, 1–9. Hier wird die Inschrift am Höllentor wiedergegeben,
   und auch dezidiert als solche bezeichnet (Inf. III, 10 f.).
19 Die Wirklichkeit bzw. Wahrheit („il vero“, Purg. XII, 68), die durch Gott vermittelt wird,
   versucht der Dichter mit seinen Ekphrasen abzubilden („ritraesse“, Purg. XII, 65), indem er
   sich an Gottes Schöpfung, also der Natur oder der weltlichen Bildkunst, orientiert. Der
   Realitäts- bzw. Wahrheitsanspruch Dantes Dichtung scheint damit seinen Forderung an
   die bildende Kunst, also Naturnähe und damit Wahrheit, zu entsprechen.
Westermann, Federico Zuccaris Dante Historiato     563

Sinne. Er erzeugt eine bildhafte Vorstellung von Bildern, die zu spre-
chen scheinen, und führt sie wiederum mittels Sprache vor Augen.
Indem Dante die Reliefs mit dieser synästhetischen Ekphrasis be-
schreibt und dem Leser mittels seiner Sprache ein inneres Bild ver-
mittelt, wird seine Poesie ebenfalls zu „visibile parlare“.

                     Zuccaris sprechende Bilder
Sprechende oder synästhetische und wahre Bilder zu erschaffen, ist in
der Renaissance eines der großen Ziele der bildenden Künstler.
Nicht zuletzt diese schwierige Aufgabe schürte den Wettstreit nicht
nur zwischen den Gattungen der bildenden Kunst, sondern auch
zwischen Bild- und Dichtkunst. Zum paragone ist in der Kunstge-
schichte beinahe unendlich viel geforscht und geschrieben worden
und auch der Dante Historiato wurde – vor allem von Barbara Stoltz
– bereits in dieser Hinsicht betrachtet. Allerdings muss man sich
doch fragen, inwiefern Zuccaris zeichnerische Umsetzung von Pur-
gatorio X–XII diesem Kontext zuzuordnen ist und ob Kunst und
Dichtung hier überhaupt miteinander konkurrieren. Dabei muss man
sich vor der Untersuchung des kunsttheoretischen Gehalts der Blät-
ter die Frage stellen, wie die Übertragung des Jenseitsepos aus dem
rein sprachlichen in Zuccaris Medium praktisch funktioniert.
    Grundsätzlich übernimmt Zuccari Dantes Schilderungen ziem-
lich genau in seine Zeichnungen. Ohne die Vorstellung des Dichters
grundlegend zu verändern, erweitert Zuccari das von ihm Beschrie-
bene aber um Vieles, wie der Blick auf die Wandreliefs zeigt (Abb. 2).
Das Bild mit der Verkündigung zeigt neben Maria und dem Engel
viele Elemente, die Dante in seiner knappen Beschreibung des Ge-
genständlichen im Bild nicht erwähnt. Ähnliches gilt auch für die an-
deren beiden Szenen, die der Künstler vor eine Stadtkulisse setzt;
beide Male ist das Pantheon – einmal links im Bild von der Seite,
einmal im Hintergrund frontal – neben etlichen anderen Gebäuden
zu erkennen. Hinter Trajan ist die Trajanssäule zu sehen, die ihn ein-
deutig identifizierbar macht.
564                                  Visual Past 2015

    Zuccaris Schilderungen konkretisieren Dantes Beschreibungen
und gehen im Detail darüber hinaus; denn die Ekphrasen sind freilich
keine vollständigen Bildbeschreibungen, die ein Nachzeichnen ermög-
lichen würden. Im Dante Historiato ersetzten und erweitern bildliche
Schilderungen zwar die schriftliche Beschreibung der Wandreliefs,
jedoch kommen sie nicht ganz ohne Text aus, denn ein wichtiges
Merkmal der göttlichen Reliefs vermag auch Zuccari nur anzudeuten:
Der Redegestus des Engels impliziert zwar, dass er mit Maria spricht,
was er sagt, beziehungsweise dass das Bild scheinbar selbst spricht,
können allerdings nur die über das Bild geschriebenen Verse aus der
Commedia (Purg. X, 40–42) andeuten, selbst wenn der Betrachter die
biblische Episode gut genug kennt, um zu wissen, dass der Engel hier
nur „Ave!“ und den darauf folgenden Bibelvers aus Luk 1, 2820 sagen
kann.
    Die von Dante beschriebene Lebendigkeit der Wandreliefs deutet
Zuccari auf eine Weise an, die den bildkünstlerischen Konventionen
seiner Zeit entspricht. Ein wichtiges Darstellungsmittel ist hierbei
Bewegung im Bild. Zum Beispiel lässt der Künstler eine Figur am
vorderen rechten Bildrand des mittleren Wandreliefs beinahe rück-
lings aus dem Bild stürzen. Zudem schwingt ein Mann in der Mitte
des Bildes, der seinen Kopf auffällig nach hinten dreht, ein Weih-
rauchgefäß auf sehr artikulierte Weise. Dass Dante den Weihrauch
zu riechen meint und die Chöre, die Zuccari singend darstellt, tat-
sächlich zu hören glaubt, können auch hier nur die kopierten Comme-
dia-Verse (Purg. X, 59–63) vermitteln. Ähnliches gilt für das letzte
Wandrelief. Zuccari setzt Dantes bildhafte Beschreibung der Szene
in seiner Zeichnung um; den Inhalt des Dialoges kann sie jedoch
nicht vermitteln, sodass er den wichtigsten Teil des Gesprächs zwi-
schen Trajan und der Witwe über das Bild schreiben muss (Purg. X,
88–93).

20 Und der Engel kam zu ihr hinein und sprach: Gegrüßet seist du, Holdselige! Der Herr ist
   mit dir, du Gebenedeite unter den Weibern! / Et ingressus angelus ad eam dixit: Ave gratia
   plena: Dominus tecum: benedicta tu in mulieribus.
Westermann, Federico Zuccaris Dante Historiato                     565

    Das Problem der bildlichen Darstellung der Synästhesie der
Wandreliefs, also von Bildern, die sich bewegen, sprechen und sogar
riechen, löst Zuccari, indem er jeweils genau die Textstellen in seine
Bilder kopiert, die diese Phänomene beschreiben. Die Textstellen,
die Visuelles beschreiben, lässt er im Gegensatz dazu grundsätzlich
weg. Sie hat er gewissermaßen in sein Medium, die Zeichnung, über-
setzt und damit ersetzt. Den von Dante mehrmals erwähnten und
durchaus betonten göttlichen Ursprung der Reliefs deutet der Künst-
ler interessanter Weise nur an. Erst in Zeichnung 47 (Abb. 6) kopiert
er zwei der Textstellen, in denen Dante darauf hinweist, dass die Re-
liefs schöner als die (weltliche) Kunst sind (Purg. XII, 22–24) und
der Realität beziehungsweise Wahrheit entsprechen (Purg. XII, 64–
69). In dieser Zeichnung erblicken Dante und Vergil die Bodenbil-
der, die sich von hier aus über die sechs zentralen Zeichnungen zu
Purg. X–XII erstrecken (Abb. 9). Zuccari überschreitet hier die
Grenzen der linear und konsekutiv beschreibenden Dichtung. Er
gibt verschiedene Aspekte gleichzeitig wieder, die in der Commedia an
völlig unterschiedlichen Stellen beschrieben werden. Denn dadurch,
dass die Bodenbilder, die bei Dante erst im zwölften Gesang erwähnt
werden, jetzt tatsächlich den gesamten Boden der Terrasse zieren
(Purg. XII, 22–24), werden sie mit den Wandreliefs parallelisiert, so-
dass sich ihre Gegensätzlichkeit – Demut und Hochmut – manifes-
tiert. Außerdem werden die Bodenbilder nun ganz konkret mit Fü-
ßen getreten, was in der Commedia erst ganz am Ende der Beschrei-
bung der Bodenbilder überhaupt erwähnt wird.21 Nicht nur Dante
und Vergil betreten die Bilder; auch die Superbi werden von den
schweren Lasten auf ihren Rücken zum Hinschauen gezwungen, sie
müssen dem Hochmut und der Strafe dafür immer wieder ins Auge
sehen. Was Dante nur nacheinander beschreiben kann, setzt Zuccari
nebeneinander und macht die gleichzeitige Rezeption möglich, ja, er-
laubt dem Betrachter verschiedene Aspekte ins Verhältnis zu setzen.

21 Bei Zuccari stehen die Figuren immer direkt auf den Bodenbildern, nie in den Zwischen-
   räumen. So werden beinahe alle Bodenreliefs tatsächlich betreten, während der Leser der
   Commedia erst ganz am Ende der Beschreibung der Bodenreliefs erfährt, dass Dante sie
   auch betreten hat („calcai“, Purg. XII, 69). Das Moment des Betretens ist somit bei Zuccari
   viel offensichtlicher.
566                                Visual Past 2015

   Die bei Zuccari so präsenten Bodenbilder gehen ganz augen-
scheinlich weit über Dantes knappen Wortlaut hinaus, denn der
Dichter beschreibt hier keine Historien, wie Zuccari sie später zeigt,
sondern erschafft eher einen „punktuellen Gesamteindruck“22, der
sich stets auf den tragischen Ausgang der Geschichten konzentriert.
Visuelle Elemente und Affekte werden bei Dante – wenn auch sehr
kurz – kontrastreich miteinander verbunden. Beispielsweise über das
Relief mit Niobe schreibt er:
      O Niobe, mit voller Trauer
      Sah ich dich abgebildet auf dem Wege
      Inmitten deiner vierzehn toten Kinder.
      (Purg. XII, 37–39)

Dass Niobes Kinder wegen des Hochmuts ihrer Mutter sterben
mussten, weiß der gebildete Leser zwar, Dante erwähnt dies aber mit
keinem Wort. Ebenso wenig erzählt er, wie sie starben, von wem sie
getötet wurden oder irgendein anderes Detail der Geschichte. Die
Figuren auf dem Boden stehen somit als Zeichen23 und wirken emb-
lematisch für ganze Geschichten, die ihre Bedeutung erst in der
sprachlichen Ausdeutung des Jenseitswanderers offenbaren.
    Dadurch dass Zuccari die Bodenbilder zu großen Historien
macht, werden sie tatsächlich narrativ und können nicht nur den tra-
gischen Ausgang der Geschichten zeigen, sondern auch andere De-
tails schildern. Zu den Bodenbildern kopiert der Künstler jeweils die
zum Bild dazugehörige Terzine wie eine Inschrift unter das Bild. So
bleiben auch die weniger bekannten und halb verdeckten Geschich-
ten identifizierbar. Zuccari hält sich bei der Komposition seiner Bo-
denbilder jedoch wenig an die knappen Beschreibungen Dantes. Bei-
spielsweise ist Niobe (Abb. 5, rechts) nicht inmitten ihrer vierzehn
toten Kinder zu sehen; vielmehr leben einige der sieben Söhne in der

22 Vgl. Boehm 1995, 35. Laut Gottfried Boehm können Ekphrasen eben auch solche kurzen,
   aber intensiven, meist auf Affekte hin zielende Schilderungen sein. Zu verschiedenen
   Ausformungen von Ekphrasis siehe ebd. passim.
23 Dante benutzt bei der Beschreibung der Bodenreliefs mehrmals die Begriffe „segno“ oder
   „segnare“. Die Bodenbilder können bei Dante eigentlich auch nur Zeichen für ihre Ge-
   schichten sein, da man davon ausgehen muss, dass der Dichter, der sie mit Grabplatten
   vergleicht, sie sich als Gisants, nicht als Historien, vorgestellt hat.
Westermann, Federico Zuccaris Dante Historiato                        567

Zeichnung noch, während die sieben Töchter bereits von Artemis’
Pfeilen niedergestreckt zu Füßen ihrer dem Hochmut verfallenen
Mutter liegen. Apoll spannt gerade den Bogen, um einen weiteren
von ihnen zu töten. Zuccaris Bild erzählt also weitaus mehr von der
Geschichte als Dante in seinen drei Zeilen erwähnen kann. Für die
künstlerische Umsetzung der Szene reicht hier wie an vielen anderen
Stellen die bloße Lektüre der Commedia nicht aus. Wie von Ovid be-
schrieben, aber von Dante nicht erwähnt, reiten die Söhne auf Pfer-
den (Metamorphosen 6, 221–223), bevor sie von Apoll niederge-
schossen werden. Außerdem treten die von Dante unerwähnt geblie-
benen Kinder Letos, Apoll und Artemis, zu der Szene hinzu, die ge-
rade noch geschieht und nicht wie bei Dante schon zu Ende ist.24
    Eine ähnliche „Ungenauigkeit“ gegenüber dem Text – wenn auch
viel weniger eine Ausschmückung – geschieht bei dem Bodenbild mit
Arachne (Abb. 4, rechts). Sie wird nicht der Commedia entsprechend
„schon halb als Spinne (…) auf den Fetzen des Werks“ (Purg. XII,
44 f) gezeigt, mit dem sie Pallas Athene herausgefordert hatte. Statt-
dessen zeichnet Zuccari nur ein Spinnennetz und die Büste einer
Frau, die offenbar an einem Webstuhl sitzt. Das wenige, das vom
Arachne-Relief zu erkennen ist, deutet darauf hin, dass das durchaus
seltene Motiv vielleicht von einem 
inspiriert sein könnte. Der Stich aus der Serie Menselijke Bedrijvigheden25
zeigt die Personifikation der Webkunst an einem Spinnrad sitzend
wie sie gerade einige Fasern von einem hohen Spinnrocken zupft,
um sie zu Garn zu spinnen, das dann an dem Webstuhl im Hinter-
grund verarbeitet werden wird. In der oberen rechten Bildecke hängt

24 Zuccari hält sich jedoch auch nicht an den Text Ovids, denn hier sterben die Söhne vor
   den Töchtern. Als letztes stirbt die jüngste Tochter, die in Zuccaris Umsetzung bereits tot
   im Schoß der Mutter liegt. Dieses Motiv dürfte – vielleicht durch die Druckgraphik vermit-
   telt – auf die berühmte antike Niobidengruppe zurückzuführen sein (Siehe die römische
   Kopie (2. Jh.) nach hellenistischem Original (4. oder 2./1. Jh. v. Chr.) in der Galleria degli
   Uffizi, Florenz).
25 Siehe zur Stichserie, auf deren erstem Blatt Frans Floris als Inventor genannt wird, die aber
   erst posthum gestochen wurde: van de Velde 1975a, 42 f. 108. Der Stich De Weefkunst
   geht vermutlich nicht auf Floris’ Entwurf, sondern auf eine im Berliner Kupferstichkabinett
   aufbewahrte Zeichnung mit dem Monogramm von Maarten van Cleve zurück (Inv. Nr.
   12.443; Abb. bei van de Velde 1975b, Abb. 341).
568                                  Visual Past 2015

ein großes Spinnennetz, das die Personifikation der Webkunst mit
der mythologischen Figur überblendet, wie auch die Beischrift „Ara-
chne“ zu ihren Füßen zeigt. Bei Zuccari ist nur wenig davon übrig
geblieben, jedoch erinnern das Frauenprofil am Spinnrocken und das
Netz mit der großen Spinne an den Stich. Diesen kann Zuccari durch
seine persönlichen Verbindungen zu Philip Galle oder aus der gra-
phischen Sammlung des Escorial,26 die dem Künstler während der
Anfertigung der Zeichnungen sicherlich zugänglich war und viel-
leicht auch an anderen Stellen Inspirationsquellen lieferte, durchaus
gekannt haben. Von Arachnes Metamorphose selbst ist bei beiden
nichts zu erkennen; bei Galle nicht, da es hier ja die Webkunst und
nicht die mythologische Figur im Vordergrund steht. Bei Zuccari
mag das auf die Tatsache zurückzuführen sein, dass er für die Ver-
wandlung von der Frau zur Spinne kaum Vorbilder gekannt haben
kann und diesem Problem durch den selbst verursachten Platzman-
gel aus dem Weg geht.
   Hier, wie auch bei Niobe und allen anderen Bodenbildern zeigt
Zuccari meist den Moment kurz vor dem tragischen Ende, der aber
bereits auf den Untergang hinführt. Durch die drastische Bildsprache
werden Handlung und Moral für den Betrachter nachfühlbar. Hier
kommt ganz deutlich die berühmte Idee zum Tragen, die Lessing als
den „fruchtbaren Augenblick“ bezeichnen wird, der den Ausgang
der Geschichten bereits enthält.27 Die übernatürliche Wirkung der
Bodenbilder manifestiert sich in ihrer Lebendigkeit, die es ihnen
scheinbar erlaubt, mit ihren Betrachtern zu kommunizieren: Die
noch lebendigen Söhne Niobes, deren Tod unvermeidlich ist, wen-
den sich flehend gen Himmel, doch es wirkt, als würden sie sich
ebenso wie ihre Mutter an die beiden knienden Hochmütigen wen-
den, die von ihren schweren Lasten niedergezwungen das Bild und
die schreckliche Strafe für den mütterlichen Hochmut betrachten
müssen. Die versuchte Kontaktaufnahme seitens des Reliefs bezie-
hungsweise dessen Protagonisten ist an vielen Stellen wiederzufinden

26 Der Stich war und ist zweimal in der Escorialbibliothek vorhanden, 28-II-17, fol. 221; 28-
   II-19; fol. 118.
27 Vgl. Lessing 1766/2006, 16 ff.
Westermann, Federico Zuccaris Dante Historiato                       569

und wird stets durch Blicke und Körpersprache der Figuren ange-
deutet. Zuccari wird dabei aber an keiner Stelle konkret. Die Figuren
der Bodenbilder überschreiten ihre Bildgrenzen nie direkt, doch an
vielen Stellen verschwimmen ihre Bildräume dennoch mit der Ter-
rasse der Superbi.28
    Die scheinbare Kommunikation zwischen den Superbi im Purga-
torium und den Gestalten auf den Bodenbildern funktioniert in um-
gekehrter Richtung auch auf dem Blatt, das die Hochmütigen im Ge-
spräch mit Dante zeigt (Abb. 4, links): Der sienesische Condottiero
Provenzan Salvani, den Dante in der Commedia nur eine Generation
nach seinem Tod mit den anderen Superbi für seinen Hochmut büßen
aber selbst gar nicht zu Wort kommen lässt, scheint bei Zuccari in
das Relief unter ihm vertieft zu sein und nicht nur das Bild, sondern
den alttestamentarischen König Saul darin anzublicken. Dieser wird
sich gleich in sein Schwert stürzen und erwidert Provenzans Blick
nicht. Der Sieneser kann den König nicht mehr von seinem Selbst-
mord zurückhalten, sondern muss – als Strafe für seinen eigenen
Hochmut – von der Last des Steins auf seinem Rücken niederge-
zwungen dem Untergang des ersten Königs von Israel immer wieder
tatenlos zusehen.29 Die Art und Weise, wie Provenzan Salvani hier
und die anderen Hochmütigen auf Blatt 46 (Abb. 5) gezwungen sind,
die Bodenbilder zu betrachten und scheinbar mit ihnen in Kontakt
treten, ist beispiellos. Dennoch bleibt dort, wo die Bilder mit ihrer
Außenwelt oder umgekehrt in Kontakt zu treten scheinen, Vieles

28 An manchen Stellen scheinen sogar die Superbi aus den Bildern zu klettern: zum Beispiel
   Umberto Aldobrandesco ganz rechts auf Zeichnung 45 oder der Hochmütige ganz rechts
   auf Zeichnung 46; auch bei Dante rechts auf Zeichnung 48 könnte man meinen, er käme
   gerade aus dem Troja-Relief geklettert und habe sich gerade noch vor den Flammen retten
   können. An dieser Stelle greift Zuccari Dantes Spiel mit den Realitätsebenen (Schein und
   Sein/Kunst und Realität) auf und setzt es auf sehr subtile Weise seinem Medium
   entsprechend ein.
29 Dass Zuccari ausgerechnet Provenzan Salvani den alttestamentarischen König ansehen
   lässt, kann kaum Zufall sein. Beide haben sich zu Lebzeiten durch politischen Hochmut
   versündigt. Saul verlor aufgrund seiner Selbstüberschätzung eine Schlacht gegen seine
   ewigen Widersacher, die Philister, und stürzte sich in sein eigenes Schwert, damit er ihnen
   nicht lebend in die Hände fallen konnte. Provenzan Salvani maßte sich laut Dante zu
   Unrecht den Titel „Signore di Siena“ an. Zuccari parallelisiert hier die beiden Figuren, die
   bei Dante in keinerlei Zusammenhang stehen.
570                                Visual Past 2015

vage und ist für den Betrachter schwer begreiflich. Dieser sieht sich
nun gewissermaßen in den Superbi wiedergespiegelt. So wie diese auf
die Bodenreliefs mit den Exempla für bestraften Hochmut blicken,
schaut der Betrachter der Zeichnungen auf Bilder, die büßende
Hochmütige zeigen. Die Betrachter im Bild werden zu Identifikati-
onsfiguren für den Betrachter außerhalb des Bildes; denn so wie die
Bodenbilder den Superbi eine Lehre erteilen wollen, haben auch Zuc-
caris Zeichnungen eine didaktische Funktion, die sie uns selbst über-
mitteln.30
    Indem Zuccari die Figuren innerhalb der Bodenbilder mit denen
außerhalb kommunizieren lässt, setzt er ihre von Dante beschriebene
Lebendigkeit genialisch um. Die Figuren erzählen, oder besser, schil-
dern ihre Geschichten scheinbar selbst und klären ihren Betrachter
über die Gefahren des Hochmuts auf, indem sie sich mit Blicken und
Gesten an ihn wenden. Die Darstellung von nonverbaler Kommuni-
kation wird damit in den Zeichnungen zu Purg. X–XII zum wichti-
gen Motiv. Gleichermaßen vermittelt Zuccari in seinen Zeichnungen
nicht nur den Inhalt der Dialoge mit den Commedia-Exzerpten, son-
dern legt den Fokus auch auf den direkten Sprechakt. Auf Blatt 45
(Abb. 4) wenden sich die Dichter zu den sich auf allen Vieren über
den Boden bewegenden Superbi, sodass der Betrachter sie lediglich
als Rückenfiguren wahrnehmen kann. Deutliche Redegesten verstär-
ken den Eindruck, dass hier gesprochen wird, obwohl die meisten
Superbi aufgrund der schweren Lasten auf ihren Rücken gar keinen
Blickkontakt zu Dante herstellen können. Dies gibt die Commedia vor,
wo Umberto Aldobrandesco Dante bittet, sich vorzustellen, da er ihn
nicht sehen kann (Purg. XI, 52–57). Die Ausnahme bildet Oderisi da
Gubbio, der sich angestrengt zu Dante wendet, welcher ihn darauf-
hin erkennt, wie ebenfalls der Text vorgibt (Purg. XI, 73–81). All dies
zeigt Zuccari ohne auch nur eine Zeile des dazugehörigen Textes zu

30 Zur didaktischen Funktion der Zeichnungen siehe z. B. Brunner 1999, 65–68. und Stoltz
   2011, 109. 159 ff. 221.
Westermann, Federico Zuccaris Dante Historiato    571

kopieren. Die in diese Zeichnung kopierten Verse beziehen sich al-
lein auf den Inhalt der Reden der Superbi, die Tatsache, dass und wie
gesprochen wird, vermittelt Zuccari bildlich.
    Zuccari thematisiert das Sprechen über das, was die beiden Jen-
seitswanderer auf der Terrasse der Superbi sehen immer wieder.
Dante und Vergil zeigen auf die Wand- und Bodenbilder (Abb. 2. 6.
7) und treten offenbar in einen Dialog darüber. In der Commedia be-
schreibt Dante nur, was er sieht und wie er die Bilder wahrnimmt,
während Vergil ihn lediglich kurz auf die Bilder hinweist (Purg. X,
31–96). Ein Gespräch zwischen den Dichtern über das Gesehene
findet im Text nicht statt! Im Gegenteil: Während Dante noch das
letzte Wandbild betrachtet, hat Vergil bereits die herannahenden Bü-
ßer entdeckt und fordert den Jüngeren sogleich auf, sich ihnen zuzu-
wenden (Purg. X, 97–102). Beispielsweise auf Blatt 43 (Abb. 2), das
offenbar das Betrachten der Wandbilder zum Thema hat, gibt Zuc-
cari allerdings beiden Dichtern einen deutlichen Redegestus und lässt
sie offenbar über die Bilder sprechen. Ähnliches gilt für Zeichnung
47 (Abb. 6): Auch hier werden Dante und Vergil im Dialog gezeigt.
In der Commedia weist Vergil wieder lediglich kurz auf die Bodenbil-
der hin (Purg. XII, 13–15), während Dante noch über die Büßerscha-
ren sinniert. Dies wird rechts in dieser Zeichnung illustriert. Dante
weist mit seiner rechten Hand noch nach hinten beziehungsweise auf
die vorhergehende Zeichnung und hat seinen Kopf gerade erst zu
Vergil gedreht, wie der fliegende Mantel andeutet. Vergil zeigt auf
das Bild am Boden und fordert Dante damit zum Hinsehen auf. In
der linken Bildhälfte lehnen nun beide Dichter über dem Bodenbild
mit dem Engelssturz und diskutieren offensichtlich das Gesehene. In
dieser Zeichnung scheinen die beiden Dichter wie auch auf Blatt 43
nicht nur das zu sagen, was über ihnen geschrieben steht, sondern
tatsächlich über die Reliefs in einen Dialog zu verfallen.
   Durch die offenkundige Thematisierung des Betrachtens von Bil-
dern und den scheinbaren Dialog darüber integriert Zuccari den Re-
zipienten, der Zeichnungen betrachtet, in sein Werk. Er wird gewis-
sermaßen selbst zum Durchwanderer der Terrasse und wird zudem
erneut angesprochen, wenn Zuccari einige Textstellen so in die
572                         Visual Past 2015

Zeichnungen einfügt, dass sie ihren ursprünglichen Kontext verlie-
ren und scheinbar zum direkten Appell an den Betrachter werden.
Denn neben dem Teil der Rede des Buchmalers Oderisi da Gubbio,
der wie in einer Sprechblase auf dem Stein, den er auf dem Rücken
trägt, eingeschrieben ist (Purg. XI, 85–90), hat Zuccari zwei weitere
Terzinen (Purg. XI, 91–94. 100–102) daraus oben links und in der
Mitte in die leer gebliebenen Wandpaneele geschrieben (Abb. 4).
Dass diese eigentlich von Oderisi gesprochen werden, merkt Zuccari
in keiner Weise an, auch ordnet er sie dem Buchmaler komposito-
risch nicht zu. In diesen Zeilen geht es aber auch nicht um ihn oder
einen der anderen Superbi; stattdessen wird hier auf die Vergänglich-
keit jeglichen Ruhmes aufmerksam gemacht, während im rechten Pa-
neel eine Terzine steht, in der Dante die Menschen anmahnt, ihren
eigenen Hochmut zu reflektieren (Purg. XII, 70–72). Durch die Po-
sitionierung von Oderisis Warnungen in den leeren Wandpaneelen
und der Verschmelzung mit Dantes Aufforderung werden diese Zei-
len zu einem allgemeinen Aufruf, wenn nicht sogar zu einem Appell
an den Betrachter der Zeichnungen.
    Auch wenn die Zeilen, die Dante hier Oderisi oder an anderen
Stellen anderen Persönlichkeiten, die er als Jenseitswanderer in der
Commedia trifft, in den Mund legt, bei der Lektüre als Appelle an die
Rezipienten verstanden werden können, war eine derartige Ver-
schmelzung des Jenseitsepos und seiner Szenerie mit der Ebene des
Rezipienten bis zu Zuccaris Zeichnungen nicht möglich. Die vielfäl-
tigen und wechselseitigen, teilweise nur angedeuteten Bezüge zwi-
schen Bildern, Figuren und den Betrachtern innerhalb und außerhalb
der Bilder sind im Text und seiner Erzählweise nicht existent; ja, der-
gleichen wäre in Dantes sprachlichem Medium nur schwer vorstell-
bar. So entwickelt Zuccari ein „visibile parlare“, das über Dantes
Ekphrasis in seiner Sichtbarkeit weit hinausgeht.
   Obwohl Zuccari die Grenzen der Sprache mit seinen Zeichnun-
gen offenbar zu überwinden sucht, erkennt er offensichtlich auch die
Grenzen seines eigenen Mediums. Spätestens bei dem Versuch der
Darstellung der synästhetischen Fähigkeiten der Wandreliefs müssen
diese Grenzen evident geworden sein. Denn die auf andere Sinne als
Westermann, Federico Zuccaris Dante Historiato                  573

das Sehen abzielenden Fähigkeiten der Wandbilder (Riechen oder
Hören) kann Zuccari mit seinen Mitteln kaum zeigen. Deshalb
schreibt er die Dialoge zwischen den Protagonisten der Wandreliefs
und die Hinweise auf olfaktorische Reize über die Bilder. Hier muss
er auf Dantes Verse zurückgreifen, um das „visibile parlare“ darstel-
len zu können. Gleiches gilt für den Inhalt der Dialoge zwischen
Dante, Vergil und den Superbi, den Zuccari jeweils an die passenden
Stellen in die Zeichnungen kopiert. Mit visuellen Mitteln kann Zuc-
cari nur darstellen, dass gesprochen wird. Um zu vermitteln, was ge-
sagt wird, bedient er sich der entsprechenden Terzinen. Insgesamt
übernimmt Zuccari 67 der 138 Terzinen von Purg. X–XII in seine
Zeichnungen. Dabei kopiert er allerdings nie visuelle Angaben, die
auf sich Form und Gestalt des Raumes oder der Personen beziehen,
sondern übersetzt sie ins Bild. In der Synthese von Text und Bild
scheinen nun beide Gattungen das zu tun, was sie am besten können
und sich gleichzeitig gewissermaßen gegenseitig ihre Grenzen aufzu-
zeigen. Dabei ist die Zeichnung ihren eigenen medialen Grenzen in-
sofern unterworfen als dass erst der Text den Inhalt von Gesproche-
nem vollends enthüllen kann. Die Sprache erfährt eine Grenze, wenn
Zuccari den von Dante beschriebenen Raum (re-)konstruiert. Dantes
sprachliche Raumkonstruktion funktioniert nämlich für das bildliche
Medium insofern nicht, als dass nur drei Wandreliefs, aber dreizehn
Bodenbilder beschrieben werden, die den Boden der ersten Terrasse
des Läuterungsberges zieren. Hier stößt Zuccari auf ein komposito-
risches Problem. Weil er sich entscheidet, sowohl die Wand- als auch
die Bodenreliefs in ähnlichen Maßen31 darzustellen, ergeben sich et-
liche Leerstellen. Während nur auf einer der sechs Zeichnungen die
Wände mit Reliefs verziert sind, verbleiben auf fünfen lediglich leere
Wandpaneele, in die zumindest teilweise die Commedia-Zitate einge-
schrieben sind.
  Ob sich Zuccari aus einem anderen als einem kompositorischen
Grund für diese leeren Wände entschied, die den Betrachter zunächst

31 Die Höhe der Wandbilder entspricht in etwa der Höhe der Bodenreliefs; der Figurenmaß-
   stab ist ebenfalls ähnlich.
574                                 Visual Past 2015

irritieren können, bleibt unklar. Die Darstellung der Leerstellen als
Hinweis auf einen möglichen Mangel der Raumkonzeption Dantes
beziehungsweise der Dichtung als solcher ist meines Erachtens un-
wahrscheinlich, da sich diese auch auf Zuccaris Umsetzung übertra-
gen würde. Die architektonische Rahmung ist in den Zeichnungen
44–48 zwar leer, sorgt jedoch für die Kontinuität des Raums von
Blatt zu Blatt. Die spezifische Raumgestaltung ermöglicht zudem die
Erweiterung des Texts um noch eine weitere Sinnebene, die es in der
Commedia nicht gibt: In Zeichnung 43 (Abb. 2) stehen das Wandrelief
mit der Trajansgeschichte und das Bodenrelief mit Tomyris in un-
mittelbarer Nähe zueinander. Hier scheint Zuccari zwei Geschichten
miteinander zu verbinden; denn die Geschichten von Trajan und der
Witwe beziehungsweise Kyros und Tomyris sind im Kern sehr ähn-
lich. Während die Witwe den Kaiser um Vergeltung für ihren ermor-
deten Sohn bittet und sie später auch erhalten soll, rächt Tomyris den
Tod ihres Sohnes, indem sie den Perserkönig Kyros tötet, dem ihr
Sohn zum Opfer gefallen war. Indem Zuccari die beiden Episoden,
die in der Commedia in keinerlei Zusammenhang stehen, räumlich so
nah zusammen rückt, entsteht eine Gegenüberstellung von Positiv-
und Negativbeispiel; die ähnlichen Geschichten werden einmal aus
der tugend- und einmal aus der lasterhaften Perspektive gezeigt.
   Stutzig macht die Tatsache, dass Zuccari in seinen Annotationen
zur folgenden Zeichnung (Abb. 3) anmerkte: „Qui sono figurati altri
essempi d’humilita.“ Die Wände blieben jedoch leer; lediglich die Bo-
denbilder zeigen Bespiele für Hochmut. Aufgrund von Zuccaris An-
merkung mag man mutmaßen, dass der Künstler über weitere De-
mutsbilder nachgedacht hat.32 Diese hätten ebenfalls als Gegensätze

32 Aufgrund der prominenten Leerstellen hält Brunner weitere Demutsexempla für möglich;
   einen möglichen Bezug zu den Bodenreliefs sieht er allerdings nicht (vgl. Brunner 1999,
   235). Stoltz schließt weitere möglicherweise geplante Wandreliefs wegen der teilweise in
   die leeren Wandpaneele eingeschriebenen Textstellen aus (vgl. Stoltz 2011, 46, Anm. 73).
   Geht man aber nicht (so wie Stoltz Brunner offenbar falsch verstanden hat) davon aus,
   dass die Zeichnungen unfertig geblieben sind, sondern davon, dass Zuccari sich ument-
   schied und den Text erst am Ende einfügte (was m. E. unbestreitbar ist), hat Brunners
   These doch etwas für sich.
Sie können auch lesen