Kurzfassung: Status Quo und Perspektiven des Wissenschaftsjournalismus und dessen Beitrag in der COVID-19-Krise - Merck ...
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Kurzfassung: Status Quo und Perspektiven des Wissenschaftsjournalismus und dessen Beitrag in der COVID-19-Krise Institut für Medien- und Kommunikationsmanagement (=mcm-Institut) der Universität St.Gallen Prof. Dr. Katarina Stanoevska-Slabeva Vera Lenz-Kesekamp PD Dr. Markus Will Die Studie wurde durch das Institut für Medien- und Kommunikationsmanagement der Universität St. Gallen unter der Leitung von Prof. Dr. Katarina Stanoevska-Slabeva im Auftrag des Wissenschafts- und Technologieunternehmens Merck KGaA durchgeführt. Da zur Rolle des Wissenschaftsjournalismus nur wenige aktuelle wissenschaftlichen Erkenntnisse vorliegen, hat Merck diese unabhängige Studie erheben lassen, um einen Debattenbeitrag für die gesellschaftlich relevante Frage zu liefern: «Welche Zukunft hat der Wissenschaftsjournalismus?»
Executive Summary Ausgangslage und Ziel Wie steht es um die Zukunft des Wissenschaftsjournalismus? Das ist eine berechtigte Frage in Zeiten steigender Notwendigkeit an Wissenschaftskommunikation bei zeitgleich fallenden Erlösstrukturen der Medienbranche mit Konsequenzen für die Finanzierbarkeit des Journalismus. Was geschieht mit der «Nische» Wissenschaftsjournalismus im Kontext der Herausforderungen der sich wandelnden und zunehmend digitalisierten Medienbranche? Die vorliegende Studie hat die Frage zunächst medienanalytisch behandelt und sodann die theoretischen Ergebnisse inhaltsanalytisch untersucht. Dabei stand mit dem «COVID-19-Virus» ein geeignetes Thema zur Verfügung, das erstens für das ersten Halbjahr 2020 einen perfekt eingrenzbaren Zyklus beschreibt und zweitens von herausragender gesellschaftlicher Bedeutung und zeitgleich enormer Herausforderung für den Wissenschaftsjournalismus ist. Methodisches Vorgehen Das =mcm-Institut hat unter der Leitung der Geschäftsführenden Direktorin des Instituts, Prof. Dr. Katarina Stanoevska-Slabeva, mit ihrem Team für den medienanalytischen Teil einen Deskresearch der internationalen Literatur vorgenommen, darauf aufbauend einen Fragebogen erstellt und mit zwölf Leitenden Wissenschaftsredakteuren von Print- und Digitalmedien Experteninterviews geführt. Für den inhaltsanalytischen Teil hat das Team in einem qualitativen Verfahren 1‘424 Beiträge von Januar bis Juni 2020 in fünf Online-Medien/-Portalen (Spiegel, ZEIT, FAZ sowie Higgs und das Science Media Center) ausgewertet, aus denen 376 Beiträge als wissenschaftsjournalistisch definiert werden konnten. Diese Analyse wurde um die individuelle Auswertung von drei bekannten Influencern (Mai-Thi Nguyen-Kim, Lars Fischer, «DocFelix») erweitert. Zentrale Erkenntnisse Der medienanalytische Teil der Studie hat ergeben, dass die Bedeutung des Wissenschaftsjournalismus wächst. Wissenschaftsredaktionen haben eine beratende Funktion für ihre Gesamtredaktionen. Das Entwicklungspotential für Wissenschaftsjournalismus besteht im Einsatz neuer alternativer digitaler Technologien innerhalb und außerhalb existierender Publika. Dabei braucht es für neue redaktionsungebundene Formen journalistische Qualifizierungen. Da das Entwicklungspotential – trotz aller wirtschaftlichen Widrigkeiten der Medienbranche – vor allem in digitalen Alternativen des Wissenschaftsjournalismus besteht, hat der inhaltsanalytische Teil ausschließlich ausgewählte Online-Medien sowie die Arbeit von Science Influencer untersucht, die eine Rolle im zukünftigen Wissenschaftsjournalismus haben können. Im inhaltsanalytischen Teil der Untersuchung wird deutlich, dass sich in der «COVID-19-Krise» der Wissenschaftsjournalismus in Online-Medien zur «Echtzeitkommunikation» wandelt. Gerade zu Beginn hat der Wissenschaftsjournalismus eine «Agenda setzende Rolle» zur Erklärung der Folgen des Virus. Wegen der hohen Dynamik und wenig gefestigtem Wissen fehlt jedoch teilweise die kritische Auseinandersetzung mit ersten Studienergebnissen. Science Influencer haben in der «COVID-19-Krise» eine die Berichterstattung erweiternde Funktion. 2
Forschungsfragen Getrieben von der Digitalisierung befinden sich die klassischen Medien seit mehr als zwei Jahrzehnten in einer Strukturkrise. Die Medieninhalte wandern ins Internet und dem Publikum stehen immer mehr digitale Informationsquellen zur Verfügung. Die Medien haben hierdurch wachsende Schwierigkeiten, das Publikum für sich zu gewinnen. Diese Entwicklung trifft vor allem auch Nischenbereiche des Journalismus, wie z.B. den Wissenschaftsjournalismus. Doch dann kam die COVID-19-Krise. Plötzlich war der Bedarf an Wissenschaftsjournalismus in der breiten Bevölkerung so hoch wie nie zuvor1. Ähnlich stark stieg der Bedarf nach Informationen in den Nachrichtenredaktionen der Medien sowie bei den Entscheidungsträgern in der Politik und Wirtschaft. Um ihre Aufgabe wahrnehmen zu können, waren Nachrichtenredaktionen auf die Interpretation und Einordnung von wissenschaftlichen Erkenntnissen angewiesen. Der Wissenschaftsjournalismus wandelte sich von einem Nischenangebot der Medien zum wichtigen Beitrag in der täglichen Berichterstattung. Im Laufe der COVID-19-Krise wurde durch diese Entwicklungen die Systemrelevanz von Journalismus und insbesondere Wissenschaftsjournalismus deutlich2. Man könnte meinen, dass die COVID-19-Krise eine Sternstunde für den Wissenschaftsjournalismus sei. Dies wäre wahrscheinlich auch der Fall, wenn sich nicht die besonderen Umstände der COVID- 19-Krise, in denen sich der Wissenschaftsjournalismus behaupten musste, gleichzeitig als die größte Herausforderung für diesen Nischenbereich herausstellen würde. Zu diesen Herausforderungen zählen: • Hohe Dynamik und wenig gefestigtes Wissen über das COVID-19-Virus und dessen Konsequenzen: Wie lässt sich in dieser unsicheren Situation das übliche Vorgehen des Wissenschaftsjournalismus anwenden, das gefestigte Wissen voraussetzt? • Informationsflut nicht nur aus der Wissenschaft, sondern auch von anderen unterschiedlichen Quellen: Wie konnte man wissenschaftliche Erkenntnisse von Fake News, Gerüchte oder gar Verschwörungstheorien trennen? • Umgang mit «selbsternannten Experten» sowie widersprüchliche wissenschaftliche Erkenntnisse: Wie konnte der Wissenschaftsjournalismus den normalen wissenschaftlichen Diskurs der Öffentlichkeit und den allgemeinen Medien erklären? Vor diesem Hintergrund war es das Ziel dieser Studie, im ersten Schritt empirische Evidenz zu erbringen, wie der momentane Stand (Status Quo) der Entwicklung ist und wie die Chancen (Perspektiven) des Wissenschaftsjournalismus im deutschsprachigen Raum sind. Daher wurden für diese Teilaspekte folgende Forschungsfragen formuliert: • Welche klassischen Formen des Wissenschaftsjournalismus sind präsent? • Welche alternativen Formen von Wissenschaftsjournalismus entstehen? • Wie wird sich der Wissenschaftsjournalismus in der Zukunft entwickeln? 1 Siehe z.B. die Resultate der COVID-19 Spezialausgabe des Wissenschaftsbarometers in der Schweiz: https://www.media.uzh.ch/de/medienmitteilungen/2020/Wissenschaftsbarometer-Covid.html. 2https://www.geistes-und-sozialwissenschaften-bmbf.de/de/Interview-mit-Prof-Holger-Wormer-uber-Journalismus- in-Corona-Zeiten-2032.html 3
Des Weiteren wurde im Kontext der aktuellen COVID-19-Krise untersucht, ob und wie diese die Bedeutung des Wissenschaftsjournalismus beeinflusst und diesen gleichzeitig vor großen Herausforderungen stellt. Dieser Teil der Studie widmet sich der folgenden Forschungsfrage: • Welchen Beitrag leistet der Wissenschaftsjournalismus in Krisensituationen wie die COVID-19 Pandemie? Eine weitere übergreifende Fragestellung der Studie war: • Wie kann unabhängiger Wissenschaftsjournalismus in Zukunft gegebenenfalls gefördert werden? Zusammenfassung des Deskresearch Gegenstand des durchgeführten Deskresearch war eine Literaturanalyse zum Thema «Wissenschaftsjournalismus», eine Analyse bestehender Wissenschaftsredaktionen und eine Analyse alternativer Formen des Wissenschaftsjournalismus. Die Resultate lassen erkennen, dass die klassischen Medien einen steigenden Bedarf an hochqualitativem und kritischem Wissenschaftsjournalismus haben, gleichzeitig aber auch die Gefahr eines «Infotainments» vor allem in digitalen Medien befürchten. Insgesamt wurde auf Basis der Literaturanalyse ersichtlich, dass die Strukturkrise der Medien zu geringeren finanziellen Mitteln führt und damit auch zu weniger professionell ausgebildeten Wissenschaftsjournalisten. Unabhängige Fördermöglichkeiten könnten ein Weg sein, diese strukturelle Schwäche zu überwinden. Die «postfaktischen Ära» schürt laut Literaturanalyse zudem den Vertrauensverlust in Medien und damit auch in Wissenschaftsmedien. Deshalb wird faktenbasierte Berichterstattung immer wichtiger. Professioneller Wissenschaftsjournalismus muss sich dabei an verständlicher Berichterstattung einerseits und einer soliden Faktenbasis andererseits ausrichten. In Bezug auf bestehende Wissenschaftsredaktionen wurde im zweiten Teil des Deskresearch deutlich, dass überregionale Printmedien über Wissenschaftsredaktionen verfügen. Gemäss Informationen auf den untersuchten Webseiten sind einige Redaktionen für mehrere Titel zuständig sowie teilweise für Spezialausgaben oder Sonderseiten zu speziellen monothematischen Wissenschaftsbereichen. Gegenstand des dritten Teils des Deskresearch waren alternativen Formen des Wissenschaftsjournalismus. Als alternative Formen gelten jene journalistischen Ansätze, die neu in digitalen Medien entstehen, und dies unabhängig davon, ob sie sich aus den klassischen Medien oder sich direkt und eigenständig entwickelt haben. Die wichtigsten Erkenntnisse bezüglich der alternativen Formen können wie folgt zusammengefasst werden • Das Ökosystem der Wissenschaftskommunikation wird komplexer, da zunehmend neue Player (z.B. Universitäten) dazukommen und den direkten Kontakt zu Zielgruppen über digitalen Medien suchen. Es wird in diesem wachsenden und heterogenen Umfeld der Wissenschaftskommunikation schwieriger, den Wissenschaftsjournalismus als Mittler zu positionieren und den Unterschied zur Wissenschaftskommunikation erkennbar darzustellen. • Die ältesten digitalen Alternativformen des Wissenschaftsjournalismus sind Blogs und Blogportale. Diese sind schon über 20 Jahre online und immer noch die bevorzugte Form des Wissenschaftsjournalismus von Science Influencer by Purpose. Science Influencer by Coincidence kommunizieren über Social Media. Für diesen Zweck nutzen sie kürzere Formate 4
und die Kombination diverser Inhalte, wie Text, Bild, Ton oder Audio (podcast). Die Kommunikation über Social-Media-Kanäle ermöglicht Interaktivität. Weitere neue Initiativen sind Wissenschaftsportale, die Social Media als zusätzliche Kommunikationskanäle nutzen. • Die alternativen digitalen Formen von Wissenschaftsjournalismus scheinen inhaltlich genügend attraktiv zu sein, um als selbstständiges Angebot – ohne Anbindung an klassische Medienbrands – existieren zu können. Den alternativen digitalen Formaten fehlen jedoch nachhaltige Finanzierungs- und Geschäftsmodelle. Gleichzeitig ist es nicht ersichtlich, ob alle Alternativformen den Prinzipen des Wissenschaftsjournalismus folgen. Ebenso ist der Übergang zwischen Wissenschaftskommunikation und -journalismus fließend und nicht eindeutig. Neue Ansätze zur Qualitätssicherung sind daher gefragt. • Erfolgreiche Blogs und Blogportale, Influencer (z.B. YouTuber) sowie die Kombination aus Community, Weiterbildung und Wissenschaftsjournalismus könnten erste wegweisende Geschäftsmodelle sein. Insbesondere letztere Kombination führt den Community- und Weiterbildungsaspekt als neue Finanzierungsgrundlage ein. Alle vier Varianten der alternativen digitalen Formen greifen teilweise ineinander. Aus Sicht des Wissenschaftsjournalismus ist es wichtig zu prüfen, ob eine Alternative tatsächlich eine journalistische oder eine andere Form der Wissenschaftskommunikation ist. Die Gefahr der Vermengung von Journalismus und Public Relations (PR) ist groß. Bei den alternativen Plattformen steht zudem das nachhaltige Geschäftsmodell im Vordergrund der Prüfung: Wer finanziert solche Alternativen und wie unabhängig sind diese? Ist die Finanzierung direkt oder indirekt über Werbung, Co-Events oder Mischformen gewährleistet? Auch auf den Plattformen müssen «Redaktion» und «Verlag» auseinandergehalten werden. In der Kombination aus alternativen Teilnehmern und Plattformen besteht der Prüfungsauftrag vor einer Förderung im Grunde darin, ob und wie wissenschaftliche und journalistische Standards sowohl in inhaltlicher als auch unabhängiger Dimension eingehalten werden. Hier stellt sich in erster Linie die Frage einer «Zertifizierung» für den wissenschaftsjournalistischen Nachwuchs. Zusammenfassung der Experteninterviews Die Ergebnisse des Deskresearch mündeten in einen Fragebogen, der als Grundlage der Experteninterviews mit zwölf leitenden Wissenschaftsredakteuren deutschsprachiger klassischer und digitaler Medien (nur D und CH) diente. Die Erkenntnisse wurden anonym aggregiert und lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: • Wachsende Bedeutung: Es gibt immer mehr relevante politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Themen, die mit wissenschaftlichen Erkenntnissen verknüpft sind (Klimadebatte, Künstliche Intelligenz, etc.) Hier hat der Wissenschaftsjournalismus teilweise beratende Funktion innerhalb der Redaktionen. Zudem entstehen Artikel in Doppelautorenschaften von Wissenschafts- und Politik-/Wirtschaftsredakteuren. • Gefahr des Abbaus: Grundsätzlich trifft der strukturell-finanziell bedingte Abbau alle Bereiche des Journalismus überregional gleichermaßen, also auch den Wissenschaftsjournalismus. In regionalen Medien ist der Abbau des Wissenschaftsjournalismus eher überproportional, aber hier arbeiten die Wissenschaftsredaktionen teilweise in Verbundstrukturen für mehrerer Titel (meist eines Verlages). 5
• Digitale Kanäle: Zunehmend arbeiten Medien nach der Devise «Online First». Ob jedoch die Attraktivität für Wissenschaftsthemen in digitalen Medien und bei jüngeren Zielgruppen höher ist, konnte nicht belegt werden. Allerdings spricht die digitale Vernetzung der Scientific Communities für eine stärkere digitale Einbindung des Wissenschaftsjournalismus in das Scientific Ecosystem. Teilweise werden hohe Zugriffsraten bei Online-Artikeln erzielt. • Digitale Technologie: Innovative Technologien wie Recherche unterstützender Robo- oder Datenjournalismus werden kritischer beurteilt, sofern es um die journalistische Kompetenz geht. Der menschliche Faktor bei der Auswahl und der Bearbeitung der Wissenschaftsthemen bleibt zentral. Umsetzende Technologien wie Augmented oder Virtual Reality, die dem besseren Verständnis für die Leser dienen könnten, können aber an Einfluss gewinnen. • Kritische Auseinandersetzung: Wegen der steigenden Kommunikation durch Wissenschaftsinstitutionen in eigenem Interesse nehmen die Wissenschaftsthemen zu (quantitativer Aspekt), aber wegen der nicht steigenden wissenschaftsjournalistischen Ressourcen nimmt die kritische Auseinandersetzung mit Forschungsergebnissen eher ab (qualitativer Aspekt). • Unabhängige Rechercheangebote: Wegen der fehlenden Ressourcen sind unabhängige Rechercheangebote wie das Wissensportal Higgs in der Schweiz oder das Science Media Center (SMC) in Deutschland ein potenzieller Weg, medienunabhängigen Wissenschaftsjournalismus zu fördern. Sie können aber «hausinterne» Recherchen und die beschriebene Beratungsfunktion nicht ersetzen. • Förderung ist möglich: Angesichts der medialen Strukturkrise einerseits und der Digitalisierung der Medien andererseits, sind Fördermaßnahmen zur nachhaltigen Entwicklung von Finanzierungsmodellen denkbar. ABER: Jede Form der Förderung muss die Unabhängigkeit des Wissenschaftsjournalismus gewährleisten. Auf diesen Aspekt wurde in allen Experteninterviews mehrfach hingewiesen. • Förderung des Nachwuchses: Angesichts der fehlenden Ausbildungsmöglichkeiten sind sowohl finanzielle als auch inhaltliche individuelle Förderungen des wissenschaftsjournalistischen Nachwuchses denkbar, falls sie eigene alternative Plattformen entwickeln. Auch das wäre eine Form von quantitativer (finanzieller) und qualitativer (weiterbildender) Förderung. Aber auch hier gilt als Maß die Unabhängigkeit. • Förderung der Science Literacy: Neben den Vermittlern im Wissenschaftskommunikationsprozess gilt es auch zu bedenken, ob und wie man Leser/User bereits in den Schulen besser an Wissenschaftsthemen heranführen kann. Durch das steigende Angebot an Wissenskommunikation wird es für ein interessiertes Publikum immer schwieriger, Wissenskommunikation von Wissensjournalismus zu unterscheiden. Die Interviews fanden im ersten Quartal des Jahres 2020 statt, d.h. vor und während des ersten Lockdowns der COVID-19-Krise. Obwohl vereinzelt Experten auf den Wissenschaftsjournalismus in Kontext der COVID-19-Krise eingegangen sind, konnte zu dem Zeitpunkt der Durchführung der Interviews die Rolle der unterschiedlichen Formen des Wissenschaftsjournalismus in der COVID- 19-Krise nicht vollständig erfasst werden. Aus diesem Grund wurde im Rahmen einer Inhaltsanalyse der Covid-19-Beiträge von Wissenschaftsjournalisten vertieft untersucht. 6
Zusammenfassung der Resultate der Inhaltsanalyse Generell lässt sich festhalten, dass die COVID-19-Krise den Wissenschaftsjournalismus vor eine große Herausforderung gestellt hat. Die Spanne der analysierten 376 Online-Artikel geht von «zu unkritisch und sehr häufige ähnlich lautende Veröffentlichungen» hin zu «sehr neutral», sodass es sich aus Sicht des Lesers kompliziert darstellen könnte, das Thema «Corona» in all seinen Facetten zu durchdringen. Es scheint auch eine sehr unterschiedliche Interpretation hinsichtlich der Verwendung von wissenschaftlichen Studien und Erkenntnissen als Basis für die jeweiligen Veröffentlichungen zu geben. Einige Online-Medien nutzen stets die gleiche Quelle, wie bspw. Wissenschaftsjournale wie „Lancet“ oder „Nature“. Andere beziehen sind hingegen sehr häufig auf Expertenstimmen, um ihre Artikel wissenschaftsjournalistisch zu untermauern. Im Detail können die Erkenntnisse der Inhaltsanalyse wie folgt zusammengefasst werden: • Echtzeit-Wissenschaftsjournalismus: In der Covid-19-Krise wird der Online-Wissenschaftsjournalismus zur Kommunikation in Echtzeit. Ist es normalerweise möglich, dediziert auf Forschungsergebnisse einzugehen und sie fachgerecht zur bearbeiten, wurde es bei diesem Thema aber schwierig, die Fülle an Informationen kritisch zu beleuchten. • Agenda Setting: Im Sinne des Agenda-Settings lässt sich festhalten, dass einige Online- Medien bestimmte Aspekte der Metathematik «Covid-19» sehr frühzeitig bearbeitet haben und bei weiteren Veröffentlichungen zu diesen Themen von anderen Wissenschaftsmedien als Referenz herangezogen wurden. • Phasenkommunikation: Es lassen sich verschiedene Phasen identifizieren, die von der Frage, was das Virus ist, bis zur Frage, was das Virus für den neuen Alltag bedeutet, reichen. Vor allem in den frühen Phasen konnten Online-Medien die Agenda setzen. Später geht diese Rolle auf die direkte Kommunikation der Politik über. • Erst Breite, dann Tiefe: Mit der Erhebung zur Pandemie und dem beginnenden Lockdown nahm das Thema «Covid-19» an Breite ab, gewann aber an Tiefe in der Berichterstattung. Es ging – weiter in «Echtzeit» – vor allem um Schutzmaßnahmen, Wissen über Impfforschung oder auch die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen. • Kritische Auseinandersetzung: Was teilweise fehlt, ist die kritische Auseinandersetzung. Neben der Informationsflut betraf betrifft das die Abwägung der Güte von Studienergebnissen und auch die Einordnung der Güte von Experten. Das war vor allem der hohen Dynamik und dem wenig gefestigten Wissen über das Virus geschuldet. Eine besondere alternative Funktion wird in der Medienanalyse den Science Influencer zugeschrieben, die eine Kombination aus alternativen Teilnehmern und/oder Plattformen sind. Es werden (journalistische) Influencer by Purpose und (nicht-journalistische) Influencer by Coincidence unterschieden. Die folgenden Hinweise sind als Tendenzen zu verstehen, da nur drei Influencer explizit analysiert wurden. • Erweiternde Funktion: Die analysierten Science Influencer haben deutlich weniger Veröffentlichungen im Kontext von «Covid-19» im Vergleich zu den untersuchten Online- Medien. Einzelne haben zwar große Reichweiten (Nguyen-Kim hatte beispielsweise über 6 Millionen Klicks für ihren Podcast «Corona geht gerade los»). Insgesamt haben die Influencer eine Berichterstattung erweiternde Zusatzfunktion. 7
• Frühe und schnelle Funktion: Die Influencer konzentrieren sich eher auf den Beginn der Pandemie, da hier der aktuellste Wissensbedarf in der breiten Bevölkerung herrschte, der wahrscheinlich mehr als sonst über das schnelle Medium Internet gestillt wurde. Das zeigt sich auch an den regen Kommentierungen der Blogs, Podcasts etc. • Professioneller Journalismus: Influencer by Purpose zeichnen sich durch eine professionellere Wissenschaftskommunikation aus, kommunizieren explizit Quellen aus der Wissenschaft und binden Experten aus der Wissenschaft ein. Sie sind eben nicht nur Science Influencer, sondern eben auch Science Journalists. Das gilt sowohl für Mai-Thi Nguyen-Kim mit ihrem «maiLab» als auch für Lars Fischer auf seinen diversen Plattformen (spektrum.de und «Scilogs» und der Youtube-Kanal «Wir werden alle sterben»). Beide arbeiten im Übrigen auch für klassische Medien: Nguyen-Kim für die ARD und Fischer für Spektrum der Wissenschaft. • Therapeutische Hinweise: Anders verhält es sich mit dem analysierten Influencer by Coincidence und hauptberuflichen Arzt «Doc Felix». Seine Berichte gehen in therapeutische Ratschläge über. Solche Formen des Influencing by Coincidence können nicht als alternative journalistische Formen bezeichnet werden. Eine Sonderform nimmt das Online-Portal Science Media Center (SMC) ein, welches Journalisten aktuelle Themen mit wissenschaftlichem Hintergrund zur Verfügung stellt. Dieses wird von Stiftungen gefördert (vor allem der Klaus Tschira-Stiftung und der Standesorganisation Wissenschaftspressekonferenz). Die Beiträge sind etwas zeitverzögerter, was allerdings den Vorteil einer genaueren Prüfung von Studien und Experten hat. Dabei hat sich das SMC auch in der Erklärung von Forschungsmethoden, Studien und Testverfahren hervorgetan. Das SMC ist eine hervorragende Ergänzung für Wissenschaftsjournalisten. Schlussbetrachtung Insgesamt zeigt die vorliegende Untersuchung, dass die Bedeutung von Wissenschaftsjournalismus wächst. Diesbezüglich sind sich sowohl die untersuchte Literatur als auch die befragten Experten einig. Immer mehr gesellschaftlich und politisch relevante Themen sind eng mit wissenschaftlichen Erkenntnissen verknüpft. Dieser Bedeutungszuwachs wurde in der Analyse über die COVID-19-Krise deutlich: Spiegelt man die Ergebnisse der Inhaltsanalyse mit der Medienanalyse, so kann man qualitativ mit Vorsicht interpretieren, dass der Wissenschaftsjournalismus seine Chance genutzt, seine beratende Funktion ausgeübt und sein Potential über digitale alternative Medien wahrgenommen hat. Den größten Beitrag haben die Redaktionen der klassischen Medien geleistet, indem nicht nur aktuell Beiträge erstellt, sondern digitale Kanäle zur deren schnellen Verbreitung genutzt wurden. Sie haben somit die grundlegende Aufgabe des Wissenschaftsjournalismus wahrgenommen, breit, neutral, verständlich und einordnend die COVID-19 Materie nahe zu erläutern. Auch die Analyse der drei Influencer lassen vorsichtige Schlüsse zu: Influencer by Purpose können wie Journalisten behandelt werden. Bei der Frage einer finanziellen und edukativen Förderung dieser Gruppe steht eher die Unterstützung eines wirtschaftlichen Geschäftsmodells im Vordergrund und weniger die einer journalistischen Qualifikation. Die Analyse der Influencer in der COVID-19 Berichterstattung zeigt zudem das Potential, welches ein dialogorientierter Wissenschaftsjournalismus über Soziale Medien und andere digitale, 8
interaktive Formate hat. Die digitalen Auftritte der Influencer sind nicht nur Plattformen wo sich eine breite Öffentlichkeit informieren kann sondern auch Fragen stellen und mitdiskutieren kann. Ein Risiko dabei ist, wie Influencer by Coincidence ihren Einfluss nutzen. Sie haben zwar meist einen wissenschaftlichen Hintergrund (z.B. durch ein Doktorat), sind aber nicht journalistisch ausgebildet und journalistischen Prinzipien der Berichterstattung verbunden. Wer als Influencer by Coincidence eingestuft wird, kann nicht als Journalist definiert werden. Einen sehr guten ergänzenden Ansatz bietet das SMC. Es schließt zum einen die Lücke einer komplexen wissenschaftlichen Themenbearbeitung, zum anderen kann das SMC helfen, die wissenschaftsjournalistischen Standards zu definieren. Es unterstützt zudem Wissenschaftsredaktionen in den Medien durch kostenlose Verfügbarkeit der Artikel. Die Berichterstattung über die COVID-19 Krise ist für den Wissenschaftsjournalismus auch eine große Herausforderung: So zeigt die Analyse, dass sich dieser durch die COVID-19-Krise in einer sehr speziellen Situation befindet. Üblicherweise ist der Wissenschaftsjournalismus nachgelagert und setzt auf publizierte, verifizierte Studien, Publikationen und wissenschaftliche Resultate auf. Während der COVID-19 Krise musste Wissen über das Virus zuerst erarbeitet werden, so dass der Wissenschaftsjournalismus entgegen der üblichen nachgelagerten Praxis, parallel zu der Erstellung der wissenschaftlichen Erkenntnisse seine Aufgabe erfüllen musste. In dieser Situation wird es schwierig, die Fülle an Studien adäquat zu behandeln. Hier ist sowohl die Forschung als auch die Praxis gefragt, neue journalistische Prozesse mit hoher Qualität für einen „Echtzeit Wissenschaftsjournalismus“ zu entwickeln. Das gilt umso mehr, als dass die COVID-19-Krise andauert und andere grosse Wissenschaftsthemen wie die Klimakrise auf der Agenda bleiben werden. Vor dem Hintergrund stellt sich die Frage, wie sich der Wissenschaftsjournalismus in Zukunft entwickeln und welche Rolle dieser im komplexen Ökosystem der Wissenschaftskommunikation spielen kann. Die Experten waren sich einig, dass ein unabhängiger Wissenschaftsjournalismus in Zukunft noch wichtiger sein wird. Vorstellbar sind folgende Szenarien: • Eine mögliche zukünftige Entwicklung ist, dass der Wissenschaftsjournalismus in seiner Ursprungsform weiterhin im Rahmen von klassischen Medien bestehen bleibt, sich jedoch mit diesen auf digitale Medien verlagert. • Möglich ist jedoch auch eine entgegengesetzte Entwicklung. Mit anderen Worten heisst dies, dass der Wissenschaftsjournalismus im Rahmen von klassischen Medien aus Mangel an finanziellen Ressourcen und trotz steigender Bedeutung weiter reduziert werden könnte. • Parallel dazu werden neue Initiativen wie Wissensportale (z.B. «higgs.ch» oder das «Science Media Center») an Bedeutung gewinnen. Für die Experten ist es vorstellbar, dass solche von Medien unabhängige Formen von Wissenschaftsjournalismus sich etablieren könnten. • Eine weitere zukünftige Entwicklung ist eine zunehmende Verbreitung von alternativen Formen des Wissenschaftsjournalismus. Erfolgreiche Science Influencer zeigen, dass über Social Media sowie digitale Formate ein breites Publikum erreicht werden kann. 9
Jedes der genannten Zukunftsszenarien erfordert nachhaltige Finanzierungs- und Geschäftsmodelle und unabhängige und nachhaltige Förderung des Wissenschaftsjournalismus. Es stellt sich dann die Frage, wie eine solche Förderung aufgebaut sein sollte. Aus der Analyse der Experteninterviews geht hervor, dass jede Form von finanzieller Förderung des Wissenschaftsjournalismus dessen Unabhängigkeit gewährleisten muss. Eine Förderung müsste breit abgestützt sein und darf nicht nur von wenigen Unternehmen getragen werden. Staatliche Förderung der Wissenschaftskommunikation könnte für den Wissenschafts- journalismus ebenfalls von Relevanz sein. Die befragten Vertreter der öffentlich-rechtlichen Medien haben betont, dass der Wissenschaftsjournalismus Teil des öffentlichen Auftrags bleibt. Zudem könnten neue Ansätze zur Förderung der Wissenskommunikation auf Wissenschaftsjournalismus ausgedehnt werden. Dies kann möglicherweise auch gemeinsam mit öffentlich-rechtlichen und privatwirtschaftlichen Medieninstitutionen geleistet werden. Dabei gilt dasselbe: Auch von staatlichen Stellen müsste eine Förderung unabhängig sein. Vielleicht wäre eine Public-Private-Partnership-Mischung mit weisungsungebundenen Gremien die Lösung. Förderung kann insgesamt dafür sorgen, dass der Nachwuchs an hochqualifizierten Wissenschaftsjournalisten insbesondere für digitale Medien sichergestellt wird. Aus den Experteninterviews wurde ersichtlich, dass die Anzahl von aktiven Wissenschaftsjournalisten trotz wachsender Bedeutung sinkt. Im deutschsprachigen Raum werden Wissenschaftsredaktionen in überregionale Medien proportional zum Gesamtabbau von journalistischen Leistungen verkleinert und in regionalen Medien überproportional. Wegen der Strukturkrise können immer weniger freischaffende Wissenschaftsjournalisten ihren Lebensunterhalt bestreiten. Gemäss den Experten fehlt aus diesen Gründen zunehmend der Nachwuchs. Einerseits gibt es immer weniger Arbeitsplätze für Wissenschaftsjournalisten, andererseits sind immer mehr Wissenschaftsjournalisten im Bereich der Wissens-PR beschäftigt. Weitere Bereiche, die Gegenstand einer Förderung sein könnten, ist die Förderung der «Science Literacy» schon im frühen Alter in Schulen. Falls es nicht gelingt, nachhaltige Finanzierungs- und Geschäftsmodelle für Wissenschaftsjournalismus aus eigener Kraft zu finden, wird eine staatliche und private Förderung die wichtigste Grundlage für dessen Überleben sein. 10
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