Land Israel, Staat Israel, heiliges Land Die Bedeutung von historisch-theologischen Zugängen für den jüdisch-christlichen Dialog ...

Die Seite wird erstellt Sven-Aarge Marx
 
WEITER LESEN
Land Israel, Staat Israel, heiliges Land Die Bedeutung von historisch-theologischen Zugängen für den jüdisch-christlichen Dialog ...
Evangelisch-Jüdische Gesprächskommission

Land Israel, Staat Israel, heiliges Land
Die Bedeutung von historisch-theologischen
Zugängen für den jüdisch-christlichen Dialog

Anhänge

Bern, 2021
Evangelisch-Jüdische Gesprächskommission
Land Israel, Staat Israel, heiliges Land | Anhänge

Inhaltsverzeichnis

I.    Der Arbeitsprozess
      der Kommission ................................... 3

II.   Aufsätze ................................................. 4

      Land Israel, Heiliges Land,
      Staat Israel – historisch-
      theologische Zugänge
      Roland Deines........................................... 4

      Die Bedeutung des Landes
      Israel in christlicher Perspektive
      Roland Deines .......................................... 15

      «Between Right and Right»?
      Multiperspektivität als
      Herausforderung im Geschichts-
      unterricht zum Thema
      Nahostkonflikt
      Sabina Brändli........................................... 28
Evangelisch-Jüdische Gesprächskommission               3
                                                      Land Israel, Staat Israel, heiliges Land | Anhänge

I.                                                            gegen und ruft gleichzeitig ein Gefühl des Stolzes
Der Arbeitsprozess der Kommission                             hervor. Aus diesen Gründen reagieren Juden sensi-
                                                              bel, wenn es um den Staat Israel geht.
                                                              Viele Christen stehen in einer spirituellen Verbun-
Sich der eigenen Verwicklungen, Prägungen, Loyali-            denheit zum Land Israel, ausgelöst durch biblische
täten und Grenzen bewusst zu werden, führte zur Er-           Erzählungen aus der Sonntagsschulzeit, das Wan-
kenntnis, was bei diesem heiklen Thema alles auf dem          dern in den Fussstapfen Jesu im Heiligen Land, Pilger-
Spiel steht: die Verständigung von Juden und Christen         fahrten oder durch die Überzeugung, mit der Grün-
in der Schweiz, die Identität der Diaspora-Juden, das         dung des Staates Israel an der Verwirklichung von
Verständnis der Heiligkeit, der Status von Jerusalem,         Gottes Plan teilzunehmen. Einige sehen darin sogar
das Verhältnis zum Land Israel, das Wesen des Staates         die Erfüllung der biblischen Verheissungen. Die 2000-
Israel, der Status der seit 1967 von Israel verwalteten       jährige Existenz von Kirchen vor Ort, inklusiv den-
Gebiete sowie die Suche nach einer Lösung des israe-          jenigen der christlichen Palästinenser, spielt auch
lisch-palästinensischen Konflikts. Dabei ist zu berück-       eine wichtige Rolle. Viele Christen engagieren sich
sichtigen, dass diese Fragen nicht nur theologischer          für einen gerechten Frieden für alle in der Region.
oder historischer Natur sind, sondern alle im Konflikt        Manche Christen nehmen nur die erlittene Ungerech-
involvierten Personen und Gruppen auch existentiell           tigkeit jener Seite wahr, mit der sie sich solidarisch
berühren.                                                     zeigen;
                                                            – drittens: die Schwierigkeit, die einschlägigen Begrif-
Um das Thema von seiner hohen Emotionalität zu ent-           fe zu erläutern. Bei der Formulierung klarer Begriffe
lasten und es sachlich zu behandeln, wurden Zweier-           muss man nicht nur deren Vieldeutigkeit wahrnehmen,
gruppen eingesetzt, die sich aus jeweils einem jüdi-          sondern sich auch bewusst sein, dass sie von den
schen und einem evangelischen Mitglied der Kommis-            Gesprächspartnern oftmals unterschiedlich definiert
sion zusammensetzten und deren Auftrag es war, einen          und interpretiert werden. Solch eine anspruchsvolle
Begriff gemeinsam zu bearbeiten. Dazu wurde externes          Aufklärungsarbeit verlangt Genauigkeit und Sorgfalt,
Expertenwissen im Rahmen einer 2014 veranstalteten            um die Mehrdeutigkeit erfassen und darstellen zu
Tagung eingeholt, von der drei Beiträge im Anhang II bei-     können.
gelegt wurden. Das Thema mit Distanz zu analysieren
ermöglichte es, nicht nur die persönlichen Vorstellungen
zu entemotionalisieren, sondern auch die Fragestellun-
gen und Herausforderungen wahrzunehmen und zu be-
nennen.

Bei ihrem Vorgehen stellte sich der Kommission eine
dreifache Schwierigkeit:
– erstens: der Umgang mit der Geschichte. Diese be-
  lastet die Beziehungen zwischen Juden und Christen
  stark und der Umgang mit ihr bestimmt die Existenz
  des Staats Israel und dessen Zukunft. Die Ausgren-
  zungs- und Verfolgungserfahrung hat über Genera-
  tionen hinweg das jüdische kollektive Gedächtnis so
  tief geprägt, dass jede Bemühung, sie zu überwinden,
  als Ablehnung und Verneinung der jüdischen Identi-
  tät wahrgenommen werde kann;
– zweitens: das emotionale Eingebundensein, sowohl
  auf jüdischer als auch auf christlicher Seite. Diese
  emotionale Ebene ist ebenfalls zum Teil historisch be-
  stimmt. Für Juden wird die mehr oder weniger starke
  Beziehung zum Land Israel durch tägliche Gebete,
  Toratexte, die rabbinisch-talmudische Literatur, per-
  sönliche Überzeugungen sowie Verwandtschafts-
  verhältnisse mitbestimmt. Als Zufluchtsstätte kommt
  der Staat Israel Sicherheitsbedürfnisse der Juden ent-
4   Evangelisch-Jüdische Gesprächskommission
    Land Israel, Staat Israel, heiliges Land | Anhänge

    II.                                             Land Israel, Heiliges Land,
    Aufsätze                                        Staat Israel – historisch-theologische
                                                    Zugänge*
                                                    Roland Deines**

                                                    Einleitung

                                                    Im September 2005 hatte ich das Vergnügen, auf einer
                                                    vergleichbaren Tagung den Vortrag zu halten über «Die
                                                    Bedeutung des Landes Israel in christlicher Perspekti-
                                                    ve», der im darauffolgenden Jahr in einer erweiterten
                                                    Fassung dann auch in der Zeitschrift Judaica erschie-
                                                    nen ist.1 Darin ist so ziemlich das enthalten, was ich zu
                                                    diesem Thema beisteuern kann, und seit damals hat
                                                    sich – so mein Eindruck, der allerdings nur bedingt das
                                                    Ergebnis intensiver Recherche oder Lektüre ist – nicht
                                                    wirklich etwas verändert. Etwas überrascht war ich da-
                                                    rum, dass ich noch einmal zu einer Tagung hierher in die
                                                    Schweiz in einem vergleichbaren Rahmen eingeladen
                                                    wurde, denn seit dieser Zeit habe ich mich mit diesem
                                                    Thema nicht mehr öffentlich beschäftigt. Und, unter uns
                                                    gesagt, auch nicht privat. Im Sommer 2006 bin ich nach
                                                    England gezogen und ich bin dort, anders als in meiner
                                                    schwäbischen Heimat, noch nie mit den speziellen Fra-
                                                    gen nach Israel und seiner theologischen und geistli-
                                                    chen Bedeutung im Welt- und Endzeitgeschehen kon-
                                                    frontiert worden. Um es anders auszudrücken: Nach
                                                    meiner, zugegebenermassen sehr subjektiven Erfah-
                                                    rung, kann man in England Christ sein, ohne zu Israel
                                                    und der Landfrage in Vergangenheit und Gegenwart
                                                    Stellung nehmen zu müssen. 2 Das kann man in Deutsch-
                                                    land (und ich nehme mal an, auch in der Schweiz) na-
                                                    türlich auch. Aber es ist nicht so einfach, wenn man
                                                    wie in meinem Fall als jemand wahrgenommen wird,
                                                    der «etwas mit Israel zu tun hat». Ich kam im Sommer
                                                    1990 zum ersten Mal nach Israel für ein Studienjahr an
                                                    der Hebräischen Universität, drei Tage bevor Saddam
                                                    Hussein in Kuwait einmarschierte und dann im Januar
                                                    1991 der erste Golfkrieg ausbrach. Im Jahr 1997 / 98
                                                    habe ich noch einmal ein Jahr in Jerusalem verbracht,
                                                    und nach 2004 insgesamt vier Semester an der Ben
                                                    Gurion Universität in Beer Sheva Neues Testament
                                                    unterrichtet. In den Jahren dazwischen war ich regel-
                                                    mässig in Israel, unter anderem mit verschiedenen
                                                    Reisegruppen. Ich setze diesen biographischen Rah-
                                                    men, um zu erklären, warum in meinem Fall zum Theo-
                                                    logesein die Frage nach Israel in Vergangenheit und
                                                    Gegenwart dazugehört. So lange ich in Deutschland
                                                    lebte, war ich des Öfteren bei Pfarrkonferenzen, Kirchen-
                                                    gemeinden und Gemeindekreisen eingeladen, um über
                                                    das Thema Israel zu referieren.
Evangelisch-Jüdische Gesprächskommission                 5
                                                      Land Israel, Staat Israel, heiliges Land | Anhänge

Dabei kam es dann durchaus vor, dass ich vorab ge-          chen und akademischen Boykott Israels zu beteiligen,
beten wurde, bestimmten «Brüdern» dies oder jenes           deutlich höher und die christlichen Stimmen, die dage-
zu sagen. Bei einer dieser Gelegenheiten bekam ich          gen stimmen, sind weniger deutlich vernehmbar.
von einem besorgten Pfarrer einen Brief. Darin schrieb
er mir, dass er schon seit längerem mit einem Amts-         Das ist einer der Gründe, weshalb ich an diesem The-
bruder im Gespräch sei, der «immer noch überzeugt»          ma in den letzten Jahren nicht «dran» geblieben bin,
sei, «dass die Verheissungen Gottes, die einst für das      und warum ich gewisse Hemmungen hatte (und immer
Land Juda [sic] den Juden in der Babylonischen Ge-          noch habe), für diesen Vortrag zuzustimmen. Nach bei-
fangenschaft gegeben worden waren, genau so den             nahe 25 Jahren, in denen ich mich mal mehr, mal weni-
Juden in der Gegenwart gilt.» Weiter heisst es in dem       ger, für die Situation in Israel interessiere, erscheint
Brief: «Er und andere Brüder sehen nicht ein, dass Gott     mir die Situation inzwischen so festgefahren und in ei-
diese Verheissungen längst eingelöst hatte, nachdem         nem ständigen Wiederholungskreislauf gefangen, dass
Cyrus ab dem Jahre 539 die Heimkehr in ihre Heimat          ich diese Frage so weit als möglich vermeide. Im Grun-
erlaubt hätte.» Er fährt dann fort zu klären, unter Ver-    de müssten alle Parteien im Nahen Osten akzeptieren,
weis auf 2. Korinther 1,20), dass «alle Verheissungen       was Europa mühsam während des Dreissigjährigen
Gottes […] in Christus erfüllt sind», woraus zu schlies-    Krieges lernen musste: diese Fragen müssen ange-
sen sei, «dass die Verheissungen auf das Land hin-          gangen werden unter der Frage etsi deus non daretur
fällig sind.» Letzteres Argument wird untermauert mit       (Hugo Grotius), d. h. pragmatisch und ohne religiöse
dem Hinweis, dass zwar Paulus die Verheissungen             Begründungen für das politische Handeln.4 Aber dies
Gottes an Abraham (zu denen die Landnahmeverheis-           scheint mir im Nahen Osten derzeit eine Unmöglich-
sung gehört) kenne und auch zitiere, er aber an keiner      keit zu sein, auch wenn ich überzeugt bin, dass auch
Stelle auf die Landverheissung eingehe. Der Brief           heute wieder, wie schon im Dreissigjährigen Krieg, Re-
schliesst mit der freundlichen Bitte, dass ich «diese       ligion vielfach nur der Vorwand ist, um eine politische
theologische Sicht den Amtsbrüdern» vorlegen könne.         Agenda durchzusetzen und zu legitimieren. Protestan-
Unausgesprochen im Hintergrund steht – um sie davon         ten können darum nur insoweit zu dieser Frage beitra-
zu befreien. Der sich in diesem Brief (der nun auch         gen, dass sie darauf hinweisen, dass das Heil nicht an
schon immerhin 15 Jahre alt ist) abzeichnende Konflikt      heilige Orte jedweder Art gebunden ist, und dass kein
ist symptomatisch für eine Spaltung innerhalb der je-       Ort aus religiösen Gründen es wert ist, dass dafür ge-
denfalls deutschsprachigen evangelischen Christen-          storben wird. «Gott will es» ist ein gefährlicher Satz und
heit, wenn es um das Land und den gegenwärtigen             eine gefährliche Waffe in der Hand von religiösen Füh-
Staat Israel geht.                                          rern oder Politikern, die auf religiöse Motivation bauen.
                                                            Theologisch ist die sich dahinter verbergende Gewiss-
In England bin ich dagegen in den letzten beinahe acht      heit kritisch und der Sache angemessen zu hinterfra-
Jahren nie auf dieses Thema angesprochen worden,            gen. In einer gefallenen Welt kann niemand für sich in
und selbst als ich mit Studierenden in Israel war, kamen    Anspruch nehmen, die Stimme Gottes unvermischt mit
diese Fragen so gut wie nie auf. Auch von evangelika-       eigenem Wollen und Denken zu hören oder Gottes Wil-
ler Seite aus, wo in Deutschland und der Schweiz die        len zu kennen. Das protestantische Schriftprinzip ver-
Frage nach Israel zumindest in manchen Landstrichen         weist auf die Heilige Schrift als ein Gegenüber, das Got-
und Gemeinden eine Frage nach dem rechten Glau-             tes Willen bezeugt, aber daraus lassen sich keine kon-
ben werden kann, ist das Thema «Land Israel» in Eng-        kreten politischen Handlungsanweisungen ableiten für
land nach meiner Erfahrung wenig im Blick. Insgesamt        Ereignisse, die in einer Zeit handeln, die von der bibli-
(erneut: das ist eine pauschalisierende Aussage, die        schen Offenbarung nicht in derselben Weise kommen-
mit Vorsicht zu werten ist) ist jedoch mein Eindruck,       tiert ist, wie dies für die biblische Geschichte geglaubt
dass der Staat Israel in Grossbritannien sehr viel kriti-   wird. Die Religionsgeschichte zeigt erschreckend deut-
scher wahrgenommen und massiver kritisiert wird als         lich, wohin es führt, wenn politischer Machtwille durch
in Deutschland, und das gilt sowohl für die kirchlichen     religiöse Legitimationen totalitäre Züge annimmt. Denn
wie die säkularen Medien.3 In meinen ersten Jahren          wenn Gott es will, kann der Mensch es nicht länger mehr
war ich regelmässig geschockt, was in Grossbritannien       nicht wollen. Die Grenzen zum religiösen Totalitarismus
in den Zeitungen öffentlich gesagt werden darf, aber        sind dann schnell überschritten, denn diejenigen, die
daran habe ich mich inzwischen gewöhnt: shame and           dem als Gotteswillen deklarierten Verhalten nicht zu-
blame mit Namensnennung gehört dort zu den akzep-           stimmen, sind dann nicht einfach anderer Meinung oder
tierten Formen öffentlicher Auseinandersetzung. Darum       in einem Irrtum befangen, sondern stellen sich gegen
ist auch die Bereitschaft, sich an einem wirtschaftli-      Gottes Willen. Die entscheidende theologische Aufga-
6   Evangelisch-Jüdische Gesprächskommission
    Land Israel, Staat Israel, heiliges Land | Anhänge

    be ist es darum, die rechte Balance zu finden zwischen       lästina vermag es, auch nur ansatzweise Erwartungen
    dem Glauben an Gottes zielgerichtetes Handeln in der         auf dem Weg zu einem dauerhaften Frieden zu we-
    Geschichte und der notwendigen Zurückhaltung, daraus         cken.
    Handlungsanweisungen für andere abzuleiten.
                                                                 Auch kirchlicherseits (womit ich hier vorrangig die gros-
                                                                 sen Landeskirchen meine) hat sich das Thema eher
    Das relative Desinteresse                                    zur Pflichtveranstaltung entwickelt, das regelmässig
    an diesem Thema in der Gegenwart                             auf die Tagungsordnung gesetzt wird, weil es eben mal
                                                                 wieder «dran» ist, aber nicht, weil man sich wirklich
    Trotz der Brisanz des Themas innerhalb der protestan-        neue Impulse oder Einsichten erwartet. Damit reiht es
    tischen Tradition ist es in den letzten Jahren eher ruhig    sich ein in eine Liste von Themen (Ökumene, soziale
    geworden. Die einzelnen Positionen existieren weiter,        Gerechtigkeit, Umweltschutz, Zweidrittel-Welt), die zwar
    aber das Interesse daran, vor allem aber nicht nur in        mit der Kirche und kirchlicher Bildungsarbeit regel-
    der jüngeren Generation, hat merklich nachgelassen.          mässig in Verbindung gebracht werden, die aber keine
    Wie ist dies zu erklären?                                    Breitenwirkung mehr entfalten, wie dies noch in den
                                                                 70er und 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts der
    Die Generationen, die den Zweiten Weltkrieg und die          Fall war.
    Schoa noch erlebt und erlitten haben, treten von der
    geschichtlichen Bühne ab. Diejenigen unter ihnen, die        Selbst in evangelikal-pietistischen Kreisen, die tradi-
    sich aufgrund ihres eigenen Erlebens für Versöhnung          tionell ein starkes Interesse an Israel (oft in Verbindung
    und Verständnis eingesetzt haben, sind nicht ersetz-         mit den sogenannten Endzeitfragen) haben, verliert das
    bar. Ihr authentisches Zeugnis lässt sich nicht wieder-      Thema an Bedeutung. Sogenannte Israeltage sind Ver-
    holen oder konservieren. Für die jüngere Generation          anstaltungen für die eher über 60-Jährigen, und auch
    ist die Zeit des Zweiten Weltkriegs Vergangenheit und        das Interesse an Israelreisen, Kibbutz-Aufenthalten,
    hat mit der eigenen Lebenswirklichkeit unmittelbar           Studium oder einem sozialen Jahr in Israel scheinen
    nichts mehr zu tun. Beschäftigung mit Israel, Interesse      mir ebenfalls auf dem Rückgang begriffen zu sein, ohne
    für die besondere Situation des Staates Israel, sowie        dass ich dies mit harten Zahlen untermauern könnte.
    eine gesellschaftliche, politische und auch religiöse Ver-   Es wäre spannend, die entsprechende kirchlichen Nach-
    antwortung sind nicht mehr selbstverständlich, son-          richtenquellen, Magazine (etwa ideaSpectrum) und
    dern müssen geweckt und erklärt werden. In der Wahr-         Gemeindeliteratur daraufhin zu untersuchen um fest-
    nehmung vieler Jüngerer ist Israel von einem Land für        zustellen, ob sich quantitativ und themenbezogen Ver-
    die Unterdrückten zu einem Land der Unterdrücker ge-         änderungen feststellen lassen.
    worden.
                                                                 Einen wichtigen Unterschied zwischen den beiden pro-
    Das Thema «Israel» ist, man wagt es kaum zu sagen,           testantischen Flügeln scheint es mir aber doch zu ge-
    «langweilig» geworden, nicht zuletzt weil sich der Ein-      ben, und das ist die Konkretheit und Unmittelbarkeit,
    druck verhärtet, dass sich seit dem letzten Drittel des      mit der das Thema behandelt wird. Der christliche Zio-
    20. Jahrhunderts nichts wirklich verändert hat. Liest        nismus sieht Gott in Israel (dem Volk und dem gegen-
    man heute die Bücher zur Staatsfrage und zum Pa-             wärtigen Staat) am Werk. Das Wirken Gottes an und
    lästinakonflikt, die von Walter Zimmerli, Markus Barth       für Israel hat direkt mit der eigenen Glaubenswirklich-
    oder Friedrich-Wilhelm Marquardt in dieser Zeit ge-          keit zu tun. Kurz vor der Tagung der Evangelisch-Jüdi-
    schrieben wurden, dann stellt man staunend fest, dass        schen Gesprächskommission fand eine von der In-
    sie in ihren Problemanzeigen noch immer erstaunlich          ternationalen Christlichen Botschaft Jerusalem (ICEJ)
    aktuell sind. 5 Ein weiterer Grund für das Desinteresse      veranstaltete Tagung in Stuttgart unter dem Thema
    am Israel-Palästina-Konflikt 6 scheint mir zu sein, dass     «Wiederherstellung» statt (29. März 2014).7 In der Ein-
    es weder eine politische noch eine theologische Vision       ladung dazu hiess es: «Unsere Zeit ist gekennzeichnet
    gibt, wie dieser Konflikt gelöst werden könnte. Status-      durch ein neues Wirken des Heiligen Geistes. Weltweit
    quo-Verwaltung bei Minimierung von Blutvergiessen            sind gewaltige geistliche Aufbrüche zu beobachten.
    und Ungerechtigkeiten scheint das Maximum zu sein,           Der Heilige Geist überschreitet menschliche Begren-
    dass man sich noch vorstellen kann. Die grossen Hoff-        zungen und Schranken.» Ein wichtiges Element die-
    nungen, wie sie kurz nach dem Oslo-Abkommen 1993             ses geistlichen Aufbruchs ist dabei die Geschichte des
    aufgekommen sind, sind verflogen und keiner der              jüdischen Volkes: «Der edle Ölbaum treibt wieder Äste!
    gegenwärtig aktiven political players in Israel oder Pa-     Die Rückkehr der Juden in ihr von Gott versprochenes
Evangelisch-Jüdische Gesprächskommission              7
                                                      Land Israel, Staat Israel, heiliges Land | Anhänge

Land und die Wiederherstellung des modernen Staa-          Welche Gründe gibt es für Christen,
tes Israels ist eine Initiative des Himmels. Gottes pro-   sich mit dem Staat Israel auseinander-
phetisches Wort entfaltet sich vor unseren Augen. […]      zusetzen?
Gott ruft uns und möchte uns in stärkerer und kraft-
vollerer Weise in seine Pläne einbeziehen. Jung und        1. Der Grund dafür ist in Gott selbst zu finden, der als
Alt – gemeinsam!» Die Konferenz verspricht darüber         Schöpfer dieser Welt Raum und Zeit eingeräumt hat,
hinaus «eine klare Sicht über Gottes Handeln mit Israel»   damit sie vor ihm sei und er mit ihr. Er hat sich als
zu geben.8 In dem Beitrag «Strebt nach Wiederherstel-      Schöpfer selbst dazu bestimmt, «mit seiner Schöpfung
lung!» wird beschrieben, wie nach der «Wiederherstel-      eine gemeinsame Geschichte zu haben»,12 und, so ist
lung der Geistesgaben» im 20. Jahrhundert zuerst die       zu ergänzen, auch gemeinsame Orte, da es Geschich-
Kirchen und Gemeinden durch die charismatische             te ohne die Dimension des Raumes nicht gibt. Gottes
Bewegung wiederhergestellt wurde; auf dieses erste         Einwohnung in der Welt, die er geschaffen hat, wurde
Wunder folgte mit der Staatsgründung Israels die zwei-     von den Autoren der Bibel in zweifacher Weise erfah-
te endzeitliche Wiederherstellung. Nach der vollstän-      ren und zur Sprache gebracht: Als «Einwohnung» Got-
digen politischen Wiederherstellung Israels, mit dem       tes (Schechina-Theologie) bei seinem Volk, im Zelt der
Ziel, dass möglichst viele Juden wieder in Israel leben,   Begegnung, im Land und im Tempel in Jerusalem.13
wird die geistliche Erneuerung erwartet (ohne Einfluss     Wenn Israel aus seinem Land vertrieben war, dann
christlicher Mission, was dieser Bewegung ihre Akzep-      waren es die Heiligen Schriften, die die Erinnerung an
tanz in der israelischen politischen Landschaft ermög-     das Land und den Tempel wachhielten.14 Sie umschlos-
licht). Deshalb wird die jüdische Alija nach Israel von    sen die eigene Existenz mit Raum und Zeit der bibli-
diesen christlichen Gruppen aktiv unterstützt, ebenso      schen Welt. Für Christen ist die Verleiblichung Gottes
wie jüdische Sozialprojekte und Entwicklungsarbeit,        in Jesus, dem jüdischen Mann aus Galiläa (Inkarnation)
ohne dass dabei die religiöse Grenze zwischen Juden        der Zielpunkt dieser Einwohnungen Gottes bei seinem
und Christen angerührt wird. Die Vollendung der christ-    Volk, und sie erwarten eine bleibende Gemeinschaft
lichen Gemeinde geht der Gottesgeschichte mit Israel       mit Gott am Ende dieser Weltzeit in einer neuen Schöp-
parallel. Es sind zwei Heilswege, die nebeneinan-          fung (2. Petr 3; Offb 21,1–22,5). Wenn aber Gott der
der zu dem von Gott gesetzten Ziel laufen. Dabei gibt      Welt und seinen Geschöpfen vor ihm Zeit und Raum
es Bedrohungen und Bedrängnisse, weshalb es die            einräumt, dann gibt es eine Geschichte Gottes mit
Aufgabe der Christen ist, ganz auf Israels Seite zu        dieser Welt (Heilsgeschichte), dann gibt es aber auch
stehen. Am Ende steht dann der Aufruf: «Es gibt immer      einen konkreten Ort für Gottes Wirken in der Welt,
noch viel Hoffnung für Dich, Deine Familie, Deine          d. h. Heilsgeschichte kann ohne Heilsgeographie nicht
Stadt und Deine Nation. Während Gott Israel wieder-        gedacht werden. Überblickt man die theologischen
herstellt, ruft er die Gemeinde dazu auf, aktiv daran      Lager, dann zeigt sich, dass da, wo heilsgeschichtliche
mitzuarbeiten.»                                            Theologie eine grosse Rolle spielt (ab dem 19. Jahr-
                                                           hundert in den erwecklich-pietistischen Kreisen), auch
Egal wie man sich zu dieser Form des christlichen          die Frage nach Israel und dem jüdischen Volk mit gros-
Zionismus stellt – was man nicht kann ist ihr Enga-        ser Anteilnahme thematisiert wurde und bis heute
gement und Leidenschaft für Israel abzusprechen.9 Es       wird.
ist eine Sichtweise, die Gottes konkretes, zielvolles
und gegenwärtiges Handeln ernsthaft und tatsächlich        Dagegen übt sich die gegenwärtige Theologie in äus-
in die eigene Glaubenspraxis überführt. Dass dabei         serster Zurückhaltung, wenn es darum geht, Gottes
die erheblichen theologischen und hermeneutischen          Wirken in der Welt konkret zu beschreiben, bzw. lehnt
Schwierigkeiten, geschichtliche Ereignisse mit Gottes      es rundweg ab, geschichtliche Ereignisse theologisch
Heilsplan zu korrelieren, übergangen werden, ist ohne      zu deuten. Die endgültige Überwindung solcher ver-
Weiteres einzuräumen.10 Diesen Aktivismus und das          meintlich verfehlter Identifikationen wird dagegen als
konkrete Erfahren von Gottes Handeln kann (und will?)      theologischer Gewinn gewertet.15 Schon Friedrich-
die kirchliche Israeltheologie nicht bieten. Der Grund     Wilhelm Marquardt hat jedoch darauf hingewiesen, dass
dafür ist, dass die Kirchen insgesamt «Heilsgeschich-      die berechtigte Zurückhaltung «gegen die Verquickung
te» nicht mehr im theologischen Angebot haben und          christlicher mit politischen Argumenten» eben auch da-
Glaube darum vielfach als abstrakt und abgehoben           zu führt, dass die Staatswerdung Israels für die Kirche
von der Alltagswirklichkeit erfahren wird.11 Wer soll      bzw. christliche Theologie nicht mehr als theologische
sich dann für das Thema interessieren? Oder anders         Herausforderung angesehen wird. Weil er dies als ein
gefragt:                                                   Problem empfindet, darum empfiehlt er, «zwischen
8   Evangelisch-Jüdische Gesprächskommission
    Land Israel, Staat Israel, heiliges Land | Anhänge

    christlicher Verbrämung von Politik und einem politi-       manche als Ende der Geschichte im herkömmlichen
    schen Realismus, der Judentum und Bibelwort real zu         Sinn interpretieren, weil nach der Schoa der Geschichte
    nehmen versteht» zu unterscheiden.16                        ihre Sinnhaftigkeit bzw. deren Erkenn- und Deutbarkeit
                                                                abgesprochen werden müsse. Wer nach der Schoa Ge-
    2. Marquardts Aussage erinnert daran, dass nach bib-        schichte noch zu verstehen meint, der verleihe der ver-
    lischer Überzeugung der Glaube an Gott den Schöpfer         suchten vollständigen Vernichtung des europäischen
    untrennbar mit dem Bekenntnis und der Erwartung             Judentums nachträglich Sinn. So nachvollziehbar die-
    verbunden ist, dass Gott in der Geschichte handelt.         se Haltung auch ist, sie impliziert dann auch die Preis-
    Die biblische Tradition liefert gleichsam den Kommen-       gabe eines theologischen Verstehens der Staatsgrün-
    tar zur Geschichte Gottes von Abraham bis zur Rück-         dung Israels.
    führung aus dem Exil, bzw. unter Einbeziehung des
    Neuen Testaments, bis zur Erfüllung der Abrahams-           In dieser Situation ist es möglicherweise geboten, sich
    verheissung durch den Messias Jesus unter allen Völ-        an die Paradoxie Karl Barths im Hinblick auf die christ-
    kern. Es ist nun aber im Gefälle dieser Gotteserfah-        liche Predigt zu erinnern:
    rung, dass sich die Frage nach Gottes Handeln nicht
                                                                     Ich möchte diese unsre Situation in folgenden drei Sätzen
    auf die biblische Zeit eingrenzen lässt. Was der Glaube          charakterisieren: Wir sollen als Theologen von Gott re-
    für die biblische Zeit bezeugt, das soll und kann auch           den. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht
    in der eigenen Gegenwart erwartet (und manche wür-               von Gott reden. Wir sollen Beides, unser Sollen und un-
    den sagen, auch erlebt) werden. Die Kanonisierung der            ser Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre
    biblischen Schriften ist der Ermöglichungsgrund neuer            geben. 20
    Erfahrungen mit demselben Gott in veränderter Zeit.
    Die Frage nach Gottes Willen in der Gegenwart ist theo-     Mit diesen Sätzen hat Karl Barth in einem Vortrag aus
    logisch nicht nur legitim sondern schlichtweg unaus-        dem Jahr 1922, «Das Wort Gottes als Aufgabe der
    weichlich. Zwar ist die nachbiblische Geschichte nicht      Theologie», die Aufgabe der Predigt, aber noch viel
    in derselben Weise durch eine Heilige Schrift eindeutig     mehr die Situation der Theologie an der Universität
    kommentiert, aber das bedeutet nicht, dass die «Heils-      beschrieben. Nach Barth wird die Theologie an der
    geschichte» mit dem Abschluss des Kanons an ihr En-         Universität gelitten, weil sie die einzige Fakultät ist, die
    de gelangt ist.17 Unter diesem Gesichtspunkt bekommt        wenigstens die Frage wachhält, von der sich die ande-
    auch die Fragestellung nach dem Land Israel noch ein-       ren Fakultäten fernhalten müssen, nämlich «dass das
    mal eine andere Perspektive, die in meinem früheren         Ganze, was da getrieben wird, einen Sinn haben möch-
    Beitrag zum Thema18 zwar anklingt, aber nicht weiter-       te.»21 Die Theologie ist nach Barth
    geführt wird, nämlich die Frage, inwieweit die Kirche
                                                                     tatsächlich von der Erwartung umgeben, dass sie ihres
    bzw. einzelne Christen (oder mit anderer Perspektive             Amtes walte und als Antwort vertrete […], was bei den
    Juden und noch einmal anders Muslime) in der Land-               Andern allen, […] nur als Fragezeichen im Hintergrund
    gabe, Landnahme, Landverheissung und im Gefälle da-              steht, als möglich, was sie alle nur als Grenzbegriff, als das
    von eben auch in der erneuten Staatswerdung Israels              Unmögliche kennen dürfen, dass sie von Gott nicht nur
    tatsächlich ein Eingreifen / Beauftragen Gottes sehen            flüstere und munkle, sondern rede, auf ihn nicht nur hin-
                                                                     weise, sondern von ihm herkommend ihn bezeuge, ihn nicht
    (und nicht nur den menschlichen Versuch, der eigenen
                                                                     irgendwo in den Hintergrund, sondern allen methodischen
    Volksgeschichte einen religiösen Sinn zu verleihen). Im          Voraussetzungen, allen Wissenschaften zum Trotz in den
    Hinblick auf das gegenwärtige Israel stehen sich zwei            Vordergrund stelle. 22
    Denkweisen gegenüber (die zugleich bezeugen, dass
    die Frage nach der Deutung von historischen Ereignis-       Wenn also Theologie von Gott reden soll, auch wenn
    sen als Handeln Gottes nicht einfach zurückgewiesen         sie dies gerade nicht kann, und man von Gott nicht
    werden kann): Einerseits wird mit Recht festgehalten,       reden kann, ohne das geschichtliche Handeln Gottes
    dass Gottes Bund mit seinem Volk ungekündigt ist, was       in den Blick zu nehmen, dann ist die Beschäftigung da-
    dann auch impliziert, dass was immer mit diesem Volk        mit geboten, trotz aber gerade auch wegen der offen-
    geschieht, in eine theologische (und für manche heils-      kundigen Irrtümer und Fehlwege in der Geschichte der
    geschichtliche) Perspektive rückt.19 Andererseits gibt      Theologie. Und sei es nur, um daran zu erinnern, dass
    es die berechtigte Scheu, nicht zuletzt ausgelöst durch     auch in dieser Hinsicht gilt, dass alles Erkennen Stück-
    die erschreckende heilsgeschichtliche Legitimierung         werk bleibt, aber diese Erkenntnis dennoch nötig ist.
    Hitlers in Teilen der deutschen Christenheit, historische   Gerade darum ist dann auch die historische und kriti-
    Ereignisse in dieser Weise als göttliches Handeln zu        sche Begleitung theologisch geboten, wo Menschen
    bewerten. Dazu kommt die Monstrosität der Schoa, die        oder Völker sich in besonderer Weise von Gott beauf-
Evangelisch-Jüdische Gesprächskommission               9
                                                       Land Israel, Staat Israel, heiliges Land | Anhänge

tragt sehen. Dabei ist es wichtig, nicht in den positivis-   dische Verhältnis nicht eigens äussert). Dass es dem
tischen Irrtum zu verfallen, wonach es ein solches Ein-      geschichtlichen Jesus um das Land ging, wird aber
greifen Gottes nicht gibt bzw. es unerkennbar sei, wobei     auch in der deutschsprachigen Exegese immer wieder
noch einmal zu unterscheiden wäre zwischen dem, was          behauptet und exegetisch zu begründen versucht. 24
man selbst für möglich bzw. wahr hält, und dem, was          Die dabei herangezogenen Belege sind aber insgesamt
andere glauben und für wahr halten, und deren religiö-       doch eher dürftig und in ihrem Aussagegehalt einge-
se Freiheit dasselbe zu tun, zu achten ist.                  schränkt. Sie stellen zudem allesamt keine Jesusworte
                                                             dar, die erzählerisch von den Evangelisten als zentrale
                                                             Aussagen gestaltet sind. Daraus lässt sich immerhin
Das Land Israel in einer neutestamentlichen                  so viel erkennen, dass für die Evangelisten und damit
Perspektive                                                  für die neutestamentlichen Gemeinden nach Ostern geo-
                                                             theologische Überzeugungen im Hinblick auf das Land
Vor allem in Teilen der englischen Jesusforschung wird       Israel keine oder nur eine ganz untergeordnete Bedeu-
die historische Mission der geschichtlichen Person           tung besassen. Genannt zu werden verdienen hier:
Jesus eng mit der Vorstellung einer Restitution des          – Mt 5,5: «Selig sind die Friedfertigen, denn sie wer-
zwölf-Stämme-Volkes Israel verbunden. Dahinter steht            den das Land [Israel] besitzen»;25
die Überzeugung, dass es Jesus um eine Neugründung           – Mt 4,13–16, Jesu Umzug von Nazareth nach Kaper-
bzw. Erneuerung Israels ging, wobei seine zwölf Jünger          naum in das Land der Stämme Sebulon und Naphtali,
als Repräsentanten dieses eschatologisch rekonsti-              d. h. in das «Galiläa der Heiden»; angenommen wird,
tuierten Gottesvolkes galten. Seine Aktion im Tempel            dass das verlorene Nordreich und die am längsten
(die sogenannte Tempelreinigung) verweist auf sein In-          exilierten Stämme als erstes vom Ende des Exils und
teresse einer Rekonstituierung des Tempelkults und              dem Anbrechen der neuen Heilszeit erfahren;
der Gewinnung Jerusalem als der «Stadt des grossen           – die Tempelreinigung als Beginn einer messianischen
Königs». Die Königsherrschaft Gottes ist gedacht als            Reinigung des Heiligen Landes vom Tempel, als dem
der Beginn einer neuen gerechten und besseren Welt-             kultischen Zentrum, aus.
ordnung, die sich von Jerusalem aus über die Welt ver-          Gegen ein theologisches Landverständnis von Jesus
breitet. Theologisch steht hinter diesem Ansatz eine            sprechen allerdings zahlreichere und gewichtigere
Abgrenzung gegenüber einer Spiritualisierung der Reich          Gründe:
Gottes-Erwartung zu Gunsten einer konkreten Verän-           – die zwölf Jünger repräsentieren nur die Zahl der Stäm-
derung und Verbesserung der Welt. «Transformation»              me als ein ideales Israel; eine geographische Dimen-
ist das neue Leitwort dieser theologischen Bewegung,            sion (etwa Angehörige aus allen Hauptregionen des
die von den Kathedern der Universitäten längst viele            verheissenen Landes) oder eine besondere Auswahl
Gemeinden und Gemeindeseminare, nicht zuletzt in                nach Stammeszugehörigkeit ist nicht erkennbar;
der Schweiz, erfasst hat. Das Reich Gottes als eine kon-     – für eine Landtheologie fehlen Berührungen von Jesus
krete gesellschaftliche Realität wird zur Aufgabe der           mit den heilsgeographisch entscheidenden Orten von
Gemeinde nach Ostern.                                           Israels Geschichte. Im biblischen Sprachgebrauch
                                                                erstreckt sich Israel von Dan bis Beer Sheva, aber
Zu dieser Rekonstruierung Israels als Beginn des es-            Jesus war nie südlich von Jerusalem (sieht man von
chatologischen Schalom-Zustands der ganzen Welt                 den Geburtsgeschichten mit Bethlehem und der Flucht
gehört – insbesondere im einflussreichen Werk des               nach Ägypten einmal ab). Als «Sohn Abrahams»
englischen Theologen und ehemaligen anglikanischen              (Mt 1,1), dem die Landverheissung zuerst gegeben
Bischofs N. T. (Tom) Wright auch die Vorstellung der            wurde, bewegt er sich zumindest geographisch nicht
Rückführung Israels aus dem Exil. 23 Diese zentrale             auf Abrahams Spuren: Hebron zum Beispiel wäre ein
Hoffnung Israels sieht er aus einer neutestamentlichen          entscheidender Ort, weil da Abraham zum ersten
Perspektive als im Werk von Jesus als geschehen an.             Mal einen eigenen Anteil am Land erwarb (die Höhle
Durch die angenommene Rückführung aus dem Exil –                Machpela als Begräbnisplatz für seine Frau und
wobei dieser Teil von Wrights eindrucksvoller Darstel-          später ihn selbst). David wurde König über Juda in
lung eine Menge Widerspruch erfahren hat – ist auch             Hebron und von dort aus erfolgte sein Zug nach
die Landfrage angesprochen. Für Wright, so ist anzu-            Jerusalem, um König über alle zwölf Stämme zu
nehmen, spielt die gegenwärtige Situation des Landes            werden; es ist nicht erkennbar, dass Jesus in irgend-
Israel für christliche Theologie keine Rolle mehr (ob-          einer Weise an diese Traditionen anknüpfen wollte.
wohl er sich zur Frage Israels als dem erwählten Volk           Jerusalem ist das erklärte Ziel von Galiläa aus, aber
und die möglichen Konsequenzen für das christlich-jü-           nicht in einer politisch motivierten Weise;
10   Evangelisch-Jüdische Gesprächskommission
     Land Israel, Staat Israel, heiliges Land | Anhänge

     – auch die Bezugnahmen auf Samaria lassen sich                – was im Neuen Testament ebenfalls vollständig fehlt
       nicht als Restitution der einstigen israelitischen Herr-      ist jede Form einer Heiligkeitstheologie mit Bezug auf
       schaft deuten, sondern eher als eine symbolhafte              das Land, Jerusalem und den Tempel, wie sie aus
       Überschreitung der judäischen Grenzen;                        Qumran (11QTempelrolle) und der Mischna bekannt
     – dafür spricht auch Mt 4,24–25, die vollständigste             sind. Darin geht es um eine von einem geographi-
       geographische Bestimmung im ersten Evangelium.                schen Zentrum ausgehende Heiligkeit, konzentri-
       Als Einflussgebiet des Täufers wird gerade nicht ein          schen Kreisen ähnlich, die von allen, die sich diesem
       heilsgeographischer Begriff gewählt, sondern ein po-          «Allerheiligsten» nähern wollen, einen immer höhe-
       litischer Verwaltungsname: die römische Provinz               ren Reinheitsgrad verlangt. Die jüdische Tradition,
       Syrien, die mit ihren Teilgebieten detailliert aufgezählt     so lässt sich vereinfachend sagen, ist zentripetal,
       wird. Die Nennung der Dekapolis in diesem Zusam-              d. h. zur Mitte hin orientiert: Die Rückkehr aus dem
       menhang verweist darüber hinaus auf die nichtjüdi-            Exil nach Jerusalem bildet den Abschluss der He-
       sche Bevölkerung dieses Gebiets;                              bräischen Bibel, und innerhalb Jerusalems bildet der
     – aber selbst wenn man eine Landtheologie für Jesus             Tempel und das Allerheiligste nicht nur den religiö-
       annehmen könnte und er eine Art neue Landnahme                sen und nationalen Zentralpunkt, sondern zugleich
       erhoffte oder erwartete, so ist doch in der Überliefe-        den «Nabel der Welt». 29 In der christlichen Tradition
       rung nach Ostern davon nichts aufgenommen wor-                ist Jerusalem die Stadt, in der das neutestamentliche
       den;26                                                        Heilsgeschehen seinen Anfang nahm – mehr nicht.
     – das Reich Gottes ist in der evangelischen Überliefe-          Keine Heiligkeit haftet dem geographischen Ort an,
       rung keine politisch-irdische Grösse und wird nicht           und die Erwähnung Jerusalems im Rahmen escha-
       selten mit dem ewigen Leben in Beziehung ge-                  tologischer Erwartungen setzt keine politische oder
       setzt. 27 Die den Jüngern im Matthäusevangelium               Israel-bezogene Landtheologie voraus;
       verheissene Binde- und Lösegewalt (16,19; 18,18)            – wie wenig wichtig das Bleiben in Jerusalem theolo-
       gilt zwar für den Himmel, aber nicht vor einem irdi-          gisch gewertet wurde, zeigen auch die verschiedenen
       schen Gericht. Da müssen sich die Jünger wegen                Fluchtbewegungen aus Jerusalem heraus, die in der
       ihrer Zugehörigkeit zu Jesus verantworten (5,11–12;           Apostelgeschichte, aber dann auch bei Hegesipp
       10,17–22), ihre eigene richterliche Funktion liegt da-        (bzw. Eusebius) beschrieben werden: Diese soge-
       gegen in der eschatologischen Zukunft (19,28). Der            nannte Flucht nach Pella, d. h. die Flucht der Christen
       reiche Jüngling fragt Jesus nach den Bedingungen              aus Jerusalem zu Beginn des Aufstandes gegen Rom
       für das ewige Leben (19,16) und als die Jünger sich           im Jahr 66 wird weder theologisch gedeutet (etwa
       darüber unterhalten, reagiert Jesus mit einer Beleh-          als ein neues Exil) noch ist damit eine theologische
       rung über das Eingehen in das Himmelreich (19,23–             Rückkehrhoffnung verbunden, obwohl man anneh-
       24), was von den Jüngern wiederum mit «selig wer-             men kann, dass entweder einige Christen in der Stadt
       den» gleichgesetzt wird (19,25). Die Heilige Stadt ist        verblieben oder nach dem Fall Jerusalems dahin zu-
       häufiger das himmlische als das irdische Jerusalem            rückkehrten. Vereinfachend gesagt lässt sich für das
       (Gal 4,26; Offb 21,2.10, vgl. aber 11,2, wo das irdi-         frühe Christentum eine zentrifugale Bewegung be-
       sche Jerusalem so bezeichnet ist; auch in Matthäus            obachten: Weg vom Zentrum Jerusalem «bis an die
       27,53 ist dieses Verständnis möglich), obwohl das-            Enden der Erde» (Röm 15,19; vgl. Mt 28,19–20), oh-
       selbe als konkreter Ursprungsort des Evangeliums              ne dass daraus jedoch dann wieder eine zentripetale
       und Sitz der ersten Gemeinde seine historische                Bewegung würde. Die Erwartung der Völkerwallfahrt
       Bedeutung behält. Das wird unter anderem an dem               zum Zion findet in der christlichen Tradition keine Fort-
       Bemühen des Paulus deutlich, die Bezogenheit der              setzung, eher lässt sich aus Röm 15,16 eine Vorstel-
       von ihm gegründeten Gemeinden in Griechenland                 lung herauslesen, dass die Tempelfunktionen durch
       und Kleinasien mit der Jerusalemer Gemeinde trotz             die Mission zu den Völkern gebracht werden;
       der bestehenden Spannungen nicht abreissen zu               – die relative Bedeutungslosigkeit des Landes für die
       lassen. Aber daraus folgt für ihn gerade nicht eine           christliche Theologie wird auch in dem Themenband
       Art politische Funktion von Jerusalem als Metro-              des Jahrbuchs für Biblische Theologie deutlich, der
       polis über die anderen Gemeinden. 28 Am Ende steht            dem Heiligen Land gewidmet ist.30 Darin gibt es er-
       im Neuen Testament die Erwartung des neuen,                   wartungsgemäss Aufsätze zum Land in der alttes-
       himmlischen Jerusalems und die Bürgerschaft im                tamentlichen Tradition, und auch zwei zum Neuen
       Himmel ist wichtiger als alle irdischen Bürgerrechte,         Testament, aber kein weiterführender Beitrag, der
       ethnischen oder nationalen Vorzüge (Phil 3,20; vgl.           die gegenwärtige Landfrage einbezieht. Das Thema
       3,5–7);                                                       des Staates Israel kommt einzig in Form eines Inter-
Evangelisch-Jüdische Gesprächskommission              11
                                                      Land Israel, Staat Israel, heiliges Land | Anhänge

  views mit Jörg Brehmer in den Blick, der für 19 Jah-     Eine vergleichbare Haltung setzt sich auch in der frü-
  re Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zei-        hen Kirche fort: Es gibt zwar ein Interesse am Land als
  tung in Israel war, als biblisch-theologische Frage-     Ort der heiligen Geschichte und christliche Autoren
  stellung dagegen nicht. 31                               produzieren topographische Literatur, bei der konkrete
                                                           Ortskenntnisse, biblische Geschichte(n) und christli-
Vielleicht am eindrucksvollsten lässt sich die unter-      che Gemeindegeschichte miteinander verbunden wer-
schiedliche Bedeutung des Landes in der jüdischen          den, dazu kommen ab dem 4. Jahrhundert Pilgerreisen
und christlichen Tradition an der Anordnung der einzel-    und Pilgerberichte, die das anhaltende Interesse am
nen Bücher innerhalb des jeweiligen Kanon ablesen.         Land bezeugen. Aber über diese Zeugenfunktion des
Am Ende der hebräischen Bibel und damit als Ausblick       Landes hinaus (die durchaus auch kritisch gesehen
auf das Kommende steht das Kyros-Edikt (2. Chr 36,22–      wurde) gibt es keine theologische Gewichtung des
23). Wer immer zu dem Volk der Judäer gehöre, wird         Landes oder irgendwelcher spezieller Orte. Die Paral-
aufgefordert nach Jerusalem zu ziehen und dort dem         lelität von Heilsgeschichte und Heilsgeographie kann
Herrn ein Haus zu bauen. D. h. Alija, Heimkehr nach        auch hier weiterhelfen: Heilsgeschichte bedeutet nicht
Jerusalem und der Wiederaufbau des Tempels bilden          die Sakralisierung der Geschichte als ganzer, sondern
das grosse Finale des biblischen Narrativs und es wird     bestimmte Ereignisse im Geschichtsverlauf werden
lebendig erhalten im Festgruss «Nächstes Jahr in Je-       herausgehoben und sowohl miteinander als auch zu
rusalem» und der Bitte um Heimkehr ins Land und dem        Gottes erwählendem und heilvollem Handeln in Bezie-
Wiedererrichten des Tempeldienstes im Achtzehnbitten-      hung gesetzt. Diesen Ereignissen selbst haftet keine
gebet (Schmone Esre).                                      dingliche Heiligkeit an, sondern sie sind das Wider-
                                                           fahrnis von Gottes Eingreifen im gewöhnlichen Ge-
Dagegen endet das Alte Testament in der christlichen       schichtsverlauf, auch wenn dieser dadurch eine über-
Bibel (sieht man von den deuterokanonischen Büchern        raschende («wunderliche») Wendung erleben kann.
ab) mit dem Buch Maleachi. Die feste Anordnung der         Historisch gesehen sind diese Vorgänge oft unspekta-
einzelnen Bücher ist allerdings eine erst relativ späte    kulär, etwa wenn Gott einen der Propheten beruft, einen
und endgültig erst durch den Buchdruck fixierte Ent-       Menschen durch ein Wunder heilt oder durch ein Vor-
wicklung. Zusätzlich verkompliziert wird der Sach-         zeichen seinem Volk wieder Mut macht. In gleicher Wei-
verhalt dadurch, dass es zwischen den einzelnen Kon-       se werden «normale» Orte bedeutsam und Teil einer
fessionen Schwankungen in Bezug auf die Anzahl der         Heilsgeographie, weil sich Gott an ihnen in besonde-
biblischen (alttestamentlichen) Bücher gibt und entspre-   rer Weise offenbart hat, aber daraus leitet christliche
chend auch deren Reihenfolge variiert (wobei meines        Theologie keine dauerhafte Heiligkeit des Ortes ab.
Wissens keine christliche Bibel mit dem 2. Chronikbuch     Dass dies jüdischerseits anders gesehen wird und
endet).32 Dennoch ist deutlich, dass die prophetischen     werden kann, ist ausdrücklich festzuhalten, denn da
Bücher am Ende des Kanons stehen und hier wieder-          hat Gott das Land erwählt und sich an das Land ge-
um Maleachi als der letzte der zwölf kleinen Prophe-       bunden – allerdings in einer paradoxen Weise, wie
ten. Damit aber steht am Ende der Ausblick auf den         Michael Wyschgorod gezeigt hat. Israel ist demnach
kommenden Gerichtstag Gottes, das Gericht über den         das einzige Volk, dass es schon gab, ehe es in sein
Tempel und die Priesterschaft (aber auch über Israels      eigenes Land kam, und das auch dann nicht aufhörte
Feinde), sowie das Kommen des Elijah zur Bereitung         zu existieren, als es aus seinem Land vertrieben war.
des Volkes. Maleachi enthält zudem neben der domi-         Dennoch bezeichnet er die Trias «God, Israel, and the
nanten Israel-zentrierten Botschaft auch eine die Völker   land» als «an indissoluble unity». Er vergleicht dann in
umfassende Gerichts- und Heilsbotschaft (Mal 1,5.14;       diesem Aufsatz, «Judaism and the Land», den Unter-
3,12). Im protestantischen Kanon folgen auf Maleachi       schied zwischen Christentum und Judentum in Bezug
die Evangelien, nach deren Deutung Johannes der            auf eine Landtheologie, und hebt hervor, dass das
Täufer als wiedergekommener Elija den Tag des Herrn        Christentum (weil es keinen Nationalcharakter besitzt)
vorbereitet. Am Ende des Neuen Testaments steht die        eine solche nicht braucht, während das Judentum ohne
Offenbarung des Johannes mit dem Ausblick auf einen        eine solche nicht existieren kann. 34
neuen Himmel und eine neue Erde. Vor dem Ende
steht die Parusie Jesu Christi, die jedoch geographisch    Zusammenfassend lässt sich darum sagen, dass eine
nicht verortet wird, obwohl die Offenbarung durchaus       Zusammenschau der neutestamentlichen Aussagen
einen Jerusalembezug besitzt. Aber auch hier gilt,         zum Land keinen Zweifel daran lässt, dass die Kirche
dass das neue, himmlische Jerusalem wichtiger ist als      keine Theologie des Landes braucht, weil das Land als
das gegenwärtig irdische.33                                Heilsgut weder für die Gegenwart noch für die escha-
12   Evangelisch-Jüdische Gesprächskommission
     Land Israel, Staat Israel, heiliges Land | Anhänge

     tologische Zukunft für die Kirche als Kirche irgendeine              4 Zu dieser berühmten Formulierung, die der niederländische Ju-
     Rolle spielt. Die Universalisierung des Heils und die                rist, Philosoph, Politiker und Bibelausleger Hugo Grotius (1583–
                                                                          1645) im Vorwort von De iure belli ac pacis (1625) machte,
     zentrifugale Bewegung der Mission von Jerusalem in
                                                                          vgl. Roland Deines, Acts of God in History. Studies towards
     die Welt liess das Land als Erinnerungsort des Anfangs-              Recovering a Theological Historiography, Tübingen: Mohr
     geschehens zurück, aber nicht als eschatologischen                   Siebeck, 2013, S. 2–3; Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis
     irdischen Zukunftsort.                                               der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im
                                                                          Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen: Mohr
                                                                          Siebeck, 62010 [11977], S. 21–22 und 76. Entscheidend an
                                                                          Grotius’ Beitrag ist aus meiner Sicht, dass er mit seiner Forde-
     Anmerkungen                                                          rung, die Gotteskarte nicht im politischen Spiel zu ziehen, keine
                                                                          generelle Abkehr von der Religion im öffentlichen Raum fordert,
     * Für alle Internetquellen erfolgte der letzte Zugriff am 6. Okto-   sondern im unmittelbaren Kontext dieser Aussage sich zu Gott
     ber 2018.                                                            als Schöpfer und dem gebotenen Gehorsam ihm gegenüber
                                                                          bekennt. Vgl. dazu den informativen Beitrag von Gerold Lehner,
     ** Roland Deines hat evangelische Theologie in Basel und Tü-         «Die Angst der Religion vor dem öffentlichen Raum. Einige Über-
     bingen studiert und ein Weiterstudium in Jerusalem absol-            legungen zu einem kontroversen Thema», in: Michael Bünker,
     viert. Er hat im Fachbereich Neues Testament promoviert und          Ernst Hofhansl und Raoul Kneucker (Hrsg.), Donauwellen. Zum
     habilitiert. Nach Lehrtätigkeiten an den Universitäten Tübingen,     Protestantismus in der Mitte Europas. Festschrift für Karl W.
     Jena, Beer-Sheva und Nottingham ist er seit 2017 Professor           Schwarz, Wien: Evangelischer Presseverband, 2012, S. 163–179.
     für biblische Theologie und antikes Judentum an der Interna-
     tionalen Hochschule Liebenzell. Zu seinen zahlreichen Veröf-         5 Vgl. Walter Zimmerli, Israel und die Christen. Hören und Fra-
     fentlichungen im Bereich des Neuen Testaments, des antiken           gen, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 21980 [11964];
     Judentums und der Auslegungsgeschichte der biblischen Texte          Markus Barth, Der Jude Jesus, Israel und die Palästinenser,
     mit einem Schwerpunkt auf der Zeit der nationalsozialisti-           Zürich: Theologischer Verlag, 1975; Friedrich-Wilhelm Marquardt,
     schen Herrschaft, zählen unter anderem: Die Pharisäer. Ihr Ver-      Die Juden und ihr Land, Hamburg: Siebenstern Taschenbuch
     ständnis im Spiegel der christlichen und jüdischen Forschung         Verlag, 1975.
     seit Wellhausen und Graetz, Tübingen: Mohr Siebeck, 1997;
     Die Gerechtigkeit der Tora im Reich des Messias. Mt 5,13 –20         6 Die Schwierigkeit beginnt schon mit der Sprachregelung: Wie
     als Schlüsseltext der matthäischen Theologie, Tübingen:              soll man diesen Konflikt bezeichnen, ohne dass sich jemand ge-
     Mohr Siebeck, 2004; und als Mitherausgeber mit Volker Leppin         kränkt fühlt? Bei «Israelfrage» fühlt sich Israel in Frage gestellt,
     und Karl-Wilhelm Niebuhr: Walter Grundmann. Ein Neutesta-            bei «Palästinakonflikt» scheint die Ursache einseitig der paläs-
     mentler im Dritten Reich, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt,      tinischen Seite zugeschoben zu werden. Die scheinbar neutrale
     2007.                                                                Bezeichnung «Nahostkonflikt» ist inzwischen ebenfalls obsolet,
                                                                          da im Nahen Osten ganz andere und grössere Konflikte toben,
     1 Eine überarbeitete Fassung dieses Artikels folgt dem vorlie-       so dass im März 2015 bei diesem Wort kaum jemand mehr als
     genden Aufsatz.                                                      erstes an den Israel-Palästina-Konflikt denkt.

     2 Nachtrag 2018: Zugenommen haben während meiner Zeit in             7 Zur ICEJ, vgl. https://de.icej.org. Wichtigste Veranstaltung
     England allerdings die Stimmen, die einen akademischen Boy-          dieser Organisation ist seit 35 Jahren die jährliche Feier des
     kott gegenüber Israel forderten, um damit gegen die Beset-           Laubhüttenfests in Jerusalem. Zur Festversammlung versam-
     zung der palästinischen Gebiete zu protestieren, vgl. https://       melt sich regelmässig israelische Politikprominenz, um den
     bdsmovement.net/academic-boycott. Ein interessantes Phäno-           Christen für ihre Unterstützung zu danken, vgl. für die Feier
     men, auf das ich erst im Rahmen des Jubiläums der Balfour-           2014 den Bericht: https://de.icej.org/node/225671.
     Declaration 2017 aufmerksam wurde, sind die im 19. Jahrhun-
     dert wurzelnden Vorstellungen, dass das englische Volk Nach-         8 Vgl. Jürgen Bühler (Geschäftsführender ICEJ-Direktor), «Auf-
     kommen der verlorenen zehn Stämme Israels sind, woraus An-           bruch in Einheit ‹Wiederherstellung›», in: Wort aus Jerusalem,
     hänger dieser Überzeugung eine besondere Aufgabe Englands            Heft 1 (2014), S. 10. Vgl. im selben Heft auch seinen Beitrag:
     im Hinblick auf Israels nationale Wiedergeburt ableiteten. Zudem     «Strebt nach Wiederherstellung! Gottes Wirken in Israel und
     wurde damit England in die prophetischen Verheissungen über          der Gemeinde», S. 4–6 (auch unter https://de.icej.org/news/
     Israels Rückkehr aus dem Exil und der erneuten Staatwerdung          commentary/strebt-nach-wiederherstellung).
     im eigenen Land einbezogen. Sehr gut dargestellt sind diese Be-
     wegungen, mit zahlreichen Literaturhinweisen, bei Eric Michael       9 Die im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland, der
     Reisenauer, «‹The Merchants of Tarshish, with all the Young          Union Evangelischer Kirchen in der EKD und der Vereinigten
      Lions Thereof.› The British Empire Scripture Prophecy, and the      Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands herausgege-
     War of Armageddon, 1914–1918», in: Journal of the Bible and          bene Orientierungshilfe Gelobtes Land? Land und Staat Israel
     Its Reception 4 (2017), S. 287–318.                                  in der Diskussion, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2012,
                                                                          S. 83–85 (auch online zugreifbar unter: http://www.ekd.de/
     3 Nachtrag 2018: Auch diese Beobachtung hat sich inzwischen          download/gelobtes_land.pdf), vorgebrachte «notwendige Kritik»
     durch die Antisemitismus-Debatte in Bezug auf den 2015 zum           am christlichen Zionismus ist überzogen und dient lediglich der
     Vorsitzenden der Labour Party gewählten Jeremy Corbyn er-            schroffen Abgrenzung, aber nicht dem innerchristlichen Dialog
     härtet.                                                              über diese Fragen. Das von den christlichen Zionisten dem Ju-
Evangelisch-Jüdische Gesprächskommission                          13
                                                               Land Israel, Staat Israel, heiliges Land | Anhänge

dentum «kein eigener Wert zugestanden» würde, weil die Ge-           16 F.-W. Marquardt, Die Juden und ihr Land (Anm. 5), S. 144.
schichte Israels als Teil der eschatologischen Ereignisse gese-
hen wird, lässt sich überhaupt nur behaupten, wenn man der           17 Eindrucksvoll ist das Problem in eine Frage gefasst bei
neutestamentlichen Eschatologie keinerlei Wert für den christ-       F.-W. Marquardt, ebd., S. 78: «Wer wäre dann der Prediger oder
lich-jüdischen Dialog einräumt. Die EKD-Haltung hängt meines         Geschichtenerzähler, der die ganze nachbiblische Geschich-
Erachtens ursächlich mit dem bereits beschriebenen Sachver-          te Israels und der anderen Völker und Religionen mit der glei-
halt zusammen, dass Gottes Handeln in der Geschichte als             chen Vollmacht und unter der Leitung des gleichen heiligen
theologisch nicht legitim abgewiesen wird. Das wird in der Dar-      Geistes darstellen, auslegen und auf unseren Glauben und
stellung des Zugangs der «liberalen Theologie» zur «Frage nach       Gehorsam zuspitzen könnte, wie das die Prediger und Ge-
der Wiederherstellung der Staatlichkeit Israels» (S. 76–78) auch     schichtenerzähler der Bibel mit ihrem Teil Weltgeschichte getan
ausdrücklich benannt, nur wird zu wenig gesehen, wie sehr die        haben?» Aber diesen berechtigten Anfragen antwortet er mit
mit der liberalen Theologie geteilten Grundeinstellungen auch        einer Reihe von Gegenfragen, die darauf verweisen, dass
die eigene theologische Bestimmung präjudizieren.                    das biblische Gottesverständnis nicht ablösbar ist von der kon-
                                                                     kreten, partikularen Geschichte: «Und wäre es nun nicht eine
10 Zu meinen eigenen Überlegungen zu diesem Thema vgl.               unerhörte Flucht vor dem lebendigen, dem konkreten Gott,
Acts of God in History (Anm. 4), S. 24–26 und 403–406; nun           wenn wir aus seinem Segen ein allgemeines Menschheits-
auch: «Biblische Texte und zeitgeschichtliche Deutungen. Neu-        dogma, aus Christus ein Gleichheitsprinzip machten, um da-
testamentler und die nationalsozialistische Machtergreifung»,        mit schnurstracks an denen vorüberzugehen, zu denen er
in: Michael Meyer-Blanck (Hrsg.), Geschichte und Gott. XV.           sich nun vielleicht doch in ein auch zeitlich und weltlich
Europäischer Kongress für Theologie (14.–18. September 2014          bestimmtes und gesondertes Verhältnis gesetzt hätte, den
in Berlin), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2016, S. 442–      Juden?» (ebd., S. 80). Aus jüdischer Perspektive, vgl. Michael
482.                                                                 Wyschogrod, «Reflections on the Six Day War after a Quarter
                                                                     Century» [1992], in: ders., Abraham’s Promise. Judaism and
11 Diese kritische Bemerkung gilt nicht für kirchliche Arbeit ins-   Jewish-Christian Relations, London: SCM Press, 2006, S. 104–
gesamt; in sozialen und pädagogischen Fragen hat die Kirche          106. Wyschogrod betont in diesem Aufsatz, der ursprünglich im
ein Angebot, das Alltagserfahrungen geistlich begleitet. Aber        Nachgang zum Sechstagekrieg und seiner möglichen religiö-
das gilt meines Erachtens nicht für die Frage nach Geschichte        sen Bedeutung für Israel geschrieben wurde (d. h. die Frage war,
und dem Sinn der Geschichte für den Einzelen wie für ein Volk,       ob Gott auf Seiten Israels in das Geschehen eingegriffen hat),
wobei Israel nur das besonders herausgehobene Volk darstellt.        dass die biblische Geschichte einen uneinholbaren Vorrang vor
Man könnte sagen: Wenn die Kirche nicht einmal etwas zum             allen nachbiblichen Ereignissen als Offenbarungsgeschehen
Volk Israel (als geschichtliche und politische Grösse in Vergan-     hat, denn der jüdische Glaube ist «based on events as they are
genheit und Gegenwart) zu sagen hat, wie viel weniger dann           transformed by the Word of God from the realm of ambiguity to
zur Geschichte anderer Völker. Das aber erscheint mir zuneh-         that of clarity» (ebd., S. 104). In anderen Worten, nur das bibli-
mend wieder nötig zu sein, wenn man die Debatte nicht ande-          sche Wort erlaubt es eindeutig, ein Ereignis als Gottesoffen-
ren überlassen will. Einen interessanten Beitrag dazu hat kürz-      barung anzusehen.
lich der Regius Professor of Moral and Pastoral Theology an
der Universität von Oxford, Nigel Biggar, vorgelegt mit seinem       18 Vgl. Roland Deines, «Die Bedeutung des Landes Israel in
Buch Between Kin and Cosmopolis. An Ethic of the Nation,             christlicher Perspektive», in: Judaica 62 (2006), S. 309–330.
Cambridge: James Clarke, 2014.
                                                                     19 Vgl. zum Beispiel Peter von der Osten-Sacken, «Staat Israel
12 Dirk Evers, Raum – Materie – Zeit. Schöpfungstheologie im         und christliche Existenz. Möglichkeit, Grenze und Bewährung
Dialog mit naturwissenschaftlicher Kosmologie, Tübingen:             theologischer Aussagen», in: ders., Evangelium und Tora. Auf-
Mohr Siebeck, 2000, S. 374.                                          sätze zu Paulus, München: Kaiser, 1987, S. 272–293, der zu-
                                                                     stimmend den sechsten der Leitsätze der Kommission des
13 Vgl. dazu Bernd Janowski und Enno Edzard Popkes (Hrsg.),          Reformierten Bundes zum Thema «Wir und die Juden – Israel
Das Geheimnis der Gegenwart Gottes. Zur Schechina-Vorstel-           und die Kirche», vorgelegt zur Hauptversammlung des Refor-
lung in Judentum und Christentum, Tübingen: Mohr Siebeck,            mierten Bundes vom 27. bis 29. September 1984 zitiert (Rolf
2014.                                                                Rendtorff und Hans Hermann Henrix [Hrsg.], Die Kirchen und
                                                                     das Judentum, Bd. 1: Dokumente von 1945 –1985, Paderborn:
14 Vgl. schon die Psalmen 42–43; 137, und darüber hinaus die         Bonifatius, 32001 [11988], S. 616–620, hier S. 619), in dem die
zahlreichen biblischen Stellen, die die Hoffnung vom Ende des        «Gründung und Entwicklung des Staates Israel» ausdrücklich
Exils wachhielten: Dtn 30,1–5; 1 Kön 8,34.46–50; Jes 11,11–16;       «eine Bestätigung der Treue Gottes» zu seinem Volk gewertet
27,12–13; 35,8–10; 43,5–7.14–21; 52,7–12; 56,8; 60,4; Jer 16,14–     wird. Weiter heisst es: «In dem allen werden die irdisch-geschicht-
21; 30,1–3.18–20; 31,4–25.38–40; 32,36–33,13; Ez 37,12–14.21–        lichen Dimensionen der Verheissungen Gottes den Christen
22.25 und öfter.                                                     und allen Völkern nachhaltig vor Augen und ins Bewusstsein
                                                                     gerückt» – d. h. die Staatsgründung Israels wird als irdisch-
15 Der XV. Europäischer Kongress für Theologie, der vom 14.          geschichtliches Handeln Gottes ausdrücklich bekannt. Vgl.
bis 18. September 2014 in Berlin anlässlich der Jubiläen des Aus-    dazu weiter R. Deines, «Die Bedeutung des Landes Israel in
bruchs des Ersten Weltkrieges und der deutschen Wiederver-           christlicher Perspektive» (Anm. 18); Gelobtes Land? (Anm. 9);
einigung zum Thema «Geschichte und Gott» stattfand, belegte          Gerhard Gronauer, Der Staat Israel im westdeutschen Protes-
dies eindeutig, vgl. M. Meyer-Blanck (Hrsg.), Geschichte und         tantismus. Wahrnehmungen in Kirche und Publizistik von 1948
Gott (Anm. 10).                                                      bis 1972, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013.
Sie können auch lesen