AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - 22/2008 26. MAI 2008 - BPB
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APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte 22/2008 ´ 26. Mai 2008 Indien Olaf Ihlau Indien auf dem Sprung zur Weltmacht Harald Mçller ´ Carsten Rauch Indiens Weg zur Wirtschaftsmacht Bernard Imhasly Ein reiches Land mit armen Menschen Lavanya Rajamani Indiens internationale Klimapolitik Siegfried O. Wolf Hindu-Nationalismus ± Gefahr fçr die græûte Demokratie? Sumit Ganguly Der indisch-pakistanische Konflikt Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament
Editorial ¹Was gut ist fçr Indien, ist auch gut fçr die Welt.ª Diese Worte des indischen Premierministers Manmohan Singh in einem Inter- view kurz vor dem Staatsbesuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel im vergangenen Oktober illustrieren nicht nur Indiens gewachsenen Stellenwert auf der globalen Landkarte, sondern auch das neue Selbstbewusstsein des Landes als zweite asiatische Supermacht, die den Lauf der Welt entscheidend mitbestimmt. Mag China aufgrund der bevorstehenden Olympischen Spiele in Peking derzeit mehr im Fokus der Úffentlichkeit stehen ± an In- dien kommt die internationale Politik schon långst nicht mehr vorbei. Dabei erscheint Indien vielen westlichen Beobachtern aufgrund seiner demokratischen Ordnung sogar als ¹das bessere Chinaª. Doch der Aufschwung, mit einer durchschnittlichen Wachs- tumsrate von çber acht Prozent in den vergangenen vier Jahren, hat deutliche Schattenseiten. Im Verhåltnis profitieren nur weni- ge Inder vom Boom, drei Viertel der Bevælkerung leben unter årmlichsten Bedingungen. Zudem steigt mit dem Wachstum der Energiebedarf und damit der Ausstoû von Treibhausgasen. In den nåchsten zehn Jahren wird sich Indien zu einem der græûten Umweltverschmutzer entwickeln und den Klimawandel voran- treiben, von dem es zudem viel stårker betroffen sein wird, als die meisten Industrielånder. Auch hier werden vor allem die Armen die Leidtragenden sein. Der Optimismus, die Probleme læsen zu kænnen, war indes noch nie so groû wie heute. Das demokratische System ist fest etabliert und in der Bevælkerung akzeptiert, so dass weder Armut noch extremistische Auswçchse wie der Hindu-Nationa- lismus, der sich insbesondere gegen die muslimische Bevælke- rung richtet, bislang eine Gefahr fçr die Demokratie darstellen. Ein Abflauen der Konjunktur ist nicht absehbar. Entscheidend fçr die Zukunft Indiens wird auch die Entwicklung seines Nach- barn Pakistan sein ± solange dort halbwegs stabile Verhåltnisse herrschen, ist eine Eskalation des Konflikts der beiden Atom- måchte um die Region Kaschmir nicht zu befçrchten. Johannes Piepenbrink
Olaf Ihlau nien als Europas fçhrende Wirtschaftsmacht çberflçgelte und den Weltmarkt in Elektro- Indien auf dem technik, Metallverarbeitung und dem Che- miegewerbe kontrollierte. Teilweise irritiert Sprung zur Weltmacht muss die Welt zur Kenntnis nehmen, dass neben China in Asien ein weiterer Koloss herangewachsen ist, der als neuer Global Essay Player kçnftig das Weltgeschehen mitbestim- men wird ± ækonomisch wie politisch, und als Atom- und Raketenmacht notfalls auch mili- tårisch. Ein Player, der in der Welt von morgen I m Schatten der sich weltweit verschårfen- den Finanzkrise veræffentlichte das ameri- kanische Wirtschaftsmagazin ¹Forbesª ver- Konkurrent sein wird beim Kampf um Jobs, Mårkte und Energieressourcen. ¹Indien hat das Potenzial zur Weltmachtª, verkçnden gangenen Mårz seine alljåhrliche Hitparade nunmehr nicht nur reiûerische Schlagzeilen, der Superreichen und feierte ein bemerkens- sondern auch fundierte wissenschaftliche wertes Comeback. 1 Warren Buffet, Investi- Analysen. 2 Die Inder ¹kommenª, ob der Rest tionsgenie und Philanthrop, hatte nach drei- der Menschheit das will oder nicht. Sie sind zehn Jahren den Microsoft-Grçnder Bill langfristig wohl die eigentlichen Herausforde- Gates wieder von Rang eins der Milliardåre rer des Westens, denn sie kænnen sich auf eine verdrångt. Sein Vermægen wurde auf gut 40 stabile demokratische Gesellschaft stçtzen, Milliarden Euro ta- wåhrend Asiens anderer Gigant, das kommu- xiert. Doch fçr die nistische China, bei einer Úffnung womæglich Olaf Ihlau eigentliche Ûberra- in gefåhrliche Turbulenzen geråt. Dr. phil., geb. 1942; Journalist schung in diesem und Autor (Süddeutsche Schaulaufen der Best- Zeitung, Der Spiegel), betuchten sorgten die Dominanz der beiden Milliardenvælker Eiderstedter Weg 30, Vertreter einer ande- 14129 Berlin. Wçrden Indien und China, die beiden Mil- ren Nation und auf- olaf-ihlau@t-online.de liardenvælker, zu einem strategischen Pakt steigenden ækonomi- finden, låge ihnen die çbrige Menschheit schen Macht: Erstmals zwangslåufig zu Fçûen. China ist bereits die hatten vier Inder den Sprung unter die zehn Werkbank und Industriefabrik der Welt, In- wohlhabendsten Menschen auf diesem Plane- dien sein Entwicklungslabor. Beide Lånder ten geschafft. Auf Rang vier schob sich der stehen schon jetzt fçr zwei Drittel des Brut- Stahlbaron Lakshmi Mittal, gleich dahinter tosozialprodukts der 23 Lånder Sçdostasiens, folgten die Gebrçder Mukesh und Anil Am- sie tragen mit ihrer riesigen Bugwelle auch bani mit ihrem Petro-Chemiekonzern Relian- die anderen Staaten dort mit. Ihr Konsum ce, und Platz acht besetzte der erfolgreichste wåchst schneller als die Nachfrage in Ameri- Immobilienhåndler der Welt, Kushal Pal ka. In der Kombination wåren Asiens wich- Singh. tigste Boomstaaten global unschlagbar, wirt- schaftlich wie militårisch. Doch dass es zu Vier Inder im Club der Superreichen, das solch einer Allianz kommt, ist eher unwahr- hat es noch nie gegeben. Es sagt zudem eini- scheinlich. China und Indien sehen einander ges darçber aus, wie rasant sich derzeit die als Rivalen an, und der Rest der Welt dçrfte ækonomischen und damit auch politischen alles dafçr tun, dass dies auch so bleibt. Gewichte im globalen Måchtespiel verschie- ben. Internationale Wirtschaftsweise sehen Im Wettlauf der beiden bevælkerungsreichs- den erwachten Riesen des Subkontinents mit ten Lånder der Erde mit ihren 2,5 Milliarden einem Hyperwachstum schon auf dem Konsumenten liegt der chinesische Drache Sprung nach ganz oben, bis zur Jahrhundert- derzeit noch weit vor dem indischen Elefan- mitte neben die Vereinigten Staaten und ten. Chinas Bruttosozialprodukt ist doppelt China an die Weltspitze in einer ækonomi- schen Zeitenwende. Verglichen wird diese 1 Vgl. Luisa Kroll, The World's Billionaires, in: Forbes Entwicklung historisch mit dem industriellen vom 5. 3. 2008. Aufstieg des Deutschen Reichs Ende des 2 Vgl. stellvertretend fçr viele: Teresita C. Schaffer, 19. Jahrhunderts, das seinerzeit Groûbritan- Deutsche Bank Research, 8. 2. 2006. APuZ 22/2008 3
so groû, das Reich der Mitte zieht zehnmal so trumpfen, Indien mit 1,6 Milliarden zur viele Auslandsinvestitionen an. 3 Aber der græûten Nation der Erde anschwellen, wåh- Elefant holt auf, mit schwerem Tritt, seitdem rend die Zahl der Chinesen als Folge der Ein- die Inder, dreizehn Jahre nach den Chinesen, Kind-Politik abnimmt. Asien stellt dann 70 ebenfalls den radikalen Schwenk zur Markt- Prozent der Weltbevælkerung, und allein auf wirtschaft vollzogen haben. Die zu Beginn der dem Subkontinent werden in Indien, Pakistan 1990er Jahre eingeleiteten Reformen sorgten und Bangladesch mit 2,2 Milliarden weit mehr fçr die Wiedereingliederung in den Welt- Menschen leben als auf den Kontinenten markt. Dreiûig Jahre lang hatte sich zuvor der Amerika, Europa und Australien zusammen. von staatsdirigistischen Ketten gefesselte Das sind beklemmende Perspektiven, beson- Riese in self-reliance (Autarkie) mit der so ge- ders aus der Sicht ergrauender Schrumpf- nannten Hindu-Zuwachsrate von jåhrlich 3,5 europåer, doch sie sind problematisch auch fçr Prozent begnçgt, sehr zum Vergnçgen der dy- die Giganten Asiens selbst. Denn bei ihnen namischeren Tigerstaaten in Sçdostasien und ticken soziale Zeitbomben, sollte es fçr die des groûen Rivalen China. Doch unterdessen Menschenmassen nicht gençgend Arbeit und hat sich Indiens Wirtschaftswachstum, mit Nahrung geben. Wie auch immer: Die beiden der Binnennachfrage als Hauptantriebskraft, Mega-Gesellschaften Asiens werden in der mehr als verdoppelt. Es erreichte wåhrend der neuen globalen Ordnung nicht nur das Tempo vergangenen drei Jahre im Schnitt neun Pro- der Modernisierung vorgeben, sondern als zent und geht jetzt angesichts der schwåcheln- Zugpferde der Weltkonjunktur demnåchst den Weltkonjunktur leicht zurçck auf immer auch die Hålfte der verfçgbaren Energiequel- noch imposante 8,7 Prozent. Damit wurde len und Rohstoffe beanspruchen ± oder sie im Sçdkorea bereits çberholt und Rang drei in Kampf um die weltweite Vorherrschaft not- Asien besetzt. falls erstreiten mçssen. Richtig ist gewiss, dass die Wirtschaftsleis- Indiens Aufbruch muss verwundern, denn tung der Inder bisher im Weltmaûstab eini- noch vor kurzem galt es als Armenhaus der germaûen bescheiden war. Mit nahezu einem Welt mit der græûten Zahl von Analphabeten. Fçnftel der Menschheit brachten sie es gerade Die hat es nach wie vor. Gut ein Drittel der mal auf zwei Prozent des globalen Bruttoso- erwachsenen Bevælkerung und mehr als die zialprodukts, wåhrend die Europåer mit acht Hålfte der Frauen kænnen nicht lesen und Prozent der Weltbevælkerung 31 und die schreiben. Aber zugleich hat Indien auch das Amerikaner mit fçnf Prozent sogar 28 Pro- zweitgræûte Reservoir an Ingenieuren und zent des weltweiten Bruttosozialprodukts er- Wissenschaftlern, die meisten Computerspe- wirtschafteten. Doch die Gewichte verschie- zalisten nach den USA. Weltspitze sind die ben sich rasch. Nach der Prognose zahlrei- Inder in der Informationstechnologie, vor cher Úkonomen wird Indien in den allem mit den Labors in Bangalore, Asiens kommenden fçnfzehn Jahren an Japan wie Silicon Valley. 4 Nirgendwo, nicht einmal in Deutschland vorbeipreschen. Kalifornien, arbeiten mehr Informatiker und Ingenieure. Der Boom in der Informations- Eine weitere Entwicklung kommt hinzu: technologie ist indes schon lange nicht mehr Indien hat heute 1,12 Milliarden Einwohner. auf Bangalore oder andere urbane Zentren Die Hålfte davon ist nicht einmal 24 Jahre alt, wie Hyderabad, Neu Delhi und Mumbai be- eine Demografie des ¹Minimumª ist hier noch schrånkt. Er ist zum Schwungrad geworden lange nicht angesagt. Nur rund fçnf Prozent auch fçr andere Sektoren, greift wie ein der Bevælkerung liegen çber dem Pensionsal- Krake mit seinen Fangarmen weit ins Land. ter von 65 Jahren (in Deutschland: 19 Pro- Die Wachstumsquoten des IT-Sektors sind zent). Bis zur Jahrhundertmitte wird der Ele- phånomenal. ¹Die nåchsten zehn Jahre wer- fant den Drachen auch demografisch çber- den irre hierª, prophezeit Bill Gates und råumt ein, dass sein Unternehmen Microsoft inzwischen ¹abhångig ist von indischen Fach- 3 Vgl. fçr die Wirtschaftsdaten die Angaben des In- kråftenª. Gates investiert derzeit 1,7 Milliar- ternationalen Wåhrungsfonds vom Februar 2008, die den Dollar in Indien fçr den Aufbau von vier Prognosen des Economic Advisory Council der Bun- desregierung in Neu Delhi sowie die Wirtschaftstrends Entwicklungszentren, sein græûtes Labor au- Indien der Bundesagentur fçr Auûenwirtschaft (Stand: Dezember 2007). 4 Vgl. Olaf Ihlau, Weltmacht Indien, Mçnchen 2008. 4 APuZ 22/2008
ûerhalb der Vereinigten Staaten ist in Hydera- bern sie nicht herbei, und es werden allein bis bad. Zur indischen Realitåt gehært aus euro- 2010 çber 60 Millionen neue Jobs benætigt. Die påischer Sicht jedoch auch diese Erkenntnis: kann nur eine arbeitsintensive Exportindustrie Es wird mehr Leistung und Schnelligkeit er- mit den traditionellen Industriebereichen an- wartet. Indische IT-Dienstleister arbeiten im bieten. Auch hier sind die Inder nun in der Of- Schnitt 2300 Stunden im Jahr, die in Deutsch- fensive, errichten Industrieparks und Sonder- land gerade mal 1700 Stunden. wirtschaftszonen, greifen zudem mit Firmen- aufkåufen im Westen an. Noch vor ein paar Als nåchste Stufe der indischen Hightech- Jahren håtte wohl kaum jemand erwartet, dass Offensive fçr eine wissensgestçtzte Wirt- der græûte Stahlbaron der Welt ein Inder ist, schaft sollen neue Forschungsståtten in der nåmlich Lakshmi Mittal. Oder dass die Ex-Ko- Bio- und Gentechnologie entstehen. Ange- lonie Indien die automobilen Kronjuwelen des strebt wird der Status einer Supermacht des britischen Empires ergattert, die sich jetzt mit Wissens. Dabei will Indien bei der Globalisie- Jaguar und Rover der Mischkonzern von Ratan rung von Innovation und Kreativitåt dem Tata holte. Oder dass die græûte Erdælraffinerie Westen ebenfalls als ernsthafter Konkurrent der Welt heute im Nordwesten Indiens steht, entgegentreten. Noch ist das Land etwa im gebaut vom Konzern des Multimilliardårs Mu- Bereich wissenschaftlicher und technischer kesh Ambani. Erfindungen, gar bei der Zahl der jåhrlich an- gemeldeten Patente, weit entfernt vom hæchs- ten Niveau, auf dem noch immer Deutsch- Die Kehrseite des Booms land agiert. Noch gehen die meisten Nobel- preise an Forscher in den USA. Aber Indiens Die Luxushotels der indischen Metropolen 380 Universitåten und 1500 Forschungsinsti- sind ausgebucht, çberwiegend mit Gåsten aus tute bilden in jedem Jahr allein 500 000 Inge- dem Inland. Die Parvençs prassen bis zum Ex- nieure, Techniker und Informatiker aus, vier- zess, veranstalten Hochzeiten mit vulgårem mal mehr als die USA. Dies ist der græûte Ta- Geprånge. In der Bayview Bar von Mumbais lentpool der Welt, und das wird irgendwann Oberoi-Hotel gehen die Flaschen Dom Peri- auch innovative Frçchte tragen. So dçrfte In- gnon weg wie nichts. Eine davon entspricht dien schon bald auch in der Pharmazie vorne dem indischen Pro-Kopf-Einkommen fçr ein mitmischen, wo es bereits mit Firmen wie ganzes Jahr. Die urbanen Ballungszentren um Ranbaxy, Wockhardt oder Dr. Reddy's zum die 35 Millionenstådte schwelgen im Konsum- weltweit græûten Hersteller von Generika ge- rausch. Auf etwa 250 Millionen Menschen worden ist, darunter eines Medikaments wird diese schnell wachsende, kaufkråftige gegen Aids. Oder in der Medizin, wo Opera- Mittelschicht geschåtzt, wobei allerdings nach tionen am offenen Herzen und Implantatio- europåischen Maûståben der indische Mittel- nen kçnstlicher Hçftgelenke von hervorra- stand nur mit etwa 70 Millionen anzusetzen genden Chirurgen fçr ein Fçnftel der euro- ist. Die Kehrseite des Booms ist das Elend der påischen Kostensåtze vollzogen werden. Nachzçgler mit der Horrorspirale von Bevæl- Schlieûlich Rçstung und Weltraumforschung: kerungswachstum und Massenarmut. Nach Die Welt hat sich daran gewæhnt, dass die wie vor verdienen fast 70 Prozent aller Be- Atommacht Indien Raketen und Satelliten ins schåftigten, meist eingezwångt in ein rigides All befærdert. Demnåchst soll ein Roboter Kastensystem, ihren Lebensunterhalt in der auf dem Mond landen. Landwirtschaft, mit unzureichenden Bewås- serungssystemen und abhångig von den Lau- Noch bis vor kurzem sah es so aus, als wçrde nen des Monsunregens. Zwar haben sich seit Indien sich im globalen Aufholprozess mit der Reformpolitik einige soziale Indikatoren einer Arbeitsteilung abfinden. China stand fçr verbessert, aber nach offizieller Lesart leben die Hardware, fçr die Werkbank der Welt mit weiterhin 26 Prozent der Inder, çber 300 Mil- dem Export industrieller Massenproduktion. lionen Menschen, unterhalb der Armutsgren- Indien dagegen schien darauf erpicht zu sein, ze von weniger als einem Dollar pro Tag. Die zum Entwicklungslabor und zur Denkfabrik Pessimisten unter den ækonomischen Exper- der Welt zu avancieren, also die Software zu lie- ten vermuten allerdings, dass in Wahrheit drei fern. Indiens Erfolge bei den IT-Dienstleistern Viertel der Bevælkerung tåglich mit weniger sind zwar brillant, doch Beschåftigung fçr die als zwanzig Rupien, also einem halben Dollar, Massen der ungelernten Erwerbsfåhigen zau- auskommen mçssen, demnach auf einem ¹Le- APuZ 22/2008 5
bensstandard von unvorstellbaren Tiefenª ve- landsdegenª in Asien instrumentalisieren zu getieren, wie der erste Premier Jawaharlal lassen, bei aller Rivalitåt zu Peking und einem Nehru die Not in Indiens båuerlichem Herzen historisch begrçndeten Misstrauen. einmal umschrieb. 5 Ein Kontinent der Extreme ist Mata Bha- Die Gefahr von Rçckschlågen rat, die Mutter Indien. Die Multikulti-Formel von der ¹Einheit in Vielfaltª, die Nehru oft Noch gibt es Platz fçr zwei Giganten in Asien. gebrauchte, beschænigt bewusst das Irritati- Der erwachte Riese auf dem Subkontinent be- onselement des Trennenden, das ihr zugrunde nætigt vor allem Ruhe, keine Abenteuer und liegt. Sechs Religionen und zahllose Sekten åuûeren Konflikte. Dieses gewaltige Land gibt es in den 28 Bundesstaaten der såkularen braucht wenigstens zwei Dekaden andauernder Union, die dominierende Glaubensgemein- Dynamik und Fortschrittsbewusstseins mit schaft des Hinduismus kennt çber 3600 Kas- jåhrlichen Wachstumsraten von çber acht Pro- ten und Unterkasten. Knapp 13 Prozent der zent, um wirklich den Status einer Groûmacht Bevælkerung bekennen sich zur Lehre des zu erlangen, die dann als unentbehrliches Ele- Propheten. Damit hat Indien mehr Muslime ment des Kråftegleichgewichts in einer multi- als der islamische Nachbar Pakistan und nach polaren Welt gelten kann und sich in handels- Indonesien mit 160 Millionen die meisten der politischen Fragen zum Sprecher der Entwick- Welt. Die Verfassung nennt 18 Hauptspra- lungs- und Schwellenlånder aufschwingen chen, hinzu kommen 1600 Dialekte. Man fin- dçrfte. Natçrlich kann es Rçckschlåge geben ± det Inseln imponierender Effizienz und Re- durch die Rçckwirkungen einer Weltwirt- gionen von mittelalterlicher Rçckståndigkeit schaftskrise etwa, durch wachsende soziale auf diesem Kontinent. Spannungen im Innern, durch Katastrophen, eine Pandemie, durch neuerliche Pogrome in Politisch wird Indien heutzutage von aller der Dauerfehde zwischen Hindus und Musli- Welt hofiert. Da reiste Anfang Mårz 2006 der men. Oder durch einen Regierungswechsel, oberste Repråsentant des Welthegemons in obwohl die amtierende Linkskoalition der Neu Delhi an, um der zweitgræûten Nation Kongresspartei der bald stattfindenden Parla- auf diesem Globus seine Reverenz zu erwei- mentsneuwahl optimistisch entgegenblickt und sen. In einer erstaunlichen historischen Wei- zuletzt ein Budget voller Wahlgeschenke ver- chenstellung erhob der amerikanische Pråsi- abschiedete. 6 Darunter befindet sich ein Schul- dent George W. Bush Indien zur ¹Welt- denerlass fçr 40 Millionen Kleinbauern, denn machtª und verkçndete mit dem Blick auf allein im Jahr 2006 haben çber 17 000 Bauern das heraufziehende Zeitalter drohender Ener- wegen hoffnungsloser Ûberschuldung Selbst- giekonflikte die strategische Partnerschaft mord begangen. zwischen ¹der åltesten und der græûten De- mokratie der Erdeª. Der Preis fçr diese neue Verheerend wçrde sich auch ein Anschlag Allianz war ein Atomabkommen, das Neu von der Dimension des 11. September 2001 Delhi aus der nuklearen Quarantåne holte auswirken, mit dem islamistische Terroristen und als Sonderfall in den Kreis der offiziellen versuchen kænnten, die verfeindeten Brçder Atommåchte aufnimmt. Dieser Deal ist inter- Indien und Pakistan in einen Atomkrieg zu national noch nicht in trockenen Tçchern, treiben. Im Ansatz haben sie dies schon ein- und er kænnte die Linkskoalition des Pre- mal probiert, mit Anschlågen auf das Parla- miers Manmohan Singh kippen, sollten die ment in Neu Delhi und dem Bombenterror in Kommunisten ihr deswegen den Beistand Mumbai. Doch solche Einbrçche dçrften die entziehen. Doch der Prestigegewinn fçr Neu Entwicklung insgesamt nicht umkehren kæn- Delhi ist ohnehin besiegelt mit der De-facto- nen, die aus dem einstigen Armenhaus Indien Anerkennung als sechste Atommacht. Den eines der Kraftzentren in der Welt von mor- Amerikanern geht es, das liegt auf der Hand, gen machen wird. Es ist schwer, den Elefan- um ein Gegengewicht zu China. Das politi- ten aufzuhalten, hat der sich erst einmal in sche Establishment in Neu Delhi dçrfte indes Bewegung gesetzt. zu klug sein, um sich als Washingtons ¹Fest- 6 Vgl. Budget at a Glance, Ministry of Finance 2008± 2009, New Delhi, February 2008. 5 Vgl. Arvind Panagariya, India: The Emerging Giant, Oxford 2008. 6 APuZ 22/2008
Harald Mçller ´ Carsten Rauch Es muss also andere Grçnde dafçr geben, warum Indien, das vom Westen 50 Jahre lang Indiens Weg zur weitgehend ignoriert wurde, plætzlich als wichtiger Global Player angesehen wird. Der wichtigste Grund ist das seit Jahren anhalten- Wirtschaftsmacht de Wirtschaftswachstum, das seit 1995 durch- schnittliche Wachstumsraten von 6,4 Prozent erreicht (seit 2004 sogar 8,5 Prozent). Berech- net nach Kaufkraftparitåt stellt Indien damit heute bereits die viertgræûte Volkswirtschaft der Erde dar. 2 Wie hat Indien diese Stellung W enn seit einiger Zeit immer mehr west- liche Beobachter Indien als Groû- oder gar Weltmacht bezeichnen, so liegt die erreicht, wie robust ist der indische Aufstieg einzuschåtzen und was ist von der Zukunft zu erwarten? Erklårung scheinbar auf der Hand: Mit den Atomtests von 1998 habe Indien mit den USA, Russland, China, Groûbritannien und Von der Kolonialækonomie Frankreich ± den Ståndigen Mitgliedern des zur ¹Hinduwachstumsrateª UNO-Sicherheitsrats ± gleichgezogen und sei in die Reihe der Weltmåchte aufgestiegen. Fçr das britische Empire war Indien nicht Diese direkte Verbindung zwischen Kernwaf- nur wegen seiner geostrategischen Stellung fen und weltweiter das ¹Kronjuwelª. 3 Der gewaltige Subkonti- Harald Mçller, Anerkennung kann nent lieû sich auch trefflich als Rohstoffpro- Dr. phil., geb. 1949; Professor indes Indiens Aufstieg duzent und als Markt fçr die Waren des Mut- für Internationale Beziehungen nicht hinreichend er- terlands nutzen. Die indischen Produzenten an der Universität Frankfurt/M., klåren. Zum einen ist wurden mit administrativen Mitteln vom geschäftsführendes Vorstands- Indien de facto seit Markt gefegt, wo sie mit Unternehmern in mitglied der Hessischen Stif- 1974 Atommacht. Groûbritannien konkurrierten. So ruinierte tung Friedens- und Konfliktfor- Zwar wurde der da- die Kolonialverwaltung systematisch die auf- schung (HSFK), Leimenrode 29, malige Atomtest von strebende indische Textilindustrie, wåhrend 60322 Frankfurt am Main. Neu Delhi verschåmt die indische Produktion von Stoffen und Far- mueller@hsfk.de als ¹friedliche Kern- ben als Halbfertigprodukte fçr die britischen explosionª bezeich- Wettbewerber gefærdert wurde. Andererseits Carsten Rauch, net. Doch damit hatte duldete die imperiale Macht den indischen Dip. Pol., geb. 1976; sich das Tor zur In- Kleinhandel und auch indische Unternehmer, wissenschaftlicher Mitarbeiter dienststellung von die in den vom britischen Kapital nicht be- an der HSFK, (s. o.). Atomwaffen geæffnet. rauch@hsfk.de So sah es auch die in- 1 Aktuell gibt es allerdings Planungen von Wa- ternationale Gemein- shington und Neu Delhi, Indien wieder in den welt- schaft, die den indi- weiten Nuklearmarkt zu integrieren. Siehe dazu: Ha- rald Mçller/Carsten Rauch, Der Atomdeal ± Die schen Schritt nicht mit einem Prestigegewinn indisch-amerikanische Nuklearkooperation und ihre belohnte, sondern mit scharfen Sanktionen Auswirkung auf das globale Nichtverbreitungsregime, reagierte, die Indien bis heute vom globalen HSFK-Report 6/2007, Frankfurt/M. zivilen Nuklearhandel fernhalten. 1 Von einer 2 Hinter den USA, Japan und China. Dieses Bild re- Weltmacht Indien sprach damals niemand. lativiert sich etwas, wenn auf die Kaufkraftbereinigung Auch ein Blick auf andere Atommåchte au- verzichtet wird. Dann steht Indien auf Rang 10. Be- trachtet man das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, fållt ûerhalb des Atomwaffensperrvertrags zeigt, Indien sogar auf Rang 118. Aber auch hier ist eine dass die Aneignung solcher Waffen keines- Entwicklung unverkennbar: ¹If India's economy were wegs die quasi-automatische Zuschreibung still growing at the pre-1980 level, then its per capita des Status einer Groû- oder Weltmacht zur income would reach present U.S. levels only by 2250; Folge hat. Weder Israel noch Nordkorea wer- but if it continues to grow at the post-1980 average, it den mit einem solchen Status in Verbindung will reach that level by 2066 ± a gain of 184 years.ª Gurcharan Das, The India Model, in: Foreign Affairs, gebracht. Auch Indiens Nachbar und Dauer- 85 (2006) 4, S. 2±16, S. 6. rivale wurde trotz seiner Atomtests von 1998 3 Zum Folgenden vgl. Dietmar Rothermund, Ge- nie als ¹Weltmacht Pakistanª ins Gespråch schichte Indiens. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, gebracht. Mçnchen 2002. APuZ 22/2008 7
setzten Nischen tåtig waren; die Briten griffe der Bçrokratie, vor allem die Subven- schåtzten sie als Steuerzahler, deren Aufkom- tions- und Preiskontrollpraxis zu wachsen- men das koloniale Abenteuer finanzierte. Als den Funktionsstærungen. Die ¹Herrschaft Folge entwickelte sich eine aufs Mutterland der Genehmigungsverfahrenª wurde zum bezogene periphere Úkonomie, die aber Albtraum des Unternehmertums in Indien: gleichwohl in den Unternehmerdynastien Ohne Genehmigungen war keine wirtschaft- (wie den Tatas) einen Ausgangspunkt fçr die liche Tåtigkeit mæglich. So blieb die indische spåtere, eigenståndige Entwicklung besaû. Wachstumsrate in einem fçr Entwicklungs- lånder niedrigen Korridor von um die drei Bis heute wirkt das Desinteresse der Kolo- Prozent (von Kritikern zynisch ¹Hindu- nialherren an der Entwicklung der Landwirt- wachstumsrateª getauft). Wåhrenddessen schaft nach, die noch immer die meisten Ar- trieben Lånder mit åhnlichem Ausgangsni- beitskråfte bindet. Die Krone interessierte veau, denen sich Indien historisch und kultu- sich nur fçr die Steuern, welche die Land- rell çberlegen fçhlte, mit weitaus hæheren wirtschaft aufbrachte. Die Steuer- und Pacht- Raten ihre wirtschaftliche Entwicklung voran gesetzgebung verschårfte im Verlauf von zwei (zunåchst Sçdkorea und Taiwan, spåter Sin- Jahrhunderten Kolonialherrschaft den ohne- gapur, Malaysia, Thailand und zu allem Ûber- dies erheblichen Klassenunterschied zwi- fluss auch der unmittelbare Machtkonkurrent schen Groûgrundbesitzern, landlosen Arbei- China). tern und Kleinbauern, unter dem Indiens låndlicher Sektor immer noch leidet. Der erste indische Premierminister Jawaharlal Liberalisierungsschritte ± ¹Growth, more Nehru fçhrte eine (halbherzige) Landreform durch, in deren Verlauf die traditionellen growth and still more growthª Groûgrundbesitzer gegen Entschådigung Der mangelnde Erfolg dieser so genannten einen Teil ihrer landwirtschaftlichen Nutzflå- mixed economy veranlasste Premierminister chen an årmere Bauern abtreten mussten. Die Rajiv Gandhi Mitte der 1980er Jahre erstmals Reform befreite die Bauernschaft vielerorts zur zaghaften Abkehr vom quasi-sozialisti- von einer geradezu feudalen Abhångigkeit schen Wirtschaftssystem. 4 Die Grçnde dafçr vom Landadel und verdankte sich nicht zu- liegen zum einen in dem Eindruck, den die letzt der Tatsache, dass die låndliche Ober- erfolgreichen Wirtschaftsreformen anderer schicht zu den eifrigsten Kollaborateuren mit asiatischer Staaten hinterlieûen, zum anderen der Kolonialmacht gezåhlt hatte. Gestårkt aber auch im Entstehen einer Mittelschicht, wurden aber nicht die Landlosen und die deren Konsumfreude durch heimische Pro- armen Bauern, sondern der båuerliche Mittel- dukte nicht befriedigt werden konnte. 5 Zwar stand, der traditionell eine starke Klientel der war diesen Reformen ein gewisser Erfolg be- Kongresspartei darstellte. Anders als Mahat- schieden, was sich in steigenden Wachstums- ma Gandhi hatte die Kongressfçhrung jedoch raten und Exporterlæsen widerspiegelte. an der Landwirtschaft nur geringes Interesse. Gleichzeitig jedoch bewirkten sie (durch die Fçr ein modernes, starkes Indien zåhlte nur ebenfalls anwachsenden Importe) eine drasti- die industrielle Entwicklung. sche Verschuldung. Diese Krise wurde ver- stårkt durch die hohen Úlpreise in Folge des Wie in vielen anderen Låndern wurde die zweiten Golfkrieges (1990/91) und durch die indische Volkswirtschaft wåhrend des Zwei- Auflæsung der Sowjetunion und des Rates fçr ten Weltkriegs zentralisiert und auf die Pro- Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) ± zuvor duktion kriegswichtiger Gçter ausgerichtet. Indiens wichtigste Handelspartner. Infolge Diese Struktur kam der sozialistisch-inter- ventionistischen Ideologie der Kongresspartei 4 Vgl. G. Das (Anm. 2), S. 4 ±5; Dennis Kux, India and entgegen, die auf Importsubstitution, groûe the United States: Estranged Democracies, Wa- Staatskonglomerate und staatliche Eingriffe shington, DC 1993, S. 400 f. Das Zitat in der Ûber- ins Wirtschaftsgefçge setzte. Zunåchst er- schrift stammt vom ehemaligen indischen Premiermi- zielte die indische Regierung mit dieser Art nister Atal Bihari Vajpayee, zit. nach Christian Wagner, Die ¹verhinderteª Groûmacht?, Baden-Baden 2005, des Wirtschaftens durchaus Erfolge ± sie ent- S. 253. wickelte die von den Briten hinterlassene In- 5 Vgl. Bundeszentrale fçr politische Bildung, Indien ± frastruktur. Freilich fçhrten die Aussperrung Informationen zur politischen Bildung Nr. 296, Bonn der Weltmarktkonkurrenz, die ståndigen Ein- 2007, S. 48. 8 APuZ 22/2008
dessen schmolzen die indischen Devisenreser- nister Manmohan Singh die BJP-Politik fort ven zusammen, Neu Delhi stand im Juni und ergånzte sie nur punktuell durch soziale 1991 kurz vor der Zahlungsunfåhigkeit. Die Verbesserungen. Seit 1991 hat in der Wirt- Regierung war gezwungen, um Kredite beim schaftspolitik tatsåchlich ein Paradigmen- Internationalen Wåhrungsfonds nachzusu- wechsel stattgefunden: So wie in den ersten chen. Tatsåchlich musste Neu Delhi sogar 40 Jahren der Unabhångigkeit die mixed eco- einen Teil seiner Goldreserven als Garantie nomy nahezu alternativlos von den maûgebli- fçr diese Kredite in der Schweiz in den Treso- chen politischen Kråften getragen wurde, so ren der Basler Bank fçr Internationalen Zah- haben sich heute von der BJP bis zu den lungsausgleich hinterlegen: eine unerhærte Kommunisten alle Parteien mit der Liberali- Demçtigung! Doch die 1991 ins Amt ge- sierung der indischen Wirtschaft abgefunden wåhlte Kongressregierung (mit dem heutigen oder gar angefreundet. 9 Regierungschef Manmohan Singh als Finanz- minister) entschied, die Krise als Chance zu Was aber beinhalteten die Reformen seit begreifen, mit den Traditionen der eigenen 1991? Die çberbewertete Rupie wurde abge- Partei zu brechen und das Ruder in der Wirt- wertet und schrittweise konvertierbar ge- schaftspolitik herumzureiûen. 6 macht. Das einst unangefochtene Genehmi- gungssystem wurde fçr Importe abgeschafft, Diese Weichenstellung çberlebte auch die die Zælle wurden drastisch gesenkt. Auch fçr folgenden Regierungswechsel. 1998 war die die Industrie wurden das Lizenzsystem ent- Bharatiya Janata Party (BJP) noch mit dem schlackt und Beschrånkungen græûtenteils Slogan ¹swadeshiª (Autarkie) angetreten und aufgeweicht. Viele Wirtschaftszweige, die wilderte damit ohne Scham in den Traditio- vormals Monopol des æffentlichen Sektors nen der Kongresspartei. 7 Doch nach der waren, wurden fçr private Unternehmer ge- Wahl entschied sich die Regierung Vajpayee æffnet. Auûerdem wurden nach chinesischem fçr einen Kurs der Kontinuitåt. Die Wirt- Vorbild ¹Sonderwirtschaftszonenª mit gçns- schaftsreformen wurden sogar vorangetrie- tigen Investitionsbedingungen fçr Unterneh- ben. Ein zweites Mal musste man 2004 um men geschaffen. 10 Um die Zersplitterung des den Bestand der Reformen bangen. Diesmal komplexen, intransparenten und çberbçro- war es die BJP, die, sich in famosen Wachs- kratisierten Steuersystems zu beseitigen, wel- tumsraten sonnend, mit dem Slogan ¹India che die regionalen wirtschaftlichen Disparitå- shiningª in den Wahlkampf zog, wåhrend die ten noch verstårkt und durch mangelnde Effi- Opposition soziale Korrekturen anmahnte. zienz den Fiskus benachteiligt und so zum Entgegen den meisten Voraussagen konnte Haushaltsdefizit beitrågt, hat die Mehrheit die United Progressive Alliance (Kongress- der indischen Bundesstaaten 2005 die Mehr- partei und ihre Verbçndeten) die New Demo- wertsteuer eingefçhrt, damit das çberkom- cratic Alliance (BJP und ihre Verbçndeten) mene System revolutioniert und die frçheren auf den zweiten Platz verweisen. 8 Doch ob- Schritte zur Steuerreform vorerst abgeschlos- wohl die UPA in ihrem Wahlkampf die har- sen. 11 ten Folgen der Wirtschaftsreformen betont hatte und fçr eine Regierungsmehrheit auf Der Erfolg dieser Politik låsst sich an die Stimmen der kommunistischen Parteien volkswirtschaftlichen Indikatoren ablesen angewiesen war, fçhrte sie unter Premiermi- (Tabelle 1): Die gesamten Exporte Indiens lagen 1986 noch bei etwa 10,4 Milliarden US- Dollar. Im Jahr 2006 dagegen erreichten sie 6 Nayar und Paul nennen als weiteren Grund die einen Gesamtwert von etwa 127 Milliarden strategische Befçrchtung noch weiter hinter China zu- US-Dollar. Das Bruttoinlandsprodukt ver- rçckzufallen. Vgl. Baldev Raj Nayar/T. V. Paul, India In The World Order ± Searching For Major-Power Status, Cambridge 2003, S. 16. 9 Vgl. Ramesh Thakur, Der Elefant ist aufgewacht, in: 7 Vgl. Harald Mçller, Weltmacht Indien ± Wie uns der Internationale Politik (IP), 61 (2006) 10, S. 6±13. rasante Aufstieg herausfordert, Frankfurt/M. 2006, 10 Vgl. B. R. Nayar/T. V. Paul (Anm. 6), S. 207; H. S. 66. Mçller (Anm. 7), S. 66 f.; Alan L. Winters/Yusuf Sha- 8 Vgl. Christian Wagner, Die 14. Wahlen zum indi- hid (eds.), Dancing With Giants ± China, India, And schen Unterhaus, in: SWP-Aktuell, (2004) 25, in: The Global Economy, Washington, DC 2007, S. 226. www.swp-berlin.org/common/get_document.php?id= 11 Vgl. Shankar Acharya, Thirty Years of Tax Reform 889&PHPSESSID=97587f6cde5459d7196048d12a8a1b96 in India, in: Economic and Political Weekly vom 14. 5. (5. 4. 2008). 2005, S. 2061±2069. APuZ 22/2008 9
Tabelle 1: Scheinendes Indien . . . Zugpferd der indischen Entwicklung ist 1960 ± 1970± 1980 ± 1990 ± 2000± vielmehr ein Sektor der Hochtechnologie, der 1969 1979 1989 1999 2005 çberwiegend der Dienstleistungsbranche zu- BIP (in Mil- 47,86 97,53 231,05 343,90 591,60 zurechnen ist. Es handelt sich um die Soft- liarden US$) BIP (in Mil- keine 318,97 709,18 1631,54 2980,00 wareproduktion und -anwendung, in der In- liarden US$, Daten dien heute als die fçhrende Weltnation be- kaufkraftbe- zeichnet werden kann. 1990 wurde ein reinigt) ¹Software Technology Parkª bei Bangalore BIP Wachs- 3,99 % 2,93 % 5,89 % 5,70 % 6,49 % tumsraten als Freihandelszone etabliert. Danach konnte BIP pro Kopf keine 494,86 923,56 1749,90 2812,83 sich die Softwareindustrie in den 1990er Jah- (in US$, kauf- Daten ren mit Raten von 50 Prozent pro Jahr aus- kraftberei- nigt) dehnen. Ihre Wertschæpfung wird bald mehr Lebenserwar- 45,94 50,83 55,85 60,73 63,27 als 100 Milliarden US-Dollar im Jahr betra- tung Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre gen, wobei mehr als die Hålfte davon im Ex- portgeschåft erzielt wird. Tabelle 2: . . . oder weinendes Indien? Das indische Wirtschaftswachstum hat in- 1987 1993 2004 dessen långst andere fortgeschrittene Sekto- Anteil der Bevælkerung mit 46 % 42 % 34 % ren erfasst. In der Biotechnologie stæût In- weniger als 1 US$ pro Tag dien zur Weltspitze vor, nachdem auch dieser Anteil der Bevælkerung mit 87 % 85 % 80 % weniger als 2 US$ pro Tag Sektor liberalisiert und auslåndische Anteile in Hæhe von 74 Prozent genehmigungsfrei Quelle: World Development Indicators 2007. zugelassen wurden. Genehmigungsvorbehalte gibt es noch bei der Herstellung und dem Vertrieb von Labor-erzeugten DNA-Produk- ten; ferner existieren Preiskontrollen bei eini- dreifachte sich zwischen 1986 und 2006. Und gen Medikamenten wie Insulin. Die indische im Mårz 2008 erregte die Meldung Aufsehen, Raumfahrt ist ebenfalls erfolgreich, ihr Fort- dass Inder unter den zehn reichsten Men- schritt erfolgt nach Plan. Am Horizont zeich- schen der Welt die græûte nationale Gruppe net sich bereits ab, dass in der kommenden darstellen. 12 Aus dem belåchelten indischen industriell-technischen Revolution, die durch Elefanten ist eine bedeutende Wirtschafts- den Einsatz der Nanotechnologie ausgelæst macht geworden. wird, die Inder gleichfalls mit an der Spitze marschieren werden. Auch ihre fçhrende Stellung auf dem Wachstumsmarkt der Out- Das untypische Entwicklungsmodell: sourcing-Dienstleistungen ist bemerkens- wert. In indischen Outsourcing-Unterneh- High Tech first! men werden Schriftsåtze fçr renommierte amerikanische Anwaltskanzleien, ja sogar Den Lehrbçchern entsprechend entwickeln Reden fçr US-Senatoren verfasst. sich periphere Volkswirtschaften durch die Kapitalisierung der Landwirtschaft çber die Im Kielwasser dieser ¹Flaggschiffeª der Massenproduktion von Konsumgçtern, deren indischen Wirtschaft zeigen sich mittlerweile Produktion gering qualifizierte Arbeitskraft auch Erfolge in der Massenproduktion von benætigt, zu einer soliden Industriewirtschaft, Konsum- und Investitionsgçtern. Automo- bevor der Dienstleistungssektor die Fçhrung bile, Elektroartikel und mittlerweile in ganz des wirtschaftlichen Wachstums çbernimmt. Asien beliebte ¹Bollywoodª-Produkte der Diese Lehre hat Indien auf den Kopf ge- indischen Filmindustrie sind Exportschlager. stellt. 13 Die indische Stahlindustrie ist weltweit wettbewerbsfåhig und greift mit ihren Inves- 12 Vgl. Spiegel Online, Die meisten Super-Milliardåre titionen auch die europåischen Mårkte an, kommen aus Indien, in: www.spiegel.de/wirtschaft/ etwa der Konzern Mittal. Der Trend zeigt, 0,1518, 539784,00. html (6. 4. 2008) 13 Zum Folgenden vgl. Tim Dyson/Robert Cassen/ dass der moderne Sektor der indischen Leela Visaria, Twenty-First Century India: Population, Volkswirtschaft auch in der Breite gut aufge- Economy, Human Development, and the Environ- stellt ist. ment, New York 2004. 10 APuZ 22/2008
Schwåchen und Risiken gen in China oder den USA. 14 Dies alles kann jedoch nicht darçber hinwegtåuschen, Dennoch gibt es auch Schwåchen. Das Aus- dass Indien immer noch ein bitterarmes Land bildungsgefålle zwischen den Grundschulen ist. Je nach Zåhlweise leben noch immer bis einerseits und den Hochschulen, Ingenieurs- zu 80 Prozent der Bevælkerung in Armut schulen und Universitåten andererseits bleibt (Tabelle 2). Ein Viertel der indischen Bevæl- krass, was ein spåtes Erbe der Kolonialzeit kerung gehært den (besonders auf dem Land) ist, in der es den Briten auf gutes Verwal- immer noch benachteiligten niederen Kasten tungs- und technisches Personal, aber keines- oder aber Stammesbevælkerungen an. 15 wegs auf breite Volksbildung ankam. Es gibt demzufolge einen Mangel an Facharbeitern, Insbesondere zwei Entwicklungen werfen der ein noch breiteres Wachstum der indi- einen dunklen Schatten auf die indische Er- schen Industrie hemmt. folgsgeschichte. Zum einen gibt es dramati- sche regionale Unterschiede, zum anderen ist Auslåndische Investoren beklagen die die Landwirtschaft ¹die Achillesferse nicht Schwåchen der Infrastruktur, namentlich im nur der Volkswirtschaft, sondern auch der Verkehrssystem und in der Energieversor- sozialen und politischen Stabilitåtª. 16 Re- gung. Hier ist die Bçrokratie trotz zahlrei- gional gesehen låsst sich feststellen, dass ei- cher Liberalisierungsschritte immer noch nige Bundesstaaten (meist angetrieben çberdurchschnittlich stark beteiligt, das In- durch den Erfolg einiger weniger Standorte vestitionstempo langsam, die Trågheit groû. wie Bangalore, Mumbai oder Madras) von Eisenbahnen, Straûen, Flughåfen und Håfen Anfang an am Wirtschaftswachstum partizi- sind chronisch çberlastet und ineffizient. Die pierten und andere auf den fahrenden Zug Stromproduktion bleibt hinter dem Wachs- aufsprangen, wåhrend wieder andere den tum zurçck, Stromausfålle sind an der Tages- Anschluss verpasst haben. So konzentriert ordnung. Die groûspurigen Plåne der Atom- sich die Hålfte der indischen Armen auf nur energiekommission sind weit von der Wirk- fçnf (von insgesamt 28) Bundesstaaten. Die lichkeit entfernt. Die Regierung Singh macht fçnf reichsten Bundesstaaten dagegen erwirt- energische Versuche, diese Schwåchen zu be- schaften 40 Prozent des Bruttosozialpro- heben, unter anderem durch die Einbezie- dukts. 17 hung auslåndischer Unternehmen ins Mana- gement der Flughåfen, aber es ist ein Wettlauf Besonders bedenklich ist der Rçckstand zwischen Innovation und steigendem Bedarf. der landwirtschaftlichen Entwicklung in den bevælkerungsreichsten Staaten von Mittelin- Eine mit anderen Entwicklungslåndern ge- dien. Anders als im indischen Westen, etwa in teilte Schwåche ist die untergeordnete Stel- Pandjab, wo sich wåhrend der ¹grçnen Revo- lung der Frau. Hier liegt (ganz abgesehen von lutionª der 1960er Jahre eine hoch produktive den menschenrechtlichen Defiziten) eine im- mittelståndische Landwirtschaft entfaltet hat, mense Produktivkraft aufgrund patriarchali- herrscht im rçckståndigen ¹Hindugçrtelª scher Gewohnheiten brach. Die wachsende noch das Pachtsystem vor, in dem aristokrati- Alphabetisierungsrate auch im weiblichen sche Grundbesitzer ± die meisten der Bra- Teil der Bevælkerung und der steigende An- teil der Frauen an den Hochschulabsolventen 14 Vgl. G. Das (Anm. 2), S. 2 f.; Krishnamurthy Ra- weckt Hoffnungen, dass auch hier Fort- masubbu, India scores better in inequality reduction schritte gemacht werden. than America, China, in: The Indian Express vom 9. 8. 2007. Jha und Negre machen allerdings darauf Doch das græûte Risiko fçr die weitere aufmerksam, dass die Ungleichheit absolut gesehen in Indien spçrbar zugenommen habe. Vgl. Praveen Jha/ Entwicklung liegt in den Folgen der sozialen Mario Negre, Der Preis des Wunders ± Indien zwi- Fragmentierung, die mehr als je zuvor zwi- schen wirtschaftlichem Aufstieg und sozialem Abstieg, schen Gewinnern und Verlierern trennt. in: Blåtter fçr deutsche und internationale Politik, Zwar hat sich die Græûe der Mittelschicht in- (2007) 10, S. 1245±1256. 15 Vgl. Samir Amin, Weltmacht Indien? Der Sub- nerhalb der vergangenen beiden Dekaden ver- vierfacht. Zwar haben in diesem Zeitraum kontinent zwischen kolonialem Erbe und globalem Aufstieg, in: Blåtter fçr deutsche und internationale jåhrlich ein Prozent der Armen die Armuts- Politik, (2007) 6, S. 705±716. grenze hinter sich gelassen. Zwar liegt die 16 H. Mçller (Anm. 7), S. 81. Ungleichheit in Indien deutlich unter derjeni- 17 Vgl. ebd., S. 84. APuZ 22/2008 11
mahnenkaste angehærig ± im Zusammenspiel mistª im Mårz 2008 fest: ¹The government's mit den lokalen Behærden die kleinen Påchter subsidies fail to reach the poor, its schools fail und die landlosen Landarbeiter kujonieren. to teach them and its rural clinics fail to treat Hier ist das archaische Kastensystem, das in them.ª 22 Die Reformen seit 1991 sind jedoch den Stådten allmåhlich erodiert, noch weitge- nicht ursåchlich fçr das anhaltende Leid vie- hend intakt. Die Versuche der Benachteilig- ler Inder. 23 Denn die Armut und gesellschaft- ten, mit legalen Mitteln ihre verfassungsmåûi- lichen Friktionen waren in der mixed econo- gen Rechte wahrzunehmen, scheitern an der my keineswegs geringer ausgeprågt. Freilich Koalition zwischen Staatsmacht und Groû- genieûen bis heute zu wenige Inder die grundbesitz. Folgerichtig sind die Bauern de- Frçchte des rasanten Wirtschaftsauf- motiviert und unproduktiv, die Staatshaus- schwungs. Hier gilt es umzusteuern, ohne die halte defizitåre Subventionsbetriebe. Substanz der Reformen zu gefåhrden. Daran wird sich entscheiden, ob sich Indiens Auf- Aber auch zwischen urbanen und låndli- stieg als nachhaltig erweisen oder internen chen Gebieten sind die Gegensåtze stark aus- Auseinandersetzungen bis hin zu einer Ar- geprågt. 18 Erklåren låsst sich dies unter ande- mutsrevolte zum Opfer fallen wird. rem dadurch, dass die IT-Branche und ver- wandte Zweige keine neuen Arbeitsplåtze und Arbeitsbedingungen in der Landwirt- Prognose: Standortvorteil Demokratie schaft schaffen, wo immer noch etwa 60 Pro- zent der Inder beschåftigt sind. 19 Darçber Wenn am Schluss dieser Analyse unsere Pro- hinaus steckt die Landwirtschaft selbst in gnose gemåûigt optimistisch ausfållt, so ist einer Krise, die durch eine Stagnation des dies vor allem durch den Blick auf die Anpas- Pro-Kopf-Realeinkommens, sinkende Pro- sungsfåhigkeit des demokratischen Systems duktionsraten und eine steigende Landlosig- in Indien gerechtfertigt; gerade dieser Tage, in keit gekennzeichnet ist. 20 denen die chinesischen Sicherheitskråfte in Tibet und den angrenzenden Provinzen Ge- Diese schlimme Lage in den årmeren lånd- walt anwenden, rçckt dieser Unterschied lichen Gebieten findet ihren Ausdruck in der zum zweiten ¹asiatischen Riesenª wieder exorbitanten Verschuldungsrate vieler båuer- stårker ins Bewusstsein. licher Haushalte, in der hohen Selbstmordra- te unter Bauern (etwa 100 000 Opfer zwi- Demokratie ist die Voraussetzung fçr schen 1993 und 2003) und im Wachstum der Rechtsstaatlichkeit, indem sie die Unabhån- Naxaliten, einer sozialrevolutionåren Terror- gigkeit der Justiz gewåhrleistet. Fçr eine auf und Guerillaorganisation nach maoistischem Privateigentum beruhende Volkswirtschaft ist Vorbild, die in etwa 15 Prozent des indischen die Rechtssicherheit, die dieses System aus- Staatsterritoriums aktiv ist. 21 Die Regierung strahlt, von entscheidender Bedeutung. In In- ist zwar bemçht, Abhilfe zu schaffen, aber an dien kænnen auswårtige Investoren gegen das der Umsetzung hapert es oft. Fast schon resi- Raubkopieunwesen ihr Recht einklagen. In gnierend stellt ein Leitartikel des ¹Econo- China ist das ein reines Lotteriespiel. Die græûere Zurçckhaltung der Behærden, das Kreditwesen zugunsten der eigenen Klientel 18 Vgl. P. Jha/M. Negre (Anm. 14), S. 1246 ff. Nach oder maroder Unternehmen zu manipulieren Berechnungen der ¹National Commission for Enter- prises in the Unorganised Sectorª gehen die Wachs- und eine insgesamt funktionierende Banken- tumsgewinne der indischen Volkswirtschaft an 77 % aufsicht hålt den Anteil zweifelhafter Kredite der Bevælkerung spurlos vorbei. Vgl. High growth rate in Grenzen; damit ist der Finanzsektor ge- of 9 % has bypassed 77 % of population, in: The Times sçnder als der chinesische. of India vom 1. 2. 2008. 19 Dabei hat sich der Anteil der Landwirtschaft am BIP zwischen 1986 und 2006 auf 17,5 % nahezu hal- 22 ¹Die Gelder der Regierung erreichen die Armen biert. Vgl. P. Jha/M. Negre (Anm. 14), S. 1248 und G. nicht. Weder gelingt es den staatlichen Schulen, sie zu Das (Anm. 2), S. 7. bilden, noch den låndlichen Kliniken, sie medizinisch 20 Vgl. P. Jha/M. Negre (Anm. 14), S. 1252. zu versorgen.ª What's holding India back? in: The 21 Vgl. Pankaj Mishra, The Myth of the New India, in: Economist vom 8. 3. 2008. The New York Times vom 6. 7. 2006 und Palagummi 23 Die gegenteilige Ansicht vertreten P. Jha/M. Negre Sainath, Bæse Saat in Andra Pradesh, in: Le Monde di- (Anm. 14), S. Amin (Anm. 15) und P. Sainath plomatique ± Deutsche Ausgabe vom 11. 1. 2008. (Anm. 21). 12 APuZ 22/2008
Die indische Demokratie hat sich bei der Bernard Imhasly Befriedung græûerer Konflikte als anpas- sungsfåhig erwiesen. 24 Diese Flexibilitåt spie- gelt sich wider in der Grçndung und Koopta- tion neuer Parteien, die vor allem von den un- Ein reiches Land teren Kasten und zugunsten regionaler Belange ins Leben gerufen wurden. Die hohe mit armen Menschen Zahl der Fraktionen (gegenwårtig um die 40) in der Lok Sabha (Unterhaus des indischen Parlaments), die hierzulande als Zeichen haar- stråubender Instabilitåt empfunden wçrde, gestattet die Repråsentation der Vielfalt der indischen Gesellschaft im politischen Ent- scheidungssystem. Da die groûen Parteien Koalitionspartner brauchen, haben diese Par- V or langen Jahren, so Indiens designierter Premierminister Jawaharlal Nehru am Vorabend des Unabhångigkeitstags vom 15. teien beste Chancen, etwas fçr ihre Klientel August 1947, ¹hat Indien der Vorsehung ein zu tun und damit deren Disruptionspotential Versprechenª gemacht. Nun sei endlich der ruhig zu stellen. Einen weiteren Vorteil bildet Augenblick gekommen, es einzulæsen. Die der Fæderalismus: Wo ethnisch-religiæse Abmachung bestand darin, das Land ¹von Fragmentierung die Stabilitåt in einem Bun- Armut, Krankheit und Notdurft (. . .) zu be- desstaat beeintråchtigt, bietet die Grçndung freien, nicht vollstån- eines neuen oder die Einrichtung autonomer dig, aber doch in gro- Bernard Imhasly Provinzen oder Regierungsbezirke die Mæg- ûem Maûª. Geb. 1946; von 1989 bis Ende lichkeit der Befriedigung der Autonomiebe- 2007 Korrespondent der strebungen von Minoritåten. 25 Hat Indien sein Ver- ¹Neuen Zürcher Zeitungª und sprechen eingehalten? der ¹tazª in Neu Delhi. So låsst sich mit einer gewissen Zuversicht Sechzig Jahre oder drei b.imhasly@bluewin.ch prognostizieren, dass im ¹Hindugçrtelª dra- Generationen spåter matische Reformen bevorstehen, die vermut- sind ein guter Zeit- lich von neuen Unterkasten-Parteien im Ver- punkt, die Frage zu stellen. Die Antworten ein mit der Bundesregierung vorangetrieben fallen unterschiedlich aus, je nach dem Maû- werden. Ein Teil der Naxaliten wird sich als stab, den der Beobachter ansetzt. Aus einer neue kommunistische Partei in das System wirtschaftsgeschichtlichen Perspektive mit einbinden lassen und in die Verwaltung und einer Referenzperiode von hundert Jahren Regierung betroffener Bundesstaaten einzie- sind die Fortschritte beachtlich. Das durch- hen. Der militante Rest wird durch Refor- schnittliche Jahreswachstum, das in der ersten merfolge schrittweise marginalisiert. Diese Hålfte des 20. Jahrhunderts, der letzten Phase Prognose ist ± wie alle sozialwissenschaftli- der Kolonialherrschaft, 0,79 % betragen chen Voraussagen ± mit erheblichen Unge- hatte, beschleunigte sich in der zweiten wissheiten belastet, entspricht jedoch den bis- Hålfte um das Fçnffache. Und trotz der Zu- herigen Erfahrungen mit der indischen De- nahme der Bevælkerung um das Dreieinhalb- mokratie. fache ist das Volksvermægen in realen Zahlen um das Zehnfache gewachsen. Gleichzeitig ist dieses riesige und heterogene Land jenes mit der denkbar græûten politischen Stabilitåt unter allen Entwicklungslåndern geblieben. Und dies nicht unter der Fuchtel eines auto- 24 Fçr einen kritischen Ûberblick vgl. Christian Wag- kratischen Regimes, sondern dank des freien ner, Das politische System Indiens. Eine Einfçhrung, demokratischen Entscheids seiner Bçrger. In- Wiesbaden 2006. dien war Wegbereiter der Entkolonisierung 25 Vgl. Emma Mawdsley, Redrawing the Body Politic: und wurde Mitbegrçnder und Zugpferd der Federalism, Regionalism and the Creation of New Blockfreien, der ersten politischen Bewegung States in India, in: Andrew Wyatt/John Zavos (eds.), der ¹Dritten Weltª, die sich zumindest an- Decentring the Indian Nation, London ± Portland satzweise dem westlichen wirtschaftsideolo- 2003, S. 34±54. gischen Diskurs entzog, sei es in dessen marktwirtschaftlicher, sei es in kommunisti- APuZ 22/2008 13
scher Ausprågung. Diesen internationalen Schneiderª und auf dem besten Weg zu einem Fçhrungsstatus hat es auf halbem Weg einge- Wohlfahrtsstaat westlichen Musters ist, wenn bçût, und erst heute ist es dabei, ihn ± kraft nicht gar zu einer wirtschaftlichen und politi- seiner ækonomischen Macht ± wieder einzu- schen Groûmacht? Wer in diesen Tagen die fordern, allerdings auf Kosten des Anspruchs Medienberichterstattung verfolgt, kænnte den auf einen ¹Dritten Wegª. Eindruck gewinnen, dass dies nur ein Frage der Zeit ist, und dass diese Zeit nåher ist, als Die Entwicklungsdynamik hat sich nach wir gemeinhin annehmen. 1990 nochmals bedeutend beschleunigt. Und aufgrund der ersten Welle wirtschaftlicher Man muss das enorme Wachstum nur in Reformen hat es im vergangenen halben Jahr- die Zukunft projizieren, und schon ist man zehnt noch einmal einen Wachstumssprung bei den Prognosen der amerikanischen Citi- vollzogen. Zahlreiche Beobachter behaupten, bank, die vor drei Jahren fçr die vier BRIC- dass sich Indien in den vergangenen fçnf Jah- Staaten ± Brasilien, Russland, Indien, China ± ren stårker veråndert hat als in den fçnfzig folgendes Szenario aufgestellt hat: In fçnfzig Jahren zuvor. Das Pro-Kopf-Einkommen hat Jahren wird Indien hinter China und den sich nahezu verdoppelt ± die erste Verdoppe- USA an dritter Stelle der weltweit græûten lung hatte 19 Jahre gebraucht. Spar- und In- Volkswirtschaften stehen. Jene Studie war vestitionsvolumina sind von 27 auf 34 % ge- von einem Jahreswachstum von 6 % ausge- stiegen, die Armutsquote ist, auch wenn die gangen. Seitdem ist das Land aber jedes Jahr Angaben stark schwanken, um ein Drittel ge- um 8,5 % gewachsen, und falls es dieses sunken. So gesehen, hat die Dynamisierung Wachstum beibehålt (oder gar ausbaut), wird der Wirtschaft mehr fçr die Armutsbekåmp- Indien auch die USA çberholen und hinter fung getan als die vielen Milliarden, die von China den zweiten Platz besetzen. Die der indischen Regierung ± und von der inter- Marktkapitalisierung der indischen Bærsen nationalen Hilfsgemeinschaft ± wåhrend liegt mit 1800 Milliarden US-Dollar schon fçnfzig Jahren in die Entwicklungshilfe ge- weit çber dem Sozialprodukt. Auslandsin- pumpt worden sind. vestitionen liegen zwar immer noch weit hin- ter jenen Chinas, doch haben sie sich zwi- Vor einem Jahr berichteten indische Zei- schen 1991 und 2006 verhundertfacht ± von tungen çber einen neuen Meilenstein: Die 150 Millionen auf 15 Milliarden US-Dollar. Wirtschaftsleistung ± das Bruttosozialpro- dukt ± hatte eine Billion bzw. 1000 Milliarden Doch wie immer bei groûen Zahlen und US-Dollar erreicht. Damit ist Indien erst das Volkswirtschaften, die relativen Græûen sind zwælfte Land der Welt, das diese Hçrde çber- oft wichtiger als die absoluten. Das amerika- sprungen hat. Dies ist auf den ersten Blick nische Wirtschaftsmagazin ¹Forbesª schåtzte nichts Weltbewegendes, denn wiederum ist es im Mårz 2008 die Zahl der indischen Dollar- das Gesetz der groûen Zahl, das diese Leis- Milliardåre auf 54 ± mehr als Japan zu bieten tung wesentlich begrçndet. In Indien leben hat. Ihr Vermægen umfasst zusammengerech- inzwischen nahezu 1,2 Milliarden Menschen, net knapp 250 Milliarden US-Dollar. Ûber und jeder sechste Weltbçrger ist damit eine ein Fçnftel des gesamten Volksvermægens Inderin oder ein Inder. Man muss also nur die dieses Milliardenvolks wird also, vereinfacht 1000 Milliarden durch die Bevælkerungszahl gesagt, von einer verschwindend winzigen dividieren, um auf ein viel bescheideneres Re- Minderheit beansprucht. Wird dieses groûe sultat zu kommen: rund 833 US-Dollar ± das Kçchenstçck herausgenommen und der Rest durchschnittliche Jahreseinkommen eines In- auf die 1,2 Milliarden Menschen (minus 54 ders. Beide Zahlen zeigen Græûe und Gren- Kæpfe) verteilt, nimmt das Pro-Kopf-Vermæ- zen dieses Landes an. Immerhin hat es damit gen rasant ab und betrågt nur noch rund 600 eine weitere Hçrde genommen. Es gehært, US-Dollar pro Kopf und Jahr. Das bedeutet extrapoliert man das Wachstum von 8,5 % knapp zwei US-Dollar pro Tag, womit Indien auf das Jahr 2008, fortan nicht mehr zur Kate- wieder unter den Ørmsten wåre. Das alte Kli- gorie der ¹årmsten Lånderª, jenen also, die schee von Indien als dem Land der Wider- gemåû Weltbank ein Jahreseinkommen von sprçche trifft also immer noch zu, und damit weniger als 842 US-Dollar pro Kopf errei- auch die Frage, ob das Glas halb leer oder chen. Heiût dies, dass Indien damit ¹aus dem halb voll ist. 14 APuZ 22/2008
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