AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - 22/2008 26. MAI 2008 - BPB

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AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - 22/2008 26. MAI 2008 - BPB
APuZ
Aus Politik und Zeitgeschichte
                                 22/2008 ´ 26. Mai 2008

                                              Indien
                                                Olaf Ihlau
                      Indien auf dem Sprung zur Weltmacht

                            Harald Mçller ´ Carsten Rauch
                         Indiens Weg zur Wirtschaftsmacht

                                           Bernard Imhasly
                      Ein reiches Land mit armen Menschen

                                         Lavanya Rajamani
                         Indiens internationale Klimapolitik

                                          Siegfried O. Wolf
  Hindu-Nationalismus ± Gefahr fçr die græûte Demokratie?

                                            Sumit Ganguly
                         Der indisch-pakistanische Konflikt

          Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament
Editorial
  ¹Was gut ist fçr Indien, ist auch gut fçr die Welt.ª Diese Worte
des indischen Premierministers Manmohan Singh in einem Inter-
view kurz vor dem Staatsbesuch von Bundeskanzlerin Angela
Merkel im vergangenen Oktober illustrieren nicht nur Indiens
gewachsenen Stellenwert auf der globalen Landkarte, sondern
auch das neue Selbstbewusstsein des Landes als zweite asiatische
Supermacht, die den Lauf der Welt entscheidend mitbestimmt.
Mag China aufgrund der bevorstehenden Olympischen Spiele in
Peking derzeit mehr im Fokus der Úffentlichkeit stehen ± an In-
dien kommt die internationale Politik schon långst nicht mehr
vorbei. Dabei erscheint Indien vielen westlichen Beobachtern
aufgrund seiner demokratischen Ordnung sogar als ¹das bessere
Chinaª.

   Doch der Aufschwung, mit einer durchschnittlichen Wachs-
tumsrate von çber acht Prozent in den vergangenen vier Jahren,
hat deutliche Schattenseiten. Im Verhåltnis profitieren nur weni-
ge Inder vom Boom, drei Viertel der Bevælkerung leben unter
årmlichsten Bedingungen. Zudem steigt mit dem Wachstum der
Energiebedarf und damit der Ausstoû von Treibhausgasen. In
den nåchsten zehn Jahren wird sich Indien zu einem der græûten
Umweltverschmutzer entwickeln und den Klimawandel voran-
treiben, von dem es zudem viel stårker betroffen sein wird, als
die meisten Industrielånder. Auch hier werden vor allem die
Armen die Leidtragenden sein.

   Der Optimismus, die Probleme læsen zu kænnen, war indes
noch nie so groû wie heute. Das demokratische System ist fest
etabliert und in der Bevælkerung akzeptiert, so dass weder
Armut noch extremistische Auswçchse wie der Hindu-Nationa-
lismus, der sich insbesondere gegen die muslimische Bevælke-
rung richtet, bislang eine Gefahr fçr die Demokratie darstellen.
Ein Abflauen der Konjunktur ist nicht absehbar. Entscheidend
fçr die Zukunft Indiens wird auch die Entwicklung seines Nach-
barn Pakistan sein ± solange dort halbwegs stabile Verhåltnisse
herrschen, ist eine Eskalation des Konflikts der beiden Atom-
måchte um die Region Kaschmir nicht zu befçrchten.

                                           Johannes Piepenbrink
Olaf Ihlau        nien als Europas fçhrende Wirtschaftsmacht
                                                           çberflçgelte und den Weltmarkt in Elektro-

      Indien auf dem                                       technik, Metallverarbeitung und dem Che-
                                                           miegewerbe kontrollierte. Teilweise irritiert

Sprung zur Weltmacht
                                                           muss die Welt zur Kenntnis nehmen, dass
                                                           neben China in Asien ein weiterer Koloss
                                                           herangewachsen ist, der als neuer Global
               Essay                                       Player kçnftig das Weltgeschehen mitbestim-
                                                           men wird ± ækonomisch wie politisch, und als
                                                           Atom- und Raketenmacht notfalls auch mili-
                                                           tårisch. Ein Player, der in der Welt von morgen

        I     m Schatten der sich weltweit verschårfen-
              den Finanzkrise veræffentlichte das ameri-
          kanische Wirtschaftsmagazin ¹Forbesª ver-
                                                           Konkurrent sein wird beim Kampf um Jobs,
                                                           Mårkte und Energieressourcen. ¹Indien hat
                                                           das Potenzial zur Weltmachtª, verkçnden
          gangenen Mårz seine alljåhrliche Hitparade       nunmehr nicht nur reiûerische Schlagzeilen,
          der Superreichen und feierte ein bemerkens-      sondern auch fundierte wissenschaftliche
          wertes Comeback. 1 Warren Buffet, Investi-       Analysen. 2 Die Inder ¹kommenª, ob der Rest
          tionsgenie und Philanthrop, hatte nach drei-     der Menschheit das will oder nicht. Sie sind
          zehn Jahren den Microsoft-Grçnder Bill           langfristig wohl die eigentlichen Herausforde-
          Gates wieder von Rang eins der Milliardåre       rer des Westens, denn sie kænnen sich auf eine
          verdrångt. Sein Vermægen wurde auf gut 40        stabile demokratische Gesellschaft stçtzen,
                                  Milliarden Euro ta-      wåhrend Asiens anderer Gigant, das kommu-
                                  xiert. Doch fçr die      nistische China, bei einer Úffnung womæglich
                       Olaf Ihlau
                                  eigentliche   Ûberra-    in gefåhrliche Turbulenzen geråt.
 Dr. phil., geb. 1942; Journalist
                                  schung in diesem
       und Autor (Süddeutsche
                                  Schaulaufen der Best-
           Zeitung, Der Spiegel),
                                  betuchten sorgten die
                                                              Dominanz der beiden Milliardenvælker
            Eiderstedter Weg 30,
                                  Vertreter einer ande-
                    14129 Berlin.                          Wçrden Indien und China, die beiden Mil-
                                  ren Nation und auf-
         olaf-ihlau@t-online.de                            liardenvælker, zu einem strategischen Pakt
                                  steigenden ækonomi-
                                                           finden, låge ihnen die çbrige Menschheit
                                  schen Macht: Erstmals
                                                           zwangslåufig zu Fçûen. China ist bereits die
          hatten vier Inder den Sprung unter die zehn
                                                           Werkbank und Industriefabrik der Welt, In-
          wohlhabendsten Menschen auf diesem Plane-
                                                           dien sein Entwicklungslabor. Beide Lånder
          ten geschafft. Auf Rang vier schob sich der
                                                           stehen schon jetzt fçr zwei Drittel des Brut-
          Stahlbaron Lakshmi Mittal, gleich dahinter
                                                           tosozialprodukts der 23 Lånder Sçdostasiens,
          folgten die Gebrçder Mukesh und Anil Am-
                                                           sie tragen mit ihrer riesigen Bugwelle auch
          bani mit ihrem Petro-Chemiekonzern Relian-
                                                           die anderen Staaten dort mit. Ihr Konsum
          ce, und Platz acht besetzte der erfolgreichste
                                                           wåchst schneller als die Nachfrage in Ameri-
          Immobilienhåndler der Welt, Kushal Pal
                                                           ka. In der Kombination wåren Asiens wich-
          Singh.
                                                           tigste Boomstaaten global unschlagbar, wirt-
                                                           schaftlich wie militårisch. Doch dass es zu
          Vier Inder im Club der Superreichen, das
                                                           solch einer Allianz kommt, ist eher unwahr-
        hat es noch nie gegeben. Es sagt zudem eini-
                                                           scheinlich. China und Indien sehen einander
        ges darçber aus, wie rasant sich derzeit die
                                                           als Rivalen an, und der Rest der Welt dçrfte
        ækonomischen und damit auch politischen
                                                           alles dafçr tun, dass dies auch so bleibt.
        Gewichte im globalen Måchtespiel verschie-
        ben. Internationale Wirtschaftsweise sehen
                                                             Im Wettlauf der beiden bevælkerungsreichs-
        den erwachten Riesen des Subkontinents mit
                                                           ten Lånder der Erde mit ihren 2,5 Milliarden
        einem Hyperwachstum schon auf dem
                                                           Konsumenten liegt der chinesische Drache
        Sprung nach ganz oben, bis zur Jahrhundert-
                                                           derzeit noch weit vor dem indischen Elefan-
        mitte neben die Vereinigten Staaten und
                                                           ten. Chinas Bruttosozialprodukt ist doppelt
        China an die Weltspitze in einer ækonomi-
        schen Zeitenwende. Verglichen wird diese           1 Vgl. Luisa Kroll, The World's Billionaires, in: Forbes
        Entwicklung historisch mit dem industriellen       vom 5. 3. 2008.
        Aufstieg des Deutschen Reichs Ende des             2 Vgl. stellvertretend fçr viele: Teresita C. Schaffer,

        19. Jahrhunderts, das seinerzeit Groûbritan-       Deutsche Bank Research, 8. 2. 2006.

                                                                                                 APuZ 22/2008         3
so groû, das Reich der Mitte zieht zehnmal so           trumpfen, Indien mit 1,6 Milliarden zur
    viele Auslandsinvestitionen an. 3 Aber der              græûten Nation der Erde anschwellen, wåh-
    Elefant holt auf, mit schwerem Tritt, seitdem           rend die Zahl der Chinesen als Folge der Ein-
    die Inder, dreizehn Jahre nach den Chinesen,            Kind-Politik abnimmt. Asien stellt dann 70
    ebenfalls den radikalen Schwenk zur Markt-              Prozent der Weltbevælkerung, und allein auf
    wirtschaft vollzogen haben. Die zu Beginn der           dem Subkontinent werden in Indien, Pakistan
    1990er Jahre eingeleiteten Reformen sorgten             und Bangladesch mit 2,2 Milliarden weit mehr
    fçr die Wiedereingliederung in den Welt-                Menschen leben als auf den Kontinenten
    markt. Dreiûig Jahre lang hatte sich zuvor der          Amerika, Europa und Australien zusammen.
    von staatsdirigistischen Ketten gefesselte              Das sind beklemmende Perspektiven, beson-
    Riese in self-reliance (Autarkie) mit der so ge-        ders aus der Sicht ergrauender Schrumpf-
    nannten Hindu-Zuwachsrate von jåhrlich 3,5              europåer, doch sie sind problematisch auch fçr
    Prozent begnçgt, sehr zum Vergnçgen der dy-             die Giganten Asiens selbst. Denn bei ihnen
    namischeren Tigerstaaten in Sçdostasien und             ticken soziale Zeitbomben, sollte es fçr die
    des groûen Rivalen China. Doch unterdessen              Menschenmassen nicht gençgend Arbeit und
    hat sich Indiens Wirtschaftswachstum, mit               Nahrung geben. Wie auch immer: Die beiden
    der Binnennachfrage als Hauptantriebskraft,             Mega-Gesellschaften Asiens werden in der
    mehr als verdoppelt. Es erreichte wåhrend der           neuen globalen Ordnung nicht nur das Tempo
    vergangenen drei Jahre im Schnitt neun Pro-             der Modernisierung vorgeben, sondern als
    zent und geht jetzt angesichts der schwåcheln-          Zugpferde der Weltkonjunktur demnåchst
    den Weltkonjunktur leicht zurçck auf immer              auch die Hålfte der verfçgbaren Energiequel-
    noch imposante 8,7 Prozent. Damit wurde                 len und Rohstoffe beanspruchen ± oder sie im
    Sçdkorea bereits çberholt und Rang drei in              Kampf um die weltweite Vorherrschaft not-
    Asien besetzt.                                          falls erstreiten mçssen.

      Richtig ist gewiss, dass die Wirtschaftsleis-            Indiens Aufbruch muss verwundern, denn
    tung der Inder bisher im Weltmaûstab eini-              noch vor kurzem galt es als Armenhaus der
    germaûen bescheiden war. Mit nahezu einem               Welt mit der græûten Zahl von Analphabeten.
    Fçnftel der Menschheit brachten sie es gerade           Die hat es nach wie vor. Gut ein Drittel der
    mal auf zwei Prozent des globalen Bruttoso-             erwachsenen Bevælkerung und mehr als die
    zialprodukts, wåhrend die Europåer mit acht             Hålfte der Frauen kænnen nicht lesen und
    Prozent der Weltbevælkerung 31 und die                  schreiben. Aber zugleich hat Indien auch das
    Amerikaner mit fçnf Prozent sogar 28 Pro-               zweitgræûte Reservoir an Ingenieuren und
    zent des weltweiten Bruttosozialprodukts er-            Wissenschaftlern, die meisten Computerspe-
    wirtschafteten. Doch die Gewichte verschie-             zalisten nach den USA. Weltspitze sind die
    ben sich rasch. Nach der Prognose zahlrei-              Inder in der Informationstechnologie, vor
    cher Úkonomen wird Indien in den                        allem mit den Labors in Bangalore, Asiens
    kommenden fçnfzehn Jahren an Japan wie                  Silicon Valley. 4 Nirgendwo, nicht einmal in
    Deutschland vorbeipreschen.                             Kalifornien, arbeiten mehr Informatiker und
                                                            Ingenieure. Der Boom in der Informations-
       Eine weitere Entwicklung kommt hinzu:                technologie ist indes schon lange nicht mehr
    Indien hat heute 1,12 Milliarden Einwohner.             auf Bangalore oder andere urbane Zentren
    Die Hålfte davon ist nicht einmal 24 Jahre alt,         wie Hyderabad, Neu Delhi und Mumbai be-
    eine Demografie des ¹Minimumª ist hier noch             schrånkt. Er ist zum Schwungrad geworden
    lange nicht angesagt. Nur rund fçnf Prozent             auch fçr andere Sektoren, greift wie ein
    der Bevælkerung liegen çber dem Pensionsal-             Krake mit seinen Fangarmen weit ins Land.
    ter von 65 Jahren (in Deutschland: 19 Pro-              Die Wachstumsquoten des IT-Sektors sind
    zent). Bis zur Jahrhundertmitte wird der Ele-           phånomenal. ¹Die nåchsten zehn Jahre wer-
    fant den Drachen auch demografisch çber-                den irre hierª, prophezeit Bill Gates und
                                                            råumt ein, dass sein Unternehmen Microsoft
                                                            inzwischen ¹abhångig ist von indischen Fach-
     3 Vgl. fçr die Wirtschaftsdaten die Angaben des In-
                                                            kråftenª. Gates investiert derzeit 1,7 Milliar-
    ternationalen Wåhrungsfonds vom Februar 2008, die
                                                            den Dollar in Indien fçr den Aufbau von vier
    Prognosen des Economic Advisory Council der Bun-
    desregierung in Neu Delhi sowie die Wirtschaftstrends   Entwicklungszentren, sein græûtes Labor au-
    Indien der Bundesagentur fçr Auûenwirtschaft (Stand:
    Dezember 2007).                                         4   Vgl. Olaf Ihlau, Weltmacht Indien, Mçnchen 2008.

4    APuZ 22/2008
ûerhalb der Vereinigten Staaten ist in Hydera-      bern sie nicht herbei, und es werden allein bis
bad. Zur indischen Realitåt gehært aus euro-        2010 çber 60 Millionen neue Jobs benætigt. Die
påischer Sicht jedoch auch diese Erkenntnis:        kann nur eine arbeitsintensive Exportindustrie
Es wird mehr Leistung und Schnelligkeit er-         mit den traditionellen Industriebereichen an-
wartet. Indische IT-Dienstleister arbeiten im       bieten. Auch hier sind die Inder nun in der Of-
Schnitt 2300 Stunden im Jahr, die in Deutsch-       fensive, errichten Industrieparks und Sonder-
land gerade mal 1700 Stunden.                       wirtschaftszonen, greifen zudem mit Firmen-
                                                    aufkåufen im Westen an. Noch vor ein paar
   Als nåchste Stufe der indischen Hightech-        Jahren håtte wohl kaum jemand erwartet, dass
Offensive fçr eine wissensgestçtzte Wirt-           der græûte Stahlbaron der Welt ein Inder ist,
schaft sollen neue Forschungsståtten in der         nåmlich Lakshmi Mittal. Oder dass die Ex-Ko-
Bio- und Gentechnologie entstehen. Ange-            lonie Indien die automobilen Kronjuwelen des
strebt wird der Status einer Supermacht des         britischen Empires ergattert, die sich jetzt mit
Wissens. Dabei will Indien bei der Globalisie-      Jaguar und Rover der Mischkonzern von Ratan
rung von Innovation und Kreativitåt dem             Tata holte. Oder dass die græûte Erdælraffinerie
Westen ebenfalls als ernsthafter Konkurrent         der Welt heute im Nordwesten Indiens steht,
entgegentreten. Noch ist das Land etwa im           gebaut vom Konzern des Multimilliardårs Mu-
Bereich wissenschaftlicher und technischer          kesh Ambani.
Erfindungen, gar bei der Zahl der jåhrlich an-
gemeldeten Patente, weit entfernt vom hæchs-
ten Niveau, auf dem noch immer Deutsch-                                   Die Kehrseite des Booms
land agiert. Noch gehen die meisten Nobel-
preise an Forscher in den USA. Aber Indiens         Die Luxushotels der indischen Metropolen
380 Universitåten und 1500 Forschungsinsti-         sind ausgebucht, çberwiegend mit Gåsten aus
tute bilden in jedem Jahr allein 500 000 Inge-      dem Inland. Die Parvençs prassen bis zum Ex-
nieure, Techniker und Informatiker aus, vier-       zess, veranstalten Hochzeiten mit vulgårem
mal mehr als die USA. Dies ist der græûte Ta-       Geprånge. In der Bayview Bar von Mumbais
lentpool der Welt, und das wird irgendwann          Oberoi-Hotel gehen die Flaschen Dom Peri-
auch innovative Frçchte tragen. So dçrfte In-       gnon weg wie nichts. Eine davon entspricht
dien schon bald auch in der Pharmazie vorne         dem indischen Pro-Kopf-Einkommen fçr ein
mitmischen, wo es bereits mit Firmen wie            ganzes Jahr. Die urbanen Ballungszentren um
Ranbaxy, Wockhardt oder Dr. Reddy's zum             die 35 Millionenstådte schwelgen im Konsum-
weltweit græûten Hersteller von Generika ge-        rausch. Auf etwa 250 Millionen Menschen
worden ist, darunter eines Medikaments              wird diese schnell wachsende, kaufkråftige
gegen Aids. Oder in der Medizin, wo Opera-          Mittelschicht geschåtzt, wobei allerdings nach
tionen am offenen Herzen und Implantatio-           europåischen Maûståben der indische Mittel-
nen kçnstlicher Hçftgelenke von hervorra-           stand nur mit etwa 70 Millionen anzusetzen
genden Chirurgen fçr ein Fçnftel der euro-          ist. Die Kehrseite des Booms ist das Elend der
påischen Kostensåtze vollzogen werden.              Nachzçgler mit der Horrorspirale von Bevæl-
Schlieûlich Rçstung und Weltraumforschung:          kerungswachstum und Massenarmut. Nach
Die Welt hat sich daran gewæhnt, dass die           wie vor verdienen fast 70 Prozent aller Be-
Atommacht Indien Raketen und Satelliten ins         schåftigten, meist eingezwångt in ein rigides
All befærdert. Demnåchst soll ein Roboter           Kastensystem, ihren Lebensunterhalt in der
auf dem Mond landen.                                Landwirtschaft, mit unzureichenden Bewås-
                                                    serungssystemen und abhångig von den Lau-
   Noch bis vor kurzem sah es so aus, als wçrde     nen des Monsunregens. Zwar haben sich seit
Indien sich im globalen Aufholprozess mit           der Reformpolitik einige soziale Indikatoren
einer Arbeitsteilung abfinden. China stand fçr      verbessert, aber nach offizieller Lesart leben
die Hardware, fçr die Werkbank der Welt mit         weiterhin 26 Prozent der Inder, çber 300 Mil-
dem Export industrieller Massenproduktion.          lionen Menschen, unterhalb der Armutsgren-
Indien dagegen schien darauf erpicht zu sein,       ze von weniger als einem Dollar pro Tag. Die
zum Entwicklungslabor und zur Denkfabrik            Pessimisten unter den ækonomischen Exper-
der Welt zu avancieren, also die Software zu lie-   ten vermuten allerdings, dass in Wahrheit drei
fern. Indiens Erfolge bei den IT-Dienstleistern     Viertel der Bevælkerung tåglich mit weniger
sind zwar brillant, doch Beschåftigung fçr die      als zwanzig Rupien, also einem halben Dollar,
Massen der ungelernten Erwerbsfåhigen zau-          auskommen mçssen, demnach auf einem ¹Le-

                                                                                     APuZ 22/2008      5
bensstandard von unvorstellbaren Tiefenª ve-           landsdegenª in Asien instrumentalisieren zu
    getieren, wie der erste Premier Jawaharlal             lassen, bei aller Rivalitåt zu Peking und einem
    Nehru die Not in Indiens båuerlichem Herzen            historisch begrçndeten Misstrauen.
    einmal umschrieb. 5

       Ein Kontinent der Extreme ist Mata Bha-                              Die Gefahr von Rçckschlågen
    rat, die Mutter Indien. Die Multikulti-Formel
    von der ¹Einheit in Vielfaltª, die Nehru oft           Noch gibt es Platz fçr zwei Giganten in Asien.
    gebrauchte, beschænigt bewusst das Irritati-           Der erwachte Riese auf dem Subkontinent be-
    onselement des Trennenden, das ihr zugrunde            nætigt vor allem Ruhe, keine Abenteuer und
    liegt. Sechs Religionen und zahllose Sekten            åuûeren Konflikte. Dieses gewaltige Land
    gibt es in den 28 Bundesstaaten der såkularen          braucht wenigstens zwei Dekaden andauernder
    Union, die dominierende Glaubensgemein-                Dynamik und Fortschrittsbewusstseins mit
    schaft des Hinduismus kennt çber 3600 Kas-             jåhrlichen Wachstumsraten von çber acht Pro-
    ten und Unterkasten. Knapp 13 Prozent der              zent, um wirklich den Status einer Groûmacht
    Bevælkerung bekennen sich zur Lehre des                zu erlangen, die dann als unentbehrliches Ele-
    Propheten. Damit hat Indien mehr Muslime               ment des Kråftegleichgewichts in einer multi-
    als der islamische Nachbar Pakistan und nach           polaren Welt gelten kann und sich in handels-
    Indonesien mit 160 Millionen die meisten der           politischen Fragen zum Sprecher der Entwick-
    Welt. Die Verfassung nennt 18 Hauptspra-               lungs- und Schwellenlånder aufschwingen
    chen, hinzu kommen 1600 Dialekte. Man fin-             dçrfte. Natçrlich kann es Rçckschlåge geben ±
    det Inseln imponierender Effizienz und Re-             durch die Rçckwirkungen einer Weltwirt-
    gionen von mittelalterlicher Rçckståndigkeit           schaftskrise etwa, durch wachsende soziale
    auf diesem Kontinent.                                  Spannungen im Innern, durch Katastrophen,
                                                           eine Pandemie, durch neuerliche Pogrome in
      Politisch wird Indien heutzutage von aller           der Dauerfehde zwischen Hindus und Musli-
    Welt hofiert. Da reiste Anfang Mårz 2006 der           men. Oder durch einen Regierungswechsel,
    oberste Repråsentant des Welthegemons in               obwohl die amtierende Linkskoalition der
    Neu Delhi an, um der zweitgræûten Nation               Kongresspartei der bald stattfindenden Parla-
    auf diesem Globus seine Reverenz zu erwei-             mentsneuwahl optimistisch entgegenblickt und
    sen. In einer erstaunlichen historischen Wei-          zuletzt ein Budget voller Wahlgeschenke ver-
    chenstellung erhob der amerikanische Pråsi-            abschiedete. 6 Darunter befindet sich ein Schul-
    dent George W. Bush Indien zur ¹Welt-                  denerlass fçr 40 Millionen Kleinbauern, denn
    machtª und verkçndete mit dem Blick auf                allein im Jahr 2006 haben çber 17 000 Bauern
    das heraufziehende Zeitalter drohender Ener-           wegen hoffnungsloser Ûberschuldung Selbst-
    giekonflikte die strategische Partnerschaft            mord begangen.
    zwischen ¹der åltesten und der græûten De-
    mokratie der Erdeª. Der Preis fçr diese neue              Verheerend wçrde sich auch ein Anschlag
    Allianz war ein Atomabkommen, das Neu                  von der Dimension des 11. September 2001
    Delhi aus der nuklearen Quarantåne holte               auswirken, mit dem islamistische Terroristen
    und als Sonderfall in den Kreis der offiziellen        versuchen kænnten, die verfeindeten Brçder
    Atommåchte aufnimmt. Dieser Deal ist inter-            Indien und Pakistan in einen Atomkrieg zu
    national noch nicht in trockenen Tçchern,              treiben. Im Ansatz haben sie dies schon ein-
    und er kænnte die Linkskoalition des Pre-              mal probiert, mit Anschlågen auf das Parla-
    miers Manmohan Singh kippen, sollten die               ment in Neu Delhi und dem Bombenterror in
    Kommunisten ihr deswegen den Beistand                  Mumbai. Doch solche Einbrçche dçrften die
    entziehen. Doch der Prestigegewinn fçr Neu             Entwicklung insgesamt nicht umkehren kæn-
    Delhi ist ohnehin besiegelt mit der De-facto-          nen, die aus dem einstigen Armenhaus Indien
    Anerkennung als sechste Atommacht. Den                 eines der Kraftzentren in der Welt von mor-
    Amerikanern geht es, das liegt auf der Hand,           gen machen wird. Es ist schwer, den Elefan-
    um ein Gegengewicht zu China. Das politi-              ten aufzuhalten, hat der sich erst einmal in
    sche Establishment in Neu Delhi dçrfte indes           Bewegung gesetzt.
    zu klug sein, um sich als Washingtons ¹Fest-
                                                           6 Vgl. Budget at a Glance, Ministry of Finance 2008±

                                                           2009, New Delhi, February 2008.
    5 Vgl. Arvind Panagariya, India: The Emerging Giant,

    Oxford 2008.

6    APuZ 22/2008
Harald Mçller ´ Carsten Rauch                    Es muss also andere Grçnde dafçr geben,
                                                                warum Indien, das vom Westen 50 Jahre lang

 Indiens Weg zur
                                                                weitgehend ignoriert wurde, plætzlich als
                                                                wichtiger Global Player angesehen wird. Der
                                                                wichtigste Grund ist das seit Jahren anhalten-

 Wirtschaftsmacht                                               de Wirtschaftswachstum, das seit 1995 durch-
                                                                schnittliche Wachstumsraten von 6,4 Prozent
                                                                erreicht (seit 2004 sogar 8,5 Prozent). Berech-
                                                                net nach Kaufkraftparitåt stellt Indien damit
                                                                heute bereits die viertgræûte Volkswirtschaft
                                                                der Erde dar. 2 Wie hat Indien diese Stellung

          W         enn seit einiger Zeit immer mehr west-
                     liche Beobachter Indien als Groû-
            oder gar Weltmacht bezeichnen, so liegt die
                                                                erreicht, wie robust ist der indische Aufstieg
                                                                einzuschåtzen und was ist von der Zukunft
                                                                zu erwarten?
            Erklårung scheinbar auf der Hand: Mit den
            Atomtests von 1998 habe Indien mit den
            USA, Russland, China, Groûbritannien und                                  Von der Kolonialækonomie
            Frankreich ± den Ståndigen Mitgliedern des                                zur ¹Hinduwachstumsrateª
            UNO-Sicherheitsrats ± gleichgezogen und sei
            in die Reihe der Weltmåchte aufgestiegen.           Fçr das britische Empire war Indien nicht
            Diese direkte Verbindung zwischen Kernwaf-          nur wegen seiner geostrategischen Stellung
                                      fen und weltweiter        das ¹Kronjuwelª. 3 Der gewaltige Subkonti-
                     Harald Mçller, Anerkennung        kann     nent lieû sich auch trefflich als Rohstoffpro-
   Dr. phil., geb. 1949; Professor    indes Indiens Aufstieg    duzent und als Markt fçr die Waren des Mut-
 für Internationale Beziehungen nicht hinreichend er-           terlands nutzen. Die indischen Produzenten
an der Universität Frankfurt/M., klåren. Zum einen ist          wurden mit administrativen Mitteln vom
geschäftsführendes Vorstands- Indien de facto seit              Markt gefegt, wo sie mit Unternehmern in
    mitglied der Hessischen Stif- 1974          Atommacht.      Groûbritannien konkurrierten. So ruinierte
  tung Friedens- und Konfliktfor- Zwar wurde der da-            die Kolonialverwaltung systematisch die auf-
schung (HSFK), Leimenrode 29, malige Atomtest von               strebende indische Textilindustrie, wåhrend
       60322 Frankfurt am Main. Neu Delhi verschåmt             die indische Produktion von Stoffen und Far-
                  mueller@hsfk.de als ¹friedliche Kern-         ben als Halbfertigprodukte fçr die britischen
                                      explosionª bezeich-       Wettbewerber gefærdert wurde. Andererseits
                    Carsten Rauch, net. Doch damit hatte        duldete die imperiale Macht den indischen
               Dip. Pol., geb. 1976; sich das Tor zur In-       Kleinhandel und auch indische Unternehmer,
  wissenschaftlicher Mitarbeiter dienststellung          von    die in den vom britischen Kapital nicht be-
               an der HSFK, (s. o.).  Atomwaffen    geæffnet.
                    rauch@hsfk.de So sah es auch die in-         1 Aktuell gibt es allerdings Planungen von Wa-

                                      ternationale Gemein-      shington und Neu Delhi, Indien wieder in den welt-
                                      schaft, die den indi-     weiten Nuklearmarkt zu integrieren. Siehe dazu: Ha-
                                                                rald Mçller/Carsten Rauch, Der Atomdeal ± Die
            schen Schritt nicht mit einem Prestigegewinn        indisch-amerikanische Nuklearkooperation und ihre
            belohnte, sondern mit scharfen Sanktionen           Auswirkung auf das globale Nichtverbreitungsregime,
            reagierte, die Indien bis heute vom globalen        HSFK-Report 6/2007, Frankfurt/M.
            zivilen Nuklearhandel fernhalten. 1 Von einer        2 Hinter den USA, Japan und China. Dieses Bild re-

            Weltmacht Indien sprach damals niemand.             lativiert sich etwas, wenn auf die Kaufkraftbereinigung
            Auch ein Blick auf andere Atommåchte au-            verzichtet wird. Dann steht Indien auf Rang 10. Be-
                                                                trachtet man das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, fållt
            ûerhalb des Atomwaffensperrvertrags zeigt,
                                                                Indien sogar auf Rang 118. Aber auch hier ist eine
            dass die Aneignung solcher Waffen keines-           Entwicklung unverkennbar: ¹If India's economy were
            wegs die quasi-automatische Zuschreibung            still growing at the pre-1980 level, then its per capita
            des Status einer Groû- oder Weltmacht zur           income would reach present U.S. levels only by 2250;
            Folge hat. Weder Israel noch Nordkorea wer-         but if it continues to grow at the post-1980 average, it
            den mit einem solchen Status in Verbindung          will reach that level by 2066 ± a gain of 184 years.ª
                                                                Gurcharan Das, The India Model, in: Foreign Affairs,
            gebracht. Auch Indiens Nachbar und Dauer-           85 (2006) 4, S. 2±16, S. 6.
            rivale wurde trotz seiner Atomtests von 1998         3 Zum Folgenden vgl. Dietmar Rothermund, Ge-
            nie als ¹Weltmacht Pakistanª ins Gespråch           schichte Indiens. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart,
            gebracht.                                           Mçnchen 2002.

                                                                                                      APuZ 22/2008         7
setzten Nischen tåtig waren; die Briten            griffe der Bçrokratie, vor allem die Subven-
    schåtzten sie als Steuerzahler, deren Aufkom-      tions- und Preiskontrollpraxis zu wachsen-
    men das koloniale Abenteuer finanzierte. Als       den Funktionsstærungen. Die ¹Herrschaft
    Folge entwickelte sich eine aufs Mutterland        der Genehmigungsverfahrenª wurde zum
    bezogene periphere Úkonomie, die aber              Albtraum des Unternehmertums in Indien:
    gleichwohl in den Unternehmerdynastien             Ohne Genehmigungen war keine wirtschaft-
    (wie den Tatas) einen Ausgangspunkt fçr die        liche Tåtigkeit mæglich. So blieb die indische
    spåtere, eigenståndige Entwicklung besaû.          Wachstumsrate in einem fçr Entwicklungs-
                                                       lånder niedrigen Korridor von um die drei
       Bis heute wirkt das Desinteresse der Kolo-      Prozent (von Kritikern zynisch ¹Hindu-
    nialherren an der Entwicklung der Landwirt-        wachstumsrateª getauft). Wåhrenddessen
    schaft nach, die noch immer die meisten Ar-        trieben Lånder mit åhnlichem Ausgangsni-
    beitskråfte bindet. Die Krone interessierte        veau, denen sich Indien historisch und kultu-
    sich nur fçr die Steuern, welche die Land-         rell çberlegen fçhlte, mit weitaus hæheren
    wirtschaft aufbrachte. Die Steuer- und Pacht-      Raten ihre wirtschaftliche Entwicklung voran
    gesetzgebung verschårfte im Verlauf von zwei       (zunåchst Sçdkorea und Taiwan, spåter Sin-
    Jahrhunderten Kolonialherrschaft den ohne-         gapur, Malaysia, Thailand und zu allem Ûber-
    dies erheblichen Klassenunterschied zwi-           fluss auch der unmittelbare Machtkonkurrent
    schen Groûgrundbesitzern, landlosen Arbei-         China).
    tern und Kleinbauern, unter dem Indiens
    låndlicher Sektor immer noch leidet. Der
    erste indische Premierminister Jawaharlal          Liberalisierungsschritte ± ¹Growth, more
    Nehru fçhrte eine (halbherzige) Landreform
    durch, in deren Verlauf die traditionellen
                                                                  growth and still more growthª
    Groûgrundbesitzer gegen Entschådigung
                                                       Der mangelnde Erfolg dieser so genannten
    einen Teil ihrer landwirtschaftlichen Nutzflå-
                                                       mixed economy veranlasste Premierminister
    chen an årmere Bauern abtreten mussten. Die
                                                       Rajiv Gandhi Mitte der 1980er Jahre erstmals
    Reform befreite die Bauernschaft vielerorts
                                                       zur zaghaften Abkehr vom quasi-sozialisti-
    von einer geradezu feudalen Abhångigkeit
                                                       schen Wirtschaftssystem. 4 Die Grçnde dafçr
    vom Landadel und verdankte sich nicht zu-
                                                       liegen zum einen in dem Eindruck, den die
    letzt der Tatsache, dass die låndliche Ober-
                                                       erfolgreichen Wirtschaftsreformen anderer
    schicht zu den eifrigsten Kollaborateuren mit
                                                       asiatischer Staaten hinterlieûen, zum anderen
    der Kolonialmacht gezåhlt hatte. Gestårkt
                                                       aber auch im Entstehen einer Mittelschicht,
    wurden aber nicht die Landlosen und die
                                                       deren Konsumfreude durch heimische Pro-
    armen Bauern, sondern der båuerliche Mittel-
                                                       dukte nicht befriedigt werden konnte. 5 Zwar
    stand, der traditionell eine starke Klientel der
                                                       war diesen Reformen ein gewisser Erfolg be-
    Kongresspartei darstellte. Anders als Mahat-
                                                       schieden, was sich in steigenden Wachstums-
    ma Gandhi hatte die Kongressfçhrung jedoch
                                                       raten und Exporterlæsen widerspiegelte.
    an der Landwirtschaft nur geringes Interesse.
                                                       Gleichzeitig jedoch bewirkten sie (durch die
    Fçr ein modernes, starkes Indien zåhlte nur
                                                       ebenfalls anwachsenden Importe) eine drasti-
    die industrielle Entwicklung.
                                                       sche Verschuldung. Diese Krise wurde ver-
                                                       stårkt durch die hohen Úlpreise in Folge des
       Wie in vielen anderen Låndern wurde die
                                                       zweiten Golfkrieges (1990/91) und durch die
    indische Volkswirtschaft wåhrend des Zwei-
                                                       Auflæsung der Sowjetunion und des Rates fçr
    ten Weltkriegs zentralisiert und auf die Pro-
                                                       Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) ± zuvor
    duktion kriegswichtiger Gçter ausgerichtet.
                                                       Indiens wichtigste Handelspartner. Infolge
    Diese Struktur kam der sozialistisch-inter-
    ventionistischen Ideologie der Kongresspartei       4 Vgl. G. Das (Anm. 2), S. 4 ±5; Dennis Kux, India and
    entgegen, die auf Importsubstitution, groûe        the United States: Estranged Democracies, Wa-
    Staatskonglomerate und staatliche Eingriffe        shington, DC 1993, S. 400 f. Das Zitat in der Ûber-
    ins Wirtschaftsgefçge setzte. Zunåchst er-         schrift stammt vom ehemaligen indischen Premiermi-
    zielte die indische Regierung mit dieser Art       nister Atal Bihari Vajpayee, zit. nach Christian Wagner,
                                                       Die ¹verhinderteª Groûmacht?, Baden-Baden 2005,
    des Wirtschaftens durchaus Erfolge ± sie ent-
                                                       S. 253.
    wickelte die von den Briten hinterlassene In-       5 Vgl. Bundeszentrale fçr politische Bildung, Indien ±
    frastruktur. Freilich fçhrten die Aussperrung      Informationen zur politischen Bildung Nr. 296, Bonn
    der Weltmarktkonkurrenz, die ståndigen Ein-        2007, S. 48.

8    APuZ 22/2008
dessen schmolzen die indischen Devisenreser-            nister Manmohan Singh die BJP-Politik fort
ven zusammen, Neu Delhi stand im Juni                   und ergånzte sie nur punktuell durch soziale
1991 kurz vor der Zahlungsunfåhigkeit. Die              Verbesserungen. Seit 1991 hat in der Wirt-
Regierung war gezwungen, um Kredite beim                schaftspolitik tatsåchlich ein Paradigmen-
Internationalen Wåhrungsfonds nachzusu-                 wechsel stattgefunden: So wie in den ersten
chen. Tatsåchlich musste Neu Delhi sogar                40 Jahren der Unabhångigkeit die mixed eco-
einen Teil seiner Goldreserven als Garantie             nomy nahezu alternativlos von den maûgebli-
fçr diese Kredite in der Schweiz in den Treso-          chen politischen Kråften getragen wurde, so
ren der Basler Bank fçr Internationalen Zah-            haben sich heute von der BJP bis zu den
lungsausgleich hinterlegen: eine unerhærte              Kommunisten alle Parteien mit der Liberali-
Demçtigung! Doch die 1991 ins Amt ge-                   sierung der indischen Wirtschaft abgefunden
wåhlte Kongressregierung (mit dem heutigen              oder gar angefreundet. 9
Regierungschef Manmohan Singh als Finanz-
minister) entschied, die Krise als Chance zu               Was aber beinhalteten die Reformen seit
begreifen, mit den Traditionen der eigenen              1991? Die çberbewertete Rupie wurde abge-
Partei zu brechen und das Ruder in der Wirt-            wertet und schrittweise konvertierbar ge-
schaftspolitik herumzureiûen. 6                         macht. Das einst unangefochtene Genehmi-
                                                        gungssystem wurde fçr Importe abgeschafft,
  Diese Weichenstellung çberlebte auch die              die Zælle wurden drastisch gesenkt. Auch fçr
folgenden Regierungswechsel. 1998 war die               die Industrie wurden das Lizenzsystem ent-
Bharatiya Janata Party (BJP) noch mit dem               schlackt und Beschrånkungen græûtenteils
Slogan ¹swadeshiª (Autarkie) angetreten und             aufgeweicht. Viele Wirtschaftszweige, die
wilderte damit ohne Scham in den Traditio-              vormals Monopol des æffentlichen Sektors
nen der Kongresspartei. 7 Doch nach der                 waren, wurden fçr private Unternehmer ge-
Wahl entschied sich die Regierung Vajpayee              æffnet. Auûerdem wurden nach chinesischem
fçr einen Kurs der Kontinuitåt. Die Wirt-               Vorbild ¹Sonderwirtschaftszonenª mit gçns-
schaftsreformen wurden sogar vorangetrie-               tigen Investitionsbedingungen fçr Unterneh-
ben. Ein zweites Mal musste man 2004 um                 men geschaffen. 10 Um die Zersplitterung des
den Bestand der Reformen bangen. Diesmal                komplexen, intransparenten und çberbçro-
war es die BJP, die, sich in famosen Wachs-             kratisierten Steuersystems zu beseitigen, wel-
tumsraten sonnend, mit dem Slogan ¹India                che die regionalen wirtschaftlichen Disparitå-
shiningª in den Wahlkampf zog, wåhrend die              ten noch verstårkt und durch mangelnde Effi-
Opposition soziale Korrekturen anmahnte.                zienz den Fiskus benachteiligt und so zum
Entgegen den meisten Voraussagen konnte                 Haushaltsdefizit beitrågt, hat die Mehrheit
die United Progressive Alliance (Kongress-              der indischen Bundesstaaten 2005 die Mehr-
partei und ihre Verbçndeten) die New Demo-              wertsteuer eingefçhrt, damit das çberkom-
cratic Alliance (BJP und ihre Verbçndeten)              mene System revolutioniert und die frçheren
auf den zweiten Platz verweisen. 8 Doch ob-             Schritte zur Steuerreform vorerst abgeschlos-
wohl die UPA in ihrem Wahlkampf die har-                sen. 11
ten Folgen der Wirtschaftsreformen betont
hatte und fçr eine Regierungsmehrheit auf                  Der Erfolg dieser Politik låsst sich an
die Stimmen der kommunistischen Parteien                volkswirtschaftlichen Indikatoren ablesen
angewiesen war, fçhrte sie unter Premiermi-             (Tabelle 1): Die gesamten Exporte Indiens
                                                        lagen 1986 noch bei etwa 10,4 Milliarden US-
                                                        Dollar. Im Jahr 2006 dagegen erreichten sie
 6 Nayar und Paul nennen als weiteren Grund die
                                                        einen Gesamtwert von etwa 127 Milliarden
strategische Befçrchtung noch weiter hinter China zu-
                                                        US-Dollar. Das Bruttoinlandsprodukt ver-
rçckzufallen. Vgl. Baldev Raj Nayar/T. V. Paul, India
In The World Order ± Searching For Major-Power
Status, Cambridge 2003, S. 16.                           9 Vgl. Ramesh Thakur, Der Elefant ist aufgewacht, in:
 7 Vgl. Harald Mçller, Weltmacht Indien ± Wie uns der   Internationale Politik (IP), 61 (2006) 10, S. 6±13.
rasante Aufstieg herausfordert, Frankfurt/M. 2006,       10 Vgl. B. R. Nayar/T. V. Paul (Anm. 6), S. 207; H.

S. 66.                                                  Mçller (Anm. 7), S. 66 f.; Alan L. Winters/Yusuf Sha-
 8 Vgl. Christian Wagner, Die 14. Wahlen zum indi-      hid (eds.), Dancing With Giants ± China, India, And
schen Unterhaus, in: SWP-Aktuell, (2004) 25, in:        The Global Economy, Washington, DC 2007, S. 226.
www.swp-berlin.org/common/get_document.php?id=           11 Vgl. Shankar Acharya, Thirty Years of Tax Reform

889&PHPSESSID=97587f6cde5459d7196048d12a8a1b96          in India, in: Economic and Political Weekly vom 14. 5.
(5. 4. 2008).                                           2005, S. 2061±2069.

                                                                                             APuZ 22/2008        9
Tabelle 1: Scheinendes Indien . . .                                      Zugpferd der indischen Entwicklung ist
                 1960 ±   1970±      1980 ±      1990 ±     2000±     vielmehr ein Sektor der Hochtechnologie, der
                 1969     1979       1989        1999       2005      çberwiegend der Dienstleistungsbranche zu-
BIP (in Mil-     47,86    97,53      231,05      343,90     591,60    zurechnen ist. Es handelt sich um die Soft-
liarden US$)
BIP (in Mil-     keine    318,97     709,18      1631,54    2980,00
                                                                      wareproduktion und -anwendung, in der In-
liarden US$,     Daten                                                dien heute als die fçhrende Weltnation be-
kaufkraftbe-                                                          zeichnet werden kann. 1990 wurde ein
reinigt)
                                                                      ¹Software Technology Parkª bei Bangalore
BIP Wachs-       3,99 %   2,93 %     5,89 %      5,70 %     6,49 %
tumsraten                                                             als Freihandelszone etabliert. Danach konnte
BIP pro Kopf     keine    494,86     923,56      1749,90    2812,83   sich die Softwareindustrie in den 1990er Jah-
(in US$, kauf-   Daten                                                ren mit Raten von 50 Prozent pro Jahr aus-
kraftberei-
nigt)
                                                                      dehnen. Ihre Wertschæpfung wird bald mehr
Lebenserwar-     45,94    50,83      55,85       60,73      63,27     als 100 Milliarden US-Dollar im Jahr betra-
tung             Jahre    Jahre      Jahre       Jahre      Jahre     gen, wobei mehr als die Hålfte davon im Ex-
                                                                      portgeschåft erzielt wird.

Tabelle 2: . . . oder weinendes Indien?                                 Das indische Wirtschaftswachstum hat in-
                              1987            1993         2004       dessen långst andere fortgeschrittene Sekto-
Anteil der Bevælkerung mit    46 %            42 %         34 %       ren erfasst. In der Biotechnologie stæût In-
weniger als 1 US$ pro Tag
                                                                      dien zur Weltspitze vor, nachdem auch dieser
Anteil der Bevælkerung mit    87 %            85 %         80 %
weniger als 2 US$ pro Tag                                             Sektor liberalisiert und auslåndische Anteile
                                                                      in Hæhe von 74 Prozent genehmigungsfrei
Quelle: World Development Indicators 2007.
                                                                      zugelassen wurden. Genehmigungsvorbehalte
                                                                      gibt es noch bei der Herstellung und dem
                                                                      Vertrieb von Labor-erzeugten DNA-Produk-
                                                                      ten; ferner existieren Preiskontrollen bei eini-
          dreifachte sich zwischen 1986 und 2006. Und                 gen Medikamenten wie Insulin. Die indische
          im Mårz 2008 erregte die Meldung Aufsehen,                  Raumfahrt ist ebenfalls erfolgreich, ihr Fort-
          dass Inder unter den zehn reichsten Men-                    schritt erfolgt nach Plan. Am Horizont zeich-
          schen der Welt die græûte nationale Gruppe                  net sich bereits ab, dass in der kommenden
          darstellen. 12 Aus dem belåchelten indischen                industriell-technischen Revolution, die durch
          Elefanten ist eine bedeutende Wirtschafts-                  den Einsatz der Nanotechnologie ausgelæst
          macht geworden.                                             wird, die Inder gleichfalls mit an der Spitze
                                                                      marschieren werden. Auch ihre fçhrende
                                                                      Stellung auf dem Wachstumsmarkt der Out-
Das untypische Entwicklungsmodell:                                    sourcing-Dienstleistungen ist bemerkens-
                                                                      wert. In indischen Outsourcing-Unterneh-
High Tech first!                                                      men werden Schriftsåtze fçr renommierte
                                                                      amerikanische Anwaltskanzleien, ja sogar
          Den Lehrbçchern entsprechend entwickeln
                                                                      Reden fçr US-Senatoren verfasst.
          sich periphere Volkswirtschaften durch die
          Kapitalisierung der Landwirtschaft çber die
                                                                         Im Kielwasser dieser ¹Flaggschiffeª der
          Massenproduktion von Konsumgçtern, deren
                                                                      indischen Wirtschaft zeigen sich mittlerweile
          Produktion gering qualifizierte Arbeitskraft
                                                                      auch Erfolge in der Massenproduktion von
          benætigt, zu einer soliden Industriewirtschaft,
                                                                      Konsum- und Investitionsgçtern. Automo-
          bevor der Dienstleistungssektor die Fçhrung
                                                                      bile, Elektroartikel und mittlerweile in ganz
          des wirtschaftlichen Wachstums çbernimmt.
                                                                      Asien beliebte ¹Bollywoodª-Produkte der
          Diese Lehre hat Indien auf den Kopf ge-
                                                                      indischen Filmindustrie sind Exportschlager.
          stellt. 13
                                                                      Die indische Stahlindustrie ist weltweit
                                                                      wettbewerbsfåhig und greift mit ihren Inves-
          12 Vgl. Spiegel Online, Die meisten Super-Milliardåre
                                                                      titionen auch die europåischen Mårkte an,
          kommen aus Indien, in: www.spiegel.de/wirtschaft/           etwa der Konzern Mittal. Der Trend zeigt,
          0,1518, 539784,00. html (6. 4. 2008)
          13 Zum Folgenden vgl. Tim Dyson/Robert Cassen/
                                                                      dass der moderne Sektor der indischen
          Leela Visaria, Twenty-First Century India: Population,      Volkswirtschaft auch in der Breite gut aufge-
          Economy, Human Development, and the Environ-                stellt ist.
          ment, New York 2004.

    10      APuZ 22/2008
Schwåchen und Risiken                                  gen in China oder den USA. 14 Dies alles
                                                       kann jedoch nicht darçber hinwegtåuschen,
      Dennoch gibt es auch Schwåchen. Das Aus-         dass Indien immer noch ein bitterarmes Land
      bildungsgefålle zwischen den Grundschulen        ist. Je nach Zåhlweise leben noch immer bis
      einerseits und den Hochschulen, Ingenieurs-      zu 80 Prozent der Bevælkerung in Armut
      schulen und Universitåten andererseits bleibt    (Tabelle 2). Ein Viertel der indischen Bevæl-
      krass, was ein spåtes Erbe der Kolonialzeit      kerung gehært den (besonders auf dem Land)
      ist, in der es den Briten auf gutes Verwal-      immer noch benachteiligten niederen Kasten
      tungs- und technisches Personal, aber keines-    oder aber Stammesbevælkerungen an. 15
      wegs auf breite Volksbildung ankam. Es gibt
      demzufolge einen Mangel an Facharbeitern,           Insbesondere zwei Entwicklungen werfen
      der ein noch breiteres Wachstum der indi-        einen dunklen Schatten auf die indische Er-
      schen Industrie hemmt.                           folgsgeschichte. Zum einen gibt es dramati-
                                                       sche regionale Unterschiede, zum anderen ist
         Auslåndische Investoren beklagen die          die Landwirtschaft ¹die Achillesferse nicht
      Schwåchen der Infrastruktur, namentlich im       nur der Volkswirtschaft, sondern auch der
      Verkehrssystem und in der Energieversor-         sozialen und politischen Stabilitåtª. 16 Re-
      gung. Hier ist die Bçrokratie trotz zahlrei-     gional gesehen låsst sich feststellen, dass ei-
      cher Liberalisierungsschritte immer noch         nige Bundesstaaten (meist angetrieben
      çberdurchschnittlich stark beteiligt, das In-    durch den Erfolg einiger weniger Standorte
      vestitionstempo langsam, die Trågheit groû.      wie Bangalore, Mumbai oder Madras) von
      Eisenbahnen, Straûen, Flughåfen und Håfen        Anfang an am Wirtschaftswachstum partizi-
      sind chronisch çberlastet und ineffizient. Die   pierten und andere auf den fahrenden Zug
      Stromproduktion bleibt hinter dem Wachs-         aufsprangen, wåhrend wieder andere den
      tum zurçck, Stromausfålle sind an der Tages-     Anschluss verpasst haben. So konzentriert
      ordnung. Die groûspurigen Plåne der Atom-        sich die Hålfte der indischen Armen auf nur
      energiekommission sind weit von der Wirk-        fçnf (von insgesamt 28) Bundesstaaten. Die
      lichkeit entfernt. Die Regierung Singh macht     fçnf reichsten Bundesstaaten dagegen erwirt-
      energische Versuche, diese Schwåchen zu be-      schaften 40 Prozent des Bruttosozialpro-
      heben, unter anderem durch die Einbezie-         dukts. 17
      hung auslåndischer Unternehmen ins Mana-
      gement der Flughåfen, aber es ist ein Wettlauf      Besonders bedenklich ist der Rçckstand
      zwischen Innovation und steigendem Bedarf.       der landwirtschaftlichen Entwicklung in den
                                                       bevælkerungsreichsten Staaten von Mittelin-
         Eine mit anderen Entwicklungslåndern ge-      dien. Anders als im indischen Westen, etwa in
      teilte Schwåche ist die untergeordnete Stel-     Pandjab, wo sich wåhrend der ¹grçnen Revo-
      lung der Frau. Hier liegt (ganz abgesehen von    lutionª der 1960er Jahre eine hoch produktive
      den menschenrechtlichen Defiziten) eine im-      mittelståndische Landwirtschaft entfaltet hat,
      mense Produktivkraft aufgrund patriarchali-      herrscht im rçckståndigen ¹Hindugçrtelª
      scher Gewohnheiten brach. Die wachsende          noch das Pachtsystem vor, in dem aristokrati-
      Alphabetisierungsrate auch im weiblichen         sche Grundbesitzer ± die meisten der Bra-
      Teil der Bevælkerung und der steigende An-
      teil der Frauen an den Hochschulabsolventen       14 Vgl. G. Das (Anm. 2), S. 2 f.; Krishnamurthy Ra-

      weckt Hoffnungen, dass auch hier Fort-           masubbu, India scores better in inequality reduction
      schritte gemacht werden.                         than America, China, in: The Indian Express vom
                                                       9. 8. 2007. Jha und Negre machen allerdings darauf
        Doch das græûte Risiko fçr die weitere         aufmerksam, dass die Ungleichheit absolut gesehen in
                                                       Indien spçrbar zugenommen habe. Vgl. Praveen Jha/
      Entwicklung liegt in den Folgen der sozialen     Mario Negre, Der Preis des Wunders ± Indien zwi-
      Fragmentierung, die mehr als je zuvor zwi-       schen wirtschaftlichem Aufstieg und sozialem Abstieg,
      schen Gewinnern und Verlierern trennt.           in: Blåtter fçr deutsche und internationale Politik,
      Zwar hat sich die Græûe der Mittelschicht in-    (2007) 10, S. 1245±1256.
                                                        15 Vgl. Samir Amin, Weltmacht Indien? Der Sub-
      nerhalb der vergangenen beiden Dekaden ver-
      vierfacht. Zwar haben in diesem Zeitraum         kontinent zwischen kolonialem Erbe und globalem
                                                       Aufstieg, in: Blåtter fçr deutsche und internationale
      jåhrlich ein Prozent der Armen die Armuts-       Politik, (2007) 6, S. 705±716.
      grenze hinter sich gelassen. Zwar liegt die       16 H. Mçller (Anm. 7), S. 81.
      Ungleichheit in Indien deutlich unter derjeni-    17 Vgl. ebd., S. 84.

                                                                                           APuZ 22/2008        11
mahnenkaste angehærig ± im Zusammenspiel                 mistª im Mårz 2008 fest: ¹The government's
     mit den lokalen Behærden die kleinen Påchter             subsidies fail to reach the poor, its schools fail
     und die landlosen Landarbeiter kujonieren.               to teach them and its rural clinics fail to treat
     Hier ist das archaische Kastensystem, das in             them.ª 22 Die Reformen seit 1991 sind jedoch
     den Stådten allmåhlich erodiert, noch weitge-            nicht ursåchlich fçr das anhaltende Leid vie-
     hend intakt. Die Versuche der Benachteilig-              ler Inder. 23 Denn die Armut und gesellschaft-
     ten, mit legalen Mitteln ihre verfassungsmåûi-           lichen Friktionen waren in der mixed econo-
     gen Rechte wahrzunehmen, scheitern an der                my keineswegs geringer ausgeprågt. Freilich
     Koalition zwischen Staatsmacht und Groû-                 genieûen bis heute zu wenige Inder die
     grundbesitz. Folgerichtig sind die Bauern de-            Frçchte      des    rasanten    Wirtschaftsauf-
     motiviert und unproduktiv, die Staatshaus-               schwungs. Hier gilt es umzusteuern, ohne die
     halte defizitåre Subventionsbetriebe.                    Substanz der Reformen zu gefåhrden. Daran
                                                              wird sich entscheiden, ob sich Indiens Auf-
       Aber auch zwischen urbanen und låndli-                 stieg als nachhaltig erweisen oder internen
     chen Gebieten sind die Gegensåtze stark aus-             Auseinandersetzungen bis hin zu einer Ar-
     geprågt. 18 Erklåren låsst sich dies unter ande-         mutsrevolte zum Opfer fallen wird.
     rem dadurch, dass die IT-Branche und ver-
     wandte Zweige keine neuen Arbeitsplåtze
     und Arbeitsbedingungen in der Landwirt-                       Prognose: Standortvorteil Demokratie
     schaft schaffen, wo immer noch etwa 60 Pro-
     zent der Inder beschåftigt sind. 19 Darçber              Wenn am Schluss dieser Analyse unsere Pro-
     hinaus steckt die Landwirtschaft selbst in               gnose gemåûigt optimistisch ausfållt, so ist
     einer Krise, die durch eine Stagnation des               dies vor allem durch den Blick auf die Anpas-
     Pro-Kopf-Realeinkommens, sinkende Pro-                   sungsfåhigkeit des demokratischen Systems
     duktionsraten und eine steigende Landlosig-              in Indien gerechtfertigt; gerade dieser Tage, in
     keit gekennzeichnet ist. 20                              denen die chinesischen Sicherheitskråfte in
                                                              Tibet und den angrenzenden Provinzen Ge-
        Diese schlimme Lage in den årmeren lånd-              walt anwenden, rçckt dieser Unterschied
     lichen Gebieten findet ihren Ausdruck in der             zum zweiten ¹asiatischen Riesenª wieder
     exorbitanten Verschuldungsrate vieler båuer-             stårker ins Bewusstsein.
     licher Haushalte, in der hohen Selbstmordra-
     te unter Bauern (etwa 100 000 Opfer zwi-
                                                                 Demokratie ist die Voraussetzung fçr
     schen 1993 und 2003) und im Wachstum der
                                                              Rechtsstaatlichkeit, indem sie die Unabhån-
     Naxaliten, einer sozialrevolutionåren Terror-
                                                              gigkeit der Justiz gewåhrleistet. Fçr eine auf
     und Guerillaorganisation nach maoistischem
                                                              Privateigentum beruhende Volkswirtschaft ist
     Vorbild, die in etwa 15 Prozent des indischen
                                                              die Rechtssicherheit, die dieses System aus-
     Staatsterritoriums aktiv ist. 21 Die Regierung
                                                              strahlt, von entscheidender Bedeutung. In In-
     ist zwar bemçht, Abhilfe zu schaffen, aber an
                                                              dien kænnen auswårtige Investoren gegen das
     der Umsetzung hapert es oft. Fast schon resi-
                                                              Raubkopieunwesen ihr Recht einklagen. In
     gnierend stellt ein Leitartikel des ¹Econo-
                                                              China ist das ein reines Lotteriespiel. Die
                                                              græûere Zurçckhaltung der Behærden, das
                                                              Kreditwesen zugunsten der eigenen Klientel
      18 Vgl. P. Jha/M. Negre (Anm. 14), S. 1246 ff. Nach
                                                              oder maroder Unternehmen zu manipulieren
     Berechnungen der ¹National Commission for Enter-
     prises in the Unorganised Sectorª gehen die Wachs-
                                                              und eine insgesamt funktionierende Banken-
     tumsgewinne der indischen Volkswirtschaft an 77 %        aufsicht hålt den Anteil zweifelhafter Kredite
     der Bevælkerung spurlos vorbei. Vgl. High growth rate    in Grenzen; damit ist der Finanzsektor ge-
     of 9 % has bypassed 77 % of population, in: The Times    sçnder als der chinesische.
     of India vom 1. 2. 2008.
      19 Dabei hat sich der Anteil der Landwirtschaft am

     BIP zwischen 1986 und 2006 auf 17,5 % nahezu hal-         22 ¹Die Gelder der Regierung erreichen die Armen

     biert. Vgl. P. Jha/M. Negre (Anm. 14), S. 1248 und G.    nicht. Weder gelingt es den staatlichen Schulen, sie zu
     Das (Anm. 2), S. 7.                                      bilden, noch den låndlichen Kliniken, sie medizinisch
      20 Vgl. P. Jha/M. Negre (Anm. 14), S. 1252.             zu versorgen.ª What's holding India back? in: The
      21 Vgl. Pankaj Mishra, The Myth of the New India, in:   Economist vom 8. 3. 2008.
     The New York Times vom 6. 7. 2006 und Palagummi           23 Die gegenteilige Ansicht vertreten P. Jha/M. Negre

     Sainath, Bæse Saat in Andra Pradesh, in: Le Monde di-    (Anm. 14), S. Amin (Anm. 15) und P. Sainath
     plomatique ± Deutsche Ausgabe vom 11. 1. 2008.           (Anm. 21).

12    APuZ 22/2008
Die indische Demokratie hat sich bei der             Bernard Imhasly
Befriedung græûerer Konflikte als anpas-
sungsfåhig erwiesen. 24 Diese Flexibilitåt spie-
gelt sich wider in der Grçndung und Koopta-
tion neuer Parteien, die vor allem von den un-
                                                        Ein reiches Land
teren Kasten und zugunsten regionaler
Belange ins Leben gerufen wurden. Die hohe              mit armen
                                                        Menschen
Zahl der Fraktionen (gegenwårtig um die 40)
in der Lok Sabha (Unterhaus des indischen
Parlaments), die hierzulande als Zeichen haar-
stråubender Instabilitåt empfunden wçrde,
gestattet die Repråsentation der Vielfalt der
indischen Gesellschaft im politischen Ent-
scheidungssystem. Da die groûen Parteien
Koalitionspartner brauchen, haben diese Par-
                                                        V    or langen Jahren, so Indiens designierter
                                                              Premierminister Jawaharlal Nehru am
                                                        Vorabend des Unabhångigkeitstags vom 15.
teien beste Chancen, etwas fçr ihre Klientel            August 1947, ¹hat Indien der Vorsehung ein
zu tun und damit deren Disruptionspotential             Versprechenª gemacht. Nun sei endlich der
ruhig zu stellen. Einen weiteren Vorteil bildet         Augenblick gekommen, es einzulæsen. Die
der Fæderalismus: Wo ethnisch-religiæse                 Abmachung bestand darin, das Land ¹von
Fragmentierung die Stabilitåt in einem Bun-             Armut, Krankheit und Notdurft (. . .) zu be-
desstaat beeintråchtigt, bietet die Grçndung            freien, nicht vollstån-
eines neuen oder die Einrichtung autonomer              dig, aber doch in gro- Bernard Imhasly
Provinzen oder Regierungsbezirke die Mæg-               ûem Maûª.                 Geb. 1946; von 1989 bis Ende
lichkeit der Befriedigung der Autonomiebe-                                       2007 Korrespondent der
strebungen von Minoritåten. 25                             Hat Indien sein Ver- ¹Neuen Zürcher Zeitungª und
                                                        sprechen eingehalten? der ¹tazª in Neu Delhi.
   So låsst sich mit einer gewissen Zuversicht          Sechzig Jahre oder drei b.imhasly@bluewin.ch
prognostizieren, dass im ¹Hindugçrtelª dra-             Generationen      spåter
matische Reformen bevorstehen, die vermut-              sind ein guter Zeit-
lich von neuen Unterkasten-Parteien im Ver-             punkt, die Frage zu stellen. Die Antworten
ein mit der Bundesregierung vorangetrieben              fallen unterschiedlich aus, je nach dem Maû-
werden. Ein Teil der Naxaliten wird sich als            stab, den der Beobachter ansetzt. Aus einer
neue kommunistische Partei in das System                wirtschaftsgeschichtlichen Perspektive mit
einbinden lassen und in die Verwaltung und              einer Referenzperiode von hundert Jahren
Regierung betroffener Bundesstaaten einzie-             sind die Fortschritte beachtlich. Das durch-
hen. Der militante Rest wird durch Refor-               schnittliche Jahreswachstum, das in der ersten
merfolge schrittweise marginalisiert. Diese             Hålfte des 20. Jahrhunderts, der letzten Phase
Prognose ist ± wie alle sozialwissenschaftli-           der Kolonialherrschaft, 0,79 % betragen
chen Voraussagen ± mit erheblichen Unge-                hatte, beschleunigte sich in der zweiten
wissheiten belastet, entspricht jedoch den bis-         Hålfte um das Fçnffache. Und trotz der Zu-
herigen Erfahrungen mit der indischen De-               nahme der Bevælkerung um das Dreieinhalb-
mokratie.                                               fache ist das Volksvermægen in realen Zahlen
                                                        um das Zehnfache gewachsen. Gleichzeitig ist
                                                        dieses riesige und heterogene Land jenes mit
                                                        der denkbar græûten politischen Stabilitåt
                                                        unter allen Entwicklungslåndern geblieben.
                                                        Und dies nicht unter der Fuchtel eines auto-
24 Fçr einen kritischen Ûberblick vgl. Christian Wag-
                                                        kratischen Regimes, sondern dank des freien
ner, Das politische System Indiens. Eine Einfçhrung,    demokratischen Entscheids seiner Bçrger. In-
Wiesbaden 2006.                                         dien war Wegbereiter der Entkolonisierung
25 Vgl. Emma Mawdsley, Redrawing the Body Politic:      und wurde Mitbegrçnder und Zugpferd der
Federalism, Regionalism and the Creation of New         Blockfreien, der ersten politischen Bewegung
States in India, in: Andrew Wyatt/John Zavos (eds.),    der ¹Dritten Weltª, die sich zumindest an-
Decentring the Indian Nation, London ± Portland
                                                        satzweise dem westlichen wirtschaftsideolo-
2003, S. 34±54.
                                                        gischen Diskurs entzog, sei es in dessen
                                                        marktwirtschaftlicher, sei es in kommunisti-

                                                                                       APuZ 22/2008     13
scher Ausprågung. Diesen internationalen         Schneiderª und auf dem besten Weg zu einem
     Fçhrungsstatus hat es auf halbem Weg einge-      Wohlfahrtsstaat westlichen Musters ist, wenn
     bçût, und erst heute ist es dabei, ihn ± kraft   nicht gar zu einer wirtschaftlichen und politi-
     seiner ækonomischen Macht ± wieder einzu-        schen Groûmacht? Wer in diesen Tagen die
     fordern, allerdings auf Kosten des Anspruchs     Medienberichterstattung verfolgt, kænnte den
     auf einen ¹Dritten Wegª.                         Eindruck gewinnen, dass dies nur ein Frage
                                                      der Zeit ist, und dass diese Zeit nåher ist, als
        Die Entwicklungsdynamik hat sich nach         wir gemeinhin annehmen.
     1990 nochmals bedeutend beschleunigt. Und
     aufgrund der ersten Welle wirtschaftlicher          Man muss das enorme Wachstum nur in
     Reformen hat es im vergangenen halben Jahr-      die Zukunft projizieren, und schon ist man
     zehnt noch einmal einen Wachstumssprung          bei den Prognosen der amerikanischen Citi-
     vollzogen. Zahlreiche Beobachter behaupten,      bank, die vor drei Jahren fçr die vier BRIC-
     dass sich Indien in den vergangenen fçnf Jah-    Staaten ± Brasilien, Russland, Indien, China ±
     ren stårker veråndert hat als in den fçnfzig     folgendes Szenario aufgestellt hat: In fçnfzig
     Jahren zuvor. Das Pro-Kopf-Einkommen hat         Jahren wird Indien hinter China und den
     sich nahezu verdoppelt ± die erste Verdoppe-     USA an dritter Stelle der weltweit græûten
     lung hatte 19 Jahre gebraucht. Spar- und In-     Volkswirtschaften stehen. Jene Studie war
     vestitionsvolumina sind von 27 auf 34 % ge-      von einem Jahreswachstum von 6 % ausge-
     stiegen, die Armutsquote ist, auch wenn die      gangen. Seitdem ist das Land aber jedes Jahr
     Angaben stark schwanken, um ein Drittel ge-      um 8,5 % gewachsen, und falls es dieses
     sunken. So gesehen, hat die Dynamisierung        Wachstum beibehålt (oder gar ausbaut), wird
     der Wirtschaft mehr fçr die Armutsbekåmp-        Indien auch die USA çberholen und hinter
     fung getan als die vielen Milliarden, die von    China den zweiten Platz besetzen. Die
     der indischen Regierung ± und von der inter-     Marktkapitalisierung der indischen Bærsen
     nationalen Hilfsgemeinschaft ± wåhrend           liegt mit 1800 Milliarden US-Dollar schon
     fçnfzig Jahren in die Entwicklungshilfe ge-      weit çber dem Sozialprodukt. Auslandsin-
     pumpt worden sind.                               vestitionen liegen zwar immer noch weit hin-
                                                      ter jenen Chinas, doch haben sie sich zwi-
       Vor einem Jahr berichteten indische Zei-       schen 1991 und 2006 verhundertfacht ± von
     tungen çber einen neuen Meilenstein: Die         150 Millionen auf 15 Milliarden US-Dollar.
     Wirtschaftsleistung ± das Bruttosozialpro-
     dukt ± hatte eine Billion bzw. 1000 Milliarden     Doch wie immer bei groûen Zahlen und
     US-Dollar erreicht. Damit ist Indien erst das    Volkswirtschaften, die relativen Græûen sind
     zwælfte Land der Welt, das diese Hçrde çber-     oft wichtiger als die absoluten. Das amerika-
     sprungen hat. Dies ist auf den ersten Blick      nische Wirtschaftsmagazin ¹Forbesª schåtzte
     nichts Weltbewegendes, denn wiederum ist es      im Mårz 2008 die Zahl der indischen Dollar-
     das Gesetz der groûen Zahl, das diese Leis-      Milliardåre auf 54 ± mehr als Japan zu bieten
     tung wesentlich begrçndet. In Indien leben       hat. Ihr Vermægen umfasst zusammengerech-
     inzwischen nahezu 1,2 Milliarden Menschen,       net knapp 250 Milliarden US-Dollar. Ûber
     und jeder sechste Weltbçrger ist damit eine      ein Fçnftel des gesamten Volksvermægens
     Inderin oder ein Inder. Man muss also nur die    dieses Milliardenvolks wird also, vereinfacht
     1000 Milliarden durch die Bevælkerungszahl       gesagt, von einer verschwindend winzigen
     dividieren, um auf ein viel bescheideneres Re-   Minderheit beansprucht. Wird dieses groûe
     sultat zu kommen: rund 833 US-Dollar ± das       Kçchenstçck herausgenommen und der Rest
     durchschnittliche Jahreseinkommen eines In-      auf die 1,2 Milliarden Menschen (minus 54
     ders. Beide Zahlen zeigen Græûe und Gren-        Kæpfe) verteilt, nimmt das Pro-Kopf-Vermæ-
     zen dieses Landes an. Immerhin hat es damit      gen rasant ab und betrågt nur noch rund 600
     eine weitere Hçrde genommen. Es gehært,          US-Dollar pro Kopf und Jahr. Das bedeutet
     extrapoliert man das Wachstum von 8,5 %          knapp zwei US-Dollar pro Tag, womit Indien
     auf das Jahr 2008, fortan nicht mehr zur Kate-   wieder unter den Ørmsten wåre. Das alte Kli-
     gorie der ¹årmsten Lånderª, jenen also, die      schee von Indien als dem Land der Wider-
     gemåû Weltbank ein Jahreseinkommen von           sprçche trifft also immer noch zu, und damit
     weniger als 842 US-Dollar pro Kopf errei-        auch die Frage, ob das Glas halb leer oder
     chen. Heiût dies, dass Indien damit ¹aus dem     halb voll ist.

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