Es ist angerichtet - Juni 2014 - Partnerschaft, Ehe und Familie

Die Seite wird erstellt Aaron Lauer
 
WEITER LESEN
Es ist angerichtet - Juni 2014 - Partnerschaft, Ehe und Familie
Juni 2014

Partnerschaft, Ehe und Familie

Es ist angerichtet
Es ist angerichtet - Juni 2014 - Partnerschaft, Ehe und Familie
Unsere Seelsorge

4		 Ehe und Familie                                                          32		     Neustart
		 Verbindlichkeit auf Dauer angesichts moderner                             		       Glücklich verheiratet – unglücklich getrennt
		 Unverbindlichkeit?                                                        		       – und dann?

10		   Kein Speed-Dating!                                                    34		     Wenn Wege sich trennen
		     Familien brauchen Zeit                                                		       Gottesdienst für und mit Menschen in Trennung
                                                                             		       und Scheidung
14		   Heute noch relevant?
		     Katholische Sexualmoral                                               36		     Höchste Zeit!
                                                                             		       Erfahrungen mit Geschiedenen und Wieder-
18		   Priorität für Partnerschaft, Ehe und Familie                          		       verheirateten – Konsequenzen für die Seelsorge
		     Annäherung an den Pastoralplan für das
		     Bistum Münster                                                        38		     Treffpunkt•Gott
                                                                             		       Im Glauben wachsen mit allen Generationen
22		   Was glaubst Du?
		     Glaubens-, Konfessions- und Religionsunterschiede                     40       Wenn Frau und Frau sich lieben
		     in Ehevorbereitungskursen                                             		       Gleichgeschlechtliche Partnerschaften in der Pfarrei

24     „Wir wollen einen Segen ...“                                          42       Zeit schenken
		     Segnungsfeier für Liebende                                            		       Familienpaten bieten Hilfe zur Selbsthilfe

26     Entfalten!                                                            44       Einer für alle
		     Familienbildung als Wegbegleitung                                     		       Hilfekompass Friesoythe

30		   Von den Familien lernen                                               46       Service
		     Kindertageseinrichtungen als pastorale Orte                           47       Internet

Impressum Unsere Seelsorge                                            www.unsere-seelsorge.de

Das Themenheft der Hauptabteilung Seelsorge im Bischöflichen Generalvikariat Münster er-
scheint vierteljährlich und erreicht alle hauptamtlichen Seelsorgerinnen und Seelsorger, die Vor-
sitzenden der Pfarrgemeinderäte, die Bildungseinrichtungen und die Katholischen Öffentlichen
Büchereien im Bistum Münster.
Herausgeber und Verleger Bischöfliches Generalvikariat Münster, Hauptabteilung Seelsorge,
Pater Manfred Kollig SSCC Redaktion Donatus Beisenkötter, Georg Garz
Redaktionsbeirat Johannes Bernard, Dominik Blum, Michael Seppendorf
Konzeption Eva Polednitschek-Kowallick, Sabine Orth
Layout und Satz kampanile | MEDIENAGENTUR im dialogverlag | www.kampanile.de                            Der Ausgleich der Treibhausgasemissionen
Druck Druckerei Joh. Burlage, Münster | www.burlage.de                                                  erfolgte durch die Unterstützung anerkann-
Redaktionssekretariat Heidrun Rillmann, Bischöfliches Generalvikariat Münster, Hauptabteilung           ter Klimaschutzprojekte. Wir unterstützen
Seelsorge, Domplatz 27, 48143 Münster, Telefon 0251 495-1181, redaktion@unsere-seelsorge.de             mit diesem Druck ein Klimaschutzprojekt
Titelbild Kay Fochtmann (photocase.com) Fotos MPower., FrancieT, birdys, Flügelfrei, apl_d200,          im brasilianischen Staat Ceará. Das Projekt
an.ma.nie, kallejipp, cydonna, pauajusa, markusspiske (alle photocase.com), Archiv, privat              umfasst fünf Keramikproduktionsstätten,
                                                                                                        die nachhaltig produzierte, erneuerbare
                                                                                                        Biomasse zur Befeuerung nutzen.
Einzelbezugspreis 3,50 Euro Jahresabonnement 12 Euro                ZKZ 74165       ISSN 1863-7140
Es ist angerichtet - Juni 2014 - Partnerschaft, Ehe und Familie
3

Liebe Leserinnen,
liebe Leser,

             noch nie haben in Deutsch-    Zwei Wirklichkeiten ermutigen, gerade      zum Beispiel: Gleichgeschlechtliche
             land so viele Menschen so     zum jetzigen Zeitpunkt das Thema           Partnerschaften in einer Pfarrei; Mög-
             lange in einer monogamen      aufzugreifen: Zum einen der Pastoral-      lichkeiten, Paare zu segnen, die nicht
             Ehe gelebt wie heute. Diese   plan für das Bistum Münster, der ein-      kirchlich heiraten wollen oder können;
             Erkenntnis ist eine von       lädt, sich im Vertrauen auf Gott und die   die Frage nach dem Wirken des Geistes
vielen Tatsachen, die uns zum jetzigen     Menschen der Wirklichkeit zu stellen.      Gottes in einer Partnerschaft, in der
Zeitpunkt bewegt, diese Ausgabe von        Wie die Welt als ganze sind auch Part-     Menschen sich nicht das Sakrament der
Unsere Seelsorge dem Thema „Partner-       nerschaft, Ehe und Familie Gottes voll.    Ehe gespendet haben.
schaft, Ehe und Familie“ zu widmen.        In ihnen gibt es auch heute Geistesga-
                                           ben zu entdecken. Zum anderen lädt         Bei aller Vorläufigkeit vieler Antworten
Die Ideale der katholischen Kirche wer-    die Umfrage zur Bischofssynode, deren      und der denkbaren Einwände, die gegen
den im Kontext biografischer und gesell-   erster Teil im Herbst 2014 in Rom statt-   bestimmte Positionen aus anderer Pers-
schaftlicher Veränderungen reflektiert.    findet, zum Nachdenken ein. Bereits im     pektive geltend gemacht werden können,
Neue Herausforderungen, denen sich         Dezember 2013 gab es hierzu eine breit     wünsche ich allen Leserinnen und
die Familien stellen müssen, werden        angelegte Befragung in der Weltkirche,     Lesern eine gute Lektüre. Sie helfe vor
in den Blick genommen. Wir fragen uns      die ebenfalls in dieser Ausgabe berück-    allem denen, über die in diesem Heft
nicht nur, wie sich die Kirche Partner-    sichtigt wird.                             geschrieben wird, damit sie, bevor sie
schaft, Ehe und Familie vorstellt. Wir                                                einander lieben, erfahren, wie sehr sie
fragen auch: Was suchen die Menschen,      Gleichzeitig widmen wir uns diesem         von Gott durch die Kirche geliebt sind.
wenn sie nach Freundschaft und Partner-    Thema zu einem Zeitpunkt, in dem
schaft, Ehe und Familie suchen? Die        viele Fragen offen sind. Einige Artikel    Herzlich
Artikel setzen sich unter anderem mit      berichten über Erfahrungen aus ande-
der Frage nach einer angemessenen          ren Diözesen, in denen zum Teil bereits    Ihr
pastoralen Antwort auf die aktuelle        pastorale Antworten gegeben werden,
Situation auseinander. Sie stellen sich    wo wir in unserem Bistum bisher ledig-
im Geiste Jesu bleibenden Werten           lich die Fragen wahrnehmen.
unter veränderten Bedingungen. Dabei
spielen auch Beratungssysteme und          Neben meinem Dank an alle Autorinnen
Verbände eine Rolle, weil sie Menschen     und Autoren, die sich der schwierigen
in ihren konkreten Lebenskontexten         Thematik stellen, gilt mein besonderer
unterstützen, Partnerschaft, Ehe und       Dank denen, die sich Themen widmen,
Familie zu gestalten.                      die oftmals ausgeblendet werden wie

                                                                                                          Pater Manfred Kollig SSCC
                                                                                             Bischöfliches Generalvikariat Münster
                                                                                                 Leiter der Hauptabteilung Seelsorge
Es ist angerichtet - Juni 2014 - Partnerschaft, Ehe und Familie
4                 Unsere Seelsorge

Ehe und Familie
Verbindlichkeit auf Dauer angesichts moderner Unverbindlichkeit?

„Drahtseilakt Ehe“ – lautet die Arbeitshilfe der Deutschen Bischofskonferenz zum Familiensonntag 2014:
ein ungewöhnliches und ungewohntes Bild für eine Lebensform, die mit zu den ältesten Institutionen un-
serer Zivilisation gehört. Dieses Bild ist irritierend anders als die Vorstellungen, die traditionell mit Blick
auf die Ehe Verwendung finden. Da ist etwa die Rede vom „Topf, der seinen Deckel gefunden hat“, als ob
diese wechselseitige Bestimmung und Passung naturgegeben wäre. Dann läuft das Paar in den „Hafen
der Ehe“ ein, die unsicheren Gewässer sind verlassen, am sicheren Ankerplatz kann der Nestbau begin-
nen in Verbundenheit mit all den anderen, die dort bereits vertäut sind. Dort übernimmt das Ehepaar
dann seine Aufgaben in Familie, Welt und Kirche vor Ort.
Es ist angerichtet - Juni 2014 - Partnerschaft, Ehe und Familie
5

Wie anders und verstörend mutet dage-       15. und 25. Ehejahr – ein Zeitraum der
gen das Bild vom Drahtseilakt an. Nichts    vor hundert Jahren im Durchschnitt
scheint jemals dauerhaft gesichert. Fort-   noch gar nicht erreicht wurde. Im Jahr
während droht der (Zer-)Fall in die eine    1963 lag der Anteil der Spätscheidungen
oder andere Richtung. Wenn man das          an der Anzahl aller Scheidungen noch
Bild vor seinem inneren Auge entstehen      bei 4,5 Prozent, Anfang der 1990er be-
                                                                       1
lässt, möchte man fast den Atem an-         reits bei über 30 Prozent .
halten. Was aber hat sich in den letzten    Seit Jahren wird auf die deutlich gestie-
Jahrzehnten verändert rund um Ehe und       gene Zahl von Ehescheidungen verwie-
Familie, sodass selbst die Bildsprache      sen. Korrekterweise müsste man formu-
einen eindrücklichen Wandel sichtbar        lieren: Die Anzahl der Ehescheidungen
werden lässt? Und vor allem: (wie) passt    stagniert seit über zehn Jahren auf ho-
unser kirchlich-pastorales Denken und       hem Niveau. Neueste Zahlen aus NRW
Handeln dazu?                               deuten sogar auf einen rückläufigen
                                            Trend hin. So erfreulich diese Entwick-
Biografische Veränderungen                  lung auch ist, gibt sie jedoch noch keinen
Die biografischen Veränderungen –           Anlass, die Hände in den Schoß zu
vor allem durch den Fortschritt in der      legen. Die Scheidungsquote ist mit etwa
medizinischen Versorgung – führen zu        30 Prozent anzugeben – mit einem
einer deutlich gestiegenen Lebenserwar-     deutlichen Stadt-Land- und Ost-West-Ge-
tung. Im gleichen Atemzug verlängert        fälle. Durchschnittlich endet jede dritte
sich die Latenzphase zwischen dem           Ehe vor dem Scheidungsrichter. Dem
Eintritt in das Erwachsenenalter und        korrespondiert die Tatsache, dass die
der Gründung einer Familie. Längere
Ausbildungszeiten bedingen ein späteres
Heiratsalter. Unter diesen Veränderun-
                                                           „  Die Anzahl der Ehescheidungen stagniert
gen und im Kontext einer kindorientier-                    seit zehn Jahren auf einem hohen Niveau.
ten Eheschließung, wenn erst bei beider-
seits vorhandenem Kinderwunsch oder
schon vorliegender Schwangerschaft          Zahl der Eheschließungen in den letzten
geheiratet wird, entsteht der Raum für      Jahrzehnten deutlich rückläufig war.
differenzierte Formen nichtehelicher        Während noch 1950 10,7 Ehen pro 1000
Lebensgemeinschaften. Mit dem Anstieg       Einwohner geschlossen wurden, waren
der Lebenserwartung hat auch die            es 1990 nur noch 6,6 Ehen und 2009
Ehedauer zugenommen. Um 1900 lag            nur noch 4,6 Ehen. In NRW waren es
die durchschnittliche Ehedauer noch         2013 fünf Ehen pro 1000 Einwohner. Auf
bei 17 bis 18 Jahren, 1980 dagegen schon    der anderen Seite entstehen alternative
bei 40 Jahren. Nachdem die Kinder das       Lebensformen, die an Bedeutung zuneh-
familiäre Nest verlassen haben, wartet      men. Seit Jahren wird eine zunehmende
auf das Paar noch eine beträchtliche Le-    Pluralisierung der Lebensformen festge-
benszeit, die nicht einfach nur ausgeses-   stellt. Ob Ehe oder nichteheliche Lebens-
sen werden kann und will, sondern einer     gemeinschaft, Zweit- oder Drittehe – was
Neuorientierung bedarf. Gerade diese        auch immer – es ist eine Entscheidung,
nachfamiliäre oder nachelterliche Phase     die dem Einzelnen anheim gestellt ist.
ist oft sehr krisenanfällig. Das scheint    Die Ehe ist ein Partnerschaftsmodell
nicht verwunderlich, ist man doch           unter anderen geworden.
mehr oder weniger plötzlich wieder mit
seinem Partner allein und kann nicht        Ökonomische Eckdaten
mehr – weder bei Aktivitäten noch in        Gleichzeitig ist unsere Arbeitswelt von
Konflikten – auf die Kinder ausweichen.     vielfältigen Umbrüchen durchzogen. In
Das Paar ist auf sich selbst verwiesen.     der Tendenz werden lebenslange Berufs-
                                            biografien bei ein und demselben Arbeit-
Pluralisierte Lebensformen                  geber zu einer Ausnahmeerscheinung.
Im Zuge dieser Veränderungen gibt es        Die Zahl befristeter Arbeitsverträge hat
einen sprunghaften Anstieg so genann-       in den vergangenen zwei Jahrzehnten
ter Spätscheidungen zwischen dem            deutlich zugenommen.
Es ist angerichtet - Juni 2014 - Partnerschaft, Ehe und Familie
6                    Unsere Seelsorge

                                          Seit 1991 war der Anteil atypisch           Wirtschaft, die angesichts des demogra-
                                          Beschäftigter (12,8 Prozent) nahezu         phischen Wandels und Fachkräfteman-
                                          kontinuierlich gestiegen und hatte          gels das Humankapital gut ausgebildeter
                                          2007 seinen bislang höchsten Wert von       Frauen genutzt sehen wollte, hat sich ein
                                          22,6 Prozent erreicht. Seitdem blieb        Leitbild der Vereinbarkeit von Familie
                                          er knapp unter diesem Niveau. Zu den        und Beruf etabliert, das als vollzeitnahe
                                          so genannten atypischen Beschäfti-          Teilzeitbeschäftigung bezeichnet wird.
                                          gungsverhältnissen zählen solche mit        Zuletzt schlug Anfang 2014 Familien-
                                          befristetem Arbeitsvertrag ebenso wie       ministerin Manuela Schwesig eine um
                                          Jobs mit einer Arbeitszeit von weniger      circa 20 Prozent verringerte Wochen-
                                          als 21 Stunden pro Woche, geringfügige      arbeitszeit für Eltern mit steuerfinan-
                                          Beschäftigungen oder Beschäftigun-          ziertem teilweisen Lohnausgleich vor.
                                          gen bei Zeitarbeitsfirmen. Atypische        Davon betroffen sind natürlich auch die
                                          Beschäftigungsverhältnisse bieten dem       Kinder. Der in den letzten Jahren massiv
                                          Arbeitgeber flexiblere Möglichkeiten        betriebene Ausbau der Kinderbetreuung
                                          des Personaleinsatzes, gehen aber für       ist Voraussetzung dafür, dieses Leitbild
                                          den Arbeitnehmer im Allgemeinen mit         in der Praxis zu verwirklichen.

    „  Eine Ehe, die nicht (mehr) wegen wirtschaftlicher Notwendigkeiten
                                                                                      Mobilität und Familienalltag
                                                                                      Eine berufsbezogene Mobilität – sei es
    geschlossen und aufrechterhalten werden muss, bringt auch deutlich                beim gleichen Arbeitgeber an unter-
    andere Erwartungshorizonte mit sich.                                              schiedlichen Standorten oder Verlage-
                                                                                      rung des Lebensschwerpunktes an den
                                                                                      Ort des (nächsten) Arbeitgebers – sind
                                          geringerer sozialer Absicherung einher.     mittlerweile Bestandteil des individu-
                                          Insgesamt sind es häufiger die jüngeren     ellen und gesellschaftlichen Erwar-
                                          Beschäftigten, die sich in befristeten      tungshorizonts. Eltern können nicht
                                          Arbeitsverträgen wiederfinden. In der       mehr davon ausgehen, dass ihre Kinder
                                          Altersgruppe der 20- bis unter 25-Jähri-    nach Erreichen des Erwachsenenalters
                                          gen arbeitet gut jeder Vierte mit befris-   ihren Lebensschwerpunkt in kurzfris-
                                          tetem Vertrag. Bei Beschäftigten ab         tig erreichbarer Nähe aufbauen. Damit
                                          etwa dem 30. Lebensjahr geht der Anteil     verbunden ist, dass die Gestaltung
                                          zeitlich begrenzter Beschäftigungen         der Beziehung der Großeltern zu den
                                          merklich zurück. Verheiratete Personen      Enkelkindern einen eigenen logistischen
                                          arbeiten verglichen mit ledigen Personen    Aufwand erfordert, weil sie sich nicht
                                          gleichen Alters seltener in befristeten     einfach in den Alltag integrieren lässt.
                                          Arbeitsverhältnissen. Die Häufigkeit be-    Auf der anderen Seite können damit die
                                          fristeter Arbeitsverhältnisse wird unter    jungen Eltern auch nicht mehr spontan
                                          anderem auch durch geänderte gesetzli-      auf die Großeltern zurückgreifen, wenn
                                          che Rahmenbedingungen – insbesonde-         entweder die Kinderbetreuung ausfällt
                                          re durch das am 1. Januar 2001 in Kraft     oder das Kind krankheitsbedingt zu
                                          getretene Teilzeit- und Befristungsgesetz   Hause betreut werden muss. Selbst
                                          beeinflusst. Auf diese Weise greift der     eine gut organisierte Vereinbarkeit von
                                          Gesetzgeber die Entwicklungen auf und       Familie und Beruf kommt hier an die
                                          schafft Rahmenbedingungen, unter de-        Grenzen.
                                          nen neue Entwicklungen möglich sind.
                                                                                      Institutionalisierte Mehrfachbelastung
                                          Vereinbarkeit von Familie und Beruf         Man mag von diesen Entwicklungen
                                          Die Rollenveränderung von Frauen in         halten, was man will. Kontroverse Dis-
                                          der Gesellschaft und das gestiegene Bil-    kussionen zu den einzelnen Punkten
                                          dungsniveau von Frauen haben Maßnah-        gibt es. Die Kontroverse betrifft vor allem
                                          men notwendig gemacht, um die Verein-       die Frage, ob wir mit den ausufernden
                                          barkeit von Familie und Beruf voranzu-      Kinderbetreuungszeiten vor allem die
                                          treiben, damit gut ausgebildete Mütter      Kleinsten der Kleinen nicht überfor-
                                          nicht zu traditionellen Familienformen      dern. Gleichzeitig werden Studien ins
                                          verurteilt sind. Auch im Interesse der      Feld geführt, die darauf verweisen, dass
Es ist angerichtet - Juni 2014 - Partnerschaft, Ehe und Familie
7

gleichberechtigte und vor allem Doppel-      Neben diesen wirtschaftlichen und           (mehr) wegen wirtschaftlicher Notwen-
Verdiener-Familien unzufriedener sind,       gesellschaftlichen Zusammenhängen           digkeiten geschlossen und aufrechterhal-
weil es nach wie vor einfacher sei, tradi-   mit all ihrem Druck auf das Ehe- und Fa-    ten werden muss, auch deutlich andere
tionellen Rollenmustern zu folgen. Die       milienleben wurde noch nicht erwähnt,       Erwartungshorizonte mit sich bringt.
Entwicklungen haben in jedem Fall tief       wie auch das Freizeitverhalten einen        Es geht heute in besonderem Ausmaß
greifende Auswirkungen auf das famili-       weiteren Baustein darstellt, der die Welt   allem voran um das persönliche Glück
äre Leben.                                   von Familien verkomplizieren kann.          und das ganzmenschliche, individuelle
                                             Denn die Freizeit-, Sport-, Kultur- und     Angenommen-Sein in einer Liebesbezie-
Vor allem die Doppelbelastung von Be-        Konsumwünsche der Eltern als Paar           hung. Nave-Herz schreibt deshalb: „Die
ruf und Haushalt, „Organisationsstress“,     und als Einzelne müssen ausbalanciert       Zunahme der Ehescheidungen ist nicht
Kinderbetreuung, die Arbeitszeit beider      werden mit den Freizeit- und Förderakti-    die Folge eines gestiegenen Bedeutungs-
Elternteile und die Familienzeit zu          vitäten der nachwachsenden Generation,      verlusts der Ehe; nicht die Zuschreibung
koordinieren, trifft Frauen nach wie vor     sodass freie und unverplante Tage oder      der ‚Sinn’-losigkeit von Ehe hat das
stärker als Männer und wirkt sich auf die    Wochenenden oft die Ausnahme darstel-       Ehescheidungsrisiko erhöht und lässt
Qualität und Stabilität von Paarbeziehun-    len. In diesem Konglomerat etwa noch        Ehepartner heute ihren Eheentschluss
gen aus. Nicht zuletzt sei darauf verwie-    eine wöchentliche Kommunionvorberei-        eher revidieren, vielmehr ist der Anstieg
sen, dass viele Familien finanziell darauf   tung zu platzieren, kann zur logistischen   der Ehescheidungen Folge gerade ihrer
angewiesen sind, dass beide Elternteile      Meisterleistung avancieren.                 hohen psychischen Bedeutung und
arbeiten – obwohl sie sich ein anderes                                                   Wichtigkeit für den einzelnen, so dass
Modell wünschen. Einiges deutet darauf       Folgen für das Leitbild moderner Paar-      die Partner unharmonische eheliche
hin, dass gerade die Finanzlage, die für     beziehung                                   Beziehungen heute weniger als früher
die Lebenszufriedenheit von großer Be-       Fasst man die Entwicklungen wie in          ertragen können und sie deshalb ihre
deutung ist, die Ambitionen von Vätern       einem Brennglas zusammen, kann man          Ehe schneller auflösen. Ehescheidungen
begrenzt, Teilzeit zu arbeiten.              konstatieren, dass eine Ehe, die nicht      sind also auch eine Folge hoher, ideali-
Es ist angerichtet - Juni 2014 - Partnerschaft, Ehe und Familie
8                  Unsere Seelsorge

                                        sierter Erwartungen, die sich mit einer      Recht gestellt werden. In Deutschland
                                                                    2
                                        Eheschließung verbinden.“ Gestützt           hat dieses Recht sogar Verfassungsrang.
                                        wird diese Feststellung von neueren          Ein Ehepaar erwirbt sich damit gewis-
                                        Forschungsergebnissen. Bodenmann             se Vorteile, vor allem in steuerlicher
                                        konstatiert, dass der Entschluss zur         Hinsicht. Im Falle eines Scheiterns ist es
                                        Trennung und Scheidung nicht mehr            dann an die Vorgaben des Scheidungs-
                                        nur das Ergebnis einer nicht mehr zu-        und Unterhaltsrechts gebunden. Inwie-
                                        frieden stellenden ehelichen Beziehung       weit dieses Scheidungs- und Unterhalts-
                                        und eines dementsprechend hohen              recht jeweils dem entspricht, was als ge-
                                        Konfliktpotentials ist. Scheidungen sind     recht empfunden wird, ist nicht immer
                                        in zunehmendem Maß auch in Fällen            eindeutig. Somit kann das Eherecht in
                                        zu verzeichnen, in denen psychologische      einer Zeit, in der die Wahrscheinlichkeit
                                        Messinstrumente keine krisenhaften           als relativ hoch eingestuft werden muss,
                                        Indikatoren anzeigen. Die gefährdete         mit den Ecken und Kanten des Schei-
                                        Größe findet sich zunehmend im Com-          dungs- und Unterhaltsrechts Bekannt-
                                        mittment, also in der inneren Loyalität      schaft zu machen, seinen Schutzcharak-
                                        und Gebundenheit der Partner anein-          ter verlieren.
                                        ander. Auch als zufrieden erlebte Ehen       Historisch gesehen ist dies eine interes-
                                        werden gelöst, weil externe Alternati-       sante Entwicklung. Denn das Eherecht
                                        ven als (noch) vielversprechender und        hat in seinem Kern als ein Freiheitsrecht
                                        erfüllender wahrgenommen werden. Die         zu gelten, nämlich als Recht auf die
                                                                                     Eheschließung. In der Vormoderne war

„ Die Ehe ist zwar immer noch der Standard, aber
                                                                                     die Eheschließung ein Privileg, das nur
                                                                                     einer Minderheit der Gesellschaft zuteil
wer begnügt sich auf Dauer mit dem Standard?                                         wurde. Für eine Eheschließung musste
                                                                                     eine Erlaubnis eingeholt werden: von den
                                                                                     Eltern, von der Zunft, vom Landesherren
                                        Trennung ist sozusagen Ergebnis einer        oder anderen Autoritäten, was zur Folge
                                        inneren Bilanzierung von zu erwarten-        hatte, dass der Großteil der einfachen
                                                                3
                                        den Glückserfüllungen . Die Ehe ist          Landbevölkerung von der Eheschließung
                                        zwar immer noch der Standard, aber           ausgeschlossen blieb.
                                        wer begnügt sich auf Dauer mit dem
                                        Standard?                                    Neoromantischer Erwartungshorizont?
                                        Zurückgehende Heiratsraten und die           Gleichzeitig ist der Wert einer gelun-
                                        Zunahme nichtehelicher Lebensgemein-         genen Partnerschaft oder Ehe in der
                                        schaften erscheinen in diesem Licht          Moderne hoch, vielleicht weil die Paar-
                                        nicht als moderne Ausdrucksformen            beziehung und die Ehe als der einzig
                                        jugendlicher Bindungsangst, sondern          konkrete Ort erscheinen, an dem sich
                                        vielmehr als ein gutes Stück Realismus       die Sehnsucht nach einem gelungenen
                                        angesichts der veränderten Grundlagen        und erfüllten Leben verwirklichen lässt.
                                        der Ehe in der Moderne.                      In einer Welt, in der Leistungsvermögen,
                                                                                     Rationalität, soziale Segmentierung und
                                        Rechtsinstitution Ehe?                       Funktionalisierung den Ton angeben, er-
                                        Selbst der staatliche Schutz von Ehe         scheinen der soziale Nahraum und hier
                                        gerät in den Strudel einer Ambivalenz        insbesondere die intime Paarbeziehung
                                        von Schutz, Sicherheit und Vorteilsge-       als Glücksversprechen par excellence.
                                        währung auf der einen Seite, aber eben       Nur hier kann man noch hoffen, so an-
                                        auch von Reglementierung, Tren-              genommen zu werden, wie man wirklich
                                        nungshindernis und unkalkulierbaren          ist, unabhängig von Leistungsvermögen
                                        Langzeitfolgen andererseits. Die Ehe ist     und Geld. Die Paarbeziehung und die
                                        eine Institution, die manifeste rechtliche   Ehe geraten damit unter neoromanti-
                                        Relevanz besitzt. Das Zustandekommen         sche Vorstellungen, die zum Leitbild
                                        einer Ehe ist an eine öffentlich greifbare   der modernen Beziehung von Frau und
                                        Form gebunden, in deren Konsequenz           Mann avancieren. Unter dem Primat
                                        eigene Handlungs- und Entscheidungs-         des Gefühls und des fortwährenden
                                        freiheiten unter allgemein normiertes        Glückserlebens erscheint Intimität die
Es ist angerichtet - Juni 2014 - Partnerschaft, Ehe und Familie
9

größtmögliche menschliche Nähe und               welcher Qualität auch immer. Nave-Herz             sondern vielfach auch kirchlicherseits ist
damit Glück zu versprechen. Die Ehe              fasst dies pointiert dahingehend zusam-            die kirchen- und gesellschaftstragende
wird so gleichzeitig mit der Hypothek            men, dass „noch nie so viele Menschen              Bedeutung der Ehe noch nicht umge-
                                                                                                           6
belastet, die Dauerhaftigkeit der Gefühle        in einer zeitlich so langen monogamen              setzt.“
                                                                              5
von Sympathie und Zuneigung zu ge-               Ehe gelebt haben wie heute“ .
währleisten. Der Soziologe Beck spricht                                                             Die Frage einer den Zeichen der Zeit
in diesem Zusammenhang von der                   Konsequenzen für die Ehepastoral                   gerecht werdenden Ehepastoral bleibt ein
                                       4
Liebe als „Religion nach der Religion“ .         Die Theologie kann sich diesen Entwick-            weitgehend unbearbeitetes Feld. Noch
Diese doch sehr viel anspruchsvolleren           lungen und den damit verbundenen                   immer stehen Kirche und Pastoral eher
Erwartungen sind gleichzeitig ein sehr           fundamentalen Umbrüchen im Hinblick                mit angehaltenem Atem vor dem ein-
viel fragileres Fundament, als es etwa           auf die Ehe nicht entziehen. Das Schei-            gangs zitierten Drahtseilakt, unschlüssig
wirtschaftliche Erwägungen waren. Dies           tern von Paarbeziehungen und Ehen                  ob und vor allem wie die Balancieren-
bedingt, dass das Gelingen einer Ehe in          im gegenwärtigen Ausmaß kann nicht                 den gestützt werden können. Bei den
einem noch nie dagewesenen Ausmaß                (länger) als massenhaftes individuelles            Balancierenden selbst hat sich angesichts
an eine erfolgreiche Konfliktbewältigung         Scheitern und moralisches Versagen ver-            dieser Situation derweil weitgehend
und ebensolche Kompetenz gebunden ist            standen werden. Begreift man die epo-              Frust breit gemacht.
– über die gesamte Ehedauer hinweg, die          chalen Umbrüche in ihrer Konsequenz
ihrerseits einen historisch nie dagewese-        als Überforderung der Möglichkeiten
nen Umfang angenommen hat.                       des Einzelnen, wird deutlich, dass ein
                                                 gebetsmühlenartiges Wiederholen mo-
Ambivalenter Befund                              ralischer Appelle ebenso wenig fruchten
Der Gesamtbefund ist also ausgespro-             wird wie die Einschärfung kirchlicher
chen ambivalent. Auf der einen Seite ist         Lehren und Normen. Ein fortwährendes
ein Bedeutungsverlust der Ehe als Insti-         Lamentieren über diese Entwicklun-
tution zu konstatieren. Die Ehe hat ihre         gen und die Vergeblichkeit pastoralen
Bedeutung in ökonomischer Hinsicht               Mühens droht zur Theaterkulisse im
und zur Legitimierung von Sexualität             kirchlichen und pastoralen Handeln zu
und Paarbeziehung weitgehend verlo-              werden. Die Wirklichkeit sieht längst
ren. Die veränderten gesellschaftlichen          anders aus. Das Resumee von Dem-
Rahmenbedingungen und die größere                mer in Sachen Ehepastoral ist recht
Fragilität der Ehe führen zu einer grö-          ernüchternd: „Für die weitaus meisten
ßeren Eheskepsis. Auch das Fundament             Menschen ist die Ehe der normale
der Ehe – die Liebe – ist fragiler gewor-        Lebensstand; gleichwohl bleiben Kirche
den. Gleichwohl werden gerade mit der            und Gesellschaft ihnen fundamentale
Paarbeziehung und der Ehe hohe Erwar-            Hilfen zum Gelingen schuldig. Das wird
tungen verbunden. Vielleicht erklärt sich        besonders leidvoll erfahren im Raum der
so der Befund, dass die große Mehrheit           kirchlichen Öffentlichkeit. (…) Enga-
aller Deutschen bis zu ihrem 50. Le-             gierte Christen wollen von der Kirche
bensjahr heiraten. Manche davon sogar            wissen, wie die Ehe als Sakrament, als
mehrmals. Bei einer Scheidungsquote              ganz persönliche Berufung im Kontext
von 30 bis 50 Prozent verbleiben dann            einer säkularisierten, zerfließenden und                                         Dr. Markus Wonka
immer noch 50 bis 70 Prozent der Ehen,           profillosen Gesellschaft gelebt werden             Leiter der Ehe-, Familien- und Lebensberatung
die von dauerhaftem Bestand sind – in            kann.“ Nicht nur gesellschaftlicherseits,                           wonka@bistum-muenster.de

1 Knapp, M. (1999): Glaube – Liebe – Ehe.        München-Freising am 18.11.2010 in München.         Kontinuität der Familie in der Bundesrepublik
Ein theologischer Versuch in schwieriger Zeit.   4 Beck, U. (1990): Freiheit oder Liebe. Vom        Deutschland. Stuttgart. 89.
Würzburg. 16.                                    Ohne-, Mit- und Gegeneinander der Geschlech-       6 Demmer, K. (1995): Der Ursprung einer
2 Nave-Herz, R. (1994): Familie heute. Wandel    ter innerhalb und außerhalb der Familie. 37.       Idee. In: INTAMS review 1/1, 23.
der Familienstrukturen und Folgen für die        In: Ders. & Beck-Gernsheim, E. (Hrsg.): Das
Erziehung. 118.                                  ganz normale Chaos der Liebe. 20-64.
3 Vgl. Bodenmann, G. (2010): Die Bedeutung       5 Nave-Herz, R. (1988): Kontinuität und Wan-
der Partnerschaftsqualität für Partner und       del in der Bedeutung, in der Struktur und Stabi-
Kinder. Vortrag beim 40. Jubiläum der Ehe-,      lität von Ehe und Familie in der Bundesrepublik
Familien- und Lebensberatung im Erzbistum        Deutschland. In: Dies. (Hrsg.): Wandel und
Es ist angerichtet - Juni 2014 - Partnerschaft, Ehe und Familie
10               Unsere Seelsorge

Kein Speed-Dating!
Familien brauchen Zeit

Was ist eine Familie und wie leben Familien? Auf diese Fragen kann es heute keine einfachen Antworten
mehr geben. Auch dieser Artikel wird sie nicht liefern. Stattdessen soll versucht werden, einige bedeut-
same Aspekte „aktuellen“ Familienlebens aufzuzeigen.
11

Familien zeigen sich heute vielfältig,        vollbringen. Feste Rollenvorbilder gibt       ßen: „Die Beziehungen zwischen den
nicht nur in ihrer Gestalt, sondern auch      es nicht mehr, „jede Familie muss sich        Mitgliedern der Familiengemeinschaft
in der Gestaltung ihres Familienlebens.       selbst erfinden“, wie Kardinal Lehmann        werden vom Gesetz des unentgeltlichen
Unabhängig davon gilt aber für alle           es einmal ausdrückte. Wenn Soziologen         Schenkens geprägt und geleitet, das in
Familien: Sie erbringen unverzichtbare        mittlerweile vom „doingFamily“ spre-          Allem und in jedem Einzelnen die Per-
Leistungen für die einzelnen Mitglieder       chen, wird darin deutlich, dass Famili-       sonenwürde als einzig entscheidenden
und für die gesamte Gesellschaft, indem       enleben nicht einfach „da ist“, sondern       Wertmaßstab achtet und fördert, woraus
sie Verantwortung füreinander überneh-        dass es einer bewussten Planung und           sodann herzliche Zuneigung und Begeg-
men, Kindern ein (liebevolles) Zuhause        Gestaltung bedarf, um Familie lebbar zu       nung im Gespräch, selbstlose Einsatzbe-
schaffen und ihnen damit die wichtigs-        machen.                                       reitschaft und hochherziger Wille zum
te Voraussetzung für ein gelingendes
Leben mitgeben. In der öffentlichen
Diskussion und in den Medien wird
dagegen oftmals ein defizitäres Bild von
                                                      „ Familienleben ist nicht einfach da, sondern
                                                      bedarf einer bewussten Planung und Gestaltung.
Familie gezeichnet, während der norma-
le Familienalltag nicht der Erwähnung
wert zu sein scheint.
                                                                                            Dienen sowie tief empfundene Solidari-
Familientrends                                Beziehungsstil                                tät erwachsen können.“ (FC 43)
In der Familienforschung werden               Wie sich die Rollen von Frauen und            In der Sprache des Soziologen klingt das
mehrere Aspekte genannt, die für das          Männern in den letzten Jahrzehnten            eher so: „Der Output familialer Leistun-
Familienleben in unserer Gesellschaft         verändert haben, hat sich auch die            gen kann genauer beschrieben werden
charakteristisch sind. In einer Anfang        Eltern-Kind-Beziehung zu einer eher           als Bildung, Wohlbefinden und Glück,
des Jahres 2014 veröffentlichten Studie       partnerschaftlichen Beziehung hin ver-        Gesundheit, Lebensführungskompetenz
„Vater, Mutter, Kind?“ der Bertels-           ändert. War der Erziehungsstil bis vor ei-    ...“ 1
mann-Stiftung zeigt etwa Karin Jurczyk        nigen Jahrzehnten noch durch Autorität         Deutlich wird bei aller sprachlichen
(Deutsche Jugendinstitut | DJI) „Acht         und Strenge geprägt, spricht man heute        Unterschiedlichkeit an diesen Zitaten:
Trends, die Politik heute kennen sollte“      von einem „autoritativen“ Erziehungsstil,     Es geht in der Familie um Liebe und
auf:                                          der in den Familien praktiziert wird. El-     Fürsorge!
•• die Vervielfältigung der Lebensformen      tern, die ihre Kinder autoritativ erziehen,   Hierin liegt kurz gefasst die Einzig-
   (unterschiedliche Familienformen,          gehen liebevoll auf diese ein und üben        artigkeit der Familie und der Grund,
   Zunahme nichtehelicher Lebensge-           gleichzeitig ein hohes Maß an Autorität       warum bei Jugendlichen die Familie
   meinschaften),                             aus. Dieser Erziehungsstil beinhaltet das     nach wie vor hoch im Kurs ist, wie die
•• die Erosion des Ernährermodells            Einbeziehen der Kinder in Entscheidun-        Shell-Jugendstudien belegen. Dies sind
   (oftmals sind beide Elternteile erwerbs-   gen (beispielsweise über den Famili-          die Stärken, oder mit der Sprache des
   tätig, ein Einkommen reicht nicht aus,     enurlaub, die Gestaltung von Freizeit         Pastoralplans für das Bistum Münster
   um die Familienausgaben zu decken),        und Festen). Selbstständigkeit und freier     gesprochen, die Charismen der Famili-
•• die Entgrenzung von Erwerbsbedin-          Wille haben Gehorsam und Anpassungs-          en, die weiter ge- und bestärkt werden
   gungen (Mobilitäts- und Flexibilitäts-     fähigkeit als Erziehungsziele abgelöst. In    müssen.
   anforderungen in der Arbeitswelt),         diesem Zusammenhang wird auch von
•• Eltern stehen unter Druck (Schwierig-      der Familie als „Verhandlungsfamilie“         „Zeit für Familie“
   keiten, Familie und Beruf zu verein-       gesprochen. Dieses Verhandeln setzt           lautet der achte Familienbericht der
   baren),                                    nicht nur bei Erziehungsfragen eine           Bundesregierung aus dem Jahr 2012
•• die Polarisierung von Lebenslagen,         hohe Kommunikationsfähigkeit der Fa-          betitelt. Dass Familien neben einem
•• eine kulturelle Diversifizierung – Zu-     milienmitglieder voraus. Dass es auch zu      finanziellen Lastenausgleich und einer
   nahme von Familien mit Migrations-         Unsicherheiten kommt, wenn es keine           guten Infrastruktur auch Zeit benöti-
   hintergrund,                               starren Rollen – beziehungsweise Erzie-       gen, hat in den letzten Jahren Einzug
•• neue Gestaltungsräume von Kindheit         hungsvorbilder gibt, zeigt sich etwa an       in Wissenschaft und Politik gefunden.
   und                                        der Fülle von Erziehungsratgebern, die        Liebe, Fürsorge, Bindung, Beziehun-
•• die schwindende Passfähigkeit von          jedes Jahr veröffentlicht (und verkauft)      gen, – also die wesentlichen Merkmale
   Infrastrukturen für Familien.              werden.                                       der Familie – brauchen Zeit! Mit diesem
                                                                                            Bedürfnis steht die Familie allerdings
Anhand dieser aktuellen Trends wird           Was macht Familie aus?                        in krassem Gegensatz zu einer schnell-
schon deutlich, welche Leistungen             Das apostolische Schreiben Familia-           lebigen Gesellschaft, die beispielsweise
Familien allein durch das „Managen“           risConsortio beschreibt das Wesen der         gekennzeichnet ist durch eine Konsumo-
und Gestalten ihres Familienalltags           Familie unter anderem folgenderma-            rientierung, die Einkaufen permanent
12       Unsere Seelsorge

                              möglich macht, in der 24-Stunden-Nach-      vollbeschäftigten Arbeitnehmer ihre
                              richtenübermittlung selbstverständ-         Kinder zu glücklichen, kreativen und
                              lich ist, Finanz-, Versicherungs- und       bindungsfähigen Menschen erziehen
                              andere Dienstleistungen in „Callcenter“     sollen, einfach: Quality Time. Das klingt
                              verlagert werden und Paare sich beim        vielversprechend. Ins Deutsche übersetzt
                              „Speed-Dating“ kennen lernen.               heißt Quality Time in etwa: Die lange
                                                                          Normalzeit gehört dem Unternehmen,
                              Die sozialen Systeme, denen die Fami-       für das man arbeitet. Die kurze Zeit
                              lienmitglieder angehören, also etwa         gehört den Kindern und heißt, weil sie
                              Arbeitswelt, Tageseinrichtung oder          so kurz ist, eben Qualitätszeit (…) Wenn
                              Schule, haben unterschiedliche Zeittakte    Kinder etwas brauchen, dann ist es Zeit
                              – den Familienmitgliedern kommt die         und nicht Qualitätszeit. Sie brauchen
                              Aufgabe zu, diese Zeittakte in Einklang     Verlässlichkeit und Freiheit, Zuwendung
                              zu bringen, um etwa eine „Ko-Präsenz“       und Entfaltungsmöglichkeiten und si-
                              am Familientisch herzustellen. Das          cher noch eine ganze Menge mehr. Was
                              Deutsche Jugendinstitut (DJI) hat schon     sie ganz und gar nicht brauchen, sind
                              2009 festgestellt, dass regelmäßige         Eltern, die zwischen Feierabend und
                              Mahlzeiten für das Familienleben eine       Tagesschau ein pädagogisches Qualitäts-
                              wichtige Rolle spielen. Mahlzeiten sind     feuerwerk abfackeln.“
                              häufig eine der wenigen Gelegenheiten,
                                                                          Zeitwünsche von Kindern

     „  Die sozialen Systeme, denen die Familienmitglieder
                                                                          Acht- bis 14-jährige Kinder, die nach
                                                                          ihren Zeitwünschen mit den Eltern
     angehören, also etwa Arbeitswelt, Tageseinrichtung                   befragt wurden, haben das sehr treffend
     oder Schule, haben unterschiedliche Zeittakte.                       auf den Punkt gebracht: Sie wünschen
                                                                          sich verlässliche Zeiten mit den Eltern
                                                                          und bei Bedarf auch Flexibilität. Sie
                              zu denen die gesamte Familie regelmä-       wünschen sich erreichbare Eltern und
                              ßig zusammenkommt. Die gemeinsa-            beiläufige Zeiten mit ihnen. Darüber
                              men Mahlzeiten „beinhalten nicht nur        hinaus möchten sie Zeit für „kostbare“
                              Aspekte von Ernährung, sondern von          Gelegenheiten wie Geburtstage oder
                              Familienzusammengehörigkeit, von            andere Feste. Ebenso wünschen sie sich
                              Fürsorge im emotionalen und körper-         aber auch Zeit mit ihren Freunden und
                              lich-gesundheitlichen Bereich, von          Zeit für sich selber, die sie ohne Eltern
                              kulturellen, sozialen und kognitiven        verbringen wollen. 3
                              Lern- und Bildungsprozessen und mehr.
                              Sie repräsentieren, prototypisch für die    An diesen Zeitwünschen der Kinder
                              meisten Aktivitäten in Familien, flexible   wird deutlich, dass Familienzeit sowohl
                              Arrangements von Einzeltätigkeiten, ein     quantitative als auch qualitative Aspekte
                              Gemisch von Beabsichtigtem und Unbe-        haben muss: Es geht oftmals darum,
                              absichtigtem, Routine und Kreativität.“ 2   im „rechten Augenblick“ da zu sein.
                                                                          Bedürfnisse von Kindern (und auch
                              Qualitätszeit als Antwort?                  von älteren, vielleicht pflegebedürftigen
                              Am Beispiel der Familienmahlzeit, die       Familienmitgliedern!) ergeben sich. Sie
                              beiläufiges und geplantes Tun verbindet,    lassen sich nicht ohne weiteres vorherse-
                              wird deutlich, dass es nicht allein mit     hen, planen oder verschieben – und das
                              „Zeitmanagement“ getan ist: Familie         gilt in gleichem Maß für Gelegenheiten,
                              ist kein Unternehmen, das gemanagt          etwa für Gespräche über schwierige The-
                              werden kann, in dem alles geplant wer-      men oder Lernprozesse, die beim Schopf
                              den kann. Nicht jeder Zeitmangel kann       gepackt werden müssen. Es ist also gut,
                              durch „Qualitätszeit“ ausgeglichen und      dass die Eltern dann da sind, wenn sie
                              kompensiert werden. Iris Radisch schil-     gebraucht werden.
                              dert das in ihrem Buch „Die Schule der
                              Frauen. Wie wir die Familie neu erfin-      Zeitwünsche von Eltern
                              den“ drastisch so: „ Man nennt die kurze    Ein anderer der „Trends, die Politik
                              Zeit zwischen 18 und 19 Uhr, in der die     heute kennen sollte“, ist die „Erosion des
13

Ernährermodells“. Laut Statistischem          petenzen, um die nötigen „Aushandlun-      Familien Hilfen bei der Gestaltung
Bundesamt gab es 2013 in 24 Prozent der       gen“ bewältigen zu können.                 solcher Zeiten anbieten. Ebenso könnte
Familien mit minderjährigen Kindern                                                      überlegt werden, welche kostenfreien
im Haushalt das Modell „Mann Vollzeit         Pastorale Konsequenzen?                    Möglichkeiten der Freizeitgestaltung es
erwerbstätig, Frau nicht erwerbstätig“.       Aus diesen Skizzen sollte deutlich ge-     für Familien geben kann.
Das Modell „Mann Vollzeit / Frau              worden sein, dass vor allem Politik und
Teilzeit“ wurde in 45,1 Prozent der           Arbeitswelt gefordert sind, diejenigen     „In den Familien sind die Menschen
Familien praktiziert, in 18 Prozent der       in den Fokus zu nehmen, zu unterstüt-      zuhause oder sie suchen dort zumindest
Familien waren beide Elternteile Vollzeit     zen und zu schützen, die sie zu ihrem      ein Zuhause. In den Familien trifft die
erwerbstätig (mit großen Unterschieden        eigenen Erhalt und Fortbestand drin-       Kirche auf die Wirklichkeit des Lebens.
zwischen Ost- und Westdeutschland).           gend benötigen: die Familien. Es braucht   Darum sind diese Testfall der Pastoral
Bezüglich der Arbeitszeiten zeigt sich,       tatsächlich einen Dreiklang von Zeit,      und Ernstfall der neuen Evangelisie-
dass Väter oft mehr als Vollzeit arbeiten     Geld und Infrastruktur, damit Familien     rung. Familie ist Zukunft. Auch für die
und sich eine Reduzierung ihrer Arbeits-      auch weiterhin ihre wesentlichen Aufga-    Kirche ist sie der Weg in die Zukunft.“ 4
zeit wünschen. Mütter, die in Teilzeit        ben für die Familienmitglieder, für die
oder in „Minijobs“ arbeiten, wünschen         Gesellschaft – gleichermaßen aber auch     1 Walter Kardinal Kasper. Das Evangelium von
sich dagegen häufig eine Ausweitung           für die Kirche – erfüllen können. Was      der Familie, S.68
ihrer Arbeitszeit. Bei einer Umfrage des      können Pfarreien tun? Zum Abschluss        2 Andreas Lange in: Stimme der Familie 3/2012
Forsa-Instituts 2013 gaben zum Beispiel       möchte ich einige Anregungen geben,        3 Deutsches Jugendinsti-
38 Prozent der befragten Familien an,         wobei auch diese Aspekte als erste         tut (DJI) Bulletin, 4/2009
sich eine wöchentliche Arbeitszeit von 30     Anregungen zu verstehen sind, die vor      4 Nach Jurczyk, Zeit für die Familie, Vortrag
Stunden für Mutter und Vater zu wün-          Ort ergänzt und ausgestaltet werden        in der Akademie Franz Hitze Haus, Münster
schen und dann Hausarbeit und Kinder-         könnten:
betreuung gleichermaßen aufteilen zu
wollen. Praktiziert wird dieses Modell        Familien brauchen Wertschätzung
derzeit von lediglich sechs Prozent der       Oftmals ist Familien selbst nicht mehr
Familien. (Interessant ist, dass diese        bewusst, was sie eigentlich leisten. Ein
Aufteilung auch von befragten acht- bis       wertschätzender Blick auf die Stärken
14-jährigen Kindern gewünscht wird.)          und Charismen der Familien kann er-
Wunsch und Wirklichkeit gehen jedoch          mutigen und neue Kräfte freisetzen.
oft auseinander.
                                              Familien brauchen Vernetzung
Ein weiterer Trend, die „Entgrenzung          Vernetzung kann der Individualisierung
von Erwerbsbedingungen“ kommt                 entgegenwirken. Der Austausch mit
erschwerend hinzu: Normalarbeitsver-          anderen Familien in ähnlichen Situatio-
hältnisse nehmen ab, zeitliche Flexibili-     nen (etwa in Familienkreisen) kann sehr
tät und Mobilität werden vorausgesetzt,       entlastend und hilfreich für die Gestal-
feste Zeiten für den Feierabend werden        tung des Familienlebens sein.
rar und vielen Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern fällt es schwer, nach der       Familien brauchen Begleitung
Arbeit abzuschalten. Familien werden          Die Kommunikations- und Aushand-
dadurch zunehmend herausgefordert,            lungsprozesse in den Familien setzen
sich von der Arbeitswelt als „Taktgeber“      eine hohe Kommunikations- und Pro-
abzugrenzen, um das Familienleben zu          blemlösungsfähigkeit voraus. Kommu-
schützen. Wenn die Zeit knapp ist, spa-       nikations- und Erziehungskurse und
ren Eltern eher an der Zeit für sich selbst   professionelle Beratungsmöglichkeiten
und an der Zeit für den Partner und für       sind hilfreiche Angebote.
Freunde (Jurczyk). Bemerkenswert ist,         Eine gute Paarbeziehung ist die Grund-
dass mit der Fokussierung auf das The-        lage für ein gelingendes Familienleben.
ma „Familie und Zeit“ auch der lange          Welchen Stellenwert haben zum Beispiel
vernachlässigte Aspekt „Paarbeziehung         die Paarvorbereitung und -begleitung in
der Eltern“ als bedeutsame Basis für die      der Gemeinde im Vergleich zu Erstkom-
Familie wieder Beachtung findet. Auch         munion- und Firmvorbereitung?                                           Sigrun Jäger-Klodwig
hier wird deutlich: Beziehungen wollen                                                                 Familienbund der Katholiken im
gepflegt werden, es braucht Zeit für          Feste und Rituale sind wichtig für Fami-                                    Bistum Münster
Kommunikation und es braucht Kom-             lien (Qualitätszeit!). Gemeinden können                    klodwig@familienbund-ms.de
14               Unsere Seelsorge

Heute noch relevant?
Katholische Sexualmoral

Wie steht es mit der katholischen Sexualmoral? Faktisch spielt sie kaum eine Rolle. Die sexualethische Bot-
schaft der katholischen Kirche wird noch nicht einmal von der Mehrheit der eigenen Gläubigen ernst ge-
nommen. Dabei zeigen einerseits die Sehnsüchte und Hoffnungen der Menschen und andererseits die
Verdinglichung der Sexualität durch Kommerzialisierung und Instrumentalisierung, dass die Sexualmoral
der katholischen Kirche eine wichtige orientierende und unterstützende Funktion übernehmen könnte und
sollte. Elmar Kos, Professor für Moraltheologie an der Katholischen Fakultät der Universität in Vechta, be-
schreibt das Dilemma und mögliche (Aus-)Wege.
15

Offenkundige Differenz                     Die Ergebnisse der Umfrage bestätigen
Die Umfrage für die außerordentliche       damit, dass das wohl größte unbewäl-
Vollversammlung der Bischofssynode         tigte Problem der katholischen Kirche
2014 hat unter anderem in Fragen der       seit dem Konzil die Sexualmoral ist.
Sexualmoral offenkundig gemacht, was       Papst Franziskus stellt sich jetzt der
eigentlich schon seit langem bekannt       innerkirchlichen Realität und zeigt sich
ist. Es besteht eine große Differenz       diskussionsbereit. Allein der Umstand,
zwischen der kirchlichen Lehre und dem     dass der Papst nach der Meinung der
Leben der Gläubigen. Diese Differenz       Gläubigen zu diesen Themen fragt,
wird auch von der Zusammenfassung          zeigt, wie sehr er die Kompetenz
der Antworten durch die DBK in wün-        der Betroffenen ernst nimmt. Papst
schenswerter Offenheit festgehalten.       Franziskus formuliert ausdrücklich
Die Gläubigen lehnen die kirchlichen       seine Befürchtung, dass die kirchliche
Aussagen zu vorehelichem Geschlechts-      Sexuallehre das christliche Kerygma, die
verkehr, zur Homosexualität und zur        Verkündigung der frohen und befreien-
Geburtenregelung überwiegend explizit      den Botschaft, erschwert und überlagert.
ab. Die katholische Sexualmoral wird       Demgegenüber will er verhindern, dass
als reine Verbotsmoral erfahren. Dies
liegt einerseits am sprachlichen Duk-
tus und am autoritativen Anspruch der
lehramtlichen Aussagen. Die Wahrneh-
                                            „   Papst Franziskus stellt sich jetzt der inner-
mung bezieht sich aber vor allem auf        kirchlichen Realität und zeigt sich diskussionsbereit.
die inhaltlichen Aspekte. Die kirchliche
Weigerung, homosexuelle Lebenspart-
nerschaften anzuerkennen, wird als Dis-    die Verkündigung der Kirche in Fragen
kriminierung von Menschen aufgrund         der Ehe und Familie scheitert, weil man
ihrer sexuellen Orientierung wahrge-       die Gläubigen aufgrund der norma-
nommen. Das Verbot der Verwendung          tiv-dogmatischen Aussagen nicht mehr
künstlicher Empfängnisverhütung wird       erreicht.
von der Mehrheit der Katholikinnen
und Katholiken abgelehnt und nicht als     Grenzen jeder Verbotsethik
sündhaft betrachtet, wobei gleichzeitig    Die Rezeption der Enzyklika Humanae
eine grundsätzliche Offenheit der Ehe      Vitae (HV) zeigt, wie berechtigt die
für Kinder von der großen Mehrheit der     Befürchtung des Papstes ist. Die Ab-
Gläubigen bejaht wird. Im Blick auf die    lehnung der Unterscheidung zwischen
HIV-Prophylaxe wird das Verbot künst-      natürlicher und künstlicher Methode der
licher Verhütungsmethoden (Kondome)        Geburtenregelung und damit des Ver-
explizit als unmoralisch empfunden.        bots der künstlichen Methoden hat die
                                           Verdienste dieses Dokuments nahezu
Biologistische Verengung?                  völlig verdeckt. Das Bemühen der En-
Diese Differenzen gehen weitgehend         zyklika, ein ganzheitliches Verständnis
auf die naturrechtliche Begründung         menschlicher Partnerschaft vorzustellen
des Lehramtes für den inneren Zusam-       und die eheliche Liebe in ihrem sin-
menhang zwischen Liebe, Sexualität         nenhaften und geistigen Charakter zu
und Fruchtbarkeit zurück. Die daraus       verstehen, ist aktueller denn je und wird,
gefolgerte Verpflichtung, jeden Sexual-    das zeigen die Antworten der Umfrage
akt für Fortpflanzung offen zu halten,     ebenfalls, von der Mehrheit der Gläu-
ist für die meisten Gläubigen nicht        bigen durchaus geteilt. Auch hier zeigt
nachvollziehbar. Für die Mehrheit der      sich die Grenze (wie sie die DBK auf
Gläubigen wird auf diese Weise Nor-        der Grundlage der Umfrage formuliert)
mativität unmittelbar aus bestimmten       jeder Verbotsethik. Eine Verbotsethik,
Naturgegebenheiten abgeleitet. Eine        die versucht, das ihr Wichtige in sankti-
solche biologistisch verengte Auffassung   onsbewehrte Anweisungen und Verbote
von Naturrecht wird scharf kritisiert      zu fassen, ruft mit diesen rigorosen
und als Widerspruch zum christlichen       Anforderungen eine ablehnende Grund-
Menschenbild verstanden.                   haltung hervor.
16                  Unsere Seelsorge

                                          Akzentverschiebungen                         ten binden, sondern die Würde der Per-
                                          Wenn das Lehramt jetzt konstruktiv und       son auf die Person als Verantwortungs-
                                          im Sinne des Papstes dialogisch auf die      träger beziehen. Dann hat die Person die
                                          abweichende Lebenspraxis von zahlrei-        physischen Akte auf ihre geistige und
                                          chen Gläubigen eingeht, ist dies keine       soziale Bedeutung hin zu bestimmen.
                                          falsche Anpassung. Es geht vielmehr          Durch diese Öffnung wäre auch die
                                          darum, die Kompetenz der Betroffenen         Möglichkeit geschaffen, die soziologi-
                                          zu berücksichtigen. Darüber hinaus           schen Erkenntnisse zum Strukturwan-
                                          gibt es triftige inhaltliche und sachliche   del bezüglich sexueller Erfahrung und
                                          Gründe für eine Revision beziehungs-         Partnerschaft der letzten Jahrzehnte und
                                          weise Weiterentwicklung der lehramtli-       die humanwissenschaftlichen Erkennt-
                                          chen Position.                               nisse zur Sexualität des Menschen zu
                                          Bereits die Entwicklung der kirchlichen      integrieren. Dazu gehört die Einsicht,
                                          Lehre im 20. Jahrhundert geht von Argu-      dass Sexualität immer auch durch die
                                          menten, die auf einem empirisch-biolo-       jeweilige Kultur geprägt wird. Der
                                          gischen Naturverständnis beruhen, über       klassische, tradierte Normenbestand
                                                                                       der katholischen Sexualmoral realisiert

„  Heute steht die Sexualmoral jedoch vor der Aufgabe, die tiefgreifenden
                                                                                       hauptsächlich die vormals gewohnten
                                                                                       Umstände gelebter Sexualität und Ehe.
lebensweltlichen Veränderungen konstruktiv-kritisch aufzunehmen.                       Heute steht die Sexualmoral jedoch vor
                                                                                       der Aufgabe, die tiefgreifenden lebens-
                                                                                       weltlichen Veränderungen konstruk-
                                          zu einer Argumentation, die von der Per-     tiv-kritisch aufzunehmen.
                                          sonalität des Menschen und seiner damit
                                          gegebenen Würde ausgeht. Besonders           Diese Berücksichtigung der kulturellen
                                          deutlich wird diese Akzentverschiebung       Prägung jeder Gestaltung der Sexualität
                                          in der so genannten „Ehezweckelehre“,        führt jedoch nicht einfach zur Beliebig-
                                          wie sie das II. Vatikanische Konzil doku-    keit, da die humanen Sinngehalte der
                                          mentiert. Dort wird weniger von der phy-     Sexualität als Konstanten jenseits der
                                          sischen Integrität des Aktes und mehr        unterschiedlichen kulturellen Ausprä-
                                          von personalen Werten her gedacht.           gungen festgehalten werden können.
                                          Die Fortschreibung von Humanae vitae         Setzt man bei den Sinngehalten der
                                          durch Familiaris consortio versucht,         Sexualität an, dann ergibt sich als Kern
                                          dieser Akzentverschiebung (angesichts        der sexualethischen Botschaft, Sexualität
                                          der Kritik an HV) gerecht zu werden.         als Lebensfreude und Freude am Leben
                                          Deshalb wird die naturale Ausrichtung        zur Geltung zu bringen. Der Sinn von
                                          des sexuellen Geschehens zur Fortpflan-      Sexualität besteht in der Freude am
                                          zung zum Ausdrucksgehalt des perso-          anderen und in der Kreativität durch die
                                          nalen Begegnungsgeschehens selber            Zeugung neuen Lebens. Die primäre
                                          gezählt. Demnach soll die biologische        Sinnbestimmung besteht allerdings im
                                          Naturwirklichkeit (Fruchtbarkeit des         Ausdruck gegenseitiger Liebe. Grund-
                                          Aktes) unmittelbar in die personale          lage der katholischen Sexualmoral
                                          Wirklichkeit gehören. Dann ist aber          wäre dann die Einsicht, dass Sexualität
                                          die Gestalt des personalen sexuellen         einen Sinn in sich selbst als leibhaftiger
                                          Verhaltens doch wieder primär von der        Ausdruck der Liebe, Begegnung und
                                          biologischen Sicht her interpretiert und     Zuwendung hat. Die Kreativität der
                                          an sie gebunden. Ethisches Verhalten         Sexualität kann dabei mehr meinen als
                                          bleibt dann an biologische Vorgänge          die physische Zeugung. Gleichzeitig
                                          gebunden.                                    ist humane Sexualität auf Totalität und
                                                                                       Ganzheit angelegt und zielt von daher
                                          Leibhaftiger Ausdruck der Liebe, Be-         auf Dauer (Treue).
                                          gegnung und Zuwendung
                                          Im Bereich der Moraltheologie liegen         Orientierende sexualethische Botschaft
                                          demgegenüber Vorschläge vor, die die         Wie steht es also mit der Relevanz der
                                          Würde der Person nicht an die unange-        katholischen Sexualmoral? Faktisch
                                          tastete physische Integrität von Sexualak-   spielt sie kaum eine Rolle. Aufgrund der
17

                                                 „ Es geht dabei nicht um eine Anpassung an die faktischen
                                                 Gegebenheiten oder an die Meinungen der Menschen.

genannten Faktoren wird die sexual-                eingesehenen und bejahten Werte und
ethische Botschaft der katholischen                Haltungen anknüpft. Es geht dabei nicht
Kirche in ihrer bisherigen Ausprägung              um eine Anpassung an die faktischen
noch nicht einmal von der Mehrheit der             Gegebenheiten oder an die Meinungen
eigenen Gläubigen ernst genommen.                  der Menschen, sondern um die Entfal-
Dabei zeigen einerseits die Sehnsüchte             tung der Lebbarkeit und Tauglichkeit
und Hoffnungen der Menschen und                    der Sexualmoral für die Lebensführung.
andererseits die Verdinglichung der                Sexualmoral arbeitet dann nicht mit
Sexualität durch Kommerzialisierung                starren Verboten, sondern sie versteht
und Instrumentalisierung, dass die Se-             sich als Beratung für die Menschen, wie
xualmoral der katholischen Kirche eine             sie fähig werden können, Freundschaft,
wichtige orientierende und unterstützen-           Treue und Liebe zu gestalten und worauf
de Funktion übernehmen könnte und                  es in der Vielfalt der Möglichkeiten
sollte. Sie könnte eine wichtige Stimme            ankommt, wenn das Leben gelingen
und Orientierungsgröße sein gegen jede             soll. Es geht nicht um blinden Gehorsam
Verkürzung von Sexualität auf die aus-             im Sinne von Unterordnung, sondern
schließliche Befriedigung von Lust und             um Hilfen zum Gestalten, Verantwor-
gegen die Reduktion von Sexualität auf             ten und Weiterentwickeln der eigenen
eine Ware, die konsumiert wird.                    Liebesfähigkeit.
                                                   Es geht darum, Modelle gelingenden Le-
Worauf es ankommt, wenn das Leben                  bens zu beschreiben und an Kriterien zu
gelingen soll                                      binden. Die Unterscheidung von Gelin-
Hier liegt eine unbestreitbare Bedeu-              gen und Misslingen ist nur möglich, wo
tung der sexualethischen Botschaft. Sie            dem Menschen von den Vorgaben seiner
müsste dann allerdings als realisations-           naturalen Wirklichkeit her Möglichkei-
fähige Sexualmoral vermittelt werden,              ten der Gestaltung gegeben sind. Dies
die an die von den Menschen schon                  gilt vor allem für die Sexualität.

Literatur:
Bernhard Fraling, Sexualethik. Ein Versuch
aus christlicher Sicht, Paderborn 1995.
Klaus Arntz, „Gelingendes Leben in
Ehe und Familie!“ Grundlagen der Se-
xualmoral, in: Klaus Arntz u.a. (Hrsg.),                                                                            Prof. Dr. Elmar Kos
Orientierung finden. Ethik der Lebensbe-                                                                             Universität Vechta
reiche, Freiburg i.Br. 2008, S.61-126.                                                           Lehrstuhl für Systematische Theologie:
Konrad Hilpert (Hrsg.), Zukunftshorizonte                                                                               Moraltheologie
katholischer Sexualethik, Freiburg i.Br. 2011.                                                                elmar.kos@uni-vechta.de
18               Unsere Seelsorge

Priorität für Partnerschaft, Ehe und Familie
Annäherung an den Pastoralplan für das Bistum Münster

„Die zurückgehende Zahl an Familien mit Kindern sowie die Vielfalt der Lebensentwürfe (Familie, Single,
Patchworkfamilie …) und ebenso die veränderten Rollenbilder von Männern und Frauen haben deutliche
Auswirkungen auf gesellschaftliche Entwicklungen und das Miteinander.“ Mit diesem Satz benennt der
Pastoralplan für das Bistum Münster in seinem ersten Teil (A) summarisch bedeutsame Veränderungen
in Bezug auf Ehe, Familie und Partnerschaft, ohne die aufgezählten Phänomene weiter zu konkretisieren
oder zu bewerten. Ist der Pastoralplan trotzdem geeignet, der Ehe- und Familienpastoral Impulse zu
geben?
19

Der Pastoralplan lädt auch zum Sehen        halt managt; der Vater, der Beruf und       und kann auf diese Weise zunehmend
ein. Am Anfang steht die ebenso nüch-       partnerschaftliches Familienleben           seine Begabungen entdecken.
terne wie offene Wahrnehmung der Le-        miteinander vereinbart; die Kinder, die
benswirklichkeiten, die in ihren Hinter-    mit ihrem unverstellten Blick auf das       Mit der Taufe können diese Begabun-
gründen und Folgen für das Leben der        Leben den Erwachsenen neue Perspek-         gen zu einer spezifischen Gabe für die
Menschen verstanden werden wollen.          tiven eröffnen; so wie alle Männer und      christliche Gemeinschaft werden. Die
Was motiviert genau diese Menschen,         Frauen, die in ihren Partnerschaften das    geschenkten Geistgaben finden ihren
ihr Leben so zu gestalten, wie sie es       gemeinsame Leben verantwortungsvoll         Ausdruck – wenn sie als solche wahrge-
konkret tun? Was treibt sie innerlich an,   gestalten wollen, und natürlich auch alle   nommen und gelebt werden – letztlich in
was behindert sie? Welche Schwierig-        Frauen und Männer, die als getrennt         der Übernahme von Aufgaben für Kirche
keiten müssen sie bewältigen, welche        lebende oder allein erziehende Eltern ihr   und Welt, wie es im Trauritus formu-
Hoffnung gibt ihnen Kraft? Gelingt es,      Leben mit ihren Kindern zu meistern         liert wird. Charismen sollen dem Heil
in ihren vielfältigen Wirklichkeiten „die   versuchen – sie alle bringen ihre Gaben     aller, dem Heil der Welt dienen. Sie sind
Spuren Gottes“ zu entdecken?                in ihre jeweilige Form familiärer Lebens-   nicht nur Gaben für den „Binnenraum“
                                            gemeinschaft ein.                           persönlicher Beziehungen, sondern bein-
Der Pastoralplan empfiehlt einen solchen
Prozess der wertschätzenden Wahrneh-
mung für alle pastoralen Felder: Die kon-
krete Lebenswirklichkeit der Menschen
                                                           „  Gott hat jedem Menschen nicht nur sein Leben,
ist der unhintergehbare Kontext, in dem                    sondern auch seine Begabungen geschenkt.
das Grundanliegen des Pastoralplans
verwirklicht werden kann: die Bildung
einer lebendigen, missionarischen Kir-      „Du bist so gewollt, wie Gott Dich ge-      halten letztlich den Auftrag, sich für die
che. Der Pastoralplan entfaltet dieses      schaffen hat, mit allem, was Du als Gabe    Bewahrung der Schöpfung, Frieden und
Grundanliegen in vier Optionen, die         geschenkt bekommen hast!“ Diese Aus-        Gerechtigkeit zu engagieren.
keine Ergebnisse, sondern Kriterien be-     sage drückt große Wertschätzung und
nennen, an denen sich jede Form der         Annahme aus. Gott hat jedem Menschen        Die Gemeinschaft mit anderen Men-
Verwirklichung messen lassen muss: die      nicht nur sein Leben, sondern auch seine    schen in der Pfarrei kann als ein Ort
Option für das Aufsuchen und Fördern        Begabungen geschenkt. Diese Bega-           erlebt werden, an dem die individuellen
der Charismen, die Option für die Ein-      bungen als ungeschuldetes Geschenk          Begabungen und Fähigkeiten erprobt,
ladung zum Glauben, die Option für die      Gottes zu entdecken und nicht nur für       gestärkt und als gottgeschenkte Cha-
Verbindung von Liturgie und Leben und       sich selbst, sondern auch für andere        rismen verstanden werden können. Ob
die Option für eine dienende Kirche.        fruchtbar werden zu lassen, macht sie zu    Eltern- und Familienkreise, Gruppen
                                            Charismen.                                  jeder Art, Jugendgruppen, Chöre, Kin-
Was ergibt sich aus einem wertschätzen-                                                 derfreizeiten und Jugendverbände und
den Wahrnehmungsprozess im Sinne            Die Familie oder familiäre Lebensge-        viele mehr, Voraussetzung ist dafür, dass
des Pastoralplanes, wenn die Ehe- und       meinschaft ist der Ort, an dem mit der      es in diesen Gruppen ähnlich wie in der
Familienpastoral in den Blick genom-        Geburt eines jeden neuen Menschen die       Familie nicht um die Leistung der Per-
men wird?                                   Genese der Charismen beginnt. In der        son, sondern um ihre Anerkennung mit
                                            alltäglichen familiären Lebenswirklich-     ihren Fähigkeiten und Talenten ebenso
Charismen entdecken und fördern             keit, zwischen den Herausforderungen        wie mit ihren Schwächen und Fehlern
An der ersten Stelle der vier Optionen      der unterschiedlichen Rollen, dem           geht.
steht die „Option für das Aufsuchen und     permanenten Druck, familiäres Zusam-
Fördern der Charismen aller“. Sie fordert   menleben und Beruf zu vereinbaren,          In einem solchen Umfeld können die
dazu auf, bei sich selbst und bei den       lernt das Kind, seine Fähigkeiten zu ent-   von Gott geschenkten Talente, anders als
Menschen im eigenen Umfeld die von          wickeln. Die Eltern-Kind-Beziehung ist      im Berufsleben oder in der Schule, wo
Gott geschenkten Charismen zu ent-          die erste und stärkste Beziehung, in der    es zu oft nur um Leistung und Effizi-
decken, wertzuschätzen und jedes pasto-     die Erwartungen des Kindes erfüllt oder     enz geht, als Charismen zur Entfaltung
rale Handeln an diesen Gaben jedes Ein-     frustriert werden, und in der aus dem       kommen. Durch das Erleben offener
zelnen zu orientieren. Was kann das im      gegenseitigen Zutrauen und Vertrauen        Erfahrungsräume können besonders
Blick auf Ehe-, Familie und Partner-        Selbstwert- und Mitgefühl oder aus          Kinder befähigt werden, Verantwortung
schaft bedeuten?                            mangelnder Zuwendung grundlegendes          für sich und andere zu übernehmen und
                                            Misstrauen zu sich selbst und zum Le-       lernen, über ihr Leben selbstständig zu
Jede und jeder bringt etwas Wertvolles      ben werden können. Auf ein liebevolles      entscheiden.
mit: Die Mutter, die als berufstätige       Empfangen antwortet das Kind seiner-        Erfahrungsräume anzubieten und zu
Frau und Familienfrau einen Haus-           seits mit einem vertrauensvollen Geben      unterstützen, in denen die Charismen
Sie können auch lesen