Welt MÄRZ-MAI2020 C5178 - Nordkirche ...

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welt          MÄRZ – MAI 2020   C 51 78
                                         Schwerpunkt

Inklusion
Es ist normal, verschieden zu sein                     weltbewegt   41
Welt MÄRZ-MAI2020 C5178 - Nordkirche ...
Schwerpunkt

Was genau heißt Inklusion?                                                                                                                                                                                                                                     Aus dem Inhalt                                                                                                                        Editorial
                                                                                                                                                                                                                                                                    Kirche aller für alle                                   Musik machen, ohne
                                                                                                                                                                                                                                                                    werden                                                  Barrieren
                                                                                                                                                                                                                                                                4                                                                                                   20
I nklusion ist ein Begriff, der in aller Munde ist. In immer                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                         Lieber Leser*in,
mehr Schulen und Bildungseinrichtungen wird heute in-                                                                                                                                                                                                               Inklusion ist eine Bereiche-                            In Jerusalem gibt es ein ein-

                                                                                 Fotos: C. Plautz (1), G. Marziou (1), C. Wenn (1), shutterstock (1), D. Schneider (1), D. Bakine (1), Amity Foundation (1), D. Stanley (1), Wikimedia (1), www.adpic.de (5)
klusiv unterrichtet. Doch wie zeigt sie sich im gesell-                                                                                                                                                                                                             rung, nicht nur für die Ge-                             zigartiges musiktherapeuti-                                              Inklusion ist (noch)eine Utopie.
schaftlichen Miteinander?                                                                                                                                                                                                                                           sellschaft, auch für die Kir-                           sches Angebot für Menschen                                               Bis zu einem gleichberechtigten
„Inklusion ist nicht nur eine gute Idee, sondern ein Men-                                                                                                                                                                                                           che, so Katharina Peetz.                                mit Multipler Sklerose.                                                  Zusammenleben von Menschen
schenrecht. Inklusion bedeutet,                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                      mit und ohne Einschränkungen
dass kein Mensch ausgeschlos-                                                                                                                                                                                                                                       Ein Stadtteil für alle                                  Selbstverständliches                                                     ist es ein weiter Weg. Die Situa-
sen, ausgegrenzt oder an den                                                                                                                                                                                                                                                                                                Zusammenleben                                                            tion von Menschen, die unter
                                                                                                                                                                                                                                                                    Menschen mit und ohne Be-
                                                                                                                                                                                                                                                                8                                                                                                   25
Rand gedrängt werden darf. Als                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                       geistigen und körperlichen Be-
Menschenrecht ist Inklusion un-                                                                                                                                                                                                                                     hinderung waren in Hamburg                              An vielen Orten Indiens wird                                             hinderungen leiden, ist in den Gesellschaften weltweit
mittelbar verknüpft mit den An-                                                                                                                                                                                                                                     von Beginn an bei der Pla-                              Inklusion einfach gelebt, wie                                            verschieden. Aber eines eint all diejenigen, die sich für
sprüchen auf Freiheit, Gleichheit                                                                                                                                                                                                                                   nung eines Stadtteils beteiligt.                        in den Anganwadi-Zentren,                                                ihre Rechte einsetzen, seien es die Betreffenden selbst,
und Solidarität. Damit ist Inklusion                                                                                                                                                                                                                                Ein Experiment der Zukunft?                             erfuhr Dietrich Schneider.                                               Angehörige oder soziale Einrichtungen: sie wollen weg
sowohl ein eigenständiges Recht,                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                     von der Exklusion, hin zu einem gelebten Miteinander.
als auch ein wichtiges Prinzip,                                                                                                                                                                                                                                     Inklusion braucht                                       Wantok und Nächsten-                                                     Wie das funktionieren kann, zeigen viele Beispiele im
ohne dessen Anwendung die                                                                                                                                                                                                                                           Experimentierfreude                                     liebe                                                                    Heft. So sind in Hamburg-Altona Menschen mit und

                                                                                                                                                                                                                                                               12                                                                                                   28
Durchsetzung der Menschenrech-                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                       ohne Einschränkungen gemeinsam an der Planung eines
te unvollständig bleibt.“ (Deutsches                                                                                                                                                                                                                                Sie ist überall möglich. Kirchen                        Für Maiyupe Par ist das kirch-                                           neuen Stadtteils beteiligt. Damit alle das bekommen, was
Institut für Menschenrechte).                                                                                                                                                                                                                                       könnten Inklusionsagenten sein,                         liche „Disability Program“ in                                            sie in ihrer Lebenssituation brauchen, sind keine fertigen
Jeder Mensch hat das Recht auf                                                                                                                                                                                                                                      so Rainer Schmidt, Pastor und                           Papua-Neuguinea ein                                                      Konzepte nötig, sondern Phantasie, Lernbereitschaft
gesellschaftliche Teilhabe und in-                                                                                                                                                                                                                                  Paralympicssieger.                                      erster Schritt.                                                          und „Experimentierfreude“ – und die Bereitschaft vieler
dividuelle Entwicklung, unabhän-                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                     zur Zusammenarbeit. Das hat auch Rainer Schmidt
gig von ethnisch-kultureller Zuge-                                                                                                                                                                                                                                  Dem behinderten Gott                                    Wahres Wesen der                                                         erfahren, Pastor und mehrfacher Paralympicssieger. Für
hörigkeit, Gender, sexueller Orien-                                                                                                                                                                                                                                 begegnen                                                Gemeinschaft                                                             ihn bedeutet Inklusion schon früh: „Ich gehöre dazu“,
tierung und Religion. Dieses Recht
kann nur umgesetzt werden, wenn                                                                                                                                                                                                                                16   Die US-Theologin Nancy L.
                                                                                                                                                                                                                                                                    Eiesland hat eine Befreiungs-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                            Auf den Philippinen wird der
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                            Ruf nach Inklusion lauter. Da-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                    30                               aber auch: „Ich habe meinen Weg mit der Hilfe anderer
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                     gefunden“. Damit weist er darauf hin, was Inklusion vor
die gesamte Gesellschaft bereit                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                      allem heißt: Es geht nicht um die Anpassung einiger an
                                                                                                                                                                                                                                                                    theologie der Behinderung                               für braucht es radikale Verän-
ist, sich auf den Prozess der Inklu-                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 die Gesellschaft, sondern um eine Veränderung der
                                                                                                                                                                                                                                                                    entwickelt.                                             derungen, so Niza J. Santiago.
sion einzulassen und entsprechen-                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                    Gesellschaft insgesamt. Eine Herausforderung, zugleich
de Strukturen zu schaffen – im                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                       aber eine große Chance und Bereicherung. Inklusion
Kleinen wie im Großen. Inklusion                                                                                                                                                                                                                                    „Das Beste: direkt                                      Kreativer Schub für                                                      öffnet Wege des aufeinander Zugehens, des voneinander
geht alle etwas an – und sie ist ein                                                                                                                                                                                                                                Fragen stellen“                                         mehr Inklusion                                                           Lernens und miteinander Gestaltens. Es hilft schon,

                                                                                                                                                                                                                                                               18
Prozess. So sind Veränderungen in                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                    wenn wir uns bewusst machen, dass wir aufeinander
den Strukturen, aber auch in den
Haltungen und Einstellungen aller
                                                                                                                                                                                                                                                                    Tim Melchert hat sein Abitur
                                                                                                                                                                                                                                                                    an der Schule für Sehbehin-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                            In China setzt sich besonders
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                            die Amity Foundation für                32                               angewiesen sind und „niemand unbehindert ist. Wir
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                     haben Talente Begabungen und Charismen, damit wir
Menschen notwendig. Das braucht                                                                                                                                                                                                                                     derte gemacht und schildert                             Menschen mit Behinderungen                                               sie in den Dienst des Zusammenlebens stellen“, so
Zeit. Zum einen betont Inklusion                                                                                                                                                                                                                                    seine Erfahrungen.                                      ein, weiß Isabel Friemann.                                               Schmidt. In dem Sinne ist Inklusion etwas völlig Selbst-
die Gleichheit der Menschen, zu-                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                     verständliches.
gleich berücksichtigt der Begriff die Verschiedenheit von                                                                                                                                                                                                           Inklusive Schulen sind                                  Verantwortung für den
Menschen. Inklusion heißt Gemeinsamkeit von Anfang                                                                                                                                                                                                                  eine Chance                                             Frieden                                                                  Ihre

                                                                                                                                                                                                                                                               20                                                                                                   36
an. Sie beendet das aufwendige Wechselspiel von
Exklusion (= ausgrenzen) und Integration (= wieder her-                                                                                                                                                                                                             Hier rückt die Vielfalt in den                          Mit internationalen Gästen des
einholen).                                                                                                                                                                                                                                                          Mittelpunkt. Für Schulen eine                           Zentrums für Mission und Öku-
                                                Quelle: Cornelsen                                                                                                                                                                                                   Gelegenheit Normen zu über-                             mene: Hamburg feiert 10-jährige                                          PS: Ihre Meinung interessiert uns. Deshalb schreiben Sie uns gern!
                                                                                                                                                                                                                                                                    denken.                                                 Partnerschaft mit Dar es Salaam.

    weltbewegt-Post-Anschrift: Zentrum für Mission und Ökumene – Nordkirche weltweit, Postfach                                                                                                                                                                                                         52 03 54, 22593 Hamburg, Telefon 040 88181-0, Fax -210, E-Mail: info@nordkirche-weltweit.de
    IMPRESSUM: weltbewegt (breklumer sonntagsblatt fürs Haus) erscheint viermal jährlich. HERAUSGEBER UND ­V ERLEGER: ­Zentrum für Mission und Ökume-                                                                                                                                                  DRUCK, VERTRIEB UND VERARBEITUNG: Druckzentrum Neumünster, JAHRESBEITRAG: 15,– Euro, SPENDENKONTO: IBAN DE77 5206 0410 0000 1113 33
    ne – Nordkirche weltweit, Breklum und ­Hamburg. Das Zentrum für Mission und Ökumene ist ein Werk der ­Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland.                                                                                                                                          EVANGELISCHE BANK, BIC GENODEF1EK1. Mit Namen gekennzeichnete Artikel geben die Meinung des Autors/der Autorin und nicht unbedingt die Ansicht des
    DIREKTOR: Pastor Dr. Christian Wollmann (V.i.S.d.P.), REDAKTION: Ulrike Plautz, GESTALTUNG: Christiane Wenn, KONZEPT: Andreas Salomon-Prym, SCHLUSS­                                                                                                                                               ­herausgebenden Werkes wieder. Die Redaktion behält sich vor, Manuskripte redaktionell zu b­ earbeiten und gegebenenfalls zu kürzen. Gendergerechte Sprache
        KORREKTUR: Hedwig Gafga, ADRESSE: Agathe-Lasch-Weg 16, 22605 H         ­ amburg, Telefon 040 88181-0, Fax: 040 88181-210, w
                                                                                                                                  ­ ww.nordkirche-weltweit.de.                                                                                                                                         wenden wir in dieser Publikation an, indem wir das sogenannte Gendersternchen (*) in einem Wort benutzen. Gedruckt auf TCF – total chlorfrei gebleichtem Papier.

2       weltbewegt                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  weltbewegt            3
Welt MÄRZ-MAI2020 C5178 - Nordkirche ...
Schwerpunkt

                                                                                   Gemeinsam Kirche aller für alle werden
                                                                                   Bei Inklusion geht es um die Veränderung der Gesellschaft als Ganzes. Das ist eine Bereiche-
                                                                                   rung und eine Chance, auch für die Kirche.
                                                                                                                                                                                    Katharina Peetz

                                                                                   E    ine Alltagsszene, neulich beobachtet: Der ICE fährt
                                                                                        in den Frankfurter Hauptbahnhof ein. Vor mir in
                                                                                   der Reihe stehen viele Passagiere mit Reisegepäck. Eine
                                                                                                                                                Aber ihre Behinderungen sind immer auch sozial be-
                                                                                                                                                gründet: durch ihre Mitmenschen, durch diskriminie-
                                                                                                                                                rende Praktiken und benachteiligende gesellschaftliche
                                                                                   Frau hat es besonders eilig und trommelt ungeduldig auf      Strukturen. In der Definition der UN-Behinderten-
                                                                                   ihrem Koffer herum. Der Zug hält endlich, doch es geht       rechtskonvention zielt Inklusion nicht darauf, dass
                                                                                   nicht weiter. Kurze Zeit später wird deutlich, woran das     Menschen mit Behinderung sich an die Gesellschaft
                                                                                   liegt: Die Tür, durch die alle aussteigen wollen, funktio-   anpassen müssen, sondern auf die Ermöglichung eines
                                                                                   niert nicht. Darauf weist auch ein Schild hin auf dem        gemeinsamen Lebens aller.
                                                                                   „Türstörung“ zu lesen ist. Der Mann, der ganz nahe bei           Die Erfahrung des Mannes im Zug ist nicht deutsch-
                                                                                   der Tür steht, hat die Störung offensichtlich nicht be-      landspezifisch. Überall auf der Welt werden Menschen
                                                                                   merkt.                                                       mit Behinderung diskriminiert und stigmatisiert. Auch
                                                                                                                                                wenn sich etwa das westafrikanische Land Nigeria mit
                                                                                   Was bedeutet Inklusion (nicht)?                              der Unterzeichnung der Behindertenrechtskonvention
                                                                                                                                                2007 zur Inklusion verpflichtet hat, gibt es bislang zu
                                                                                   Für mich bedeutet Inklusion, dass Menschen mit unter-        wenig politische Maßnahmen, die Teilhabe aller zu be-
                                                                                   schiedlichen Fähigkeiten und Begabungen miteinander          fördern. Erst 2019 verabschiedete die nigerianische
                                                                                   leben und sich dabei gegenseitig in ihrer Diversität         Regierung auf Druck von Behindertenrechtsaktivist-
                                                                                   annehmen und wertschätzen. Bei Inklusion geht es             *innen ein Gesetz zur nationalen Umsetzung der Kon-
                                                                                   sowohl um den politischen Einsatz für eine Verände-          vention. Doch im Alltag von Menschen mit Behinde-
                                                                                   rung ausgrenzender Gesellschaftsstrukturen hin zur           rung in Nigeria hat sich bis heute zu wenig geändert.
                                                                                   Ermöglichung einer Teilhabe aller am gesellschaftlichen      Immer noch gilt die Geburt eines Kindes mit Behinde-
                                                                                   Leben als auch um eine neue Vision des Zusammenle-           rung als Fluch oder als Strafe Gottes für die Sünden der
                                                                                   bens. Inklusion ist daher ein kontinuierlicher Prozess, in   Eltern. Die Haltung der Eltern ist nicht „unser Kind ist,
                                                                                   dem gesellschaftliche Praxis von der Inklusionsidee her      so wie es ist, ein Gottesgeschenk“, sondern „unser Kind
                                                                                   verändert wird und zugleich sich die Idee durch Erfah-       ist eine schmachvolle Last“. Aus Scham werden Men-
                                                                                   rungen gelingender Inklusion weiterentwickelt.               schen mit Behinderung von ihrer Familie versteckt und
                                                                                      Die Situation im Zug war sicher keine, die etwas mit      zu Hause eingesperrt. Behinderte wurden – so ein in der
                                                                                   gelebter Inklusion zu tun hatte: Deutlich für alle erkenn-   religiösen Tradition verankerter Mythos der nigeriani-
                                                                                   bar war die gelbe Armbinde mit den drei schwarzen            schen Yoruba – am Anfang von einem betrunkenen
                                                                                   Punkten, die auf die fehlende Sehfähigkeit des Mannes        Gott geformt. Die „Behinderten“, die „Krüppel, Blinden
                                                                                   hinweist. Er hatte also gar nicht bemerken können, dass      und Lahmen“ sind daher nicht gewollt, sondern ein
                                                                                   die Tür gestört war, weil darauf nur das Schild hinwies.     Schöpfungsfehler. Nachbarn und Nachbarinnen scheu-
                                                                                   Statt den Mann in seiner situativen Verletzlichkeit anzu-    en den Kontakt zu Menschen, die als „behindert“ gelten,
                                                                                   erkennen und ihm vielleicht sogar Hilfe anzubieten,          aus Angst vor eigener sozialer Abwertung. Dazu kom-
                                                                                   reagierten viele Passagiere hörbar ungeduldig oder           men beschämende Blicke, die gerade auf Körper gerich-
                                                                                   machten ihrem Unmut lautstark Luft: „Jetzt gehen Sie         tet werden, die von vermeintlich „normalen“ Körpern
                                                                                   doch mal an dem blinden Mann vorbei“, forderte eine          abweichen. Mit eingeschränkter Hörfähigkeit oder
                                                              Foto: epd bild (1)

Für „Inklusion statt Selektion“ gingen am 10. April 2019 in                        Passagierin mit gereizter Stimme. Für die meisten Pas-       Taubheit in Nigeria zu leben, bedeutet im Empfinden
Berlin zahlreiche Menschen auf die Straße. Anlass war eine                         sagiere war der Mann einfach nur im Weg. Ein Hinder-         zahlreicher Betroffener von anderen wie ein Geist oder
Debatte im Bundestag über die Einführung von Gen-Tests                             nis auf ihrem Weg nach draußen. Menschen, die mit            ein Gegenstand behandelt zu werden, das heißt als            Fortsetzung
in den Leistungskatalog gesetzlicher Krankenkassen.                                Behinderung leben, erfahren dieses Leben individuell.        jemand, mit dem Kommunikation unmöglich ist. Durch           Seite 6

4    weltbewegt                                                                                                                                                                                             weltbewegt     5
Welt MÄRZ-MAI2020 C5178 - Nordkirche ...
Schwerpunkt
                                                                                                                                                                                                                                                                                            Schwerpunkt

                                                                                                                                                                                                                                                                         Getanzte Inklusion. Die Dance
                   „Kirchen müssen in Ländern                                                                                                                                                                                                                            Company Eggenfelden mit
                   wie Brasilien zu Anwälten der                                                                                                                                                                                                                         Mitarbeiter*innen der KJF
                    Menschen mit Behinderung                                                                                                                                                                                                                             Werkstätten eröffnet auf dem
                      werden.“ Der taubstumme                                                                                                                                                                                                                            Domplatz in Regensburg den
                 Musikschüler lernt in Sao Paulo,                                                                                                                                                                                                                        Katholikentag 2014, der unter
                  wie er Musik über Schwingun-                                                                                                                                                                                                                           dem Motto steht: „Mit Christus
                         gen wahrnehmen kann.                                                                                                                                                                                                                            Brücken bauen“.

                 solche diskriminierenden Praktiken werden Menschen          assoziiert wird, kann und muss sie nach Auffassung vie-                                                   den Kirchen im Vordergrund stehen. Die christlichen         tes unbedingtes Ja zu seiner Schöpfung allen Menschen
                 mit Behinderung aus dem öffentlichen Raum herausge-         ler Christ*innen in Nigeria und Brasilien geheilt werden.                                                 Kirchen müssen daher die Rolle einer Anwältin für die       gilt. Von daher kann der Hinweis auf die unbedingte
                 drängt. In Deutschland verlaufen solche Verdrängungs-       Heilung wird mit Glaube, Behinderung mit Unglaube                                                         Rechte von Menschen mit Behinderung einnehmen und           Gottgewolltheit von Menschen mit Behinderung ein Ge-
                 prozesse subtiler, aber nicht weniger wirkungsvoll.         gleichgesetzt, ebenso körperliche Heilung mit Heil. In                                                    primär mit den Behindertenrechtsorganisationen in           gennarrativ zu diskriminierenden Erzählungen, Hal-
                 Gerade Menschen mit schwerer mehrfacher Behinde-            dieser Sichtweise sind Menschen mit Behinderung, die                                                      Ländern wie Nigeria und Brasilien kooperieren, die          tungen und Praktiken sein. Um der Menschen willen,
                 rung sind hier kaum in der Öffentlichkeit präsent. Ihr      nicht geheilt werden können, nicht Teil des Reiches Got-                                                  einem menschenrechtsorientierten Ansatz verpflichtet        die in Nigeria und Brasilien mit Behinderung leben, sind
                 Platz scheint klar definiert zu sein: im Heim, aber nicht   tes. Nicht zufällig ist Nigeria eines der Länder mit der                                                  sind. Statt Menschen mit Behinderung als Objekte von        Theologien zur kritisieren, die die Grenze zwischen Hei-
                 im Restaurant oder am Badesee. Der Fotograf Florian         weltweit höchsten Zahl an Kirchen, die Wunderheilun-                                                      Fürsorge und Mitleid zu verstehen, müssen gerade die        lung und Nicht-Heilung zu einer Grenze zwischen Heil
                 Jaenicke veröffentlichte im Zeit Magazin Bilder des All-    gen anbieten. Da Nicht-Heilung als Beweis für Unglau-                                                     Kirchen sie als Personen und Rechtssubjekte anerken-        und Unheil machen. Menschen, die mit Behinderung
                 tags mit seinem Sohn Friedrich. Auf einem Bild sieht        ben gilt, erleben Menschen mit Behinderungen noch                                                         nen.                                                        leben, sind vielmehr darin zu bestärken, dass der univer-
                 man Friedrich, der mit schwerer mehrfacher Behinde-         größere Stigmatisierung und soziale Ausgrenzung, wenn                                                         Für diese Anerkennungsprozesse sind theologische        sale Heilswille Gottes ihnen in ihrem Sosein, also ihnen
                 rung lebt, wie er von seinen Eltern im öffentlichen         in solchen Gottesdiensten der Heilungserfolg ausbleibt.                                                   Ansätze wie von Deborah Creamer fruchtbar, die nicht        ganz mit ihren Erfahrungen und ihrer Geschichte, mit
                 Raum, nämlich auf einem Autobahnparkplatz, gewi-            Dazu gesellen sich in allen christlichen Traditionen Aus-                                                 auf Unterschiede zwischen Menschen fokussieren, son-        ihren Verwundungen und Begabungen, gilt.
                 ckelt wird. Jaenicke kommentiert das Bild mit wenigen       legungen der biblischen Heilungsgeschichten, die andere                                                   dern darauf, was Menschen in ihrem Menschsein verbin-           Ihr Leben, auch ihr Leben als religiöses Subjekt, ist
                 Sätzen und illustriert das Unverständnis, mit dem viele     ausschließen. Für Sharon V. Betcher, die in Vancouver                                                     det. Uns Menschen verbindet das Moment der Körper-          nicht per se qualitativ schlechter als das Leben von Men-
                 Menschen auf die Wickel-Szene reagierten.                   Theologin ist und ihr Bein durch einen Unfall verlor,                                                     lichkeit, aber auch die Erfahrung von uns allen im Leben,   schen ohne offensichtliche Behinderung. In der Perspek-
                     Die obigen Beispiele verdeutlichen, dass aus der For-   sind biblische Heilungsgeschichten daher keine heilsa-                                                    verletzlich zu sein und an Grenzen zu stoßen. In unse-      tive von Dorothee Wilhelm, Pädagogin und feministi-
                 derung nach Inklusion nicht einfach Inklusion folgt. Es     men Texte, sondern „texts of terror“.                                                                     rem Leben sind wir auf andere Menschen angewiesen,          sche Theologin, ist der Clou der biblischen Heilungsnar-
                 bedarf sowohl politischer Maßnahmen zur Umsetzung               In Gottesdiensten werden Menschen, die mit Behin-                                                     und gerade deshalb sind wir durch Erfahrungen von           rative die Veränderung des Blickes: So gehe es in ihnen
                 des Inklusionsgedankens als auch die Bereitschaft bei       derung leben, häufig als störend empfunden, etwa wenn                                                     Ausbeutung, Zurückweisung, Ausgrenzung, Einsamkeit          nicht um Heil oder Heilung von Behinderung, sondern
                 allen Mitgliedern einer Gesellschaft, sich auf Inklusion    sie aufgrund spastischer Lähmungen unkontrolliert zu-                                                     oder Leid verwundbar – egal ob wir in Brasilien, Nigeria    um eine Veränderung der Gesellschaft als Ganzer. Hei-
                 einzulassen.                                                cken oder mit Lauten kommunizieren. Menschen mit                                                          oder Deutschland leben. Daher ist für den Theologen         lung bedeutet dann die Anerkennung, dass alle Men-
                                                                             Behinderung wie die Theologin Nancy Eiesland haben                                                        Markus Schiefer Ferrari ein Menschenbild notwendig,         schen, mit welchen Grenzen sie auch leben mögen, integ-
                 Es fehlen Identifikationsfiguren in der Kirche              erfahren, dass die meisten Kirchen (im wörtlichen und                                                     das nicht einseitig Aspekte von Selbstbestimmung und        raler Bestandteil der Gesellschaft sind.
                                                                             übertragenen Sinne) auf einem steilen Berg liegen, der                                                    Autonomie stark macht, sondern auch Zerbrechlichkeit,           Die Anerkennung von Menschen mit Behinderung
                 Diskriminierende, einengende Bilder und Deutungen           nur schwer zu erklimmen ist. Dazu kommt, dass in den                                                      Fragilität, Abhängigkeit und Angewiesenheit zulässt.        sollte vor allem im praktischen Handeln von Menschen,        Dr. Katharina
                 von Behinderung finden sich häufig auch in christlichen     unterschiedlichen christlichen Denominationen nur sel-                                                    Diese Vorstellung ist vereinbar mit der in Nigeria und      die für die Kirche arbeiten, sichtbar werden. Dazu gehört    Peetz ist wissen-
                 Gemeinden. Dabei kommen Menschen mit Behinderung            ten Menschen mit Behinderung in kirchliche Ämter or-                                                      anderen afrikanischen Ländern weit verbreiteten Vor-        auch die (verstärkte) Zulassung von Menschen mit             schaftliche Mitar-
                 etwa als Empfänger*innen von Almosen in den Blick           diniert werden oder Dienste in der Gemeinde verrichten.                                                   stellung von Ubuntu, die vor allem vom südafrikani-         Behinderung zu kirchlichen Ämtern. Die Frage nach den        beiterin im Bereich
                 und erscheinen passiv und hilfsbedürftig. Der Umstand,      Es fehlen für Menschen mit Behinderung also auch                                                          schen Geistlichen und Menschenrechtler Desmond Tutu         Zugangsmöglichkeiten von Menschen mit Behinderung            „Mission und
                 dass Menschen mit einer Behinderung leben, macht sie        repräsentative Identifikationsfiguren auf institutionell-                                                 geprägt wurde. Ubuntu besagt, dass alle Menschen aufei-     zu kirchlichen Ämtern kann durch einen theologischen
                                                                                                                                         Fotos: Nacho Doce/REUTERS (1), epd bild (1)

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                Gesundheit“ am
                 für viele auch zu tragisch Leidenden, denen mit Mitleid     struktureller Ebene. Es wird deutlich, dass Inklusion                                                     nander angewiesen sind und sich Menschlichkeit vor          Gedanken Benjamin Connors gestärkt werden. Dem-              Institut für Welt-
                 zu begegnen ist. Leben in Fülle und Leben mit Behinde-      eine kontinuierliche Aufgabe für christliche Kirchen ist.                                                 allem durch wechselseitige Anerkennung und Respekt          nach ist es Gott, der alle Menschen dazu befähigt, auf       kirche und Mission
                 rung zusammenzudenken, ist nicht selbstverständlich.                                                                                                                  ausdrückt.                                                  ihre Weise von ihm Zeugnis zu geben: sprachlich oder         in Frankfurt Sankt
                 So scheint Leben mit Behinderung in Köpfen vieler           Menschen erfahren, verletzlich zu sein                                                                                                                                nicht-sprachlich, in unterschiedlichen körperlichen und      Georgen. Derzeit
                 Christ*innen stets eingeschränktes, defizitäres Leben zu                                                                                                              Die ganze Gesellschaft muss sich verändern                  geistigen Verfassungen.                                      arbeitet sie an
                 sein. Gerade in pfingstchristlichen und charismatischen     Menschen mit Behinderung werden also in der Kirche                                                                                                                        Inklusion bedeutet, gemeinsam Kirche aller für alle      einem Forschungs-
                 Kreisen finden sich zunehmend problematische „spiritu-      oft ausgeschlossen. Wie kann Kirche dann zu einem Ort                                                     Gottes Menschwerdung zeigt an, dass er mit seiner           zu werden. Gemeinsam, das heißt im vielstimmigen Ge-         projekt zu „Theo-
                 elle“ Ausdeutungen des Phänomens Behinderung. Dem-          werden, an dem Inklusion gelebt wird? Wenn Menschen                                                       Schöpfung in lebendiger Beziehung stehen will. Jesus        spräch miteinander, im Hören auf die Bedürfnisse und         logien der Behin-
                 nach sind Menschen, die mit Behinderung leben, Gefan-       in Nigeria und Brasilien durch Exklusion und Diskrimi-                                                    Christus ist Immanuel – Gott mit uns. In der Menschheit     Wünsche von Menschen mit Behinderung und im enga-            derung in Deutsch-
                 gene ihrer Sünden oder sie befinden sich in den Fängen      nierung in ihrem Menschsein missachtet werden, muss                                                       hat Gott sich verletzlich gemacht und sich menschlichen     gierten Handeln für die Verwirklichung von gerechter         land, Brasilien
                 des Satans. Da Behinderung mit Sünde und Unglauben          die Anerkennung ihres Menschseins und ihrer Würde in                                                      Erfahrungen ausgesetzt. Gen 1,31 verdeutlicht, dass Got-    Teilhabe für alle.                                           und Nigeria“.

6   weltbewegt                                                                                                                                                                                                                                                                                                 weltbewegt    7
Welt MÄRZ-MAI2020 C5178 - Nordkirche ...
Schwerpunkt

                   Ein Stadtteil für alle
                   In Hamburg Altona entsteht ein neues Viertel. Hier wurden
                   Menschen eingeladen, das Zusammenwohnen von vorn-
                                                                                                                                                                                                                                 Nadin Schindel (24) engagiert
                   herein gemeinsam zu planen, Menschen mit und ohne                                                                                                                                                                    sich auch politisch für
                   Behinderung. Ein Experiment, das mit Herausforderungen                                                                                                                                                          Inklusion. So kandidiert sie
                                                                                                                                                                                                                                       unter anderem bei den
                   verbunden ist. Für die Stadtplaner auch „ein großes Ge-
                                                                                                                                                                                                                                      Bürgerschaftswahlen in
                   schenk“.                                                                                                                                                                                                                         Hamburg.
                                                                              Hedwig Gafga

                   S    onntagmorgen in Mitte Altona,
                        dem Neubaugebiet auf dem
                   ehemaligen Bahngelände in Ham-
                                                                Damit betraten die Quartiers-
                                                            entwickler absolutes Neuland. Hier
                                                            ging es nicht darum, einzelne Wohn-
                                                                                                    Eine Mittlerinstanz ohne formale
                                                                                                    Macht, spielen die Forumsleute die
                                                                                                    Empfehlungen zwischen Forum und
                                                                                                                                                                                                      oder 12 Uhr aufstehen, abends wird sie früh ins Bett ge-
                                                                                                                                                                                                      bracht. „Ich wollte morgens in den Tag starten und
                                                                                                                                                                                                      abends wieder ins Bett gehen. Ich will mein Leben leben“,
                   burg. Die meisten der fünf bis acht-     gruppen, Werkstätten oder Treff-        Entscheidungsträgern in Behörden                                                                  sagt Nadin Schindel. Überraschend bekommt sie das
                   stöckigen Wohnblocks sind bereits        punkte in bestehende Stadtteile zu      und Firmen hin und her. Später                                                                    Angebot, allein in eine barrierefreie Wohnung in Mitte
                   bezogen, an einigen wird noch ge-        bringen, sondern ums Mitgestalten       arbeiten kleinere Teams, zwischen                                                                 Altona einzuziehen.
                   baut. Familienfreundlich, autoredu-      eines innerstädtischen Gebiets von      30 und 90 Leute, an verschiedenen                                                                     Abends ist sie nun oft unterwegs. Bei einer Info-
                   ziert und inklusiv soll die neue         Anfang an. Menschen aus verschie-       Themen mit.                                                                                       veranstaltung über das neue Teilhabegesetz illustriert sie
                   Mitte sein, so steht es im städtebau-    denen gesellschaftlichen Gruppen,                                                                                                         die juristischen Ausführungen des Referenten durch
                   lichen Vertrag der Stadt Hamburg         Behinderte und Nichtbehinderte          Junger Mensch mit Abitur                                                                          praktische Beispiele aus ihrem Leben – zur Freude von
                   mit den Eigentümern. Was das im          wurden aufgefordert, ihre Vorstel-      und Schwerbehinderung                                                                             Referent und Zuhörerschaft. Sie wird für weitere Veran-
                   Detail heißt, darüber besteht aus        lungen und Erwartungen an das           sucht Domizil                                                                                     staltungen angefragt, und kandidiert bei den Bürger-
                   Sicht vieler, die hier wohnen, noch      neue Quartier im Rahmen eines Fo-                                                                                                         schaftswahlen in Hamburg auf Platz 52 der SPD-Landes-
                   Klärungsbedarf.                          rums anzumelden. Weitere Foren          Heute, wo der Abschluss des ersten                                                                liste. Eine Inklusionsexpertin sei sie nicht, wehrt sie ab.
                       3500 Wohnungen auf 25,9 ha           und Zwischendurch-Teams sollten         Bauabschnitts mit 1600 Wohnungen                                                                  Das Wort Inklusion übersetzt sie lieber: „Aus prakti-
                   Fläche, 1600 im ersten Bauabschnitt.     die Entstehung des Quartiers über       bevorsteht, ist die inklusive Hand-                                                               scher Erfahrung möchte ich aufs Zusammenhalten hin-
                   Ein großes Wohngebiet, „die neue         die gesamte Bauzeit hinweg beglei-      schrift in Mitte Altona deutlich                                                                  weisen, darauf, wie viel tatsächlich nur gemeinsam geht.
                   Mitte Altona“ sollte entstehen, aber     ten. „Wir sehen Menschen als Exper-     erkennbar. Vor dem Eingang zu                                                                     Dass ich heute diese Selbständigkeit habe, ist möglich
                   für wen? Die Stadt hatte bei dem an      ten für das, was sie bewegt, für ihre   ihrem Wohnblock wartet Nadin                                                                      durch ein Team.“ Dazu zählt sie einen Quartierslotsen
                   die Schienen angrenzenden Gelände        Nachbarschaft, für sich selbst, auch    Schindel, 24, schmal, mit blondem,                                                                aus Alsterdorf, der ihren Einzug unterstützte, Lehrerin-
                   auf ihr Vorkaufsrecht verzichtet, pri-   für ihr Handicap“, sagt Lea Gies, die   krausem Haar, im Rollstuhl. Sie ist                                                               nen, Pflegerinnen, Physiotherapeuten. Auch Technik sei
                   vate Investoren waren am Zug. Viele      vor mehr als zwei Jahren die Leitung    spastisch gelähmt von Kindheit an.                                                                wichtig. Techniker seien „ihre Superhelden“. Deren Kön-
                   befürchteten, dass im sozial durch-      der Gesprächsplattform übernom-         „Junger Mensch mit Abitur und                                                                     nen verhalf ihr dazu, mit Hilfe einer Deckenliftkonst-
                   mischten, aber durch Gentrifizie-        men hat.                                Schwerbehinderung sucht Domizil“,                                                                 ruktion, die sie aus dem Bett in den Rollstuhl hinein
                   rung stark veränderten Altona ein            Zum ersten Forum Anfang 2012        auf diese Formel bringt sie ihre                                                                  schweben lässt, ohne fremde Hilfe aufstehen zu können.
                   Wohnquartier nur für Besserverdie-       kommen rund 250 Leute. Dicht ge-        lange Suche nach einem Ort, an dem                                                                Jeder Schritt zu mehr Selbständigkeit ist ihr wichtig,
                   nende entstehen würde. Zu dieser         drängt sitzen Nachbarn, Rollstuhl-      sie bleiben konnte und dabei fast                                                                 zugleich ist sie für Hilfe dankbar. „Hilfe zu brauchen und
                                                                                                                                           Fotos: H. Gafga (1), P. Heinbockel (1), www.adpic.de (1)
                   Zeit organisierte Projektleiterin Ka-    fahrende, Menschen aus Vereinen         die Hoffnung auf Gott und Men-                                                                    auch anzunehmen“, gehört für sie zum Menschsein.
                   ren Haubenreisser von der Stiftung       und Initiativen, Fachleute aus Als-     schen verloren hätte. Systematisch                                                                Auch weil ihre Eltern, die alkoholabhängig waren, keine
                   Alsterdorf Treffpunkte für Men-          terdorf und Behörden, Mitarbeiter       habe sie die vorhandenen Listen von                                                               Hilfe hätten annehmen wollen, auch deshalb ist diese
                   schen mit und ohne Behinderung           aus beteiligten Firmen, Wohnungs-       Beratungsstellen und Einrichtungen                                                                Botschaft für sie so zentral.
                   unter anderem auch in Altona Alt-        suchende, Bauwillige beieinander,       in ganz Deutschland durchtelefo-
                   stadt. Gut vernetzt mit Firmen und       voller Neugier. Einige tragen selbst-   niert, um festzustellen: „Es gibt                                                                 Es spart Kosten, Menschen zu beteiligen,
                   Initiativen, Verwaltung und Politik,     sicher ihre Anliegen vor, andere fra-   kaum Häuser für körperbehinderte                                                                  die direkt betroffen sind
                   brachte sie die Frage unter die Leute,   gen vorsichtig, welche Themen im        Menschen. Vorübergehend kommt
                   ob in dem geplanten Neubaugebiet         Forum eigentlich bearbeitet werden      sie in einer Einrichtung für geistig                                                              Ohne die Arbeit des Forums „Eine Mitte für Alle“ wäre für
                   nicht ein inklusives Quartier entste-    sollen. In Erinnerung geblieben ist     Behinderte, im Kinderhospiz oder                                                                  Nadin Schindel kein Platz in Mitte Altona. Im ersten Jahr
Hedwig Gafga       hen könne. Anfang 2012 rief die          die Aussage der Forumsleiterin, sich    im Pflegeheim unter. Dann werden                                                                  der Arbeit entwirft das Forum ein Leitbild für das Quar-
  lebt als freie   Evangelische Stiftung Alsterdorf das     nicht von vornherein zu beschrän-       Schmerzen und Pflegesituation un-                                                                 tier. Darin wird Inklusion weit gefasst. Nicht nur behin-
 Journalistin in   Forum „Eine Mitte für Alle“ ins          ken, sondern auch das zu sagen, was     erträglich: Weil zu wenig Personal                                                                derte Menschen, auch Leute mit niedrigen oder mittleren
    Hamburg.       Leben. Ein Experiment.                   einem vielleicht utopisch erscheine.    vorhanden ist, kann sie erst um 11                                                                Einkommen, Menschen, die auf dem Arbeits- und Woh-

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Welt MÄRZ-MAI2020 C5178 - Nordkirche ...
Schwerpunkt

                  „Labor zum Testen“. Projekt-
                  leiterin Lea Gies unterwegs im
                  neuen Quartier.

                  nungsmarkt kaum Chancen haben und Leute aus Einwan-                                                    Rollstuhlfahrende sollen an              mögen ist ihm geblieben, besuchte       te von Mekan, mit sehr kleinen Ren-
                  dererfamilien sollen in dem Quartier leben und mitgestal-                                              beliebte Orte kommen kön-                sechs Treffen von „Bliss“, einer Bau-   ten, seien stolz, in Mitte Altona einzu-
                  ten können. Auf 5-10 Prozent der Geschossflächen soll                                                  nen                                      gemeinschaft von Blinden, Sehbe-        ziehen. Im Forum entstand die Idee,
                  Raum für Integrationsprojekte mit behinderten Menschen                                                                                          hinderten und Sehenden, bevor er        – vor allem aus praktischen Gründen
                  entstehen. Beim Wohnungsbau empfiehlt das Forum einen                                                  Gegenüber der Kita „Sandvika Ul-         per Abstimmung als Mitglied ge-         – die mehrheitlich türkische „Mekan“-
                  Drittelmix: ein Drittel geförderte Sozialwohnungen, ein                                                na“, eine von vier inklusiven Kitas,     wählt und kurz danach zum Spre-         Gruppe und die deutsche Senioren-
                  Drittel frei finanzierte Mietwohnungen und ein Drittel                                                 stehen Eltern sonntags um einen          cher ernannt wurde. Wenn das enga-      baugemeinschaft „Gemeinsam älter
                  Eigentumswohnungen. „Ein großes Pfund war, dass die                                                    Holztisch mit Thermoskannen und          gierte Forumsmitglied zu seinem         werden“ zu einer Baugemeinschaft zu
                  Politik in Altona unsere Arbeit stark unterstützt hat“, sagt                                           Bechern herum, während die Kinder        Verein „Tandem weiße Speiche“ oder      verbinden.
                  Lea Gies. Im Februar 2014 macht sich das Altonaer Bezirks-                                             schaukeln oder auf Rädchen übers         zu Schachturnieren unterwegs ist,           Wie stark der inklusive Gedanke
                  parlament die inklusiven Vorschläge zu eigen und be-                                                   Gelände kurven. Auf dem an-              achtet er darauf, ob die Wege für       das Viertel prägen wird, zeigt die Zu-
                  schließt, dass sie auch für weitere Altonaer Bauvorhaben                                               grenzenden Weg, der bis an den ho-       Blinde sicher sind und bringt Verbes-   kunft. Dann wohnen die inklusiven
                  gelten sollen. Später werden die Vorgaben im städtebau-                                                hen Zaun des Bahngeländes führt,         serungsvorschläge ein. Er freut sich    Baugemeinschaften auf dem Gelände
                  lichen Vertrag vom 9. Mai 2014 zwischen der Stadt Ham-                                                 spielen junge Leute Boule und Wi-        aufs gemeinsame Wohnen mit Ein-         und auch die mehrheitlich von Ein-
                  burg und den Eigentümern festgeschrieben.                                                              kingerschach. Durch die Straßen          zelnen, Paaren und zwei Familien,       wandererkindern besuchte Stadtteil-
                      Birgit Ferber, Leiterin der zuständigen Planungsgruppe                                             laufen kleine Gruppen, die sich, teils   eine davon mit einem blinden Kind,      schule aus dem benachbarten Bezirk
                  der Stadtentwicklungsbehörde, nennt die Arbeit des Fo-                                                 mit Lageplan in der Hand, das inklu-     die bald über sieben Stockwerke ver-    kommt dazu. Jetzt schon hat sich her-
                  rums „ein großes Geschenk“. Besonders bei den Treffen der                                              siv gestaltete Quartier anschauen.       teilt in einem Haus wohnen werden.      umgesprochen, dass es möglich ist,
                  Zwischendurch-Teams seien die unterschiedlichen Perspek-                                               Selbst die Sandwege sind zusätzlich                                              eigene Anliegen einzubringen und ge-
                  tiven für sie nachvollziehbar geworden. Während bei Bau-                                               befestigt. Auch auf dem Spielplatz       Wie stark der inklusive                 hört zu werden. Die neuen Bewohner
                  vorhaben sonst nur Stippvisiten mit späteren Bewohnern                                                 und in dem kleinen, mit Hügeln           Gedanke das Viertel prägt,              und ihre Nachbarn treten weiter für
                  möglich seien, sei durch die Vermittlung der Forumsleute                                               gestalteten Park sind die Wege mit       wird sich zeigen                        inklusive Belange ein. Als die Ver-
                  ein Gegencheck durch künftige Bewohner aus den Bauge-                                                  Rollstühlen befahrbar. Es sei wich-                                              kehrsbehörde in der stark von Fuß-
                  meinschaften ermöglicht worden – „eine große Bereiche-                                                 tig, dass auch Rollstuhlfahrende an      Kein Zufall, dass auch Jan van den      gängern genutzten Harkortstraße auf
                  rung“. Sich daraus ergebende Änderungen habe sie durch                                                 beliebte Orte hinkommen, erklärt         Heuvel, 80, von der Seniorenbauge-      Tempo 50 besteht, erstreiten Kita-
                  die Erfahrungen in den Treffen auch behördenintern besser                                              Projektleiterin Lea Gies, das sei ein    meinschaft „Mit Mekan gemeinsam         Eltern, behinderte Menschen und an-
                  vertreten können. Die Vorgaben aus Mitte Altona stellen                                                Aspekt von Teilhabe. Über 90 Pro-        älter werden“ in gesellschaftlichen     dere Bewohner bei der zuständigen
                  Weichen für weitere Bauprojekte. Der Drittelmix, der sich                                              zent der Wohnungen seien bis zur         Gruppen aktiv ist, im Bezirks-Senio-    Behörde Tempo-30-Bereiche.
                  später auch bei anderen Bauvorhaben durchsetzt, „der ist                                               Türschwelle barrierefrei zugänglich.     renbeirat und bei „Mekan“ (deutsch          „Ein Labor zum Testen“, nennt Lea
                  für Mitte Altona erfunden worden“, sagt Birgit Ferber.                                                 Sie hätte sich aber noch mehr Woh-       „Zuhause“), einem interkulturellen      Gies die Pionierarbeit des Forums.
                                                                                 Fotos: H. Gafga (1), www.adpic.de (2)

                      „Nicht nur Fachpersonal zu beteiligen, sondern auch                                                nungen mit breiteren Türöffnungen        Seniorentreff von überwiegend tür-      „Gerade im Hinblick auf unterschied-
                  Menschen, die eine Sache direkt betrifft, hat sich bewährt“,                                           gewünscht. Davon hänge es ab, ob         kischen Frauen und Männern, die         liche Gruppen von behinderten Men-
                  sagt Projektleiterin Lea Gies. „Das erspart Zusatzkosten,                                              eine Rollstuhlfahrerin wie Nadin         als „Gastarbeiter“ nach Deutschland     schen fragen wir uns ständig: Was ist
                  die anfallen, wenn Dinge nachträglich geändert werden                                                  Schindel zu Besuch kommen könne.         kamen und nun oft allein zurückge-      zu verbessern? Was klappt schon
                  müssen“. Anfangs habe es geheißen: „Alles flach. Bis Leu-                                              Es ist bei rund ein Drittel der Woh-     blieben seien. Die Gruppe sei Famili-   ganz gut?“ Ob der geplante zweite
                  te vom Blindenverein sagten, das gehe leider gar nicht:                                                nungen möglich.                          enersatz, man treffe sich regelmäßig    Bauabschnitt auf dem Bahngelände
                  ,Wir brauchen Bordsteinkanten, um uns zu orientieren.‘“                                                    Die Wohnblöcke der Baugemein-        zum Frühstück, feiere Weihnachten       kommt, ist ungewiss. Auch bei dem
                  Der erste Entwurf für die Mustersteine fiel bei den Blinden                                            schaften, das Herzstück des inklusi-     und das Fastenbrechen, besuche so-      Vorhaben auf dem ehemaligen Hols-
                  durch. Sie konnten die Markierungen in den Steinen nicht                                               ven Lebens, sind in einigen Monaten      gar die Kinder zusammen. Jan van        tenareal gibt es ein gemeinsames Fo-
                  gut genug ertasten. Auch bei den folgenden musste nach-                                                bezugsfertig. Björn Beilfuß, Mitte 40,   der Heuvel und seine Frau begleiten     rum. Fraglich ist, ob es auch hier zur
                  bearbeitet werden.                                                                                     „gesetzlich blind“, ein Rest Sehver-     andere bei Behördengängen. Die Leu-     Einigung kommt. Es bleibt spannend.

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Schwerpunkt

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                                                                                                                                                tennis: Bis elf zählen, Regeln kennen, aufmerksam sein.       heit mit dem Leib Christi“.
                                                                                                                                                Ich hatte nicht die gleichen Fähigkeiten wie die anderen,         So wuchs ich sechs Jahre gemeinsam mit anderen
                                                                                                                                                habe aber eine andere Funktion eingenommen. Dann              Kindern im Dorf glücklich auf. Ich gehörte dazu und ent-
                                                                                                                                                sah mich ein anderer Urlaubsgast: „Willst du nicht mit-       deckte spielend die Welt, na gut, das Dorf. Dass ich nicht
                                                                                                                                                spielen?“ Ich: „Doch, aber ich kann das nicht.“ Er über-      alles machen konnte, störte weder mich noch andere.
                                                                                                                                                legt: „Ich habe da eine Idee“. Am nächsten Tag kam er         Dann wurde ich in eine Sonderschule eingeschult. Ich
                                                                                                                                                wieder, hatte Schaumstoff und Schnüre dabei und sagte:        hatte es schon damals nicht verstanden. Warum sollte ein
                                                                                                                                                „Ich versuche, dir einen Schläger an den Arm zu bin-          normaler Menschen ohne Hände in eine Einrichtung
                                                                                                                                                den“. Ich hielt ihm meinen Arm hin und er hat mir den         gehen, die ihn von der „normalen“ Gesellschaft aus-
„Inklusion bedeu-                                                                                                                               Schläger drangebunden. Dann habe ich angefangen mit           schließt? Warum sollte ein Kind mit Down-Syndrom nur
      tete für mich                                                                                                                             der wackeligen Konstruktion zu spielen. Ich konnte            mit anderen Down-Syndrom-Kindern spielen und ler-
   schon früh: Ich                                                                                                                              plötzlich einen Aufschlag, kurze Bälle erreichen und die      nen? Statt mit meinen Freunden zu Fuß zur Schule zu
    gehöre dazu“.                                                                                                                               links und rechts in der Ecke auch. Das war ein wunder-        gehen, wurde ich nun mit dem Fahrdienst zur Sonder-
  Rainer Schmidt,                                                                                                                               bares Erfolgserlebnis. Warum treiben Menschen Sport?          schule gefahren. Ich kam erst gegen 17 Uhr zurück. Im
        Pastor und                                                                                                                              Weil sie wunderbare Erfolgserlebnisse bekommen.               Winter zu spät, um mit anderen Kindern draußen zu
       mehrfacher                                                                                                                                                                                             spielen. So kam es, dass bereits nach dem ersten Winter
Goldmedaillenge-                                                                                                                                Gleich mit Rechten und Bedürfnissen                           die Trennung fatale Folgen in unseren Kinderköpfen hin-
   winner bei den                                                                                                                                                                                             terließ. Als meine Mutter im Frühling vorschlug, ich solle
   Paralympics im                                                                                                                               Wer Inklusion will, der sucht nach Beteiligungsmöglich-       doch zum Spielen rausgehen war meine Antwort: „Was
       Tischtennis.                                                                                                                             keiten und Erfolgserlebnisse für alle. Kaum zuhause habe      soll ich da? Die reden doch nur über die Schule und da
                                                                                                                                                ich zu meinem Vater gesagt: „Ich gehe in einen Tischten-      gehöre ich nun nicht mehr dazu!“ Von meinen Freunden
                                                                                                                                                nisverein.“ Da wartete die nächste Barriere auf mich.         vermisste mich nach einem halben Jahr keiner mehr. Die
                                                                                                                                                Zuerst in meinem Kopf. Was, wenn die Kinder mich              Aufteilung der Menschen in Menschen mit und ohne
                                                                                                                                                ablehnen. Dann habe ich meinen Cousin gefragt.                Behinderung war uns vorher fremd gewesen.
                                                                                                                                                Gemeinsam lassen sich Barrieren besser überwinden.                Separation lässt Barrieren in allen Köpfen entstehen.

                             Wer Inklusion I                          ch erzähle erst einmal, wie ich auf die verrückte Idee
                                                                      gekommen bin, Tischtennis, also Vorhand und Rück-
                                                                                                                                                Und dann hat uns mein Vater zum Training gefahren.
                                                                                                                                                Zum Trainer sagte er: „Das ist mein Sohn, der möchte
                                                                                                                                                                                                              Man wird einander fremd. Dauerhafte Separation ist die
                                                                                                                                                                                                              Reaktion unserer Gesellschaft auf verunsichernde Viel-
                                                                   hand zu spielen, obwohl ich nicht einmal Hände habe.                         gerne Tischtennis spielen“. Trainer: „Ich verstehe viel von   falt. Inklusion ist dagegen der Mut, einander zu begegnen.
                              will, braucht                        Wie ist bei mir die Teilhabe vonstatten gegangen,
                                                                   obwohl ich mich von anderen Tischtennisspielenden
                                                                                                                                                Tischtennis, habe aber keine Ahnung, wie man ohne
                                                                                                                                                Hände spielt. Wir können ja gemeinsam herausfinden,
                                                                                                                                                                                                              Mein Abitur habe ich übrigens nach der 13. Klasse auf
                                                                                                                                                                                                              dem Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium gemacht. Grund-
                                                                   sehr unterschieden habe? Ich war zwölf, als meine Eltern                     wie das geht.“ Was für ein Trainer! Gibt seine Verunsiche-    sätzlich denke ich, vernebeln Klassen und Wettkämpfe
                       Experimentierfreude                         auf die Idee kamen, Urlaub in einem 450 Seelen-Dorf in
                                                                   Österreich zu machen. Dort gab es eine Tischtennisplat-
                                                                                                                                                rung zu, lässt sich von meinen (offensichtlichen) Unfä-
                                                                                                                                                higkeitsbarrieren nicht abhalten und wird selbst zum
                                                                                                                                                                                                              den Blick für die Einzigartigkeit und Vielfalt der Men-
                                                                                                                                                                                                              schen. Es gibt viele Menschen mit versteckten Benachteili-
                                                                   te. Und natürlich habe ich versucht, Tischtennis zu spie-                    Lernenden. Wer Inklusion will, braucht keine fertigen         gungen. Das Mädchen, das zuhause nur Türkisch spricht,
                       Inklusion ist möglich, auch dann, wenn es   len. Ich wollte machen, was alle machen. Also habe ich                       Konzepte, sondern Experimentierfreude und Lernbereit-         wird im Fach Deutsch nicht mit dem Germanistik-Profes-
                               um Wettkampf und Leistung geht.     mir einen Schläger genommen und habe dann versucht,                          schaft. Ich habe mit Hilfe anderer meinen eigenen Weg         soren-Sohn mithalten können. Muss es aber, weil wir
                                                                   den Ball zu schlagen. Ich merkte rasch, ich kam weder                        gefunden, an Tischtennis zu partizipieren. Also eine          meist blind sind für diese Unterschiedlichkeit. Wo kämen
                             Es kommt nur darauf an, wie wir die   links noch rechts, schon gar nicht an die kurzen Bälle                       wunderbare inklusive Geschichte.                              wir hin, wenn jede*r eine Ausnahme bekäme? Wenn wir
                                       Lebensbereiche gestalten.   dran. Und wenn die Kinder ernst gemacht haben, dann                              Als ich 1965 in eine ganz normale Familie hineinge-       plötzlich Unterschiedlichkeit als Reichtum und nicht als
                                                                   war ich sofort erledigt. Schnell war mir klar: Tischtennis                   boren geboren wurde, ohne Hände, ohne Unterarme mit           Problem ansehen würden? Wir könnten womöglich ins
                                                Rainer Schmidt     ist nichts für mich. Ich bin gescheitert an der Barriere,                    einem verkürzten Bein, war der Schock zunächst groß.          Reich Gottes gelangen. Dahin, wo der Mensch wichtiger
                                                                   die der Sport nun mal mit sich bringt, nämlich an der                        „Was soll aus dem Jungen werden?“ Zum Glück war nicht         ist als die Summe seiner Leistungen. Was ist Inklusion?
                                                                   Fähigkeitsbarriere. Ich hätte mich nun auf mein Zim-                         nur die Verunsicherung meiner Eltern groß, sondern            Meine kürzeste Definition: „Inklusion ist die Kunst des
                                                                   mer zurückziehen können. Aber ich fühlte mich zur                            auch deren Kampfeswille. Machten andere einen Vor-            Zusammenlebens von sehr verschiedenen Menschen“. Die
                                                                   Gruppe der Urlaubskinder dazugehörig und wollte nicht                        schlag, mich in einer Einrichtung für behinderte Kinder       Kunst des Zusammenlebens, also zusammen etwas
                                                                   außen vor sein. Intuitiv habe ich gemacht, was heute                         erziehen zu lassen, weil ich dort optimal gefördert werden    machen, Sport treiben, wie auch immer, von sehr unter-
                                                                   jeden Pädagogen freuen würde. Wenn ich nicht machen                          würde, sagten meine Eltern: „Nein der gehört zu uns.“         schiedlichen Menschen. Es wird also zweierlei zusam-
                                                                                                                                Foto: J. Hahn

                                                                   kann, was alle können, so suche ich eine neue Aufgabe,                       Inklusion bedeutete für mich schon früh: Ich gehöre           mengedacht: Die Verschiedenartigkeit der Menschen und
                                                                   um trotzdem dabei zu sein. Ich wurde Schiedsrichter:                         dazu. Da, wo Menschen sich zugehörig fühlen, sich ver-        die Gleichwertigkeit der Menschen. Jede*r ist anders, aber     Fortsetzung
                                                                   Kannst nichts, bist aber wahnsinnig wichtig. Natürlich                       bunden fühlen ist das wichtigste schon geschafft. Eltern      gleich in seinen Rechten und Bedürfnissen.                     Seite 14

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Welt MÄRZ-MAI2020 C5178 - Nordkirche ...
Schwerpunkt

                  Niemand ist unbehindert
                                                                             welchen Strukturen leben wir? Wie kann man Inklusi-
                  Dass Inklusion gelingt, ist nicht selbstverständlich.
                  Dafür müssen und können wir einiges tun. 2008 trat die
                                                                             on fördern? Dazu ein weiteres Beispiel aus meinem
                                                                             Leben: Ich musste in der 12. Klasse im Gymnasium
                                                                                                                                                                                 „Kirchen sollen Inklusionsagenten sein“
                  Behindertenrechtskonvention (BRK) in Kraft. Für mich       1000 m im Sportunterricht laufen. Um möglichst
                  ist daran das Wichtigste die Relativierung der Auftei-     schnell zu sein, habe ich, der Beinprothesenträger, jeden                                           Worin liegen die Herausforderungen in Kirche und
                  lung von Menschen. Früher gab es Menschen mit und          zweiten Tag 1000 m trainiert. Übrigens, die Mädchen                                                 Gesellschaft?
                  ohne Behinderung. Heute hat sich die Erkenntnis            mussten nur 800 m laufen. Am Prüfungstag habe ich                                                   Rainer Schmidt: Es ist schlecht zu greifen, was Gesell-
                  durchgesetzt, dass alle Menschen mehr oder weniger         alles gegeben, kam aber als letzter ins Ziel. Noch hinter                                           schaft ausmacht. Ich spreche lieber von konkreten gesell-
                  begrenzt sind. Zusammenfassend gesagt hat die Behin-       dem langsamsten Mädchen. Ein peinlicher Moment für                                                  schaftlichen Feldern. Schule ist eines der wichtigsten. Es
                  dertenrechtskonvention mindestens zwei Perspektiv-         mich als 18-Jährigen. Völlig ausgepumpt ging ich zu                                                 geht um längeres gemeinsames Lernen. Und es dürfte
                  wechsel vollzogen:                                         meinem Lehrer und fragte: „Wie war ich?“ „Ja, schau                                                 keine Separation aufgrund von Behinderung und sozialer
                      1. Niemand ist nur behindert, niemand ist unbehin-     mal Rainer. 2:55 min ist eine Eins. Guck mal, das hier ist                                          Herkunft geben. Ein anderes Feld heißt: Die großen Zen-
                  dert. Niemand lebt ohne Begrenzungen. Einschränkun-        die Zeit für eine Vier. Du kriegst... grübel ... eine Neun.“                                        traleinrichtungen gegen Hilfen vor Ort einzutauschen. Da-
                  gen zu haben, ist ein völlig normales Phänomen. Auch       Ich erwiderte: „Sie wissen schon, dass ich eine Prothese                                            rüber hinaus: 90 Prozent des Wissens über Behinderung
                  der aus medizinischer Perspektive behinderte Mensch        am rechten Bein trage? Apropos, welche Zeit bin ich                                                 wird durch Medien vermittelt. Leider wird in den Medien
                  ist ein begabter Mensch. Inklusion heißt, jede unnötige    denn gelaufen?“ Seine Antwort: „07:35 min“. „07:35                                                  viel zu unreflektiert von Menschen mit Behinderungen ge-
                  Einteilung in Behinderte und Nichtbehinderte zu ver-       min!“ rief ich erfreut: „Persönliche Bestzeit!“ Das ist das                                         sprochen. Medienmacher müssen so über Menschen
                  bannen. Im weiten Sinne geht es bei Inklusion um die       Dilemma des Wettkampfsportes. Sollte er mir eine Eins                                               mit Behinderungen berichten, wie die sich selbst sehen.
                  Infragestellung von Zuordnungen und Kategorisierun-        geben? Goldmedaille für Rainer Schmidt, obwohl er als                                               Zum Beispiel sind Menschen im Rollstuhl nicht an diesen
                  gen. Wer permanent Jungs von Mädchen, Schwarze von         Letzter ins Ziel gekommen ist? Andererseits war ich der                                             gefesselt. Der Rollstuhl ermöglicht Freiheiten. Niemand ist
                  Weißen, Reiche von Armen, Große von Kleinen, Klugen        einzige mit persönlicher Bestzeit und hätte eigentlich                                              trotz Behinderung glücklich, sondern wegen eines glück-
                  von Dummen unterscheidet, verfestigt Kategorien, die       die beste Note bekommen müssen. Kaum hatte ich die-                                                 lichen Ereignisses. Die Aktion Mensch, früher Sorgenkind
                  zuweilen unangemessen und oft genug schädlich sind.        sen Gedanken ausgesprochen, meldete sich ein Mäd-                                                   steht beispielhaft für diesen Wandel: Einst gab es Medien-
                      2. Von der Einschränkung des Einzelnen hin zur         chen: „Ich müsste eigentlich auch in eine andere Start-                                             kampagnen über arme Behinderte, heute wird die Norma-
                  Aufgabe, die alle angeht. Das bedeutet: Nicht‐Teilhabe     klasse. Sabine ist 20 Kilogramm leichter als ich und 10                                             lität des Lebens mit Grenzen dargestellt.
                  und Barrieren‐überwinden sind nicht mehr Probleme          cm größer. Ist doch klar, dass die schneller laufen kann.“
                  eines Einzelnen. Es ist Aufgabe der gesamten Gesell-       Da begriffen wir: Jeder Wettkampf ist immer ein Ver-                                                Welche Rolle haben die Kirchen beim Thema Inklusion?
                  schaft, Teilhabe zu ermöglichen. In Kurzform: Es heißt     gleich zwischen Äpfeln und Birnen. Sport als Wett-                                                  Die Kirchen sollten eigentlich Inklusionsagenten sein. Das
                  nicht mehr „Ich bin behindert“, sondern „Wir ermögli-      kampf muss immer bemüht sein, faire Wettkampfklas-                                                  wäre der Anspruch. Meine Erfahrung ist: viele Menschen
                  chen Teilhabe“. Wenn ich gefragt werde, was der Unter-     sen zu bilden. Ich war schlicht in der falschen Klasse                                              kümmern sich in den Kirchen um Teilhabe von Menschen
                  schied zwischen einem behinderten Menschen und             gestartet. Inklusion heißt nicht, jede und jeder muss                                               mit Behinderung. Sehr engagierte Menschen. Es ist aber
                  einem nichtbehinderten Menschen ist, sage ich gerne:       immer und überall alles mitmachen dürfen. Ich habe                                                  noch immer viel zu oft ein Kümmern um andere, statt mit
                  „Meine Behinderung sieht man. Ihre wird erst offenbar,     übrigens von dieser Erkenntnis sehr profitiert. Gäbe es                                             anderen etwas zusammen zu machen. Im Grunde handelt
                  wenn wir Tischtennis gegeneinander spielen.“ Oder          keine Startklasse für Herren, Kurzarmige, hätte ich nie                                             es sich um eine Vorform des klassischen Diakoniemodells.
                  wenn Sie predigen sollen, dann könnten Sie sich auch als   Gold gewonnen. Nur in einem Wettkampf, der unter                                                    Den gedanklichen Wechsel hinzubekommen, dass Men-
                  begrenzt erweisen. Auf dem Gebiet bin ich wiederum         einigermaßen homogenen Teilnehmern stattfindet,                                                     schen mit Behinderung vollwertige Mitglieder der Kirche
                  talentiert. Beim Klavierspielen habe ich wieder Nachtei-   kann ich glänzen. Im Wettkampfsport sind Abgren-                                                    sind, müssen wir noch einüben.
                  le. Ich bin von meinem Wesen her kein Behinderter,         zungen also völlig legitim. Doch in einem wettkampf-                                                Aber grundsätzlich gilt für mich: Ich bin froh, dass es
                  sondern nur partiell eingeschränkt. Das gilt allerdings    geprägten Bereich wie dem Sport ist Inklusion möglich.                                              die Kirche gibt. Sie ist für mich ein Lebensraum, in dem Menschen nicht          Rainer Schmidt auf dem
                  für jeden Menschen.                                        Die Lösung liegt in einer geänderten Aufgabenstellung,                                              miteinander verglichen werden (müssen). Wo die Gleichwertigkeit aller            Podium des Kirchentags 2013
                                                                             zum Beispiel: „Jeder läuft in seinem Tempo. Nach 10                                                 Menschen bei gleichzeitig großer Einzigartigkeit wenigstens noch gepredigt       in Hamburg
                                               Probieren, wie                Minuten sollt ihr einen Puls von 150 haben.“ oder es                                                wird. Wo Jugendarbeit nicht aus Wettkampfspielen besteht. Gut, manchmal
                                               Teilhabe gelingt              heißt: „Wir trainieren heute Beweglichkeit am Tisch                                                 entdecke ich auch in den Kirchen Barrieren. Schließlich sind Gemeinden
                                                                             (früher wäre es Beinarbeit gewesen, das aber können                                                 nicht identisch mit dem Reich Gottes: Wenn im Gottesdienst für Kranke und        Rainer Schmidt ist Pastor,
                                                Wichtig in dem Zusam-        einige von uns nicht mitmachen)“. Alle Teilnehmenden                                                Behinderte gebetet wird, als würden nicht alle hin und wieder krank werden       Buchautor, Dozent, Kabarettist
                                                menhang ist die Frage:       sollen Erfolgserlebnisse haben und das Gefühl der Da-                                               und als wären wir nicht alle arg begrenzt. Gerne zitiere ich die Theologin       und Paralympicssieger im
                                                                                                                                            Fotos: epd bild (1), C. Plautz (1)

                                                Mit welcher Einstel-         zugehörigkeit. Menschen sind soziale Wesen.                                                         Dorothee Sölle: „Gott hat keine anderen Hände als unsere.“ Ja, unsere! Also      Tischtennis. Der mehrfache
                                                 lung, inneren Haltung           Ich erinnere noch einmal daran, wie mein Trainer                                                meine nicht, aber die der anderen. Das heißt, es sind unsere Hände. Denn         Weltmeister gehört mit sechs
                                                  begegnen wir einan-        beim ersten Training zu mir sagte: „Ich weiß nicht, wie                                             Talente, Begabungen und Charismen haben wir, damit wir sie in den Dienst         Goldmedaillen zu den erfolg-
                                                  der? Betrachten wir        du mit uns Tischtennis spielen kannst, aber wir werden                                              des Zusammenlebens stellen. Eltern stellen sich in den Dienst der Kinder, wer    reichsten Teilnehmern bei den
                                                   einen Menschen als        es gemeinsam herausfinden.“ Inklusion heißt: Gemein-                                                predigt, macht das für andere. Ebenso sind wir alle Angewiesene. Inklusion ist   Paralympics. Er beendete seine
                                                   behindert oder ha-        sam ausprobieren, wie mehr Teilhabe gelingen kann.                                                  eigentlich völlig selbstverständlich.                                            Sportkarriere 2008 in Peking.
                                                    ben wir Augen für        Inklusion ist gut für alle, weil alle herzlich willkommen
                                                    seine Talente? In        sind und alle mitmachen sollen.

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Welt MÄRZ-MAI2020 C5178 - Nordkirche ...
Schwerpunkt

        Dem behinderten                           Gewagte Vorstellung

          Gott begegnen                           Schließlich möchte ich darüber nachdenken, als Ergebnis der
                                                  Begegnung mit dem behinderten Gott eine riskierende Vorstel-
                                                                                                                                                    bekommen. Die meisten Pfade erwiesen sich als heimtückisch
                                                                                                                                                    und ungangbar. Wir sind unzufrieden und bereit, neue Vorstel-
                                                                                                                                                                                                                         heit, der man unfreiwillig beitreten kann, ohne Vorwarnung und
                                                                                                                                                                                                                         jederzeit. Dieses Risiko kann Kreativität und Offenheit hervorru-
                                                  lung zu entwickeln. Ich habe eine Freundin, Alice Wexler, die von                                 lungen zu riskieren, neue Symbole und erneuertes Bemühen             fen für das, was Gott tun wird. Für einige ist es riskant, dem
                                                  der Huntington-Krankheit bedroht ist, einer genetisch bedingten                                   einzusetzen, um unsere versteckte Geschichte zu entdecken.           behinderten Gott zu begegnen. Wie auch immer: Ich glaube,
            Die US-amerikanische Theologin        Krankheit. Diese Erkrankung trifft Menschen in der Mitte ihres                                    Wir stellen diese Frage auch anderen, die sich betreffen lassen:     dass diese Begegnung die Möglichkeit eröffnen kann, wahrzu-
     und Professorin für Religionssoziologie      fünften Lebensjahrzehntes und führt zu einem anhaltenden, fort-                                   Bist du bereit, das Risiko einzugehen, Gott tiefer zu verstehen,     nehmen, wie Gott schon in der Welt handelt, und neue und bes-
                                                  schreitenden Verlust geistiger und nervlicher Fähigkeiten. Alice                                  indem du dich auf volle Teilhabe von Menschen mit Behinderun-        sere Vorstellungen zu entwickeln. Die Kirche muss sich selbst
       Nancy L. Eiesland, selbst von Geburt
                                                  beobachtete ihre Mutter, wie sie einen langen und schmerzvol-                                     gen und chronisch Kranken in deiner Gemeinschaft und darüber         riskieren, wenn sie Gerechtigkeit verwirklicht sehen will. Ich bin
       an behindert, entwickelte eine Befrei-     len Tod an dieser Huntington-Krankheit starb. Sie und ihre                                        hinaus einlässt? Werden wir gemeinsam eine riskierende theolo-       überzeugt, dass wir, wenn wir unsere christliche Tradition sorg-
             ungstheologie der Behinderung.       Schwester haben hart daran gearbeitet, Forscher dabei zu                                          gische Vorstellung entwickeln, die fragt, was Gottes Vision          fältig und kritisch betrachten, Stücke einer verschütteten
                                                  unterstützen, die genetische Spur dieser Krankheit zu entde-                                      menschlichen Wohlergehens nicht allein für einige ist, sondern       Geschichte entdecken und – vielleicht noch wichtiger – Wegzei-
       Zentral ist für sie die Erkenntnis, dass
                                                  cken. Nach etwa einem Jahrzehnt wurde der genetische Marker                                       für alle, nicht allein für die Ent-hinderten, sondern auch für die   chen entdecken, die uns auf dem Weg zu menschlichem Wohl-
      der auferstandene Christus sich selbst      gefunden und ein Test entwickelt, der Menschen mit dem Risiko                                     Behinderten, nicht allein für die in den westlichen Ländern, son-    ergehen weiterbringen. Wenn wir riskieren, dem behinderten
        als verwundeter, behinderter Gott zu      dieser Erkrankung darüber Aufschluss geben kann, ob sie das                                       dern auf der ganzen Welt? Menschen mit Behinderungen kön-            Gott zu begegnen, werden wir möglicherweise mit größerer
                                                  Gen in sich tragen, das heißt, ob sie die Huntington-Krankheit                                    nen christliche Gemeinden befähigen, die Bedeutung von Unter-        Klarheit wahrnehmen, in welcher Fülle Gott in der Unverwech-
     erkennen gab. Dem „behinderten Gott“
                                                  entwickeln werden – denn diese Gene zu haben bedeutet sicher,                                     schiedlichkeit in unserer Mitte neu zu bedenken. Unsere Gegen-       selbarkeit und Vielfalt um uns herum wahrzunehmen ist.
       begegnen bedeutet, Gerechtigkeit für       die Krankheit zu bekommen. Nachdem sie für diesen Test gear-                                      wart erinnert jede und jeden, dass die Abgrenzungen zwischen
            Menschen mit Behinderungen zu         beitet hatte, entschied Alice sich jedoch, ihn nicht selbst durch-                                Gruppen gegenseitig sind und sich verschieben, ohne klare            (Auszug aus: Nancy L. Eiesland „Dem behinderten Gott begegnen“ in:
                                                  zuführen. Sie erklärte ihre Wahl, in dem sie mir und anderen                                      Grenzen. Einzelne, die derzeit ent-hindert sind, können mit mehr     Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Hg: Stephan Leimgruber,
         verwirklichen und das Risiko einzu-
                                                  sagte, sie könnte mit dem Risiko leben, aber sie fände es –                                       als fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit körperlich behindert       Annebelle Pithan, Martin Spiekermann, Comenius Institut Münster,
      gehen, alte theologische Gewissheiten       gleich, ob der Test ein positives oder negatives Ergebnis hätte –                                 werden, entweder auf Zeit oder auf Dauer. Wir sind eine Minder-      2001; Kasten: ebd, S. 22)
        und Lebensweisen kritisch zu prüfen       sehr schwierig, sich damit abzufinden, nicht länger mit dem
                                                  Risiko zu leben, wobei Risiko genetisch verstanden ist. Dem
                      und neue zu entwickeln.
                                                  Risiko ausgesetzt zu sein ist eine grundlegende Erfahrung
                                                  menschlichen Lebens. Es ist unser Geburtsrecht. Welchen
                                                  theologischen Nutzen wir daraus ziehen, liegt an uns. Wir kön-
                                                  nen eine risikobereite Vorstellung pflegen, die versteht, dass wir,                                                                                                                (...) Innerlich rasen wir gegenüber Gott oder uns selbst.
                                                  wenn wir die Bedeutung von Behinderung und chronischer                                                                                                                                 Wir rennen andauernd gegen die Begrenzungen
                                                  Krankheit verstehen wollen, neue Wege in der Welt zu sein fin-                                                                                                                            unserer Menschlichkeit an. Wir entwickeln un-
                                                  den können. Auf eine Veränderung zuzugehen, ist riskant.                                                                                                                                   menschliche Zeitpläne, unmenschliche Erwar-
                                                  Jedoch zu verharren, wo wir sind, ist tödlich. Hoffnungslosigkeit                                                                                                                            tungen an andere und uns selbst und un-
                                                  für Menschen mit Behinderungen und für chronisch Kranke                                                                                                                                       menschliche Bedürfnisse nach Reichtum und
                                                  nimmt kein Risiko auf sich. Das ist, was uns beigebracht wurde.                                                                                                                                Erfolg. Stressbedingte Schädigungen wer-
                                                  Aber die Entschlossenheit, Hoffnung zu üben im Kontext unse-                                                                                                                                    den bald zu den wesentlichen Ursachen von
                                                  res eigenen Lebens, unseres spirituellen Zuhauses und in der                                                                                                                                    Behinderung in der westlichen Welt zählen,
                                                  Welt ist riskant. Es gibt keine Gewissheit, dass unsere Mühen                                                                                                                                    wenn wir unsere Körper zwingen, jenseits
                                                  belohnt, unsere Klagen gehört, unsere Freuden gefeiert werden,                                                                                                                                   gottgegebener Grenzen weiterzuarbeiten.
                                                  dass unserem Schmerz Ehrfurcht gezeigt wird. Wir wissen nicht,                                                                                                                                   Stressbedingte Behinderungen betreffen
                                                  ob Gerechtigkeit geschehen wird, und trotzdem müssen wir                                                                                                                                         Männer und Frauen im Alter zwischen drei-
                                                  Hoffnung üben und für Gerechtigkeit arbeiten. Das ist Hoffnung                                                                                                                                   ßig und fünfzig, etwa Bewegungsprobleme,
                                                  als spirituelle Disziplin. Es gibt eine alte Geschichte, die Eli Wie-                                                                                                                            Schlaganfall oder Herzinfarkt. Sie lehren
                                                  sel weitererzählt. Er sagt: „Ein Mann wanderte in einen tiefen                                                                                                                                   uns, dass wir immer noch hören müssen auf
                                                  Urwald und wusste nicht, wo er war. Plötzlich sah er einen älte-                                                                                                                                Gottes Ruf, in Fülle Mensch zu sein, was
                                                  ren Mann auf sich zukommen, und so rief er: Hilf mir, ich habe                                                                                                                                 bedeutet, die Grenzen unserer Sterblichkeit
                                                                                                                          Abbildung: www.adpic.de

                                                  mich verirrt! Der ältere Mann schüttelte den Kopf und sagte,                                                                                                                                  zu akzeptieren. Es ist wichtig zu bemerken,
                                                  auch er habe sich verirrt, aber er hätte einen guten Rat. Er deu-                                                                                                                            dass unsere Begrenzungen weder konstant
                                                  tete rückwärts über seine Schulter. Gehe nicht in die Richtung.                                                                                                                             noch einheitlich sind. In der täglichen Glaubens-
                                                  Die habe ich bereits ausprobiert.“ Theologisch haben Menschen                                                                                                                             praxis dem Ruf folgend, als Mensch und für an-
                                                  mit Behinderungen fast alle, wenn nicht überhaupt alle, gut                                                                                                                             dere da zu sein, müssen wir lernen, unsere Sterb-
                                                  gebahnten theologischen Wege ausprobiert, um eine Antwort                                                                                                                           lichkeit so zu lieben, wie Gott das tut. (...)
                                                  auf unsere Frage nach der Bedeutung einer Behinderung zu

16    weltbewegt                                                                                                                                                                                                                                                          weltbewegt
                                                                                                                                                                                                                                                                          weltbewegt       17
                                                                                                                                                                                                                                                                                           17
Welt MÄRZ-MAI2020 C5178 - Nordkirche ...
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