LEIPZIGER ZUSTÄNDEDEZ2012 - chronik.LE - Dokumentation und Analyse faschistischer, rassistischer und diskriminierender Ereignisse in und um Leipzig

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DEZ2012

LEIPZIGER ZUSTÄNDE
chronik.LE - Dokumentation und Analyse faschistischer, rassistischer und diskriminierender Ereignisse in und um Leipzig
LEIPZIGER ZUSTÄNDEDEZ2012 - chronik.LE - Dokumentation und Analyse faschistischer, rassistischer und diskriminierender Ereignisse in und um Leipzig
chronik.LE - Dokumentation & Analyse Faschistischer, rassistischer
      und diskriminierender Ereignisse in und um Leipzig
                                                                                  chronik.le

                                                                           TEXT

 w w w. c h r o n i k L E . o r g
LEIPZIGER ZUSTÄNDEDEZ2012 - chronik.LE - Dokumentation und Analyse faschistischer, rassistischer und diskriminierender Ereignisse in und um Leipzig
                                                                                                                         LEIPZIGER Zustände 2012

    01 RASSISMUS UND DISKRIMINIERUNG
      04    Editorial
            An unsere Leser_innen
      06    Der schmale Grad zwischen Stimmungsmache und Gewalt
            Leipzig rassistisch – von den 1990er Jahren bis zur Gegenwart Von der Kampagne Rassismus Tötet
      11    „Die Leute standen hinter uns“
            Zum Angriff auf Asylsuchende in Wurzen und Leisnig im August 1991 Von chronik.LE
      12	Geschlossene Gesellschaft
            Die Leipziger Asyldebatte Von Initiativkreis: Menschen. Würdig.
      18    Leipzigs lokale Kämpfe zwischen Rassifizierung und (De-)Klassifizierung
            Zur Auseinandersetzung um die dezentrale Asylunterbringung in Leipzig Von Forum Kritische Rechtsextremismusforschung
      21	Unsere gemeinsame postkoloniale Welt?
            Kolonialismus, Rassismus und Mehrheitsgesellschaft Von Stefan Kausch und Karolin Reinhold / AG Postkolonial
      24    Am Rande des Landkreises
            Zur Situation von Asylsuchenden in Nordsachsen Von chronik.LE
      26	Islamfeindlichkeit als Türöffner
            Antimuslimischer Rassismus ist inzwischen konsensfähig Von Netzwerk gegen Islamophobie und Rassismus (NIR)
      30	Rassismus in „uns“
            Warum wir uns so schwer damit tun, uns mit eigenem Rassismus zu beschäftigen Von Anja Treichel, Verband binationaler Familien und Partnerschaften
      34	Rassismusfreie und machtkritische Kinderbücher sind Mangelware
            „Würden sie dieses Buch einem schwarzen Kind vorlesen?“ Von Madeleine Rau
      37    Fight for your right to party
            Rassismus im Leipziger Nachtleben Von Daniel Bartel, Antidiskriminierungsbüro Leipzig
      40	Offener Brief an die Stadt Leipzig, Referat für Migration und Integration
            Eine Rechnungsstellung für Rassismusaufklärung Von Meena Ka.
      42	Schwarzsein als Corpus Delicti?
            Über die polizeiliche Praxis des „Racist Profiling“ Von Katja Sternberger

    02 NEONAZISMUS
      46    „Hinterm eisernen Vorhang“
            Zum Stand der Dinge in der Odermannstraße 8 Von chronik.LE
      48    „Die Reihen fest geschlossen“
            Nazistrukturen in Nordsachsen Von chronik.LE
      52    Leipziger Traditionen
            Neonazis in der Fanszene des 1. FC LOK Leipzig Von chronik.LE

    03 ZUSTÄNDE
      58	Obdachlose als Opfer...
            ...sozialdarwinistischer Gewalt Von Lucius Teidelbaum
      61    Was ist Antiziganismus?
            Ein kulturell tief verankertes Ressentiment im Aufwind von Lucius Teidelbaum
      62    Es ist immer noch deutsch in Kaltland
            Zur Verdrängung Wohnungsloser in Leipzig Von der AG Sozialdarwinismus
      65    Eine Schnittstelle zwischen rechtem Rand und Mainstream
            Verschwörungstheoretisches Denken auf dem Vormarsch Von Tilmann Loos
      68    chronik 2012
            Eine Auswahl der auf www.chronikLE.org dokumentierten Ereignisse Von chronik.LE

    05 SERVICE
      74    Beratungsstellen für Betroffene rechter und rassistischer Diskriminierung und Gewalt
            RAA und ADB stellen sich vor
      75    Weitere Informationen
            Webhinweise, Impressum und Informationen über „Nordsächsische Zustände“

                                                                                                                                                                3
LEIPZIGER ZUSTÄNDEDEZ2012 - chronik.LE - Dokumentation und Analyse faschistischer, rassistischer und diskriminierender Ereignisse in und um Leipzig
Editorial

LIEBE LESERINNEN UND LESER,
                            TEXT
                seit 2008 dokumentieren wir, die Redaktion von chronik.LE,
                Ereignisse mit neonazistischem und menschenverachtendem
                                                                                 Im Teil „Neonazismus“ werfen wir einen Blick auf die ak-
                                                                                 tuellen Entwicklungen der Naziszene in Leipzig und Nord-
                Hintergrund in Leipzig und den umliegenden Landkreisen.          sachsen. Ein weiterer Fokus liegt auf der Thematik Sozialdar-
                Schon damals wurde schnell klar: Eine reine Auflistung von       winismus. So werden im Teil „Zustände“ die Morde an den
                Ereignissen reicht nicht, um die komplexen Problemlagen zu       Obdachlosen André K. (Ende Mai 2011, Oschatz) und Karl-
                erfassen. Da wir uns – anders als beispielsweise der Verfas-     Heinz T. (August 2008, Leipzig) näher betrachtet. Die Texte
                sungsschutz – intensiv mit Einstellungen und Ideologien der      gehen auf die Ideologie der Täter ein sowie auf eine sich ent-
                Ungleichwertigkeit von Menschen beschäftigen, sind wir be-       solidarisierende Gesellschaft, die diese Taten und Ideologien
                müht, über sichtbar werdende Ereignislagen hinaus „hinter        erst ermöglicht. Daran knüpft der Artikel der AG Sozialdar-
                die Kulissen“ zu schauen. Das tun wir freilich nicht allein.     winismus an, in dem versucht wird, ein Zusammenhang
                Diese Broschüre versammelt Beiträge von verschiedenen            zwischen Stadtplanung, der unkritischen Affirmation von
                Leipziger Initativen und Ein-zelpersonen. Als Betroffene         Konsum, gesellschaftlichen Normierungen und daraus resul-
                und/oder als Engagierte gegen Diskriminierung, Rassismus         tierenden Verdrängungs- sowie Ausschlussmechanismen und
                und Neonazismus beschreiben sie ein umfangreiches Bild der       den vorher dargestellten Morden aufzuzeigen.
                „Leipziger Zustände“.
                                                                                 Zusätzlich zur gedruckten Broschüre gibt es den bereits von
                Nachdem 2009 und 2010 bereits zwei Ausgaben der Broschüre        der letzten Ausgabe bekannten und erweiterten „Theorieein-
                erschienen sind, kommt es im Jahr 2012 gleich doppelt: Im        leger“ auf unserer Webseite www.chronikle.org. Dort finden
                Oktober 2012 wurden die „Nordsächsischen Zustände“               Sie auch diese wie alle anderen „Zustände“ in digitaler Form.
                veröffentlicht, gefördert durch den „Lokalen Aktionsplan
                Nordsachsen“ und die Hans Böckler Stiftung. Nun folgt            Wir wünschen unseren Leser_innen eine erkenntnisreiche
                die dritte Ausgabe der „Leipziger Zustände“. Diese wurde         Lektüre und die Einsicht, dass die aufgegriffenen Themen für
                gefördert im Rahmen der „Kommunalen Gesamtstra-                  die Betroffenen konkrete Nachteile, Einschränkungen und
                tegie für Vielfalt und Demokratie“. Während des Pro-             Leid bedeuten. Daran wird sich nur dann etwas ändern, wenn
                jekts ist nicht nur diese Broschüre entstanden. Seit September   viele Leute bereit sind, Menschenfeindlichkeit keinen Platz
                gibt es einmal monatlich die Rubrik „chronik.LE-Radio“ auf       mehr in unserer Gesellschaft einzuräumen. Ebenso sollen die
                Radio Blau zu hören. Ebenso wurde die Website www.chro-          gewählten Themen als Anregung zum Weiterlesen und Kriti-
                nikle.org überarbeitet und auch Twitter sowie Facebook           sieren sowie als Möglichkeit der Selbstreflektion dienen.
                werden zur Verbreitung der Dokumentation und Analysen
                mit eingebunden. Zudem wurde der chronik.LE-Vorstel-                                             Die chronik.LE-Redaktion
                lungsflyer und die Vorstellung auf der Website in insgesamt
                neun Sprachen übersetzt. Diese Flyer sollen ermöglichen, das     Wir danken allen Menschen, die auf vielfältige Weise zur Ent-
                Projekt auch in nicht-deutschsprachigen Zusammenhängen           stehung dieser Broschüre beigetragen haben. Insbesondere
                bekannter zu machen.                                             den zahlreichen Gruppen, Initiativen und Einzelautor_innen,
                                                                                 die diese Broschüre mit ihren Texten bereichert haben. Da-
                Ähnlich wie 2010 bildet der Teil Rassismus und Diskriminie-      rüber hinau ein großer Dank an alle Diskutant_innen, Für-
                rung den Schwerpunkt dieser Broschüre. 20 Jahre nach den         sprecher_innen und Spender_innen, Redakteur_innen, Foto-
                Pogromen von Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda und               graf_innen, Layouter_innen und Lektor_innen.
                Mölln werfen wir einen Blick in die Region: Auch in Leipzig
                und im Umland gab es zu Anfang der 90er Jahre Angriffe auf       Übrigens haben wir uns bemüht, in allen Artikeln den ver-
                Asylsuchenden-Heime. Damals wie heute gilt: Der Grat zwi-        schiedenen Geschlechtsidentitäten gerecht zu werden, statt
                schen rassistischer Stimmungsmache und Gewalt ist ein sch-       durch die deutsche Grammatik nur Männer anzusprechen
                maler. So haben wir auch die Debatten aufgearbeitet, die es      oder das beschränkte Mann-Frau-Schema zu bemühen.
                2012 in Leipzig um die sogenannte dezentrale Unterbringung       Daher verwenden die Autor_innen die Schreibweise „_
                von Asylsuchenden gab. Oft genug gehört: „Ich habe nichts        innen“. Falls Sie beim Lesen darüber stolpern sollten, war das
                gegen Flüchtlinge / Ausländer / …“. Doch wendet man den          unsere Absicht. Diese Schreibweise wenden wir bei den Per-
                Blick bei der Beschäftigung mit Rassismus auf diejenigen, die    sonen nicht an, die auf den patriarchalen Vorstellungen der
                urteilen (weg von denjenigen, die beurteilt wer-den), nämlich    Geschlechter beharren.
                weiße Menschen, dann bleibt festzuhalten: ein gewisser Ras-
                sismus ist in „uns“ allen. Nur auf dieser Erkenntnis kann eine
                selbstkritische Auseinandersetznug aufbauen.

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LEIPZIGER ZUSTÄNDEDEZ2012 - chronik.LE - Dokumentation und Analyse faschistischer, rassistischer und diskriminierender Ereignisse in und um Leipzig

photo: CC Flickr by Elias Wolffang                     LEIPZIGER Zustände 2012

                                     01KAPITEL
                                     RASSISMUS UND
                                     DISKRIMINIERUNG
                                                                             5
LEIPZIGER ZUSTÄNDEDEZ2012 - chronik.LE - Dokumentation und Analyse faschistischer, rassistischer und diskriminierender Ereignisse in und um Leipzig
photo: Leipzig ganz rechts
                                     Der schmale Grat zwischen
                                     Stimmungsmache und Gewalt
                                     Leipzig rassistisch – Von den 1990er Jahren bis in die Gegenwart

                                                   Von der Kampagne „Rassismus Tötet!“               die auch in Leipzig präsent war, als auch Motivation
 Am 1. Mai 1990 zogen Neonazis       Viel wurde im Jahr 2012 über die rassistischen Pogrome der      für Nachfolgetaten von Neonazis.
durch die Innenstadt und griffen
        dutzende Menschen an.        1990er Jahre im wiedervereinigten Deutschland geredet.
                                     Erinnerung und Gedenken an Ereignisse von 1991/1992 trieben     Rückblick: die rechte Szene und deren gesell-
                                     dabei sonderbare Stilblüten wie die Pflanzung einer deutschen   schaftliche Einbettung in Leipzig Anfang der
                                     Eiche vor dem Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen.         1990er Jahre
                                     Von den krassen Auswirkungen der damaligen rassistischen
                                     Erhebungen sprach von den offiziellen Redner_innen jedoch       Im Zuge der politischen Wende 1989 erstarkte die
                                     niemand: der faktischen Abschaffung des Grundrechtes auf        rechte Szene in ganz Ostdeutschland und somit eben-
                                     Asyl durch die Änderung des Artikel 16 GG, beschlossen mit      falls in Leipzig. Rechte Parteien aus Westdeutschland
                                     den Stimmen von CDU, FDP und SPD im Mai 1993. Trotzdem          begannen umgehend damit, im Osten auf Stimmen-
                                     die Zahl der Menschen, die in Deutschland um Asyl bitten,       fang zu gehen. Die westdeutschen Nazis fanden schnell
                                     nach diesem heftigsten Einschnitt in die deutsche Asylpolitik   Unterstützer_innen in Ostdeutschland und fingen un-
                                     rapide gesunken ist, sind Stimmungsmache und Gewalt gegen       verzüglich an, Strukturen auf- und auszubauen, welche
                                     geflüchtete Menschen in der Gegenwart wieder verstärkt          teilweise noch bis heute existieren. DVU und FAP
                                     wahrnehmbar.                                                    buhlten um Anhänger_innen und konnten vor allem
                                                                                                     in Grünau organisierte Strukturen etablieren. Leipzig
   [1] goo.gl/tZBWT und              In der gesamten Bundesrepublik hetzen Bürger_innen              hatte lange Zeit den größten Kreisverband der NPD.
   /ZCBtH                            und Nazis gegen die Errichtung von Unterkünften für             Sachsen ist auch heute das wichtigste Bundesland für
                                     Asylsuchende. Der Bundesinnenminister redet, wie in             die bedeutendste neonazistische Partei nach 1945, die
   [2] Vgl.: Mareth, Connie ;        den 90er Jahren, von angeblichem „Asylmissbrauch“               hier erstmalig in ihrer Geschichte zwei Mal hinterein-
   Schneider, Ray: Haare auf         und behauptet, dass die infolge eines Urteils des Bun-          ander (2004 und 2009) den Einzug in ein Landesparla-
   Krawall : Jugendsubkultur in      desverfassungsgerichtes angehobenen Leistungen                  ment schaffte. Die DSU als Partei in der Grauzone zwi-
   Leipzig 1980 bis 1991. Leipzig:   für Asylsuchende auf Hartz-IV-Niveau „Wirtschafts-              schen rechtskonservativer CDU und neonazistischer
   Connewitzer Verlagsbuch-          flüchtlinge“ anziehen würden.[1] Nazimobs ziehen prü-           NPD war zwischen 1999 und 2009 mit einem Abge-
   handlung, 2010.                   gelnd und mordent durchs Land. Vieles erinnert an die           ordneten im Leipziger Stadtrat vertreten.
                                     1990er Jahre auch die in Leipzig im Sommer 2012 aus-            Vor allem die Leipziger Montagsdemonstrationen für
                                     gebrochene Stimmungsmache gegen Unterkünfte für                 die Wiedervereinigung 1989/90 wurden immer mehr
                                     Flüchtlinge, angeheizt und flankiert durch Teile der lo-        zur Bühne für nationalistisches und neonazistisches
                                     kalen Medien.                                                   Gedankengut. Die Republikaner starteten zu dieser
                                     Doch nicht erst die jüngsten Ereignisse zeigen, dass            Zeit eine Werbeoffensive und verteilten mehr als 15.000
                                     Leipzig nicht die Insel der Weltoffenheit und Toleranz          Flyer in Leipzig. „Die Massen [haben denen] das Zeug
                                     ist, wie Medien es gern darstellen und wie es auch von          nur so aus den Händen gerissen, weil sie so unverblümt
                                     der Stadt selbst gern propagiert wird. Auch in Leipzig          den Haß der Massen, die mittlerweile dazu gestoßen
                                     herrsch(t)en „ganz normale“ deutsche Zustände. So               waren, rüberbrachten“ illustriert Conny M., regelmä-
                                     kam es auch in Leipzig seit Beginn der 1990er Jahre zu          ßige Teilnehmerin der Montagsdemos zu dieser Zeit.[2] Bei
                                     einer Vielzahl von rassistischen und rechts motivierten         den letzten Montagsdemonstrationen bildeten Nazis
                                     Übergriffen, Gewalttaten und Morden. Die pogromar-              zeitweise einen eigenen Block an der Spitze des Zuges
                                     tigen Ausbrüche in Rostock 1992 waren dabei sowohl              und machten Jagd auf vermeintlich Linke und Mig-
                                     Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Stimmung,               rant_innen. Auf Protest gegen dieses Auftreten wurde

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LEIPZIGER ZUSTÄNDEDEZ2012 - chronik.LE - Dokumentation und Analyse faschistischer, rassistischer und diskriminierender Ereignisse in und um Leipzig
                                                                                                             LEIPZIGER Zustände 2012

von Seiten der demonstrierenden Bürger_innen mit            nnen konnten sich der Unterstützung aus der Nachbar-        [3] Vgl. Monitor: Angriff auf
Schmähungen und Gewalt reagiert.                            schaft des Plattenbauviertels gewiss sein. Ein Großteil     eine Flüchtlingsunterkunft in
Auch im Alltag transformierte sich die Deutschtü-           der Bürger_innen nahmen die Täter_innen in Schutz           Leipzig 1991, www.youtube.
melei in gewaltsame Neonaziübergriffe. Immer wieder         und bestärkten diese somit in ihrem Handeln. In einer       com/watch?v=3PDMWrqgrqg
wurden Jugendclubs wie der Sack, ein ehemaliges             Reportage des ARD-Magazins Monitor bekundeten auf
FDJ-Kulturhaus in Schönefeld, oder die Villa, da-           der Straße befragte Grünauer_innen allen Alters, dass sie
mals noch ansässig in der Karl-Tauchnitz-Straße im          auf der Seite der Nazis stehen und sich möglicherweise
Zentrum, Ziel von Naziangriffen. Die Nazis kamen zu-        an nächsten Angriffen sogar beteiligen würden. Bei der
meist in Gruppen bis zu 30 AngreiferInnen, bewaffnet        Frage nach Mitleid winkten die Befragten ab, wetterten
mit Steinen, Schlagstöcken, Totschlägern, Reizgas und       stattdessen freimütig gegen die Asylsuchenden und
auch Schusswaffen. In Connewitz, das sich damals zum        schreckten auch vor Beschimpfungen wie „Viehzeug“
links-alternativen Stadtteil zu entwickeln begann, war      nicht zurück. Mit diesem Wissen planten die Neonazis
regelmäßig „Fascho-Alarm“, eine Art Frühwarnsystem,         direkt nach der Tat einen nochmaligen Angriff auf die
wenn ein Naziangriff auf besetzte Häuser oder Projekte      Unterkunft, bekannten sich öffentlich im Fernsehen zu
bekannt wurde.                                              ihren rassistischen Einstellungen und auch den Tod
Die Aktionen der Neonazis häuften sich nicht nur, son-      der Bewohner_innen des Heims in Kauf zu nehmen.[3]
dern sie wurden auch zunehmend militanter und ge-           Die Bilder der Monitor-Reportage bringen die rassis-
fährlicher. Als trauriges Indiz dafür können mehrere        tische Grundstimmung dieser Zeit sehr eindrücklich
Angriffe auf Unterkünfte von Flüchtlingen in dieser         zutage: Nazis führten auch in Leipzig das aus, was ein
Zeit gelten.                                                großer Teil der Bevölkerung dachte und die Polizei ließ
Solche rassistischen Angriffe hatten sich in jener Zeit     sie weitestgehend gewähren, ob aus Angst, wegen Per-
bundesweit und auch in Leipzig zum „nationalen              sonalmangels oder aufgrund stiller Zustimmung. Dass
Volkssport“ entwickelt. So griffen beispielsweise am        sowohl die soziale Betreuerin der Flüchtlinge als auch
4. Mai 1990 mehrere rechte Jugendliche das Wohn-
heim in der Liliensteinstraße im Stadtteil Leipzig-
Grünau an. Sie zerstörten dabei Türen und Fenster-
                                                                Die Kampagne „Rassismus tötet“
scheiben. Fünf Tage später wurde das Flüchtlingsheim
im Leipziger Vorort Liebertwolkwitz angegriffen. Be-            „Rassismus tötet“ Leipzig ist Teil
reits vorher hatte es innerhalb kurzer Zeit zwei An-            der gleichnamigen bundesweiten
griffe auf das Gebäude gegeben, ohne dass die Polizei           Kampagne, die sich aus Anlass des
ihren Schutz verstärkt und öffentlich Stellung dazu be-         20. Jahrestages der rassistischen Po-
zogen oder Initiative ergriffen hätte. Ein weiterer Über-       grome in Rostock-Lichtenhagen ge-
fall ereignete sich am 31. August 1991. An diesem Tag           gründet hat, staatlichen und ge-
spielte die Naziband Störkraft im Grünauer Jugend-              sellschaftlichen Rassismus gestern und heute zum Thema macht und
club Arena. Im Anschluss griffen ca. 80 Nazis die nahe          bekämpft. Mit Veranstaltungen und Aktionen nahm und nimmt die
gelegene Unterkunft mit Steinen, Flaschen, Knüppeln             Kampagne zudem Alltagsrassismus in Leipzig in den Fokus. Ein wei-
und Brandsätzen an. Der Tod der darin lebenden Men-             terer Schwerpunkt ist die Aufarbeitung von und Erinnerung an rechts
schen wurde billigend in Kauf genommen. Die Polizei             motivierte Morde in Leipzig und Umgebung.
griff während des Überfalls nicht ein, sondern nahm
im Nachgang nur vereinzelt Personalien auf. Die Täter_

                                                                                                                                                        7
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RASSISMUS UND DISKRIMINIERUNG

                                 die Redakteur_innen des Magazins selbst das Bild von                   Herkunftsländern geflohen waren - dies waren da-
                                 „stehlenden, lauten und die Ordnung störenden“ Sinti                   mals vor allem Roma aus Südosteuropa - wurden von
                                 und Roma und damit mehr oder weniger subtil Ver-                       den zuständigen Behörden abgewiesen und sich selbst
                                 ständnis für die Abneigung gegenüber „Nicht-Deut-                      überlassen. Die CDU brachte in dieser Situation ihre
                                 schen“ wecken, macht das Bild komplett.                                bereits seit 1988 erhobene Forderung nach der Ab-
                                                                                                        schaffung des Grundrechtes auf Asyl in Stellung.
                                 Vorbildwirkung und Folgen                                              Hatten sich SPD und FDP anfangs dagegen gewehrt,
                                                                                                        war Rostock der Dammbruch für deren Umorientie-
                                 Das erste rassistische Pogrom im wiedervereinigten                     rung, so dass im Mai 1993 die Änderung des Grundge-
                                 Deutschland ereignete sich im September 1991 in Ho-                    setzes, Artikel 16, mit einer Zweidrittelmehrheit durch
                                 yerswerda. Neonazis griffen damals in der ostsächsi-                   den Bundestag ging.
                                 schen Stadt unter Mithilfe und Applaus vieler Bürger_                  Das vollständige Versagen der Polizei, die in jenen Au-
                                 innen zwei Wohnheime von Vertragsarbeiter_innen                        gusttagen in Rostock die Migrant_innen dem mord-
                                 bzw. Asylsuchenden an. Mehrere hundert Menschen                        willigen Mob überließ, und dass die Politik schließlich
                                 belagerten die Unterkünfte fünf Tage lang, bis schließ-                zugunsten dieses Mobs einlenkte, motivierte diesen
                                 lich alle Heimbewohner_innen aus der Stadt gebracht                    noch weiter. Mit drastischen Konsequenzen: von Ja-
                                 wurden. Die Ereignisse von Hoyerswerda verschärften                    nuar bis November 1992 zählt die Polizei 1.900 neo-
                                 die rassistische Stimmung nicht nur im Osten Deutsch-                  nazistische Gewalttaten, darunter 608 Brandanschläge
                                 lands. In der Folge wurden bundesweit Wohnstätten                      und 15 Sprengstoffattentate. 16 Menschen starben in
                                 von Migrant_innen angegriffen. In der Nacht des 2.                     dieser Zeit infolge von Anschlägen.
                                 August 1992 überfielen ca. 50 Nazis nach einem Disco-                  In den sieben Tagen nach den Ausschreitungen in Ros-
                                 besuch das Flüchtlingslager im Leipziger Vorort Holz-                  tock gab es bundesweit mindestens 40 Anschläge auf
                                 hausen. Sie verwüsteten es systematisch und schlugen                   Wohnheime von Flüchtlingen. Rostock diente dabei
                                 zwei Menschen aus Rumänien zusammen, die sich                          auch Leipziger Neonazis als Vorbild. Das Flüchtlings-
                                 ihnen entgegenstellten.                                                heim in Markkleeberg wurde am 26. August 1992 in
                                 Die rassistische Hatz in Rostock-Lichtenhagen im Au-                   den frühen Morgenstunden von Neonazis angegriffen.
                                 gust 1992 stellte den vorläufigen Höhepunkt der Stim-                  Gezielt fuhren sie mit ihren Autos vor und warfen
                                 mung dieser Zeit dar. Rostock-Lichtenhagen war ein                     Brandsätze auf das Gelände. Dieses Szenario wieder-
                                 Pogrom und Ergebnis staatlichen Handelns. Denn die                     holte sich in den folgenden Nächten, ohne das die Po-
                                 offiziellen Stellen hatten die Situation drastisch zuge-               lizei einschritt. Der 28. August 1992 wurde zur Hor-
                                 spitzt. Die Menschen, die vor Krieg und Not aus ihren                  rornacht für Migrant_innen und Antifaschist_innen.

    Im August 1991 berichtete ARD-     Etwa 80 Neonazis versuchten   Mit Pflastersteinen zerschmissen      In dem Heim leben vor allem         Sie fürchten weitere,
    „Monitor“ über die Stimmung in         das Asylsuchendenheim     sie die Scheiben. Auch Brandsät-          Sinti und Roma-Familien.   noch heftigere und besser
                  Leipzig - Grünau.                    zu stürmen.               ze wurden geworfen.                                          organisierte Angriffe.

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LEIPZIGER ZUSTÄNDEDEZ2012 - chronik.LE - Dokumentation und Analyse faschistischer, rassistischer und diskriminierender Ereignisse in und um Leipzig
                                                                                                                               LEIPZIGER Zustände 2012

Zum an diesem Tag in Leipzig stattfindenden Fußball-                  wurden die Flüchtlinge auch von dort weggebracht.                   Zum weiterlesen:
spiel des VFB Leipzig (1. FC Lok Leipzig) gegen Ros-                  Der damalige Leipziger Ordnungsdezernent Hans-                      Leipzig ganz rechts. Eine Do-
tock luden Leipziger Nazis ihre Rostocker Kamerad_                    Eberhard Gemkow zeigte sich entsetzt über die ras-                  kumentation rechtsextremer
innen ein, mit ihnen ein Flüchtlingsheim zu überfallen.               sistisch aufgeladene Stimmung in der Stadt. Bei einem               Aktivitäten in Leipzig 1989
Engagierte Antifaschist_innen konnten dies zuerst ver-                Besuch in Leipzig-Grünau aus Anlass der Angriffe in                 - 1995, Antifaschistisches
hindern, indem sie sich einer Gruppe Rostocker Nazi-                  der August-Nacht, schlugen ihm Hass und Drohungen                   Broschürenkollektiv Leipzig
Hools entgegenstellten. Wenig später gelang es etwa                   entgegen. „Ganz normale Bürger_innen“ bekundeten,                   1995.
100 Nazis nichtsdestotrotz das Flüchtlingsheim in                     dass sie selbst Hand anlegen würden, wenn die Flücht-
Grünau anzugreifen. Mehrere Hundertschaften der                       linge weiter in der Nachbarschaft verbleiben würden.
Polizei konnten verhindern, dass Schlimmeres pas-
siert, zumindest an diesem Ort. Doch die Nazis ließen                 Step forward
nicht locker: wenig später in dieser Nacht brannten 30
Nazis das Flüchtlingslager in Holzhausen nieder und                   Zwanzig Jahre danach hetzen Nazis, Bürger_innen und
zündeten eine Handgranate. Die Flüchtlinge konnten                    offizielle Politik bundesweit wieder und weiter gegen
entkommen und wurden von einigen Anwohner_                            Flüchtlinge. Aktuell sind insbesondere in Sachsen ver-
innen versteckt. Die Nazis, unbehelligt von der Polizei,              stärkt Mobilisierungen gegen die Errichtung von Un-
trafen sich nach diesen „Erfolgen“ an der Tankstelle                  terkünften für Flüchtlinge festzustellen. Ob in Gröditz
in der Marschnerstraße, bewaffneten sich dort mit                     im Landkreis Meißen, wo die NPD Ideengeberin einer
mit Benzin gefüllten Flaschen und fuhren im Konvoi                    schließlich vom dortigen Stadtrat getragenen Unter-
in Richtung Connewitz. Diesmal war das Marklee-                       schriftenkampagne gegen eine Asylsuchenden-Unter-
berger Flüchtlingsheim Ziel der Brandsätze. Die Nacht                 kunft war; ob in Chemnitz, wo Rechtspopulist_innen
wurde mit dem Wurf von Brandflaschen auf das Dach                     zu „Bürgerstreifen“ gegen die sächsische Erstaufnah-
des Kulturzentrums Conne Island beendet. Das Feuer                    meeinrichtung für neu ankommende Asylsuchende
konnte rechtzeitig gelöscht werden.                                   aufrufen oder auch in Leipzig, wo es in einzelnen
Die Flüchtlinge aus dem Lager in Holzhausen wurden                    Stadtvierteln mobhafte Erhebungen gegen Unterkünfte
nach dem Überfall am 28. August 1992 in ein ehema-                    für Asylsuchende gab und gibt - das Aggressionspo-
liges Kulturhaus in Lindenthal bei Wahren gebracht.                   tential wächst. Mit ihrer „Brandstifter“-Tour steu-
Dort sammelten sich bereits am nächsten Tag wieder                    erte die NPD im November 2012 gezielt Unterkünfte
Nazis und warfen Steine gegen das Gebäude. Erst als                   für Asylsuchende in Sachsen an und versuchte die so-
das Auto eines Flüchtlings im Flammen aufging, ver-                   wieso ablehnende Stimmung weiter aufzuheizen. Mit
trieb die Polizei die Angreifer_innen. Zwei Tage später               Blick auf Leipzig lässt sich allerdings konstatieren,
                                                                                                                                                                       screenshots: Monitor, siehe [2]

       Die Meisten der Angreifer   Leipziger_innen äußern sich zu             „Alles Viehzeug!“     „Nein, ich würde niemanden,         „Ich würds vielleicht auch
    wohnen in der unmittelbaren    den Angriffen: „Nee, da hab ich                                   den ich erkannt habe, an die   mitmachen, dass sag ich ihnen
                 Nachbarschaft.    kein Mitleid mit den Asylanten.“                               Polizei mitteilen, warum denn?“                   ganz ehrlich.“

                                                                                                                                                                                                         9
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RASSISMUS UND DISKRIMINIERUNG

                                   dass die Bürger_innen, die sich seit dem Frühjahr                              „Elend“ dann nicht vor ihrer eigenen Haustür sehen
                                   gegen die Unterbringung von wenigen Flüchtlingen in                            müssen.
                                   ihrer Nachbarschaft engagieren, die NPD nicht brau-                            “Ein zweites Rostock wollen wir hier nicht“, war in
                                   chen und den öffentlichen Schulterschluss mit ihr ver-                         einem der zahlreichen Protestbriefe an Stadt und Po-
                                   meiden. Wie ehrlich die nominelle Abgrenzung ange-                             litik zu lesen. Doch „Rostock“ gilt den bürgerlichen
                                   sichts des Bekenntnisses gegen „jeden Extremismus“                             Rassist_innen zwanzig Jahre danach als Sinnbild der
                                   ist, sei dahingestellt. Es waren eben jene Bürger_innen,                       Störung der öffentlichen Ordnung und nicht als dras-
                                   die dem NPD-Stadtrat Rudi Gerhardt für einen Rede-                             tisches Beispiel für die Bedrohung der Unversehrtheit
                                   beitrag in einer Ratsversammlung Applaus spendeten.                            und der Würde von Menschen. Flankiert wurden die
                                   Fakt ist, dass die eher besser gestellten Bürger_innen,                        jüngsten Aufwiegelungen gegen Flüchtlinge in Leipzig
                                   insbesondere im Stadtteil Wahren, die rassistische                             übrigens von der CDU. Dieselbe CDU, die die de-facto-
                                   Stimmungsmache selbst bestens beherrschen. An-                                 Abschaffung des Grundrechtes auf Asyl massiv voran-
                                   stelle von realen Brandsätzen und Steinwürfen prak-                            getrieben und schließlich mit Stimmen der FDP und
                                   tizieren sie geistige Brandstiftung par excellence. Mit                        SPD umgesetzt hat. Die CDU, die in persona des Bun-
                                   propagandistisch vorgetragenen Unterstellungen vom                             desinnenministers Friedrich heute wieder gegen ver-
                                   „Anwachsen der Kriminalität und des Unsicherheits-                             meintliche „Wirtschaftsflüchtlinge“ Stimmung macht.
                                   gefühls für Frauen und Kinder, Drogen, Müll und der                            Mit solcherlei Argumentation steht die CDU aller-
                                   Wertminderung ihrer Grundstücke“ durch den Zuzug                               dings nicht alleine da, sondern kann sich auf ein, be-
                                   von Flüchtlingen haben Bürger_innen in Wahren, aber                            reits beschriebenes, gesellschaftliches Klima berufen.
                                   auch in Grünau und Portitz einen lupenreinen Ras-                              Personen des öffentlichen Lebens, wie der ehemalige
                                   sismus zur Schau gestellt, der dem der NPD im Kern                             Bundesbanker und Sozialdemokrat Thilo Sarrazin,
                                   in nichts nachsteht.                                                           welcher mit seinen rassistischen und sozialdarwinisti-
                                   Die Stimmung auf den zahlreichen Bürgeransamm-                                 schen Thesen eine ganze Zeit lang die öffentliche De-
                                   lungen im Sommer 2012 erinnerte an das progrom-                                batte prägte, sprechen das aus, was viele Menschen
                                   hafte Klima der frühen 1990er Jahre. Die Differenz                             in Deutschland denken. Dabei sind Benachteiligung
                                   lässt sich in Art und Präsentation der vorgetragenen                           und Diskriminierung von Asylsuchenden in Sammel-
                                   Argumente ausmachen. Von den Wortführer_innen                                  lagern, das Aufrechterhalten der Residenzpflicht, Ar-
                                   der Engagierten v.a. in Wahren wird nicht offen gegen                          beitsverbote und minimale Sozialleistungen nach wir
                                   „Ausländer“ gehetzt, sondern mehr oder weniger                                 vor bittere Realität.
                                   subtil zwischen den Zeilen. Fadenscheinig bleibt aller-
                                   dings auch ihre Parteinahme für die sonst von antiras-                         Der Grad zwischen rassistischen Einstellungen, men-
                                   sistisch oder humanitär ausgerichteten Initiativen er-                         schenverachtender Politik und brachialer Gewalt ist
                                   hobene Forderung nach eigenen Wohnungen für alle                               auch in Leipzig nur sehr schmal.
                                   Asylsuchenden („dezentrale Unterbringung“). Nicht
                                   Humanismus treibt sie an, sich der Forderung anzu-                                                                Rassismus tötet! Leipzig
                                                                                                                                              www.rassismus-toetet-leipzig.org
                                   schließen sondern die Hoffnung, das unerwünschte
                                                                                                                                                                                     screenshots: Monitor, siehe [2]

           „Es waren so ziemlich alle   „Ja, mein Gott, mit Toten ist zu     „Die kommen auf eigene Gefahr          „Das sind viel zu viele, da muss   „Warum müssen sie schlagen
     Anwohner dafür, und die wollen       rechnen“, „Angst haben brau-            her! An uns liegts nicht, die          Null stehen! Da sollte Null         und Ausländer töten?
        beim nächsten mal auch mit       chen wir keine, die Anwohner            haben angefangen, weil die          Komma Null dastehen, echt!“               Das sind Barbaren!“
                          anpacken.“         sind alle auf unserer Seite.“              hergekommen sind.“

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                                                                                                             LEIPZIGER Zustände 2012
screenshots: The Truth lies in Rostock

                                         TEXT

                                         „Die Leute standen hinter uns“
                                         Zum Angriff auf Asylsuchende in Wurzen und Leisnig im August 1991

                                                               von chronik.LE                        Der Ordnungsamtsleiter des Landratsamtes erklärte            2012 jährte sich das rassistische
                                                                                                                                                                    Pogrom auf die Zentrale Auf-
                                         Im Jahr 2012 wurde vielfach an die Pogrome vor 20           den Überfall mit sozialen Problemen und der stei-           nahmestelle für Asylsuchende in
                                         bzw. 21 Jahren in Rostock-Lichtenhagen und Hoyers-          genden Arbeitslosigkeit. Ein an dem Übergriff betei-                  Rostock-Lichtenhagen
                                                                                                                                                                                     zum 20. Mal.
                                         werda erinnert. Neben diesen beiden, bis heute nicht        ligter „Nationalist“ aus Wurzen erklärte neun Jahre
                                         vergessenen Ereignissen gab es kurz nach der „Wieder-       später rückblickend gegenüber Journalisten: „Ich           Zur Erinnerung an die damaligen
                                                                                                                                                                    Ereignisse empfehlen wir den
                                         vereinigung“ an vielen weiteren Orten, vor allem in den     hatte damals schon den Eindruck, die Leute standen
                                                                                                                                                                Film „The Truth lies in Rostock“, zu
                                         „neuen Ländern“, Bedrohungen, Übergriffe und An-            hinter uns und waren froh, dass wir die Reinigungsar-                    finden auf youtube.
                                         schläge auf Unterkünfte von Asylsuchenden, Vertrags-        beiten übernommen haben.“ Das Radiofeature wurde
                                                                                                                                                                   Eine aktuelle Einschätzung des
                                         arbeiter_innen und anderen „Ausländern“. So auch in         am 24. März 2000 unter dem Titel „Das sind doch un-        Pogroms liefert die Ausgabe #95
                                         Wurzen (heute: Landkreis Leipzig). Hier wurde in der        sere Jungs. Rechtsextremismus und Alltagskultur“ im         des Antifaschistischen Infoblatts
                                                                                                                                                                 (AIB): „Das Pogrom von Rostock
                                         Nacht vom 23. auf den 24. August 1991 – also noch vor       WDR ausgestrahlt.                                            - Reaktionen, Rückblicke, Refle-
                                         den tagelangen Ausschreitungen im September 1991            Eine Unterkunft für Asylbewerber_innen gibt es in           xionen“, erschienen im Sommer
                                                                                                                                                                              2012, aib.nadir.org .
                                         in Hoyerswerda – das Flüchtlingsheim in der Albert-         Wurzen seit dem Überfall vom August 1991 nicht
                                         Kuntz-Straße von einer größeren, mit Pistolen, Base-        mehr. Auf dem ehemaligen Standort in der Albert-
                                         ballschlägern und Schlagringen bewaffneten und teil-        Kuntz-Straße wurde bald darauf ein Altersheim neu
                                         weise vermummten Gruppe Neonazis angegriffen.               errichtet.
                                         Bereits im April 1991 hatte es entsprechende Dro-           In der offiziellen Chronik auf der Homepage der Stadt
                                         hungen gegeben. Die Bewohner_innen wurden da-               Wurzen werden für das Jahr 1991 zwei einschneidende
                                         mals kurzfristig in Privatwohnungen untergebracht –         Ereignisse genannt: „Die Molkereigenossenschaft e.G.
                                         der Angriff blieb zunächst aus. Am 17. August wurde         ist als erster größerer Betrieb der Stadt in Konkurs ge-
                                         die Asylsuchendenunterkunft im nicht weit entfernten        gangen. Etwa 100 Beschäftigte verlieren ihren Arbeits-
                                         Leisnig bei Döbeln (heute: Landkreis Mittelsachsen)         platz.“ Und: „Die ersten Asylbewerber kommen nach
                                         mit Brandsätzen beworfen. Ein Bewohner erlitt Ver-          Wurzen.“ Warum diese bald wieder aus der Stadt
                                         brennungen.                                                 fliehen mussten, wird verschwiegen.

                                         Eine Woche später wurden die Bewohner_innen des
                                         Wurzener Heims zusammengeschlagen und zum Teil              Zum Weiterlesen und Hören:
                                         schwer verletzt, die Inneneinrichtung des Hauses zer-
                                         stört. Auf der Straße postierte Wachen warnten die An-      • Chronik des NDK Wurzen (www.ndk-wurzen.de)
                                         greifer vor der ca. zehn Minuten später anrückenden         • Antifa-Broschüre „Wurzen - das Ende faschistischer
                                         Polizei, die keinen der Schläger mehr antraf. An dem          Zentren, wie wir sie kennen. Entwicklung im Mul-
                                         Überfall nahmen vermutlich Wurzener und auswär-               dentalkreis 1991-1996“, Online: www.nadir.org/
                                         tige Nazis teil, die für die Aktion extra einen Bus ange-     nadir/archiv/Antifaschismus/Regionen/Sachsen/
                                         mietet hatten. Die vom Angriff Betroffenen flohen an-         wurzen_broschuere
                                         schließend mit Unterstützung von Flüchtlingsgruppen         • Hörfunkfeature „Das sind doch unsere Jungs.
                                         in einer Nacht-und-Nebel-Aktion nach Hessen. Am               Rechtsextremismus und Alltagskultur“ von Bettina
                                         28. August 1991 wurde gegen das bereits geräumte              Rühl und Jürgen Salm (www.horizonte-journalisten.de)
                                         Flüchtlingsheim eine telefonische Bombendrohung             • Chronik der Stadt Wurzen: www.wurzen.de/die-
                                         ausgesprochen. Zwei Tage später ermittelte die Polizei        stadt-wurzen/stadtgeschichte.html
                                         einen 54jährigen Wurzener als Täter.

                                                                                                                                                                                         11
photo: chronik.LE
                                    Geschlossene Gesellschaft
                                    Die Leipziger Asyldebatte

                                                   Von Initiativkreis: Menschen. Würdig.             eine Diskussion darüber, wie Asylsuchende in Leipzig
                 Kundgebung des     In Leipzig leben ungefähr 1100 Menschen (Stand Oktober           künftig wohnen sollen.
Initiativkreis: Menschen. Würdig.
     vor dem Leipziger Rathhaus.    2012), die vom Asylbewerberleistungsgesetz betroffen sind.       Nach einem weiteren Stadtratsbeschluss im Juni 2010
                                    Das sind Menschen, die entweder gerade im Asylverfahren          wurde das Sozialamt beauftragt, zu untersuchen, inwie-
                                    sind oder deren Antrag abgelehnt wurde und die geduldet          weit eine dezentrale Unterbringung von Geflohenen in
                                    werden, weil eine Abschiebung aus humanitären, gesundheitli-     Leipzig umgesetzt werden könnte. Ein Antrag, Betrof-
                                    chen oder sonstigen Gründen nicht stattfinden kann. Etwa 650     fene und Initiativen verbindlich in die Konzeptionie-
                                    von ihnen wohnen in Wohnungen. Die übrigen 450 Menschen          rung einzubeziehen, erhielt jedoch keine Mehrheit im
                                    sind etwa zur Hälfte im Heim in Grünau, dort hauptsächlich Fa-   Stadtrat. Und so entwickelte das Sozialamt in den fol-
                                    milien, und in einer ehemaligen Militärkaserne in der Torgauer   genden zwei Jahren seine eigene Auffassung von de-
                                    Straße untergebracht. Diese Unterkunft liegt nahe der Auto-      zentraler Unterbringung – es entwickelte ein Konzept
                                    bahn. Dort müssen vor allem alleinstehende Männer leben.         und veröffentlichte es im Mai 2012. Das Konzept sieht
                                                                                                     sieben neue Unterkünfte mit jeweils 30 bis 70 Plätzen
                                    Wie alles anfing                                                 vor. Das Heim in der Liliensteinstraße soll beibehalten,
                                                                                                     das in der Torgauer Straße geschlossen werden[2].
   [1] Dazu dokumentierte           Im Jahr 2009 existierten in Leipzig zwei zentrale Heime          Auch wenn die Stadt es „dezentral“ nennt – die Men-
   chronik.LE einen Textbeitrag     für geflüchtete und asylsuchende Menschen, eines in              schen sollen weiterhin in Sammelunterkünften leben.
   im Conne-Island-newsflyer        der Torgauer Straße in Leipzig-Schönefeld, das andere            Die Unterbringung in Wohnungen mit nur einem
   (Ausgabe 168): http://www.       in der Liliensteinstraße in Grünau. Doch dann be-                Übergangsheim zur ersten Orientierung für Neuan-
   chronikle.org/dossier/stadt-     kundete der Versandwarenhändler Amazon Interesse                 kommende, so wie es derzeit in Leverkusen praktiziert
   rand-abgeschoben-neubau-         an dem Grundstück in der Torgauer Straße, und die                wird, wird offensichtlich nicht in Betracht gezogen. In
   heims-asylbewerberinnen-         Stadt musste nach einem geeigneten Ersatzobjekt su-              dieser Angelegenheit verweist die Stadt jedoch auf lan-
   leipziger-wodanstrasse           chen. Nach ersten Vorschlägen sollte eine Container-             desweit gültiges Recht, welches die Heimunterbrin-
                                    siedlung in der Wodanstraße entstehen, die Platz für             gung vorschreibt und die dezentrale Unterbringung
   [2] Vorlage samt Änderungs-      ca. 450 Geflüchtete bieten und an der Autobahn A14               von Asylsuchenden in Wohnungen nur in Ausnahme-
   anträgen: http://notes.          am Stadtrand von Leipzig liegen sollte. Längerfristig            fällen zulässt.
   leipzig.de/appl/laura/wp5/       sollten alle Asylsuchenden Leipzigs dort vereint unter-
   kais02.nsf/%28WebVorlagen        gebracht und die beiden Heime in der Torgauer Straße             Die Debatte nimmt ihren Lauf
   Auswahl%29/0B185DEEF28           und der Liliensteinstraße geschlossen werden. Dieser
   54883C125795A002E9AC1?           Plan wurde am 17. Juni 2009 in der Stadtratssitzung              Am 8. Mai 2012 lud das Sozialamt der Stadt Leipzig
   opendocument                     mit 32 (CDU-, SPD- und FDP-)Stimmen gegen 28                     und Sozialbürgermeister Thomas Fabian zu einem
                                    Stimmen beschlossen[1] – trotz massiver Proteste von             Pressetermin ein, bei dem das Konzept ausführlich
   [3] http://www.lvz-online.       Betroffenen und Initiativen.                                     vorgestellt wurde[3]. Es wurde verkündet, dass das
   de/leipzig/citynews/             Da Amazon sein Angebot zurückzog und die betei-                  Konzept in den betreffenden Stadtbezirksbeiräten zur
   stadt-leipzig-schliesst-         ligten Initiativen glaubhaft die sinnlosen Kosten dar-           Abstimmung gestellt werden solle, und der Stadtrat
   umstrittenes-asylbewer-          legen konnten, die durch die Containersiedlung ent-              in seiner Juni-Sitzung über das Gesamtkonzept ab-
   berheim-fluechtlinge-            stehen würden, kam ein Heim in dieser Form niemals               stimmen werde. Die LVZ berichtete groß am nächsten
   dezentral-untergebracht/r-       zustande. Das Argument der Unmenschlichkeit zählte               Tag. Weitere öffentliche Reaktionen blieben zunächst
   citynews-a-136028.html           in der damaligen Stadtratsdebatte kaum. Dank der                 aus. Doch im Umfeld der Cradefelder Straße in Portitz
                                    Protestwelle entspann sich aber in der Öffentlichkeit            und der Pittlerstraße in Wahren, zwei der neuen Stand-

12
                                                                                                           LEIPZIGER Zustände 2012

orte, rumorte es gewaltig. Im Mai erschien ein Bericht    Mehrheit im Stadtrat. Auch wurde die Grundausrich-          [5] siehe Fußnote 2.
der MDR-Sendung Hier ab vier[4], in der Wahrener          tung des Konzepts durch den Stadtrat mehrheitlich be-
Bürger_innen offen ihren Unmut über die neue Unter-       stätigt – inklusive aller geplanter Standorte[6].           [6] Der Beschluss sowie die
bringung in der Pittlerstraße kundtaten.                  Auch die CDU-Fraktion brachte vor der Abstimmung            Voten: http://tinyurl.com/
Auch in den meisten der anderen Stadtteile, in denen      noch einen Änderungsantrag ein, in dem sie die Strei-       d2tdnjq
Unterkünfte vorgesehen sind, fand eine starke Mobi-       chung der Standorte Wahren und Portitz vorschlug.
lisierung aufgebrachter Anwohner_innen statt: Sie         Dieser Antrag sowie Anträge der Linksfraktion und           [7] http://www.leipzig.de/
gründeten eine Bürgerinitiative, veranstalteten Kund-     des Migrantenbeirats auf eine Mitbestimmung Asyl-           de/buerger/politik/obm/
gebungen und betrieben eine aktive Pressearbeit. Bei      suchender in der Frage ihrer Unterbringung fanden           Hier-schreibt-Oberbuerger-
den angesetzten Stadtbezirksbeiratssitzungen wurde        keine Mehrheit. Für letzteren stimmten nur die Partei       meister-Burkhard-Jung-Ge-
aggressiv interveniert und auch nicht davor zurückge-     Die Linke und einzelne Vertreter_innen der Grünen.          danken-zur-Asyldebatte-Ju-
schreckt, demokratische Abstimmungsprozesse zu ma-                                                                    ni-2012-23247.shtml, letzter
nipulieren: Unter anderem wurden Stadtbezirksbeiräte      Die Akteur_innen in der Debatte                             Abruf 04.12.12, 9.40 Uhr.
bedroht um deren Abstimmungsverhalten zu beein-
flussen, so ein Augenzeug_innenbericht.                   Aber wer sind/waren die Akteure der Debatte nun im
Nach einer ersten Abstimmung über das Vorhaben der        Einzelnen? Diese sollen im kommenden Abschnitt
dezentralen Unterbringung in den Stadtbezirksbei-         ausführlicher beschrieben werden.
räten (SBB), lenkte die Stadt auf den Druck der Bürger_   Die Stadt Leipzig hat als Kommune wie alle anderen
innen hin ein und veränderte das Konzept: Der ge-         Städte und Gemeinden die Aufgabe, Geflüchtete, die
plante Standort in Grünau wurde gestrichen und die        ihr nach einem Verteilungsschlüssel zugeteilt werden,
Anzahl der geplanten Bewohner_innen in Portitz und        unterzubringen. Dabei ist die Stadt der Weisung nach
Wahren halbiert. So ging die inakzeptable Strategie der   dazu angehalten, die Menschen in Heimen unterzu-
Einschüchterung, Bedrohung und Beschimpfung fata-         bringen, sie kann jedoch auch das Wohnen in Woh-
lerweise auf.                                             nungen erlauben. Der letzte Stadtratsbeschluss vom
Auf die vielen Anwohner_innenanfragen an die Stadt        Juni 2010 besagt, dass Geflohene in kleineren Ein-
reagierte diese gelassen. Sozialbürgermeister Fabian,     heiten als den großen Heimen untergebracht werden
der in unzähligen Sitzungen das Konzept und sich          sollen. Der Oberbürgermeister Leipzigs, Burkhard
selbst verteidigen und sich dabei verhöhnen lassen        Jung, schaltete sich erst sehr spät und auch dann nur
musste, trat in der laufenden Debatte aggressiver auf     mit Allgemeinplätzen in die Debatte ein[7]. Zu fast allen
und plädierte für eine humanistische Sicht auf Ge-        Ereignissen, bei denen es um dieses Thema ging, äu-
flüchtete und das Thema Asyl.                             ßerte sich Sozialbürgermeister Thomas Fabian.
Kurz vor der Entscheidung des Stadtrates brachten die     In der Stadtverwaltung gibt es verschiedene Akteur_
Stadtratsfraktionen der SPD, Grüne und der Partei         innen mit unterschiedlichen Interessen. Das Sozi-
Die Linke gemeinsame Änderungsvorschläge zum ur-          alamt, das für die Unterbringung Asylsuchender ver-
sprünglich vorgelegten Konzept ein[5]. Konkret ging es    antwortlich ist, erhebt Besitzansprüche an die Heime,
um die Verringerung der Bewohner_innenzahlen für          will den rechtlichen Rahmen aus Angst vor Sankti-
Portitz und Wahren, die Streichung des Standortes         onen der übergeordneten Behörde, dem Regierungs-
Weißdornstraße in Grünau und um die Erweiterung           präsidium in Dresden, um jeden Preis einhalten und
der Vorlage um Objekte in der Riebeckstraße. Wie          schließt in vorauseilendem Gehorsam Initiativen aus
zu erwarten, fanden diese Änderungsvorschläge eine        den Unterkünften aus. Dass hierdurch die Isolierung

                                                                                                                                                    13
RASSISMUS UND DISKRIMINIERUNG

[8] www.central-ls-w33.                          der Bewohner_innen noch verstärkt wird, nimmt das                  oft vorherrschende rassistische Grundstimmung auf-
de/?p=584                                        Sozialamt in Kauf.                                                 zubrechen. Zur Abstimmung vor dem Stadtrat nahm
                                                 Ein zentraler Kritikpunkt, den das Sozialamt sich ge-              der Initiativkreis eine zwiespältige Rolle ein, da er ei-
[9] Konzeptkritik des                            fallen lassen muss, ist die schlechte Informationspo-              nerseits aus Protest gegen rassistische Bürger_innen
Initiativkreis NoHeim:www.                       litik. Für ein Thema, mit dem sich deutsche Bürger_                der Stadt den Rücken stärken wollte und somit dazu
menschen-wuerdig.org/                            innen bekanntermaßen schwer tun, veranschlagte es                  beitrug, dass das Konzept beschlossen wurde, anderer-
index.php/konzeptkritik                          viel zu wenig Zeit für eine öffentliche Diskussion: Die            seits mit dem Konzept auch nicht einverstanden war.
                                                 Vorlage wurde Mitte Mai veröffentlicht und war für die             Kritikpunkte[9] sind u.a. der private Wohnraum, der
                                                 Ratssitzung Mitte Juni zur Abstimmung geplant. Ei-                 mit 7,5 Quadratmetern pro Person viel zu klein be-
                                                 nige Bürger_innen beschwerten sich daraufhin, dass                 messen ist und auch die Sicherheitsdiskussion, die sich
                                                 die Stadt die Vorlage an ihnen „vorbeischmuggeln“                  nicht an den Bedürfnissen der Bewohner_innen orien-
                                                 wollte.                                                            tiert, sondern zu deren Kontrolle führt. Auch die Wahl
                                                 Im Leipziger Westen gründete sich im Umfeld des                    einiger Standorte wird kritisiert, da die schlechte Ver-
                                                 Standortes Markranstädter Straße die Initiative of-                kehrsanbindung und die Lage am Stadtrand die zu-
                                                 fene Nachbarschaft[8], vor allem aus Anwohner_                     künftigen Bewohner_innen weiter isoliert.
                                                 innen des neuen Standorts, die im Gegensatz zu vielen              Gleichzeitig versuchte der Initiativkreis, mit Betrof-
                                                 anderen Anwohner_innen Menschen mit Flucht- und/                   fenen zu sprechen bzw. Betroffene hörbar zu machen,
                                                 oder Migrationsgeschichte ausdrücklich in ihrer Nach-              was sich schwierig gestaltete, da das Sozialamt unvor-
                                                 barschaft begrüßten.                                               hersehbar Einzelpersonen und Gruppen, die gerne im
                                                                                                                    Kontakt mit den Geflüchteten stehen wollten, den Zu-
                                                 Das Engagement des Initiativkreis: Menschen. Würdig.               gang zum Heim verwehrte, indem es Hausverbote ver-
                                                                                                                    hängte.
                                                 Der Initiativkreis Menschen. Würdig., ein Netz-                    Der Migrantenbeirat brachte einen Antrag zum
                                                 werk aus Einzelpersonen und Gruppen, die teilweise                 Konzept ins Verfahren ein, in dem die Information
                                                 schon seit Jahren zu den Themen Flucht, Asylrecht und              und Mitbestimmung Geflüchteter zum Konzept und
                                                 Menschenrechte arbeiten oder sich aufgrund der Leip-               ihren späteren Wohnorten formuliert wurde. Dieser
                                                 ziger Debatte für das Thema interessieren, führte meh-             Antrag, der auch vom Initiativkreis NoHeim, Men-
                                                 rere Kundgebungen zum Thema durch, verteilte Argu-                 schen.Würdig. und der Linksfraktion des Stadtrates
                                                 mentationsflyer gegen rassistische Argumentationen in              unterstützt wurde, fand keine Mehrheit in der Ratsab-
                                                 den Stadtbezirksbeiratssitzungen und organisierte eine             stimmung. Ein zweiter Antrag des Migrantenbeirates
                                                 Unterschriftenliste, die sich für eine Verbesserung des            forderte, zusätzlich zur sozialen Betreuung, finanzi-
                                                 Wohnens Asylsuchender aussprach und den Rassismus                  elle Mittel für qualifizierte Sprach- und Kulturmittler_
                                                                                            und andere men-         innen bereitzustellen und den Betreuer_innen ein
                             photo: chronik.LE

                                                                                            schenverachtende        Netzwerk bzw. Pools von Sprach- und Kulturmittler_
                                                                                            Einstellungen kri-      innen zur Seite zu stellen.
                                                                                            tisierte. Immerhin
                                                                                            über 5.400 Men-         Und was sag(t)en die Betroffenen?
                                                                                            schen       solidari-
                                                                                            sierten sich in         Bei einer Veranstaltung des Initiativkreises Men-
                                                                                            dieser Debatte mit      schen.Würdig. in der Torgauer Straße und bei per-
                                                                                            ihrer Unterschrift.     sönlichen Gesprächen mit Heimbewohner_innen äu-
                                                                                            Durch        Presse-    ßerte die überwiegende Mehrheit, dass sie in eigenen
                                                                                            mitteilungen und        Wohnungen wohnen wolle. Allerdings haben viele
                                                                                            Präsenz in den          ganz andere Probleme: Residenzpflicht, Arbeitsverbot
                                                                                            Beiratssitzungen        und geringe Sozialleistungen (bei Redaktionsschluss
                                                 Auf www.menschen-wuerdig.org und in vielen versuchte der In-       am 30. November wird in Leipzig immer noch nicht
                                                          Geschäften erfolgreich gesammelt. itiativkreis, die       der im Juli 2012 vom Bundesverfassungsgericht ge-

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                                                                                                                      LEIPZIGER Zustände 2012

                                                                                          forderte SGB II      Wohnen im Wohnheim und nicht wie von Bewohner_
screenshot: Bild.de 12.06.2012 - 00:45

                                                                                          Satz an alle Asyl-   innen gewünscht, um Leben in Wohnungen handelt.
                                                                                          suchende       ge-
                                                                                          zahlt – Begrün-      Wie reagierte die Presse?
                                                                                          dung: Umstellung
                                                                                          im     Computer-     Die Leipziger Volkszeitung (LVZ) berichtete zu-
                                                                                          system).             nächst in sachlichen Artikeln über die Pläne des So-
                                                                                          Weiterhin gibt es    zialamtes. Nachdem die Proteste der Bürger_innen in
                                                                                          in Leipzig keine     Portitz, Wahren und Grünau lauter wurden, räumte die
                                                                                          längeren kosten-     LVZ diesen Stimmen und Meinungen viel Raum ein
                                                                                          losen    Deutsch-    und reproduzierte mit der unkritischen Übernahme
                                                                                          kurse.     Ketten-   die rassistische Haltung der Bürger_innen.
                                                                                          duldungen – also     Eine Unterscheidung in LVZ-Print- und Online-Aus-
                                          Bild.de-Bericht über die „Wutbürger“ in Grünau:
                                                                                           Duldungen, die      gabe ist jedoch sinnvoll: Während es auf den On-
                                          Sie „kamen, um sich Luft zu machen.“ Kein Wort
                                          jedoch zu den rassistischen Ausfällen vor Ort.   nur für mehrere     line-Seiten der Zeitung immer wieder Beiträge über
                                                                                           Wochen gelten       Befürworter_innen des städtischen Konzepts und Kri-
                                         und nach Ablauf wahrscheinlich verlängert werden –                    tiker_innen des rassistischen Diskurses gab sowie über
                                         führen zu großer Zukunftsunsicherheit und machen                      Aktionen der Befürworter_innen berichtet wurde,
                                         es fast unmöglich, langfristige Lebensperspektiven zu                 wurden diese Artikel nur sehr selten in der Printau-
                                         entwickeln. Der Zugang zur hiesigen Infrastruktur ist                 flage veröffentlicht. Eine Ausnahme war die Ausgabe
                                         schlecht. Viel zu wenige Sozialarbeiter_innen können                  am Tag nach der Entscheidung des Stadtrates für das
                                         und dürfen über rechtliche Angelegenheiten infor-                     Dezentralisierungskonzept: Es fand sich eine ausführ-
                                         mieren. Speziell über das Heim in der Torgauer Straße                 liche Berichterstattung über die Entscheidung des
                                         sagten Geflüchtete oft, dass es zu weit außerhalb liege               Stadtrates und es wurde den Befürworter_innen des
                                         und völlig marode und trostlos sei. Das Wohnen wird                   Konzeptes Raum gegeben. Im Nachgang der Debatte
                                         als sehr beengt wahrgenommen und die Umzäunung                        veröffentlichte die LVZ indes immer wieder Leser_
                                         erinnere an ein Gefängnis. Diese Zustände werden seit                 innenbriefe von Gegner_innen des Konzepts, die vor
                                         Jahren von der Stadtverwaltung wissentlich so hinge-                  allem aus Wahren kamen.
                                         nommen, die Bewohner_innen als Menschen zweiter                       Im Printbereich gibt es in Leipzig, außer der Regional-
                                         Klasse behandelt. Geflüchtete wurden und werden in                    ausgabe der Bild-Zeitung, keine nennenswerte Alter-
                                         der ganzen Debatte komplett übergangen. Die Heim-                     native. In den letzten Jahren erlangte aber die nur On-
                                         bewohner_innen wurden erst im Nachhinein über den                     line verfügbare Leipziger Internet Zeitung (l-iz)
                                         Stadtratsbeschluss informiert. Andererseits sind einige               etwas mehr Bedeutung. Diese verschlief die Debatte
                                         Bewohner_innen auf verschiedenen Kundgebungen                         zunächst vollkommen. Erst kurz vor der Stadtratsent-
                                         aktiv und gaben Interviews für Zeitungen, Radios und                  scheidung wurde die Berichterstattung intensiviert.
                                         Fernsehen.                                                            Anders als die LVZ (Printausgabe) wurde in der l-iz –
                                         Die antirassistischen, bzw. rassismuskritischen Initi-                durch Verweise auf Pressemitteilungen von Initiativen
                                         ativen, der Flüchtlingsrat Leipzig, Heimbewohner_                     und Parteivertreter_innen – der rassistische Grundton
                                         innen, der Migrantenbeirat der Stadt und andere                       der Debatte immer wieder angesprochen und es wurde
                                         Akteur_innen der Zivilgesellschaft, wie Stadtratsmit-                 ein pluralistischeres Bild gezeichnet. Die l-iz blieb
                                         glieder aber auch viele Bürger_innen, versuchten, in                  auch nach der Debatte am Thema dran und berichtete
                                         der Debatte eine humanistische Perspektive zu stärken.                immer wieder über die Entwicklungen. Auch überre-
                                         So thematisierten sie beispielsweise nicht nur die                    gional erzeugte das Thema Aufmerksamkeit. Dabei
                                         Wohnsituation Geflüchteter, sondern gingen auch auf                   wurde vor allem der Rassismus einiger Anwohner_
                                         Lebensumstände von Geflohenen ein. Oft wurde auch                     innen skandalisiert und über die menschenverach-
                                         Kritik am städtischen „Dezentralisierungskonzept“ ge-                 tenden Unterkünfte berichtet.                      >>>
                                         äußert, da es sich bei dem neuen Entwurf wieder um

                                                                                                                                                                                     15
RASSISMUS UND DISKRIMINIERUNG

                 Was bleibt?
                                                                          Chemnitz, die Geflohene in die Landkreise verteilt, ist
                 Die eigentliche Debatte dauerte am Ende zwei Monate.     überfüllt. Da beide Heime voll sind, könnte jetzt selbst
                 Die intensive Auseinandersetzung endete nach dem         die Stadt ohne größere Genehmigungsverfahren Men-
                 Stadtratsbeschluss, danach war kaum mehr etwas da-       schen in Wohnungen unterbringen.
                 rüber zu hören oder zu lesen. Am 1. November mar-
                 schierte die NPD zu einer kurzen Kundgebung vor die      Der Initiativkreis Menschen.Würdig. verfasst wei-
                 zukünftige Unterkunft in Wahren auf, in der Hoffnung     terhin Pressemitteilungen zum Thema dezentrale Un-
                 von den Anwohner_innen dort empfangen zu werden.         terbringung und zum Umgang der Stadt Leipzig mit
                 Dies geschah jedoch nicht. Bis auf einige wenige be-     Geflüchteten. Wir planen Veranstaltungen in den
                 schränkten sich die Anwohner_innen auf die übliche       Stadtteilen, in denen rassistische Statements die De-
                 Strategie im Umgang mit Nazis: Aktives Wegsehen.         batte dominierten. Wir beobachten weiterhin die Um-
                 Die Planung der Stadt sah vor, das Heim in der Tor-      setzung des Konzepts der ‚dezentralen‘ Unterbringung
                 gauer Straße bis Ende 2013 in Betrieb zu halten. An-     bzw. versuchen im engen Kontakt mit den vom Asyl-
                 fang Dezember soll als erstes neues Heim das Objekt      bewerberleistungsgesetz Betroffenen die Umsetzung
                 in der Riebeckstraße für insgesamt 115 Menschen in       in einer von ihnen gewünschten Richtung zu beein-
                 Betrieb genommen werden, ebenso das Objekt in der        flussen. Wir möchten zusammen mit unseren Partner_
                 Eythstraße für maximal 28 Menschen mit “erhöhtem         inneninitiativen offene Angebote in den Heimen
                 Betreuungsbedarf ”. Die anderen Heime sollen im          ausbauen und bessere Beratungsmöglichkeiten für Ge-
                 Laufe des Jahres 2013 eröffnet werden. Das Sozialamt     flüchtete schaffen.
                 steht jedoch weiter unter Druck, denn bis Jahresende
                 werden zwischen 200 und 400 Menschen erwartet, für       Dabei sind wir aber auf die Hilfe anderer angewiesen.
                 die es Unterkünfte finden muss. Um den Druck ab-         Es ist wichtig, sich in die Debatten einzubringen, zum
                 zubauen, werden in der Spittastraße in Lindenau Ge-      Beispiel durch Leser_innenbriefe. Es ist eine politi-
                 währleistungswohnungen bereitgestellt, in denen nun      sche Strategie, das Thema Migration zu marginali-
                 insgesamt 42 Personen wohnen.                            sieren und Menschen mit Migrationshintergrund zu
                 Durch die Reduzierung der Plätze in Wahren, Portitz      isolieren. Wer will, kann sich gerne mit uns in Ver-
                 und Grünau musste die Stadt jedoch weitere Standorte     bindung setzen, um gemeinsam Veranstaltungen zu
                 oder Wohnungen finden. Bis zum Redaktionsschluss         planen. Wir möchten gerne Asylsuchende in den
                 schlug das Sozialamt drei weitere Standorte für Heime    Heimen besuchen und suchen Leute, die mit uns
                 in Lindenau, Gohlis-Süd und Eutritzsch vor. Während      dazu Konzepte entwickeln, um auf möglichst gleich-
                 in der Spittastraße explizit temporäre Notunterkünfte    berechtigter Ebene mit den Betroffenen in Kontakt zu
                 bereitgestellt werden, handelt es sich bei den drei      treten. Eigentlich ist es jederzeit möglich in die Heime
                 neuen Objekten um vorerst dauerhafte, die in das Un-     zu gehen – ausgenommen für die Durchführung von
                 terbringungskonzept implementiert werden. Mit einer      rechtlichen Beratungen – und die Bewohner_innen
                 sinkenden Zahl von Menschen, die aus ganz verschie-      oder die Sozialarbeiter_innen anzusprechen und
                 denen Gründen in Deutschland Asyl suchen, ist gene-      mit ihnen etwas zu unternehmen. Es ist wichtig, die
                 rell nicht zu rechnen.                                   Grenze, welche der Staat zwischen Menschen anhand
                 Derzeit kommen viele Geflüchtet aus dem Sudan, Ru-       ihres Passes zieht, aufzubrechen und an Stelle dieser
                 anda, Libyen, dem Balkan (vor allem Roma) und aus        Grenze Verbindungen auf Augenhöhe aufzubauen.
                 Syrien, Iran, Irak, den palästinensischen Gebieten und   
                 Indien an. Die zentrale Aufnahmestelle für Sachsen in                                www.menschen-wuerdig.org

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