Menschenrechte in Indonesien und Timor-Leste - Themenheft Watch Indonesia! (Hg.)
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Themenheft: Menschenrechte in Indonesien und Timor-Leste 2020 Watch Indonesia! Für Menschenrechte, Demokratie und Umwelt in Indonesien und Osttimor e.V. Urbanstr. 114, 10997 Berlin V.i.S.d.P.: Christine Holike Redaktion: Christine Holike, Nedim Sulejmanović, Nils Utermoehlen Korrektorat & Satz: Eva Streifeneder Gedruckt auf 100% Recyclingpapier. Titelfoto: © Chaideer Mahyuddin Konfliktopfer demonstrieren vor dem Parlamentsgebäude der Provinz Aceh. Sie fordern die Verabschiedung einer Ver- ordnung zur Einrichtung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission. 10.000 bis 30.000 Menschen verloren infolge des Konflikts ihr Leben, größtenteils Zivilist*innen. © Watch Indonesia! e.V. 2020
Inhalt © Andreas Harsono Editorial ________________________________________________________________________________________________ 3 Vorwort Menschenrechtsverletzungen im Post-Suharto Indonesien _____________________________________________________ 5 (Andreas Harsono) Bürgerliche & politische Rechte Straffreiheit von Massenverbrechen in Indonesien – Rechenschaftspflicht verhandeln _____________________________ 8 (Indria Fernida) Die Rückentwicklung von bürgerlichen Freiheiten und Demokratie in Indonesien _______________________________ 14 (Asfinawati) Die ambivalente Beziehung zwischen Staat und indigenen Religionen _________________________________________ 19 (Anna Soetomo) Pressefreiheit unter Druck _______________________________________________________________________________ 22 (Ratna Ariyanti) Der wachsende Einfluss des Militärs ______________________________________________________________________ 25 (TAPOL) Geschlecht, Sexualität & Geschlechtsidentität Die Weigerung, irgendwen zurückzulassen – LGBT-Gemeinschaften in Indonesien unter COVID-19 _______________ 28 (Ferdiansyah Thajib) Sexualisierte Gewalt – ein schwieriges Thema für die indonesische Gesellschaft ________________________________ 30 (Mariana Amiruddin) Religiöser Fundamentalismus gefährdet Frauenrechte _______________________________________________________ 34 (Lies Marcoes) Inhalt 1
Beseitigung von Menschenrechtsverletzungen an Arbeitsmigrantinnen – Die Notwendigkeit, über Rechtsinstrumente hinauszugehen ________________________________________________ 37 (Dinda Nuur Annisaa Yura) Umwelt & Menschenrechte Jakarta – Stadtplanung ohne die Bevölkerung ______________________________________________________________ 41 (Dandhy Dwi Laksono) Neue Hauptstadt, alte Fehler _____________________________________________________________________________ 45 (Dandhy Dwi Laksono) „Save Kendeng“ – Der anhaltende Widerstand gegen die Errichtung einer Zementfabrik im Kendeng-Karstgebirge ________________________________________________________________________________ 47 (Josephine Sahner) Westpapua Das Narrativ der Sicherheit und seine Auswirkungen auf die Menschenrechtssituation in Papua __________________ 50 (Elvira Rumkabu) #PapuanLivesMatter-Bewegung als Chance für den Schutz der Menschenrechte in Westpapua ___________________ 53 (Barbara Hillebrand) Aceh Die Vergangenheit in der Gegenwart – Der lange Kampf für Gerechtigkeit in Aceh ______________________________ 56 (Evi Narti Zain) Timor-Leste Die vergessenen Märtyrerinnen von Timor-Leste ___________________________________________________________ 60 (Maria Manuela Leong Pereira) 2 Inhalt
Editorial © Leona Pröpper Große Hoffnungen wurden 2014 in den Amtsantritt des blierung von wirksamen Versöhnungsmechanismen für amtierenden indonesischen Präsidenten Joko Widodo, bes- die Massaker von 1965-66 und die massiven Menschen- ser bekannt als „Jokowi“, gelegt. Zuvor begeisterte er mit rechtsverletzungen, die im Zuge des beinahe 30-jährigen seinem Wahlkampf all jene Indonesier*innen, die an eine bewaffneten Konflikts in Aceh (1976-2005) begangen wur- Fortführung der 1998 initiierten Reformasi, die eine um- den, bleiben aus. Bei bereits wegen ihrer sexuellen Orien- fassende demokratische Öffnung beinhaltete, glaubten. tierung und Geschlechteridentifikation marginalisierten Jokowi nährte den Glauben in der Bevölkerung an die Ver- Menschen wird mit hasserfüllter Rhetorik, diskriminie- wirklichung der Menschenrechte und die Überwindung renden Gesetzen und Äußerungen durch Beamte ein be- der Straflosigkeit – nicht nur für vergangene Gräueltaten, drohliches Klima geschaffen. Ohnehin weit verbreitete die während des Suharto-Regimes (1966-1998) traurige Angriffe gegen sie häufen sich umso mehr. Normalität waren, sondern auch für jene, die noch folgten. In Timor-Leste wirken sich die Folgen der Menschen- Bereits zu Beginn seiner zweiten Amtszeit 2019 galt Jo- rechtsverletzungen während der indonesischen Besetzung kowi jedoch schon als „kleineres Übel“ gegenüber sei- (1975-1999) auch auf die aktuelle Menschenrechtssituation nem Rivalen im Präsidentschaftswahlkampf, Prabowo des Landes aus. Die Opfer der während der Besatzungs- Subianto, dem unehrenhaft aus der Armee entlassenen zeit verübten Menschenrechtsverbrechen warten nach Ex-General, welchem Menschenrechtsverbrechen nach- wie vor auf eine angemessene Wiedergutmachung. Über- gesagt werden. Denn entgegen seiner Versprechungen ist lebende Frauen und Mädchen, die neben systematischen es heute schlechter um die Menschenrechte bestellt als Vergewaltigungen und sexueller Sklaverei auch erzwun- zu Zeiten seiner Vorgänger*innen Yudhoyono (2004-2014) genen Sterilisationen, Abtreibungen und Verhütungen und Megawati (2001-2004). ausgesetzt waren, haben mit Stigmatisierung und sozialer Joko Widodos Unterstützung der Menschenrechte in den Ausgrenzung zu kämpfen. Wahlkämpfen 2014 und 2019 erweist sich als rhetorische Übung. Seine bisherigen sechs Amtsjahre haben nicht Im Schatten der Pandemie zu sinnvollen politischen Initiativen geführt und wichti- Bereits vor der COVID-19-Pandemie lancierte die indo- ge Vorhaben bezüglich der Vergangenheitsaufarbeitung nesische Regierung zahlreiche Gesetzesvorhaben mit verschleppt. Die Versäumnisse der Menschenrechtspoli- zumindest fragwürdigen Auswirkungen auf die Men- tik sind breit gestreut. Religiöse Minderheiten sind wei- schenrechte. Sie untergraben nicht nur individuelle Frei- terhin Schikanen, Einschüchterungen und Gewalt durch heits- und Frauenrechte sowie den staatlichen Schutz Regierungsbeamte und Sicherheitskräfte ausgesetzt. Die marginalisierter Gruppen weitreichender als bisher, son- Pressefreiheit ist mehr denn je in Gefahr. Von der pre- dern ordnen Menschenrechte und Umwelt einem zwei- kären Lage in Papua können ausländische Medien nicht felhaften Wirtschaftsparadigma unter. vor Ort berichten, da ihnen durch indonesische Behörden Grassierende Straflosigkeit, vor allem in der Palmöl- der Zugang unter dem Vorwand einer bedrohten Sicher- wirtschaft und dem Bergbau, die brutalen Menschen- heitslage verwehrt wird. Indonesische Sicherheitskräfte rechtsverletzungen in Westpapua sowie die schleichende werden nur selten für ernsthafte Menschenrechtsverfeh- Remilitarisierung von Politik und Bürokratie stellen die lungen zur Rechenschaft gezogen. Die versprochene Eta- indonesische Zivilgesellschaft, Menschenrechtsverteidi- Editorial 3
ger*innen und Umweltschützer*innen ohnehin vor große ten Strafrechtsreform, könnten diese Last weiter erhöhen. Herausforderungen. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass im Gleichzeitig treffen Krisensituationen wie die Corona-Pan- Schatten der COVID-19-Krise Tatsachen geschaffen wer- demie oder die Lage in Westpapua diese Gruppen häufig den sollen, welche Menschenrechte und Demokratie noch am härtesten. weiter aushöhlen. Das erst Anfang Oktober verabschie- Es gilt aber auch: Frauen und die indonesische Frauen- dete „Omnibusgesetz zur Schaffung von Arbeitsplätzen“ bewegung demonstrieren eine enorme Widerstandskraft ist einer der ersten Belege hierfür. Nachdem öffentlicher und mit Blick auf die Realisierung von Menschenrechten Protest aufgrund von breit angelegten Maßnahmen zur und Demokratie, kann man sie getrost als Motor der Ver- Eindämmung von COVID-19 kaum mehr möglich war, änderung bezeichnen. Einige ihrer Stimmen sind hier verabschiedete das Parlament einen Änderungskatalog versammelt. für mehr als 70 Gesetze hinter dem Rücken von Gewerk- Auch das Thema Umwelt ist stark vertreten. Der Zusam- schaften und pro-demokratischen zivilgesellschaftlichen menhang ist offensichtlich: Die Klimakatastrophe rollt Initiativen. Das Gesamtpaket untergräbt das Arbeitsrecht unaufhaltsam auf Indonesien zu und verantwortungs- genauso wie Umweltstandards und die Entscheidungs- volle Stadtplanung lässt ebenso auf sich warten wie ein kompetenzen der Regionen. Ende des Raubbaus an der Natur. In diesem Komplex geraten ärmere Bevölkerungsschich- ten und vermeintlich Landlose in „unkartierten“ Re- gionen Kalimantans oder Westpapuas immer mehr in Bedrängnis. Umweltverteidiger*innen und solche, die sich einfach gegen die Zerstörung ihres Lebensumfelds oder illegale Landnahmen stellen, sind überdies von Gewalt bedroht. Die Täter bleiben in den meisten Fällen straflos. An der menschenrechtlich prekären Situation der von Hochwassern betroffenen Stadtbevölkerung Jakartas wird auch der geplante Hauptstadtumzug nichts ändern. Schlimmer noch: Die menschenrechtlichen Schieflagen werden aller Voraussicht nach lediglich verlagert. Was tun Indonesien ist Mitgliedstaat der G20 und eines der be- deutendsten Partnerländer der deutschen Entwicklungs- zusammenarbeit. Daneben befindet sich Indonesien auch unter den 50 wichtigsten Handelspartnern der Bundes- republik. Zusammen mit Deutschland ist Indonesien außerdem noch bis Ende 2022 im UN-Menschenrechtsrat und bis Ende 2020 im UN-Sicherheitsrat vertreten. Der Bundesregierung wie auch Wirtschaftsvertreter*in- © Andreas Harsono nen und allen, die in diesen Partnerschaften aktiv sind, bietet sich damit eine der besten Gelegenheiten seit Lan- Facettenreiche Beiträge gem, für die Verwirklichung der Menschenrechte in In- Das vorliegende Heft versammelt vor allem Perspektiven donesien und Timor-Leste einzutreten. Das Bewusstsein von Menschenrechtsverteidiger*innen aus Indonesien über vergangene Menschenrechtsverbrechen und deren und Timor-Leste. Dass so viele Beiträge Geschlechter- angemessene gesellschaftliche Aufarbeitung muss end- themen behandeln, verwundert nicht. Sind es doch vor lich entscheidend vorangebracht werden. Der Druck auf allem Frauen, besonders solche in ohnehin prekären Le- Entscheidungsträger*innen muss erhöht werden, damit bens- oder Arbeitssituationen, sowie LSBTIQ, die ans un- demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien eingehal- tere Ende der Menschenrechtsskala verwiesen sind oder ten und nicht für kurzfristige Profite aufgegeben werden. weiter werden sollen. Sie sind es auch, die die erdrücken- Wir hoffen, dass dieses Heft einen Beitrag leistet, relevan- de Last von andauernden Diskriminierungen und Men- te Kenntnisse zur Menschenrechtslage in Indonesien und schenrechtsverletzungen zu tragen haben. Eine Reihe Timor-Leste zu erlangen. von Gesetzesvorhaben, wie beispielsweise das sogenann- te Familienstärkungsgesetz oder Bestandteile der geplan- Christine Holike & Nedim Suleimanović 4 Vorwort
Menschenrechtsverletzungen im Post-Suharto Indonesien von Andreas Harsono © Andreas Harsono Als die asiatische Wirtschaftskrise im Juli 1997 Indone- sandte. Mehrere Afghanistan-Kriegsveteranen, darunter sien traf, begann ich dort über das Verschwinden von Angehörige von Al-Qaida, begaben sich ebenfalls auf die Grundnahrungsmitteln von den Märkten und die Nie- Molukken. Dabei wurden zwischen 1999 und 2005 min- derschlagung von Aufständen zu berichten. Für meine destens 25.000 Menschen getötet. Insgesamt verloren in journalistische Tätigkeit bereiste ich viele Teile Indonesi- dieser Gewaltperiode in Indonesien mindestens 90.000 ens, das Land mit der weltweit viertgrößten Bevölkerung. Menschen ihr Leben. Im Mai 1998 trat Präsident Suharto nach 33 Jahren an der In Jakarta unterdessen forderten Studentenprotestler wei- Macht zurück. Doch die Gewalt nahm weiter zu, da viele terhin „Reformasi“.1 Es war der schwierigste Schlachtruf ethnische und religiöse Gruppen versuchten, vom natio- überhaupt. Denn leider wusste die Welt nichts von der nalen Zentrum Java – sowohl Suharto als auch sein Vor- Gewalt, die in Indonesien grassierte. gänger Sukarno zentralisierten dort die Regierung seit Al-Qaida verübten die Anschläge vom 11. September den 1950er Jahren – politische und wirtschaftliche Zuge- 2001 in New York und Washington und löste damit die ständnisse zu erlangen. von den Vereinigten Staaten geführten Kriege in Afgha- Auf der Insel Sumatra organisierten Freiheitskämpfer aus nistan und im Irak aus. Der arabische Frühling und der Aceh ihre Zeremonien mit offen getragenen AK-47, wobei Krieg in Syrien und Kriege anderswo im Nahen Osten es häufig zu tödlichen Zusammenstößen mit dem indo- zogen die Aufmerksamkeit der internationalen Medien nesischen Militär kam. Auf der Insel Kalimantan wurden auf sich. mindestens 6.500 Angehörige der ethnischen Minderheit Das erinnerte mich daran, wie der Vietnamkrieg auch die der Madures*innen massakriert, als rivalisierende ethni- Massaker von 1965-69 überschattet hatte, die in Indonesi- sche Dayak und malaiische Kämpfer ihre Muskeln spie- en an Kommunist*innen verübt wurden, bei denen rund len ließen und mehr Mitsprache bei der Regierung der an eine Million Menschen getötet und die damals drittgröß- natürlichen Ressourcen reichen Insel forderten. Auf der te kommunistische Partei der Welt (nach denen in China Insel Sulawesi brachen Spannungen um den Poso-See und der Sowjetunion) verboten wurden. General Suharto aus, bei denen 600 Menschen durch die Gewalt zwischen stieg nach diesen Massenmorden – den größten in der Muslimen und Christen getötet wurden. Osttimor wurde Geschichte Indonesiens – zum Präsidenten auf. faktisch niedergebrannt, nachdem Indonesien im August Die ihm nachfolgenden Präsident*innen haben es bisher 1999 im Referendum verloren hatte, was das Tor zur Ge- versäumt, mit diesen groben Menschenrechtsverletzun- schichte öffnete und die winzige Nation zu einem neuen gen adäquat umzugehen, was eine Kultur der Straflo- souveränen Staat machte. In den Provinzen Papua und sigkeit und Gewalt förderte. Es sollte Beobachter*innen West-Papua wurde die staatliche Repression gegen die folglich nicht schockieren, dass auch nach Suhartos Ab- indigene Bevölkerung mit neuen Waldkonzessionen und gang Massengewalt stattfand. Bergbaubetrieben einfach fortgesetzt. Die größten Ge- walttätigkeiten fanden jedoch auf den Molukken statt, wo christliche Milizen gegen muslimische Dschihadis- 1 Die Jahre nach dem Sturz von Suharto werden gewöhnlich als Era Reformasi (Reformzeit) bezeichnet. Mit dem Ruf nach Reformasi! ten kämpften, an denen eine große salafistische Gruppe forderten die Protestierenden umfassende demokratische Refor- beteiligt war, die mehr als 5.000 Kämpfer aus Java ent- men (Anm. d. Redaktion). Vorwort 5
Dennoch, der Übergangspräsident B.J. Habibie ließ 1999 gentschaft sogenannte „Foren der religiösen Harmonie“ ein UN-Referendum in Osttimor zu. Präsident Abdurrah- als „Beratungsgremien“ ein, um neue Gotteshäuser und man Wahid hob das Verbot der chinesischen Sprache, der andere religiöse Angelegenheiten zu genehmigen. Die chinesischen Schriftzeichen und des Konfuzianismus Zusammensetzung dieser Foren sollte proportional zur auf. Präsident Susilo Bambang Yudhoyono stimmte einer Zusammensetzung der sechs Religionen sein, was in der von der Europäischen Union geförderten Friedensver- Praxis die Diskriminierung von Minderheiten verschärft. handlung über Aceh im Jahr 2005 zu. Dies führte in einem Jahrzehnt zur Schließung von mehr Im Jahr 2001 verabschiedete das indonesische Parlament als 1.000 Kirchen in ganz Indonesien. das Gesetz über die lokale Regierungsführung und de- zentralisierte einen Großteil der Zentralbehörden in Anzahl der Gotteshäuser in Indonesien 2010 die Provinzen und Regentschaften. Das Gesetz besagt, dass sechs Sektoren weiterhin in der Zuständigkeit der Konfuzianisch Protestantisch Buddhistisch Muslimisch Zentralregierung bleiben: auswärtige Angelegenheiten, Katholisch Moschee Verteidigung, Polizei, Justiz, Steuer- und Währungsange- Tempel Tempel Tempel Kirche Hindu Kirche legenheiten sowie religiöse Angelegenheiten. Aber die Verantwortung für alles andere, von der Vergabe der Total 243.199 47.106 11.827 6.417 2.290 707 311.546 Forstkonzessionen bis zur Verwaltung des Bildungswe- sens, wurde den Provinzbehörden übertragen. Prozent 78,06 15,12 3,80 2,06 0,74 0,23 Die Einführung der islamischen Scharia – eine Idee die Quelle: Indonesiens Ministerium für religiöse Angelegenheiten. Eine seit 1945 diskutiert wird – bekam im Zuge dieses Ge- laufende Zählung des Ministeriums für religiöse Angelegenheiten, setzesvorhabens Aufwind und verleitete muslimische bei der Drohnen und Fotos verwendet werden, hat mindestens 554.152 Moscheen registriert. Die Zählung begann 2013. Die Zahl deutet darauf Politiker überwiegend muslimischer Provinzen, Verord- hin, dass sich die Zahl der Moscheen in einem Jahrzehnt mehr als ver- nungen zu erlassen, die „islamischen Werten“ entsprechen. doppelt hat. Yudhoyono, der zwischen 2004 und 2014 regierte, kam diesen Forderungen entgegen und ignorierte dabei die Die Verwaltung von Yudhoyono tolerierte es, dass loka- Beschränkungen religiöser Angelegenheiten im Auto- le Politiker*innen diskriminierende Vorschriften gegen nomiegesetz. Seine Regierung stärkte die Blasphemie- Frauen und Mädchen verfassten. Im Jahr 2016 stellte die Rechtsabteilung innerhalb der Generalstaatsanwalt- Nationale Kommission Indonesiens zur Bekämpfung von schaft, wodurch es innerhalb eines Jahrzehnts zur Verfol- Gewalt gegen Frauen (Komnas Perempuan) die Existenz gung und Inhaftierung von 125 Personen wegen Blasphe- von mehr als 400 diskriminierenden nationalen und lo- mie kam – verglichen mit den zehn Fällen, seit Sukarno kalen Verordnungen fest, die Frauen schadeten. Darunter 1965 das Blasphemie-Gesetz eingeführt hatte, entspricht auch der Zwang für Frauen und Mädchen, in Regierungs- das einem steilen Anstieg. gebäuden, Schulen oder an anderen öffentlichen Orten Das Blasphemiegesetz erkennt in Indonesien nur sechs Hijab zu tragen. Daneben verbieten ihnen die Hijab-Vor- Religionen an: Islam, Protestantismus, Katholizismus, schriften das Tragen eng anliegender Kleidung und ver- Hinduismus, Buddhismus und Konfuzianismus. Unter langen, dass sie ihren Körper außer Händen, Füßen und der Regierung Yudhoyono wurde es auch erweitert, um Gesicht bedecken. Außerdem gehören Ausgangssperren, kleinere nichtislamische sunnitische Minderheiten wie nach Geschlechtern getrennte Sitzbereiche und weitere Ahmadiyah und Schiiten zu diskriminieren. Im Jahr 2016 Einschränkungen zu den Diskriminierungserfahrungen wurde eine Ableitung des Blasphemiegesetzes benutzt, von Frauen und Mädchen. um die gewaltsame Vertreibung von mehr als 7.000 Mit- Einige Provinzen und Regentschaften haben lokale Ver- gliedern der Religionsgemeinschaft Gafatar aus ihren ordnungen eingeführt, die auch nichtmuslimische Mäd- Bauernhäusern auf der Insel Kalimantan zu erzwingen.2 chen zum Tragen eines Hijabs zwingen, wie zum Beispiel Das Blasphemiegesetz wurde zu einer politischen Waffe, West-Sumatra und Aceh auf Sumatra sowie Yogyakarta um Muslime zu mobilisieren. So auch bei den Gouver- und Banyuwangi auf Java. Einige Politiker argumentier- neurswahlen 2017 in Jakarta, als mehr als 500.000 mus- ten, dass nicht-muslimische Schulmädchen sich an die limische Demonstrierende die Regierung aufforderten, muslimische Mehrheit „anpassen“ sollten. Auf der Insel den bisherigen Gouverneur von Jakarta, Basuki Purna- Lombok forderte ein Regent sogar muslimische Beamtin- ma, der selbst Christ ist, strafrechtlich zu verfolgen. Ihm nen auf, den Niqab zu tragen – einen vollständigen Schlei- wurde auf Grundlage eines manipulierten Videos vorge- er, der das Gesicht, außer den Augen bedeckt – sowie lange worfen, den Koran beleidigt zu haben.3 Er verlor die Wahl Kleider, die ihre Körperformen nicht offenbaren. und landete für zwei Jahre im Gefängnis. Grobe Menschenrechtsverletzungen, die nach der Unab- Im Jahr 2006 führte die Regierung Yudhoyono auch die hängigkeitserklärung von Präsident Sukarno 1945 began- Regelung der „religiösen Harmonie“ ein, die das Ver- gen wurden, einschließlich der Massaker von 1965-69, fassungsprinzip der „Religionsfreiheit“ ersetzte. Das sowie ethnische und religiöse Gewalt nach dem Sturz Prinzip der „religiösen Harmonie“ besteht darin, dass von Präsident Suharto wurden nicht angesprochen. Prä- die Mehrheit das Vetorecht über die Minderheiten hat. sident Yudhoyono vermied auch eine Untersuchung der Seine Regierung richtete in jeder Provinz, Stadt und Re- UNO über Missbräuche in Osttimor. Er ließ nur rudimen- täre Gerichtsverfahren gegen einige örtliche Beamte zu, 2 https://www.hrw.org/news/2016/03/29/indonesia-persecution- ohne indonesische Militär- und Polizeigeneräle anzuge- gafatar-religious-group hen, die an den Plünderungen und Morden in Osttimor 3 https://www.theguardian.com/world/2016/dec/12/jakarta-gover- nor-ahoks-blasphemy-trial-all-you-need-to-know beteiligt waren. 6 Vorwort
Als Joko „Jokowi“ Widodo 2014 die Präsidentschaftswah- Reform wurde korrumpiert). Im Jahr 2019 protestierten len gewann, versprach er „vermisste Personen“, darunter Hunderttausende Studierende, indigener Bevölkerungs- den berühmten Dichter und Dissidenten Wiji Thukul, zu gruppen und Minderheiten, als das Parlament versuchte, finden und religiöse Toleranz zu fördern. Seine Regierung ein neues Strafgesetzbuch mit noch diskriminierende- organisierte 2015 ein Symposium über die Massaker von ren Paragraphen zu verabschieden, die Rechte verletzen 1965-69 und ließ politische Gefangene aus Papua und den würden. Einige indonesische Studierende begannen, den Molukken frei, aber er hörte an dieser Stelle auf. Er unter- Rassismus gegen die dunkelhäutige Bevölkerung Papuas nahm nichts, um diskriminierende Regelungen gegen wie die #BlackLivesMatter in den USA herauszufordern Frauen und Mädchen oder religiöse Minderheiten auf- und organisierten beispiellose Proteste gegen die Krimi- zuheben. Seine Regierung verhaftete bald darauf erneut nalisierung papuanischer Studierender und Aktivist*in- papuanische und molukkische Aktivist*innen und setz- nen. te damit die jahrzehntelange willkürliche Inhaftierung politischer Gefangener fort. Jokowi tolerierte auch die Zunahme diskriminierender Regelungen gegen LGBT (les- bische, schwule, bisexuelle und transsexuelle) Personen. Jokowi und seine Demokratische Partei des Kampfes Indonesiens (Partai Demokrasi Indonesia Perjuangan, PDIP) entschieden sich dafür, die Staatsideologie „Panca- sila“ zur Förderung der religiösen Toleranz einzusetzen. Die Pancasila war ein politischer Kompromiss, der während der Unabhängigkeitserklärung 1945 geschlossen wurde. Dieser Kompromiss beinhaltet fünf Prinzipien für Indo- nesien und wurde in die Präambel der Verfassung auf- genommen. Der erste Grundsatz ist, dass die Republik Indonesien auf „dem Glauben an den Einen und Einzigen Gott basiert, mit der Verpflichtung zur Einhaltung des is- lamischen Rechts für Anhänger des Islam“. „Die Religion darf sich unterscheiden, Freundschaften bleiben.“ Am 17. August 1945 argumentierten Delegierte aus Ost- © Andreas Harsono indonesien, zu denen Kalimantan, Sulawesi, Bali und die Molukken gehören, erfolgreich, dass der Scharia-Zusatz gestrichen werden müsse, da sie sich sonst Indonesien nicht anschließen würden. Andere muslimische Füh- rungspersönlichkeiten ließen sich auf den Kompromiss ein, dass die Pancasila lediglich den Ausdruck „Glaube an den einen Gott“ beinhaltet. Die Regime von Sukarno und Suharto benutzten den Be- griff Pancasila jedoch, um die Ausschaltung ihrer Gegner zu rechtfertigen. Suharto benutzte die Pancasila, um die Massenmorde zu legitimieren. Eine der größten Milizen Indonesiens benutzt die Pancasila in ihrem Namen. Es ist keine Überraschung, dass einige muslimische Orga- nisationen sich dem Vorhaben der PDIP widersetzen, ein Pancasila-Indoktrinationsgesetz einzuführen. Es ist offensichtlich nicht die Antwort auf die Beseitigung dis- © Andreas Harsono kriminierender Regelungen und den Schutz der Men- schenrechte. Die indonesische Führung muss aus den Versäumnissen Die Post-Suharto-Wahldemokratie hat dazu beigetragen, der letzten sieben Jahrzehnte bei der Nichtbeachtung die ethnische und religiöse Gewalt zu verringern, aber vergangener Menschenrechtsverletzungen lernen und die bürgerlichen Freiheiten, die Pressefreiheit, die Rechte verhindern, dass deren historische Lasten auf künftige der Frauen, die Rechte der Kinder, die Religionsfreiheit Generationen abgewälzt werden. und die Rechte der Minderheiten sind im Niedergang be- griffen. Andreas Harsono arbeitet für Human Rights Watch mit Sitz in Es sind einige zivilgesellschaftliche Bewegungen entstan- Jakarta und veröffentlichte kürzlich sein Buch Race, Islam and den, wie z.B. unter dem Hashtag #ReformasiDikorupsi (die Power: Ethnic and Religious Violence in Post-Suharto Indonesia. Vorwort 7
Rechenschaftspflicht verhandeln Straffreiheit von Massenverbrechen in Indonesien von Indria Fernida © KontraS Die 1998 nach dem Sturz des Suharto-Regimes einsetzende demokratische Öffnung sorgte zunächst dafür, dass Menschenrechte for- melle Anerkennung fanden. Dennoch ist bisher kein einziger Fall grober Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit erfolgreich strafrechtlich verfolgt worden. Dieses Versäumnis offenbart eine Systemschwäche und mangelnden politischen Willen, die zugleich Grundsteine der Straflosigkeit für aktuelle Menschenrechtsverletzungen sind. Vom Regime zur demokratischen Öffnung Übergangsjustiz Indonesien unter der Herrschaft von Suharto (1967-1998) Nach dem Sturz des Regimes fanden Menschenrechte for- war ein autoritäres Regime. Der Staat verfügte über weit- mell Anerkennung. Dies spiegelte sich sowohl in der Ge- reichende Befugnisse und setzte grobe Menschenrechts- setzgebung als auch in der Verfassung wider. Die Annah- verletzungen systematisch ein, um die Bevölkerung mit me des regulatorischen Rahmens einer Übergangsjustiz militärischer Gewalt zu kontrollieren und zu disziplinie- als Konzept erschien dabei zunächst als adäquate Antwort ren. Suharto kam an die Macht, nachdem im Zuge der so- auf die mit System und zunehmender Eskalation began- genannten „Bewegung vom 30. September 1965“ Millionen genen Menschenrechtsverletzungen des Regimes. Das von Menschen, die als Anhänger und Sympathisant*innen Konzept der Übergangsjustiz befasst sich mit den Themen der Kommunistischen Partei Indonesiens galten, willkür- Gerechtigkeit, Wahrheitssuche, Wiedergutmachung und lich hingerichtet und ohne jeden Prozess inhaftiert wor- die Förderung von Maßnahmen, die eine Nicht-Wieder- den waren. Mit ähnlichen Mitteln wie einst, später gegen holung von Menschenrechtsverletzungen garantieren sol- mutmaßliche linke Aktivist*innen, muslimische Extre- len. Dazu gehört das Streben nach staatlicher Rechen- mist*innen oder separatistische Gruppen in Aceh, Maluku schaftspflicht und die Anerkennung der Opfer sowie die oder West-Papua gerichtet, hielt er sich im Anschluss 32 Förderung des Friedensprozesses, der Versöhnung und der Jahre an der Macht. Demokratie. Diese Anerkennung kann im Einklang mit der Nachdem er bei der Bewältigung der regionalen Finanz- internationalen Konzeption von Menschenrechtsstandards krise in Asien, die Indonesien seit 1997 schwer belastete, gesehen werden, wonach der Staat die Pflicht hat, die Rech- versagt hatte, zwangen Massendemonstrationen Suharto te jede*r Bürger*in zu schützen. Bürgerliche Freiheiten, die 1998 schließlich zum Rücktritt. Um die Wirtschaft wieder während des Suharto-Regimes nie respektiert worden wa- in Gang zu bringen, beugte sich Indonesien in der Folge ren, wurden nun zu „verfassungsmäßigen Rechten“.1 internationalen Finanzagenturen und Gebern und eine Solche Errungenschaften bieten den Menschen jedoch Zeit des Übergangs hin zu einer demokratischeren Ge- nicht unbedingt Schutz. Sie bestätigen zwar, dass alle Re- sellschaft – eine Ära, die als „Reformasi“ bezeichnet wird pressionen, Verletzungen und Leiden wieder gutgemacht – trat ein. Der Reformasi-Prozess begann mit einer Phase werden müssen und dass jede Verletzung, Schädigung beträchtlicher Veränderungen des politischen und recht- oder jeder Missbrauch der individuellen Rechte und der lichen Systems. Mithin wurde eine Reihe von gesetz- lichen und institutionellen Reformen durchgeführt, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Einhaltung von 1 AJAR / KontraS (2018). Aceh Transitional Justice, Indonesia case study. Menschenrechtsstandards künftig gewährleisten sollten. https://asia-ajar.org/wp-content/uploads/2018/12/English-Indonesia- Case-Study.pdf 8 Bürgerliche & politische Rechte
sozialen Gerechtigkeit nach dem Gesetz bestraft werden indem sie eine Reihe von Untersuchungen einleitete, um sollte. Im ganzen Land leiden heute jedoch noch immer den Vorwürfen von Menschenrechtsverletzungen wäh- viele Opfer unter den Folgen früherer Menschenrechts- rend der Unruhen vom Mai 1998, einer Reihe systema- verletzungen, die sie unmittelbar erlebt haben. Gleichzeitig tischer Menschenrechtsverletzungen während der Zeit kommt es in Teilen Indonesiens, einschließlich Papua, im- der Militäroperationen (1989-1999) in Aceh und religiö- mer noch zu Menschenrechtsverletzungen. Viele Opfer ser Gemeinschaftskonflikte in Maluku und Kalimantan vergangener oder aktueller Menschenrechtsverletzun- nachzugehen. Die Regierung bemühte sich um die Ein- gen haben versucht, menschenrechtsbezogene Gesetze richtung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission und Institutionen zu nutzen. Trotz aller Bemühungen und um die Untersuchung der 1999 im Zuge des Referen- gelang es den Opfern bisher nicht, die Institutionen dazu dums in Osttimor begangenen Verbrechen. Darüber hi- zu bewegen, die vorgesehenen rechtlichen Verfahren ein- naus erließ der Staat einige Gesetze und Richtlinien, die zuleiten. die Menschenrechte anerkannten und zu grundlegenden Nur knapp ein gutes Jahr nach dem Abgang des alten Menschenrechtsprinzipien werden ließen. Regimes setzte Indonesien ein umfassendes Menschen- Zweitens die Phase der kompromittierten Mechanismen rechtsgesetz (Nr. 39/1999) in Kraft und richtete einen Ge- (2001-2006), während derer die Regierung die von ihr richtshof für Menschenrechte ein. Zu diesem Zeitpunkt hat selbst etablierten Rechenschaftsmechanismen zutiefst der UN-Sicherheitsrat bereits die Empfehlung ausgespro- kompromittierte: die Menschenrechtsgerichte und das chen, dass Indonesien die Gelegenheit nutzen sollte, je- nationale Gericht für Übergangsjustiz (TRC). Insbeson- de*n Bürger*in, der*die für Menschenrechtsverletzungen dere der Menschenrechtsgerichtshof agierte schwach verantwortlich ist, vor Gericht zu stellen. Im Oktober 1999 und wenig eindeutig. Die Prozesse, bei denen letztlich dann verabschiedete die Regierung eine Verordnung, mit alle Täter freigesprochen wurden, wirkten wie eine Hülle der ein Mechanismus zur Untersuchung und Verfolgung strafrechtlicher Rechenschaftspflicht. Nicht zuletzt kipp- grober Menschenrechtsverletzungen geschaffen wurde, te das Verfassungsgericht das Gesetz der Übergangs- die nun als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gerichtsbarkeit und schaffte damit den Gerichtshof für Völkermord (mit Ausnahme von Kriegsverbrechen) defi- Übergangsjustiz ab. niert wurden. Drittens, der Reformstau (2007-2011): Dieser war faktisch Ein weiteres, 2014 verabschiedetes Gesetz widmet sich insbesondere durch die Rückkehr pensionierter Mili- dem Schutz von Zeug*innen und Opfern (Gesetz Nr. tärkommandeure auf die nationale politische Bühne 13/2014). Darin finden Opferrechte wie das Recht auf gekennzeichnet, welche etlicher grober Menschenrechts- Restitution, Rehabilitation, Entschädigung, Genugtuung verletzungen verdächtigt werden. Obwohl Komnas HAM und Nicht-Wiederholung von Menschenrechtsverletzun- weiterhin glaubwürdige Untersuchungen durchführte gen umfassende Anerkennung. Gemäß dieses Gesetzes und weitere offizielle Untersuchungen empfahl, wurde allerdings werden Wiedergutmachungen nur dann ge- bisher keiner von ihnen vor den Sondergerichtshof für leistet, wenn ein Gericht eine Menschenrechtsverletzung Menschenrechte gestellt. Die Staatsanwaltschaft (AGO), anerkannt hat. Die nationale Zeugen- und Schutzbehörde die für die Anklageerhebung zuständig ist, weigerte sich, (LPSK) kann jedoch in dringenden Fällen auf der Grund- die Fälle vor Gericht zu bringen. Genauso wenig gibt es lage einer Empfehlung der nationalen Menschenrechts- Anzeichen dafür, dass ein weiterer Gesetzesentwurf zur kommission (Komnas HAM) über den «rechtlichen Status Etablierung eines neuen Gerichtshofs für Übergangsjustiz einer Person als Opfer» Überweisungen an gesundheitli- dem Parlament vorgelegt werden könnte. Die Bemühun- che und psychosoziale Dienste vornehmen. gen, einen Wahrheitsfindungsprozesses für vergangene Menschenrechtsverletzungen in Aceh und Papua, den Enttäuschte Reformen beiden Regionen, die besonders unter Menschenrechts- Das Internationale Zentrum für Übergangsjustiz (ICJ) verletzungen durch die Sicherheitskräfte gelitten haben, und die Kommission für Verschwundene und Gewalt- einzurichten, stoßen ebenso auf verschlossene Türen. opfer (KontraS) identifizieren seit Mai 1998 drei Phasen der Reformasi.2 Innerhalb der drei Phasen – bedeutsamer Wandel, kompromittierte Mechanismen und Reformstau – ist ein kontinuierlicher Rückgang im angemessenen Umgang mit Menschenrechtsverletzungen zu erkennen. Erstens ging die Reformasi in der Phase des bedeutsamen Wandels (1998-2000) sowohl mit anhaltenden gewalt- samen Konflikten in mehreren Bereichen als auch mit einem klaren politischen Bekenntnis zur Übergangsjus- tiz (Wahrheitsfindung, Bestrafung der Täter*innen und Gewährleistung der Nicht-Wiederholung) einher. Es gab neue und alte gewaltsame Konflikte in Osttimor, Aceh, Sampit (Kalimantan), Maluku und Poso (Sulawesi). Die Zentralregierung reagierte jedoch rasch auf das Problem, Studierende demonstrieren gegen Straflosigkeit. 2 Derailed: Transitional Justice in Indonesia since the Fall of Soeharto: © KontraS https://www.ictj.org/sites/default/files/ICTJ-Kontras-Indonesia- Derailed-Report-2011-English_0.pdf Bürgerliche & politische Rechte 9
Rechenschaftspflicht verhandeln Personen empfohlen, dringende Reparationen, d.h. eine Nach der Reformasi hat Indonesien durch die Arbeit von Sofortmaßnahme zur Bereitstellung von Nothilfen, zu Komnas HAM, der Kommission gegen Gewalt gegen Frau- erhalten.5 Aktuell bereitet sie einen Versöhnungsprozess en (Komnas Perempuan) und der Opfer- und Zeugenschutz- an der Basis für Zentral-Aceh vor, einem der angespann- organisation LPSK einige Fortschritte im Bereich der testen Distrikte während des Konflikts. Dieser musste Rechenschaftspflicht gemacht. In mehr als zwei Jahrzehn- jedoch wegen der COVID-19-Pandemie verschoben wer- ten hat die indonesische Regierung jedoch kein starkes den. Der für Ende 2021 geplante Abschlussbericht wird Engagement gezeigt, die Wahrheit über die weithin von Empfehlungen für umfassende Wiedergutmachungs- staatlichen Akteur*innen ausgeübte Gewalt anzuerken- maßnahmen und institutionelle Reformen beinhalten. nen oder die Täter*innen strafrechtlich zu verfolgen, Wie- Im Einklang mit dem Sonderautonomiegesetz für Papua dergutmachung anzubieten und eine Wiederholung von von 2001 wurde, zumindest formell, eine weitere Wahr- Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. heits- und Versöhnungskommission geschaffen. Die Be- mühungen um deren tatsächliche Arbeitsaufnahme indes- Abwesenheit der offiziellen Wahrheit, inoffizielle sen sind aktuell nahezu zum Stillstand gekommen. Wahrheitssuche geduldet Trotz der fehlenden staatlichen Anerkennung setzen zi- Im Jahr 2004 wurde ein Gesetz zur Einrichtung einer na- vilgesellschaftliche Gruppen ihre Bemühungen fort, die tionalen Wahrheits- und Versöhnungskommission ver- Wahrheit aufzudecken. Hierfür nutzen sie Prozesse der abschiedet. Zivilgesellschaft und Opfergruppen strebten Wahrheitsfindung und öffentliche Kampagnen. So führ- eine gerichtliche Anfechtung derjenigen Artikel an, die te die Coalition of Justice and Truth – ein Bündnis von von den Opfern verlangten, den Täter*innen zu vergeben, NGOs, Wissenschaftler*innen und einer Opfergruppe um Anspruch auf Wiedergutmachung zu erhalten. Ende – 2013 eine eigene Wahrheitsuntersuchung durch. Inner- 2006 folgte das indonesische Verfassungsgericht diesem halb eines Jahres, das als „Jahr der Wahrheit“ bezeichnet Einwand. Allerdings erklärte es gleich das gesamte Ge- wird, brachten in einer Reihe von Anhörungen Opfer, setz für verfassungswidrig und kippte es – eine Nieder- Überlebende und deren Familienangehörige aus dem lage im Kampf gegen die Straflosigkeit. ganzen Land zusammen, damit diese über das erfahrene Erfolgreich indessen waren Untersuchungen, die Teil- Leid aussagen können.6 Im Ergebnis definierte die Koali- wahrheiten offen legten. So führte eine Unterkommission tion sechs Säulen, auf denen eine verfassungsrechtliche der Frauenmenschenrechtsorganisation Komnas Peremp- Zusammenarbeit hinsichtlich der Aufarbeitung vergan- uan eine Untersuchungen zu geschlechtsspezifischen gener Menschenrechtsverletzungen ruhen sollte. Diese Verletzungen durch, die während der Machtergreifung sind: Durchsetzung der Integrität Indonesiens als Rechts- Suhartos 1965 sowie in den bewaffneten Konfliktzonen staat, Offenlegung der Wahrheit und Anerkennung der von Aceh und Papua begangen wurden.3 Wahrheit, Wiederherstellung der Würde und Existenz- In ähnlicher Weise richteten die Regierungen von Ti- grundlage der Opfer, Bildung und öffentlicher Dialog zur mor-Leste und Indonesien 2008 eine bilaterale Kommis- Versöhnung, Verhinderung einer Wiederholung durch sion für Wahrheit und Freundschaft ein. Die Kommission institutionelle und politische Reformen und aktive Betei- stellte fest, dass während des Referendums 1999 Verbre- ligung von Opfern und Überlebenden. chen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen Im Jahr 2015 organisierte ein Zusammenschluss von begangen wurden und dass die indonesischen Sicher- Menschenrechtsgruppen aus Europa und Indonesien heitskräfte und ihre Hilfstruppen systematische Men- ein internationales Volkstribunal in Den Haag. Auf der schenrechtsverletzungen begangen haben.4 Grundlage von Opfer- und Zeug*innenaussagen des Einige acehnesische zivilgesellschaftliche Akteur*innen Massakers von 1965 kam die beteiligte Gruppe inter- drängten jedoch weiterhin auf die Einrichtung einer nationaler Jurist*innen zu dem Schluss, dass es sich bei Wahrheits- und Versöhnungskommission mit einem auf dem Massaker eindeutig um ein Verbrechen gegen die der Provinzebene angesiedelten Gesetz (Qanun), wie es Menschlichkeit handele und dieses den Tatbestand des das Friedensabkommen von 2005 eigentlich verspricht. Völkermords erfülle.7 Bereits 2009 legten sie einen Entwurf für einen Qanun Eine Vielzahl weiterer Initiativen widmet sich sowohl mit zur Einrichtung einer lokalen Kommission für Aceh vor. künstlerischen Mitteln als auch mit der Aufzeichnung Das Gesetz zur Einrichtung der Wahrheits- und Versöh- und Bewahrung von Zeitzeug*innenberichten der Wahr- nungskommission von Aceh wurde schließlich 2013 als heitssuche und einer angemessenen Erinnerungskultur. Qanun über die Wahrheits- und Versöhnungskommis- Gerechtigkeit verzögert ist Gerechtigkeit verweigert sion von Aceh verabschiedet (Quanun Nr. 17/2013). Drei Jahre später, im Oktober 2016, nahm die Wahrheits- und Bereits 1999 erhielt KomnasHAM die Befugnis, Unter- Versöhnungskommission ihre Arbeit auf. Die Kommis- suchungen über Verbrechen gegen die Menschlichkeit sion hat bis heute Aussagen von mehr als 4.000 Opfern und Völkermord durchzuführen. Im Jahr 2000 richtete aufgenommen und drei öffentliche Anhörungen durch- Indonesien einen Menschenrechtsgerichtshof ein, um geführt. Bis dato wurden der Regierung von Aceh 244 5 AJAR / Transitional Justice Asia Network, Webinar discussion: Les- 3 Victims as survivors: a report and documentation on the situation son from transitional justice efforts in Nepal, Aceh and Asia region, of Aceh women refugees Aceh (2006); Listening a voices of women a presentation of Afridal Darmi, a chair of Aceh TRC (17.06.2020) victims of 1965 (2007), Stop! Papuan women victims of violence and 6 Final report of the Year of Truth: Reclaiming Indonesia https://asia- human rights violations 1963-2009 (2009) ajar.org/2016/02/menemukan-kembali-indonesia/ 4 http://www.chegareport.org/wp-content/uploads/2014/10/CTF- 7 Das Urteil des internationalen Menschenrechtstribunals: https:// report-English-Version.pdf www.tribunal1965.org/en/tribunal-1965/tribunal-report/ 10 Bürgerliche & politische Rechte
über Fälle von Völkermord und Verbrechen gegen die „Wiedergutmachung“ und ausbleibende Menschlichkeit zu verhandeln. Die nationale Menschen- Rehabilitierung der Opfer rechtskommission ist befugt, selbst Fälle zu untersu- Die größte Herausforderung bei der Gewährung von chen und anschließend an den Generalstaatsanwalt zu Wiedergutmachung besteht darin, dass die Wiedergut- übergeben. Der Menschenrechtsgerichtshof durfte Fälle machung nur durch eine Entscheidung eines Gerichts rückwirkend (d.h. Fälle, die vor der Verabschiedung des erfolgen kann. Nach dem Gesetz Nr. 13/2014 über den Gesetzes von 2000 stattfanden) mit Zustimmung des Schutz von Zeug*innen und Opfern von Menschen- Parlaments verhandeln.8 rechtsverletzungen können Institutionen jedoch auf der Drei Fälle von Verbrechen gegen die Straflosigkeit wur- Grundlage einer Empfehlung von Komnas HAM über den vor Gericht gebracht und Ad-hoc-Gerichte wurden den „rechtlichen Status einer Person als Opfer“ Über- eingerichtet, um zwei weitere Fälle zu verhandeln: die weisungen für dringende gesundheitliche und psychoso- Gewalt im Zusammenhang mit dem Referendum in Ost- ziale Dienste vornehmen. Ohne ihren Rechtsstatus haben timor (1999) und ein Massaker, das in Tanjung Priok, Opfer von Menschenrechtsverletzungen keinen Zugang Nord-Jakarta, stattfand (1984). Der letzte Fall, der vor dem zu den Diensten der LPSK. Menschenrechtsgerichtshof verhandelt wurde, war der Tatsächlich ist es für die Opfer im Rahmen der Umset- Fall Abepura in Papua über Folter und außergerichtliche zung nach wie vor schwierig, Schutz zu erhalten. Dies gilt Tötung von Papuas durch indonesische Sicherheitskräfte insbesondere für die Opfer schwerer Menschenrechts- (2001). verletzungen. So ist beispielsweise der Zugang zu me- Obwohl eine kleine Anzahl niederrangiger Angehöriger dizinisch-psycho-sozialen Dienstleistungen, wie sie die der Sicherheitskräfte zu kurzen Haftstrafen verurteilt Opfer- und Zeugenschutzorganisation LPSK empfehlen wurde, ist kein einziger Fall grober Menschenrechtsver- kann, nur für sechs Monate gültig. Die Gewährung von letzungen der Vergangenheit erfolgreich strafrechtlich medizinischen und psychologischen Hilfen ist damit nicht verfolgt worden. Obwohl der Menschenrechtsgerichtshof nachhaltig gesichert. Gleichzeitig führt die mangelnde auf dem Papier immer noch existiert, haben aufeinander- Anerkennung der Opfer dazu, dass die Diskriminierung folgende Generalstaatsanwälte die Überweisungen der der Opfer weitergeht, ohne dass Anstrengungen zu ihrer Menschenrechtskommission systematisch ignoriert und Rehabilitierung unternommen werden. die mit der Weiterverfolgung dieser Untersuchungen be- auftragte Einheit aufgelöst. Bisher hat die Nationale Menschenrechtskommission in zwölf Fällen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit Ad-hoc-Untersuchungen pro justicia durchgeführt.9 Sie empfahl eine strafrechtliche Untersuchung und strafrecht- liche Verfolgung, aber die Generalstaatsanwaltschaft lehn- te weitere Untersuchungen mit der Begründung ab, die Akten seien unvollständig und nicht ausreichend beweis- kräftig, was Komnas HAM bestritt. Seit 2008 weigert sich die Generalstaatsanwaltschaft, Fälle grober Menschenrechtsverletzungen der Vergan- genheit aufzugreifen und zu verfolgen. Mehr noch, jeder Regierungschef seither lässt auf eine Reaktion auf diesen Zustand warten. Während die nationale Menschenrechts- kommission Komnas HAM und die Generalstaatsanwalt Kamisan-Demonstrantin mit der Forderung, die Semanggi-Tragödie-II eine Reihe von Gesprächen hierzu geführt haben, blei- vom 24.09.1999 aufzuarbeiten. © KontraS ben konkrete Maßnahmen zur Besserung der Situation weiterhin aus. Dieses Versäumnis, für Gerechtigkeit zu Zivilgesellschaftliche Initiativen sorgen, offenbart eine systematische Schwäche der Justiz Da es keine offizielle Anerkennung und Unterstützung und einen Mangel an politischem Willen in der Verwal- seitens der Regierung gibt, setzen Opferverbände und zi- tung. Zusammen mit der Weigerung der Generalstaats- vilgesellschaftliche Wiedergutmachungsinitiativen ihre anwaltschaft, die Untersuchungsergebnisse von Komnas Bemühungen fort. Dies ist dringend erforderlich, denn HAM in anderen Fällen weiterzuverfolgen, zeigte sich die Überlebenden leiden weiterhin unter ihren Traumata jede Regierung seither wenig interessiert daran, Gerech- und anderen langfristigen Auswirkungen der Vergehen, tigkeit für frühere schwere Menschenrechtsverletzungen wie gesundheitliche Schäden, gestörte soziale Beziehun- herzustellen. gen und Armut. In etlichen Regionen setzen sich Initiativen und Überle- 8 Human Rights Law (Law No. 39 of 1999) and a Human Rights Court bende dafür ein, dass lokale Regierungen den Opfern Hil- Law (Law No. 26 of 2000) fe und soziale Dienste zur Verfügung stellen. Dies führte 9 Die 12 Fälle sind: Erschießungen von Studenten in Trisakti und beispielsweise im Jahr 2002 dazu, dass der Gouverneur Semanggi I und II (1998-1999); der Fall Paniai in Papua (2014); die Fälle Wasior (2001-2002) und Wamena (2003) in Papua; die Unruhen von Aceh ein Entschädigungsprogramm für die Familien im Mai (1998); das Verschwinden von Aktivisten (1997-1998); der der getöteten oder verschwundenen Personen initiierte, Talangsari-Fall (1989); Massentötungen (1982-1985); die Gräueltaten das sich auf die islamische Tradition stützt und als Diyat von 1965-66; drei Fälle in Aceh namens Jambo Keupok, Aceh (2003), Simpang KKA (1999), Rumah Geudong (1989-1998) und Banyuwangi- bekannt ist. Im Rahmen dieses Programms wurde den Morde an Schamanen (1998). Opfern des Konflikts in Aceh ein kleiner Zuschuss ge- Bürgerliche & politische Rechte 11
währt. Ein weiterer Durchbruch waren die Initiativen des pen, die ihre Gemeinden, ihr Land und ihren kulturel- Bürgermeisters von Palu in Zentralsulawesi im Jahr 2013. len Stolz verteidigen, sowie gegen Journalist*innen und Er entschuldigte sich in einer beispiellosen Weise bei den Blogger*innen, die sich für die Menschenrechte einset- Opfern der Gräueltaten von 1965-1966, die in seiner Stadt zen, ist gegenwärtig an der Tagesordnung. lebten, und erließ ein spezielles Dekret zur Anerkennung Viele indonesische Menschenrechtsverteidiger*innen sind der Opfer und zur Bereitstellung von medizinischer Ver- überdies in zunehmendem Maße Drohungen, Schikanen, sorgung und grundlegenden Hilfen. Einschüchterungen, ungerechtfertigter Strafverfolgung Bei den Bemühungen um Wahrheit und Gerechtigkeit und Verleumdung ausgesetzt. spielen die Überlebenden und ihre Unterstützer*innen weiterhin eine aktive Rolle, indem sie ihre Forderungen Schlussfolgerung und Empfehlung immer wieder öffentlich zu Gehör bringen. So gibt es Mehr als zwei Jahrzehnte nach der Reformasi erweisen sich jeden Donnerstag eine Mahnwache vor dem Präsiden- die verschiedenen Gesetze und Verordnungen, in denen tenpalast in Jakarta. Diese Initiative mit dem Namen Menschenrechtsnormen eingeschriebenen sind, als zahn- „Kamisan“ existiert seit 2007. Gegenwärtig wird Kami- lose Tiger, wenn es um deren Umsetzung geht. Dies ist vor san aufgrund der Pandemie-Situation auf eine Kampag- allem deshalb so, weil es der Regierung an politischem ne in den sozialen Medien verlagert. Solcherlei Aktionen Willen im Umgang mit den Menschenrechtsverletzungen sind derzeit auch in anderen Regionen Indonesiens weit der Vergangenheit fehlt. Sie ernennt weiterhin Staatsbe- verbreitet und erreichen viele Unterstützer*innen. Eine amte, die in Verbindung mit Menschenrechtsverletzungen weitere bedeutende Initiative stellt die in Ostjava ansäs- stehen und im Dienst stehende Beamt*innen werden we- sige Omah-Munir-Stiftung dar. Sie gründete 2014 das der überprüft noch offensichtlich belastete Mitarbeiter*in- Menschenrechtsmuseum Omah Munir. Munir war ein nen aus dem Dienst entfernt. Insgesamt erscheint es so, prominenter Menschenrechtsverteidiger, der 2004 von dass die Umsetzung von Menschenrechtsnormen politi- einer staatlichen Behörde vorsätzlich ermordet wurde. schen Interessen zum Opfer fällt und die Wirkkraft ihrer Auch wenn die Hintergründe des Falles nicht geklärt gesetzlichen Verankerungen damit begrenzt bleibt. sind, fand die Einrichtung des Menschenrechtsmuseums Straflosigkeit ist so zu einem Vermächtnis geworden, das bei der lokalen Regierung Befürwortung. Anlässlich des in einer Bandbreite von Bereichen weiter wirkt. Allem Jahrestages von Munirs Geburtstag am 8. Dezember 2019 voran in Bezug auf die weiterhin verübten Menschen- gab der Gouverneur von Ostjava den Startschuss für den rechtsverletzungen, einschließlich derer, die sich gegen Bau des Munir-Menschenrechtsmuseums in Batu, der Menschenrechtsverteidiger*innen richten. Heimatstadt Munirs. Das Museum wird von einer unab- Es ist jedoch noch nicht alles verloren. Die Zivilgesell- hängigen Gruppe geleitet, die sicherstellen möchte, dass schaft in Indonesien ist ein Schlüssel in der Durchsetzung das Vermächtnis Munirs nachfolgende Generationen der Rechenschaftspflicht. Die Opfer der massenhaften Ver- dazu inspirieren wird, für die Aufklärung, Wiedergut- stöße gegen die Menschenrechte stehen bei der Durch- machung und Verhinderung von Menschenrechtsverlet- setzung von Gerechtigkeit auch keineswegs alleine da. zungen einzutreten. Trotz anhaltender politischer Zwänge und Leugnung der Massenvergehen seitens offizieller Stellen nutzen sie in- Keine Reform der Institutionen: anhaltende novative Ansätze, um die Rechenschaftspflicht vom Staat Verletzungen und Konflikte einzufordern und eine „Narrativ der Wahrheit“ in der Indonesiens Polizei wurde von der Armee abgetrennt Gesellschaft zu verankern. und unter zivile Kontrolle gestellt (1999) und dem Militär Die Realisierung von Menschenrechten gehört zu einem wurden seine festen Sitze im Parlament aberkannt (2004) der wichtigsten Grundsätze demokratischer Staatsfüh- – zwei wichtige Meilensteine, die in den ersten Jahren der rung. Die indonesische Regierung täte gut daran, sich Reformasi erreicht wurden. Weiterhin wurde das Militär- auf die Verfassung zu besinnen und Menschenrechts- gesetz dahingehend geändert, dass es dem Militär fortan normen ernst zu nehmen. Die Förderung und der Schutz untersagt war, eigene Unternehmen zu besitzen. Auch ver- der Menschenrechte, sowohl im Bereich der bürgerlichen sucht das Gesetz der gängigen Praxis von Militärangehö- und politischen Rechte als auch der wirtschaftlichen, so- rigen im privaten Sektor tätig zu sein, ein Ende zu setzen. zialen und kulturellen Rechte, ist ein Muss. Die Bemühungen um eine Reform des Sicherheitssektors Die internationale Gemeinschaft und die Vereinten Natio- standen jedoch von Anfang an vor zahlreichen Heraus- nen äußern immer wieder ihre Sorge, dass das Menschen- forderungen. Die Militärgerichte nämlich sind nach wie rechtsproblem in Indonesien noch nicht gelöst ist. Mit vor unabhängig von jeglicher externer Aufsicht, während anhaltender internationaler Unterstützung, kontinuierli- die internen polizeilichen und militärischen Mechanis- chem Druck und dem Anmahnen der Rechenschaftspflicht men zur Untersuchung von Verstößen weiterhin kaum endlich genüge zu tun, kann es gelingen, die indonesische genutzt werden. Personal, das mit schweren Verbrechen Regierung daran zu erinnern, dass dieses Thema keine in Verbindung steht, einschließlich des Personals, das vor verhandelbarer Tagesordnungspunkt sein darf. Denn die Menschenrechts- oder Militärgerichten dem Täterkreis Opfer und Überlebenden von Menschenrechtsverletzun- zugeordnet wird, dient weiterhin, wird befördert und gen warten noch immer auf Wahrheit und Gerechtigkeit. tritt ohne jegliche Überprüfung in Wahlämter ein. Gleichzeitig wird vor allem in Papua weiterhin mit Polizei- Indria Fernida arbeitet als Regionalkoordinatorin für Asia Justice brutalität gefoltert und Sicherheitskräfte wenden exzessive and Rights (AJAR), einer gemeinnützigen Organisation, deren Ziel es ist, zur Stärkung der Menschenrechte und zur Linderung der tief Gewalt an. Gewalt gegen Menschen- und Frauenrechts- verwurzelten Straflosigkeit in der asiatisch-pazifischen Region bei- aktivist*innen, Arbeiter- und Bauernvertreter*innen, Kor- zutragen. Sie ist auch Expertenmitglied des Asiatischen Netzwerks ruptionswächter*innen und Führer*innen indigener Grup- für Übergangsjustiz (TJAN). 12 Bürgerliche & politische Rechte
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