Menschenrechte in Indonesien und Timor-Leste - Themenheft Watch Indonesia! (Hg.)

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Menschenrechte in Indonesien und Timor-Leste - Themenheft Watch Indonesia! (Hg.)
Themenheft

Menschenrechte
in Indonesien und Timor-Leste
2020
                 Watch Indonesia! (Hg.)
Menschenrechte in Indonesien und Timor-Leste - Themenheft Watch Indonesia! (Hg.)
Themenheft: Menschenrechte in Indonesien und Timor-Leste 2020
Watch Indonesia!
Für Menschenrechte, Demokratie und Umwelt in Indonesien und Osttimor e.V.
Urbanstr. 114, 10997 Berlin
V.i.S.d.P.: Christine Holike
Redaktion: Christine Holike, Nedim Sulejmanović, Nils Utermoehlen
Korrektorat & Satz: Eva Streifeneder

Gedruckt auf 100% Recyclingpapier.

Titelfoto: © Chaideer Mahyuddin
Konfliktopfer demonstrieren vor dem Parlamentsgebäude der Provinz Aceh. Sie fordern die Verabschiedung einer Ver-
ordnung zur Einrichtung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission. 10.000 bis 30.000 Menschen verloren infolge des
Konflikts ihr Leben, größtenteils Zivilist*innen.

© Watch Indonesia! e.V. 2020
Menschenrechte in Indonesien und Timor-Leste - Themenheft Watch Indonesia! (Hg.)
Inhalt

                                                                                                   © Andreas Harsono

Editorial ________________________________________________________________________________________________ 3

Vorwort
Menschenrechtsverletzungen im Post-Suharto Indonesien _____________________________________________________ 5
(Andreas Harsono)

Bürgerliche & politische Rechte
Straffreiheit von Massenverbrechen in Indonesien – Rechenschaftspflicht verhandeln _____________________________ 8
(Indria Fernida)

Die Rückentwicklung von bürgerlichen Freiheiten und Demokratie in Indonesien _______________________________ 14
(Asfinawati)

Die ambivalente Beziehung zwischen Staat und indigenen Religionen _________________________________________ 19
(Anna Soetomo)

Pressefreiheit unter Druck _______________________________________________________________________________ 22
(Ratna Ariyanti)

Der wachsende Einfluss des Militärs ______________________________________________________________________ 25
(TAPOL)

Geschlecht, Sexualität & Geschlechtsidentität
Die Weigerung, irgendwen zurückzulassen – LGBT-Gemeinschaften in Indonesien unter COVID-19 _______________ 28
(Ferdiansyah Thajib)

Sexualisierte Gewalt – ein schwieriges Thema für die indonesische Gesellschaft ________________________________ 30
(Mariana Amiruddin)

Religiöser Fundamentalismus gefährdet Frauenrechte _______________________________________________________ 34
(Lies Marcoes)

                                                                                                              Inhalt   1
Menschenrechte in Indonesien und Timor-Leste - Themenheft Watch Indonesia! (Hg.)
Beseitigung von Menschenrechtsverletzungen an Arbeitsmigrantinnen
    – Die Notwendigkeit, über Rechtsinstrumente hinauszugehen ________________________________________________ 37
    (Dinda Nuur Annisaa Yura)

    Umwelt & Menschenrechte
    Jakarta – Stadtplanung ohne die Bevölkerung ______________________________________________________________ 41
    (Dandhy Dwi Laksono)

    Neue Hauptstadt, alte Fehler _____________________________________________________________________________ 45
    (Dandhy Dwi Laksono)

    „Save Kendeng“ – Der anhaltende Widerstand gegen die Errichtung einer Zementfabrik
    im Kendeng-Karstgebirge ________________________________________________________________________________ 47
    (Josephine Sahner)

    Westpapua
    Das Narrativ der Sicherheit und seine Auswirkungen auf die Menschenrechtssituation in Papua __________________ 50
    (Elvira Rumkabu)

    #PapuanLivesMatter-Bewegung als Chance für den Schutz der Menschenrechte in Westpapua ___________________ 53
    (Barbara Hillebrand)

    Aceh
    Die Vergangenheit in der Gegenwart – Der lange Kampf für Gerechtigkeit in Aceh ______________________________ 56
    (Evi Narti Zain)

    Timor-Leste
    Die vergessenen Märtyrerinnen von Timor-Leste ___________________________________________________________ 60
    (Maria Manuela Leong Pereira)

2   Inhalt
Menschenrechte in Indonesien und Timor-Leste - Themenheft Watch Indonesia! (Hg.)
Editorial

                                                                                                         © Leona Pröpper

Große Hoffnungen wurden 2014 in den Amtsantritt des          blierung von wirksamen Versöhnungsmechanismen für
amtierenden indonesischen Präsidenten Joko Widodo, bes-      die Massaker von 1965-66 und die massiven Menschen-
ser bekannt als „Jokowi“, gelegt. Zuvor begeisterte er mit   rechtsverletzungen, die im Zuge des beinahe 30-jährigen
seinem Wahlkampf all jene Indonesier*innen, die an eine      bewaffneten Konflikts in Aceh (1976-2005) begangen wur-
Fortführung der 1998 initiierten Reformasi, die eine um-     den, bleiben aus. Bei bereits wegen ihrer sexuellen Orien-
fassende demokratische Öffnung beinhaltete, glaubten.        tierung und Geschlechteridentifikation marginalisierten
Jokowi nährte den Glauben in der Bevölkerung an die Ver-     Menschen wird mit hasserfüllter Rhetorik, diskriminie-
wirklichung der Menschenrechte und die Überwindung           renden Gesetzen und Äußerungen durch Beamte ein be-
der Straflosigkeit – nicht nur für vergangene Gräueltaten,   drohliches Klima geschaffen. Ohnehin weit verbreitete
die während des Suharto-Regimes (1966-1998) traurige         Angriffe gegen sie häufen sich umso mehr.
Normalität waren, sondern auch für jene, die noch folgten.   In Timor-Leste wirken sich die Folgen der Menschen-
Bereits zu Beginn seiner zweiten Amtszeit 2019 galt Jo-      rechtsverletzungen während der indonesischen Besetzung
kowi jedoch schon als „kleineres Übel“ gegenüber sei-        (1975-1999) auch auf die aktuelle Menschenrechtssituation
nem Rivalen im Präsidentschaftswahlkampf, Prabowo            des Landes aus. Die Opfer der während der Besatzungs-
Subianto, dem unehrenhaft aus der Armee entlassenen          zeit verübten Menschenrechtsverbrechen warten nach
Ex-General, welchem Menschenrechtsverbrechen nach-           wie vor auf eine angemessene Wiedergutmachung. Über-
gesagt werden. Denn entgegen seiner Versprechungen ist       lebende Frauen und Mädchen, die neben systematischen
es heute schlechter um die Menschenrechte bestellt als       Vergewaltigungen und sexueller Sklaverei auch erzwun-
zu Zeiten seiner Vorgänger*innen Yudhoyono (2004-2014)       genen Sterilisationen, Abtreibungen und Verhütungen
und Megawati (2001-2004).                                    ausgesetzt waren, haben mit Stigmatisierung und sozialer
Joko Widodos Unterstützung der Menschenrechte in den         Ausgrenzung zu kämpfen.
Wahlkämpfen 2014 und 2019 erweist sich als rhetorische
Übung. Seine bisherigen sechs Amtsjahre haben nicht          Im Schatten der Pandemie
zu sinnvollen politischen Initiativen geführt und wichti-    Bereits vor der COVID-19-Pandemie lancierte die indo-
ge Vorhaben bezüglich der Vergangenheitsaufarbeitung         nesische Regierung zahlreiche Gesetzesvorhaben mit
verschleppt. Die Versäumnisse der Menschenrechtspoli-        zumindest fragwürdigen Auswirkungen auf die Men-
tik sind breit gestreut. Religiöse Minderheiten sind wei-    schenrechte. Sie untergraben nicht nur individuelle Frei-
terhin Schikanen, Einschüchterungen und Gewalt durch         heits- und Frauenrechte sowie den staatlichen Schutz
Regierungsbeamte und Sicherheitskräfte ausgesetzt. Die       marginalisierter Gruppen weitreichender als bisher, son-
Pressefreiheit ist mehr denn je in Gefahr. Von der pre-      dern ordnen Menschenrechte und Umwelt einem zwei-
kären Lage in Papua können ausländische Medien nicht         felhaften Wirtschaftsparadigma unter.
vor Ort berichten, da ihnen durch indonesische Behörden      Grassierende Straflosigkeit, vor allem in der Palmöl-
der Zugang unter dem Vorwand einer bedrohten Sicher-         wirtschaft und dem Bergbau, die brutalen Menschen-
heitslage verwehrt wird. Indonesische Sicherheitskräfte      rechtsverletzungen in Westpapua sowie die schleichende
werden nur selten für ernsthafte Menschenrechtsverfeh-       Remilitarisierung von Politik und Bürokratie stellen die
lungen zur Rechenschaft gezogen. Die versprochene Eta-       indonesische Zivilgesellschaft, Menschenrechtsverteidi-

                                                                                                               Editorial   3
Menschenrechte in Indonesien und Timor-Leste - Themenheft Watch Indonesia! (Hg.)
ger*innen und Umweltschützer*innen ohnehin vor große         ten Strafrechtsreform, könnten diese Last weiter erhöhen.
    Herausforderungen. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass im     Gleichzeitig treffen Krisensituationen wie die Corona-Pan-
    Schatten der COVID-19-Krise Tatsachen geschaffen wer-        demie oder die Lage in Westpapua diese Gruppen häufig
    den sollen, welche Menschenrechte und Demokratie noch        am härtesten.
    weiter aushöhlen. Das erst Anfang Oktober verabschie-        Es gilt aber auch: Frauen und die indonesische Frauen-
    dete „Omnibusgesetz zur Schaffung von Arbeitsplätzen“        bewegung demonstrieren eine enorme Widerstandskraft
    ist einer der ersten Belege hierfür. Nachdem öffentlicher    und mit Blick auf die Realisierung von Menschenrechten
    Protest aufgrund von breit angelegten Maßnahmen zur          und Demokratie, kann man sie getrost als Motor der Ver-
    Eindämmung von COVID-19 kaum mehr möglich war,               änderung bezeichnen. Einige ihrer Stimmen sind hier
    verabschiedete das Parlament einen Änderungskatalog          versammelt.
    für mehr als 70 Gesetze hinter dem Rücken von Gewerk-        Auch das Thema Umwelt ist stark vertreten. Der Zusam-
    schaften und pro-demokratischen zivilgesellschaftlichen      menhang ist offensichtlich: Die Klimakatastrophe rollt
    Initiativen. Das Gesamtpaket untergräbt das Arbeitsrecht     unaufhaltsam auf Indonesien zu und verantwortungs-
    genauso wie Umweltstandards und die Entscheidungs-           volle Stadtplanung lässt ebenso auf sich warten wie ein
    kompetenzen der Regionen.                                    Ende des Raubbaus an der Natur.
                                                                 In diesem Komplex geraten ärmere Bevölkerungsschich-
                                                                 ten und vermeintlich Landlose in „unkartierten“ Re-
                                                                 gionen Kalimantans oder Westpapuas immer mehr in
                                                                 Bedrängnis. Umweltverteidiger*innen und solche, die
                                                                 sich einfach gegen die Zerstörung ihres Lebensumfelds
                                                                 oder illegale Landnahmen stellen, sind überdies von
                                                                 Gewalt bedroht. Die Täter bleiben in den meisten Fällen
                                                                 straflos. An der menschenrechtlich prekären Situation der
                                                                 von Hochwassern betroffenen Stadtbevölkerung Jakartas
                                                                 wird auch der geplante Hauptstadtumzug nichts ändern.
                                                                 Schlimmer noch: Die menschenrechtlichen Schieflagen
                                                                 werden aller Voraussicht nach lediglich verlagert.

                                                                 Was tun
                                                                 Indonesien ist Mitgliedstaat der G20 und eines der be-
                                                                 deutendsten Partnerländer der deutschen Entwicklungs-
                                                                 zusammenarbeit. Daneben befindet sich Indonesien auch
                                                                 unter den 50 wichtigsten Handelspartnern der Bundes-
                                                                 republik. Zusammen mit Deutschland ist Indonesien
                                                                 außerdem noch bis Ende 2022 im UN-Menschenrechtsrat
                                                                 und bis Ende 2020 im UN-Sicherheitsrat vertreten.
                                                                 Der Bundesregierung wie auch Wirtschaftsvertreter*in-
                                             © Andreas Harsono   nen und allen, die in diesen Partnerschaften aktiv sind,
                                                                 bietet sich damit eine der besten Gelegenheiten seit Lan-
    Facettenreiche Beiträge                                      gem, für die Verwirklichung der Menschenrechte in In-
    Das vorliegende Heft versammelt vor allem Perspektiven       donesien und Timor-Leste einzutreten. Das Bewusstsein
    von Menschenrechtsverteidiger*innen aus Indonesien           über vergangene Menschenrechtsverbrechen und deren
    und Timor-Leste. Dass so viele Beiträge Geschlechter-        angemessene gesellschaftliche Aufarbeitung muss end-
    themen behandeln, verwundert nicht. Sind es doch vor         lich entscheidend vorangebracht werden. Der Druck auf
    allem Frauen, besonders solche in ohnehin prekären Le-       Entscheidungsträger*innen muss erhöht werden, damit
    bens- oder Arbeitssituationen, sowie LSBTIQ, die ans un-     demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien eingehal-
    tere Ende der Menschenrechtsskala verwiesen sind oder        ten und nicht für kurzfristige Profite aufgegeben werden.
    weiter werden sollen. Sie sind es auch, die die erdrücken-   Wir hoffen, dass dieses Heft einen Beitrag leistet, relevan-
    de Last von andauernden Diskriminierungen und Men-           te Kenntnisse zur Menschenrechtslage in Indonesien und
    schenrechtsverletzungen zu tragen haben. Eine Reihe          Timor-Leste zu erlangen.
    von Gesetzesvorhaben, wie beispielsweise das sogenann-
    te Familienstärkungsgesetz oder Bestandteile der geplan-                      Christine Holike & Nedim Suleimanović

4   Vorwort
Menschenrechte in Indonesien und Timor-Leste - Themenheft Watch Indonesia! (Hg.)
Menschenrechtsverletzungen im Post-Suharto Indonesien
von Andreas Harsono

                                                                                                              © Andreas Harsono

Als die asiatische Wirtschaftskrise im Juli 1997 Indone-       sandte. Mehrere Afghanistan-Kriegsveteranen, darunter
sien traf, begann ich dort über das Verschwinden von           Angehörige von Al-Qaida, begaben sich ebenfalls auf die
Grundnahrungsmitteln von den Märkten und die Nie-              Molukken. Dabei wurden zwischen 1999 und 2005 min-
derschlagung von Aufständen zu berichten. Für meine            destens 25.000 Menschen getötet. Insgesamt verloren in
journalistische Tätigkeit bereiste ich viele Teile Indonesi-   dieser Gewaltperiode in Indonesien mindestens 90.000
ens, das Land mit der weltweit viertgrößten Bevölkerung.       Menschen ihr Leben.
Im Mai 1998 trat Präsident Suharto nach 33 Jahren an der       In Jakarta unterdessen forderten Studentenprotestler wei-
Macht zurück. Doch die Gewalt nahm weiter zu, da viele         terhin „Reformasi“.1 Es war der schwierigste Schlachtruf
ethnische und religiöse Gruppen versuchten, vom natio-         überhaupt. Denn leider wusste die Welt nichts von der
nalen Zentrum Java – sowohl Suharto als auch sein Vor-         Gewalt, die in Indonesien grassierte.
gänger Sukarno zentralisierten dort die Regierung seit         Al-Qaida verübten die Anschläge vom 11. September
den 1950er Jahren – politische und wirtschaftliche Zuge-       2001 in New York und Washington und löste damit die
ständnisse zu erlangen.                                        von den Vereinigten Staaten geführten Kriege in Afgha-
Auf der Insel Sumatra organisierten Freiheitskämpfer aus       nistan und im Irak aus. Der arabische Frühling und der
Aceh ihre Zeremonien mit offen getragenen AK-47, wobei         Krieg in Syrien und Kriege anderswo im Nahen Osten
es häufig zu tödlichen Zusammenstößen mit dem indo-            zogen die Aufmerksamkeit der internationalen Medien
nesischen Militär kam. Auf der Insel Kalimantan wurden         auf sich.
mindestens 6.500 Angehörige der ethnischen Minderheit          Das erinnerte mich daran, wie der Vietnamkrieg auch die
der Madures*innen massakriert, als rivalisierende ethni-       Massaker von 1965-69 überschattet hatte, die in Indonesi-
sche Dayak und malaiische Kämpfer ihre Muskeln spie-           en an Kommunist*innen verübt wurden, bei denen rund
len ließen und mehr Mitsprache bei der Regierung der an        eine Million Menschen getötet und die damals drittgröß-
natürlichen Ressourcen reichen Insel forderten. Auf der        te kommunistische Partei der Welt (nach denen in China
Insel Sulawesi brachen Spannungen um den Poso-See              und der Sowjetunion) verboten wurden. General Suharto
aus, bei denen 600 Menschen durch die Gewalt zwischen          stieg nach diesen Massenmorden – den größten in der
Muslimen und Christen getötet wurden. Osttimor wurde           Geschichte Indonesiens – zum Präsidenten auf.
faktisch niedergebrannt, nachdem Indonesien im August          Die ihm nachfolgenden Präsident*innen haben es bisher
1999 im Referendum verloren hatte, was das Tor zur Ge-         versäumt, mit diesen groben Menschenrechtsverletzun-
schichte öffnete und die winzige Nation zu einem neuen         gen adäquat umzugehen, was eine Kultur der Straflo-
souveränen Staat machte. In den Provinzen Papua und            sigkeit und Gewalt förderte. Es sollte Beobachter*innen
West-Papua wurde die staatliche Repression gegen die           folglich nicht schockieren, dass auch nach Suhartos Ab-
indigene Bevölkerung mit neuen Waldkonzessionen und            gang Massengewalt stattfand.
Bergbaubetrieben einfach fortgesetzt. Die größten Ge-
walttätigkeiten fanden jedoch auf den Molukken statt,
wo christliche Milizen gegen muslimische Dschihadis-           1   Die Jahre nach dem Sturz von Suharto werden gewöhnlich als Era
                                                                   Reformasi (Reformzeit) bezeichnet. Mit dem Ruf nach Reformasi!
ten kämpften, an denen eine große salafistische Gruppe
                                                                   forderten die Protestierenden umfassende demokratische Refor-
beteiligt war, die mehr als 5.000 Kämpfer aus Java ent-            men (Anm. d. Redaktion).

                                                                                                                        Vorwort     5
Menschenrechte in Indonesien und Timor-Leste - Themenheft Watch Indonesia! (Hg.)
Dennoch, der Übergangspräsident B.J. Habibie ließ 1999             gentschaft sogenannte „Foren der religiösen Harmonie“
    ein UN-Referendum in Osttimor zu. Präsident Abdurrah-              als „Beratungsgremien“ ein, um neue Gotteshäuser und
    man Wahid hob das Verbot der chinesischen Sprache, der             andere religiöse Angelegenheiten zu genehmigen. Die
    chinesischen Schriftzeichen und des Konfuzianismus                 Zusammensetzung dieser Foren sollte proportional zur
    auf. Präsident Susilo Bambang Yudhoyono stimmte einer              Zusammensetzung der sechs Religionen sein, was in der
    von der Europäischen Union geförderten Friedensver-                Praxis die Diskriminierung von Minderheiten verschärft.
    handlung über Aceh im Jahr 2005 zu.                                Dies führte in einem Jahrzehnt zur Schließung von mehr
    Im Jahr 2001 verabschiedete das indonesische Parlament             als 1.000 Kirchen in ganz Indonesien.
    das Gesetz über die lokale Regierungsführung und de-
    zentralisierte einen Großteil der Zentralbehörden in               Anzahl der Gotteshäuser in Indonesien 2010
    die Provinzen und Regentschaften. Das Gesetz besagt,
    dass sechs Sektoren weiterhin in der Zuständigkeit der

                                                                                                                                                      Konfuzianisch
                                                                                               Protestantisch

                                                                                                                                       Buddhistisch
                                                                                  Muslimisch
    Zentralregierung bleiben: auswärtige Angelegenheiten,

                                                                                                                 Katholisch
                                                                                  Moschee
    Verteidigung, Polizei, Justiz, Steuer- und Währungsange-

                                                                                                                              Tempel

                                                                                                                                       Tempel

                                                                                                                                                      Tempel
                                                                                                                 Kirche

                                                                                                                              Hindu
                                                                                               Kirche
    legenheiten sowie religiöse Angelegenheiten. Aber die
    Verantwortung für alles andere, von der Vergabe der
                                                                       Total     243.199       47.106           11.827        6.417    2.290          707             311.546
    Forstkonzessionen bis zur Verwaltung des Bildungswe-
    sens, wurde den Provinzbehörden übertragen.                        Prozent    78,06        15,12             3,80         2,06     0,74           0,23

    Die Einführung der islamischen Scharia – eine Idee die             Quelle: Indonesiens Ministerium für religiöse Angelegenheiten. Eine
    seit 1945 diskutiert wird – bekam im Zuge dieses Ge-               laufende Zählung des Ministeriums für religiöse Angelegenheiten,
    setzesvorhabens Aufwind und verleitete muslimische
                                                                       bei der Drohnen und Fotos verwendet werden, hat mindestens 554.152
                                                                       Moscheen registriert. Die Zählung begann 2013. Die Zahl deutet darauf
    Politiker überwiegend muslimischer Provinzen, Verord-              hin, dass sich die Zahl der Moscheen in einem Jahrzehnt mehr als ver-
    nungen zu erlassen, die „islamischen Werten“ entsprechen.          doppelt hat.
    Yudhoyono, der zwischen 2004 und 2014 regierte, kam
    diesen Forderungen entgegen und ignorierte dabei die               Die Verwaltung von Yudhoyono tolerierte es, dass loka-
    Beschränkungen religiöser Angelegenheiten im Auto-                 le Politiker*innen diskriminierende Vorschriften gegen
    nomiegesetz. Seine Regierung stärkte die Blasphemie-               Frauen und Mädchen verfassten. Im Jahr 2016 stellte die
    Rechtsabteilung innerhalb der Generalstaatsanwalt-                 Nationale Kommission Indonesiens zur Bekämpfung von
    schaft, wodurch es innerhalb eines Jahrzehnts zur Verfol-          Gewalt gegen Frauen (Komnas Perempuan) die Existenz
    gung und Inhaftierung von 125 Personen wegen Blasphe-              von mehr als 400 diskriminierenden nationalen und lo-
    mie kam – verglichen mit den zehn Fällen, seit Sukarno             kalen Verordnungen fest, die Frauen schadeten. Darunter
    1965 das Blasphemie-Gesetz eingeführt hatte, entspricht            auch der Zwang für Frauen und Mädchen, in Regierungs-
    das einem steilen Anstieg.                                         gebäuden, Schulen oder an anderen öffentlichen Orten
    Das Blasphemiegesetz erkennt in Indonesien nur sechs               Hijab zu tragen. Daneben verbieten ihnen die Hijab-Vor-
    Religionen an: Islam, Protestantismus, Katholizismus,              schriften das Tragen eng anliegender Kleidung und ver-
    Hinduismus, Buddhismus und Konfuzianismus. Unter                   langen, dass sie ihren Körper außer Händen, Füßen und
    der Regierung Yudhoyono wurde es auch erweitert, um                Gesicht bedecken. Außerdem gehören Ausgangssperren,
    kleinere nichtislamische sunnitische Minderheiten wie              nach Geschlechtern getrennte Sitzbereiche und weitere
    Ahmadiyah und Schiiten zu diskriminieren. Im Jahr 2016             Einschränkungen zu den Diskriminierungserfahrungen
    wurde eine Ableitung des Blasphemiegesetzes benutzt,               von Frauen und Mädchen.
    um die gewaltsame Vertreibung von mehr als 7.000 Mit-              Einige Provinzen und Regentschaften haben lokale Ver-
    gliedern der Religionsgemeinschaft Gafatar aus ihren               ordnungen eingeführt, die auch nichtmuslimische Mäd-
    Bauernhäusern auf der Insel Kalimantan zu erzwingen.2              chen zum Tragen eines Hijabs zwingen, wie zum Beispiel
    Das Blasphemiegesetz wurde zu einer politischen Waffe,             West-Sumatra und Aceh auf Sumatra sowie Yogyakarta
    um Muslime zu mobilisieren. So auch bei den Gouver-                und Banyuwangi auf Java. Einige Politiker argumentier-
    neurswahlen 2017 in Jakarta, als mehr als 500.000 mus-             ten, dass nicht-muslimische Schulmädchen sich an die
    limische Demonstrierende die Regierung aufforderten,               muslimische Mehrheit „anpassen“ sollten. Auf der Insel
    den bisherigen Gouverneur von Jakarta, Basuki Purna-               Lombok forderte ein Regent sogar muslimische Beamtin-
    ma, der selbst Christ ist, strafrechtlich zu verfolgen. Ihm        nen auf, den Niqab zu tragen – einen vollständigen Schlei-
    wurde auf Grundlage eines manipulierten Videos vorge-              er, der das Gesicht, außer den Augen bedeckt – sowie lange
    worfen, den Koran beleidigt zu haben.3 Er verlor die Wahl          Kleider, die ihre Körperformen nicht offenbaren.
    und landete für zwei Jahre im Gefängnis.                           Grobe Menschenrechtsverletzungen, die nach der Unab-
    Im Jahr 2006 führte die Regierung Yudhoyono auch die               hängigkeitserklärung von Präsident Sukarno 1945 began-
    Regelung der „religiösen Harmonie“ ein, die das Ver-               gen wurden, einschließlich der Massaker von 1965-69,
    fassungsprinzip der „Religionsfreiheit“ ersetzte. Das              sowie ethnische und religiöse Gewalt nach dem Sturz
    Prinzip der „religiösen Harmonie“ besteht darin, dass              von Präsident Suharto wurden nicht angesprochen. Prä-
    die Mehrheit das Vetorecht über die Minderheiten hat.              sident Yudhoyono vermied auch eine Untersuchung der
    Seine Regierung richtete in jeder Provinz, Stadt und Re-           UNO über Missbräuche in Osttimor. Er ließ nur rudimen-
                                                                       täre Gerichtsverfahren gegen einige örtliche Beamte zu,
    2   https://www.hrw.org/news/2016/03/29/indonesia-persecution-     ohne indonesische Militär- und Polizeigeneräle anzuge-
        gafatar-religious-group                                        hen, die an den Plünderungen und Morden in Osttimor
    3   https://www.theguardian.com/world/2016/dec/12/jakarta-gover-
        nor-ahoks-blasphemy-trial-all-you-need-to-know
                                                                       beteiligt waren.

6   Vorwort
Menschenrechte in Indonesien und Timor-Leste - Themenheft Watch Indonesia! (Hg.)
Als Joko „Jokowi“ Widodo 2014 die Präsidentschaftswah-         Reform wurde korrumpiert). Im Jahr 2019 protestierten
len gewann, versprach er „vermisste Personen“, darunter        Hunderttausende Studierende, indigener Bevölkerungs-
den berühmten Dichter und Dissidenten Wiji Thukul, zu          gruppen und Minderheiten, als das Parlament versuchte,
finden und religiöse Toleranz zu fördern. Seine Regierung      ein neues Strafgesetzbuch mit noch diskriminierende-
organisierte 2015 ein Symposium über die Massaker von          ren Paragraphen zu verabschieden, die Rechte verletzen
1965-69 und ließ politische Gefangene aus Papua und den        würden. Einige indonesische Studierende begannen, den
Molukken frei, aber er hörte an dieser Stelle auf. Er unter-   Rassismus gegen die dunkelhäutige Bevölkerung Papuas
nahm nichts, um diskriminierende Regelungen gegen              wie die #BlackLivesMatter in den USA herauszufordern
Frauen und Mädchen oder religiöse Minderheiten auf-            und organisierten beispiellose Proteste gegen die Krimi-
zuheben. Seine Regierung verhaftete bald darauf erneut         nalisierung papuanischer Studierender und Aktivist*in-
papuanische und molukkische Aktivist*innen und setz-           nen.
te damit die jahrzehntelange willkürliche Inhaftierung
politischer Gefangener fort. Jokowi tolerierte auch die
Zunahme diskriminierender Regelungen gegen LGBT (les-
bische, schwule, bisexuelle und transsexuelle) Personen.
Jokowi und seine Demokratische Partei des Kampfes
Indonesiens (Partai Demokrasi Indonesia Perjuangan,
PDIP) entschieden sich dafür, die Staatsideologie „Panca-
sila“ zur Förderung der religiösen Toleranz einzusetzen.
Die Pancasila war ein politischer Kompromiss, der während
der Unabhängigkeitserklärung 1945 geschlossen wurde.
Dieser Kompromiss beinhaltet fünf Prinzipien für Indo-
nesien und wurde in die Präambel der Verfassung auf-
genommen. Der erste Grundsatz ist, dass die Republik
Indonesien auf „dem Glauben an den Einen und Einzigen
Gott basiert, mit der Verpflichtung zur Einhaltung des is-
lamischen Rechts für Anhänger des Islam“.                      „Die Religion darf sich unterscheiden, Freundschaften bleiben.“
Am 17. August 1945 argumentierten Delegierte aus Ost-          © Andreas Harsono
indonesien, zu denen Kalimantan, Sulawesi, Bali und die
Molukken gehören, erfolgreich, dass der Scharia-Zusatz
gestrichen werden müsse, da sie sich sonst Indonesien
nicht anschließen würden. Andere muslimische Füh-
rungspersönlichkeiten ließen sich auf den Kompromiss
ein, dass die Pancasila lediglich den Ausdruck „Glaube
an den einen Gott“ beinhaltet.
Die Regime von Sukarno und Suharto benutzten den Be-
griff Pancasila jedoch, um die Ausschaltung ihrer Gegner
zu rechtfertigen. Suharto benutzte die Pancasila, um die
Massenmorde zu legitimieren. Eine der größten Milizen
Indonesiens benutzt die Pancasila in ihrem Namen. Es
ist keine Überraschung, dass einige muslimische Orga-
nisationen sich dem Vorhaben der PDIP widersetzen,
ein Pancasila-Indoktrinationsgesetz einzuführen. Es ist
offensichtlich nicht die Antwort auf die Beseitigung dis-      © Andreas Harsono
kriminierender Regelungen und den Schutz der Men-
schenrechte.                                                   Die indonesische Führung muss aus den Versäumnissen
Die Post-Suharto-Wahldemokratie hat dazu beigetragen,          der letzten sieben Jahrzehnte bei der Nichtbeachtung
die ethnische und religiöse Gewalt zu verringern, aber         vergangener Menschenrechtsverletzungen lernen und
die bürgerlichen Freiheiten, die Pressefreiheit, die Rechte    verhindern, dass deren historische Lasten auf künftige
der Frauen, die Rechte der Kinder, die Religionsfreiheit       Generationen abgewälzt werden.
und die Rechte der Minderheiten sind im Niedergang be-
griffen.                                                       Andreas Harsono arbeitet für Human Rights Watch mit Sitz in
Es sind einige zivilgesellschaftliche Bewegungen entstan-      Jakarta und veröffentlichte kürzlich sein Buch Race, Islam and
den, wie z.B. unter dem Hashtag #ReformasiDikorupsi (die       Power: Ethnic and Religious Violence in Post-Suharto Indonesia.

                                                                                                                            Vorwort   7
Menschenrechte in Indonesien und Timor-Leste - Themenheft Watch Indonesia! (Hg.)
Rechenschaftspflicht verhandeln
    Straffreiheit von Massenverbrechen in Indonesien
    von Indria Fernida

                                                                                                                                       © KontraS

    Die 1998 nach dem Sturz des Suharto-Regimes einsetzende demokratische Öffnung sorgte zunächst dafür, dass Menschenrechte for-
    melle Anerkennung fanden. Dennoch ist bisher kein einziger Fall grober Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit erfolgreich
    strafrechtlich verfolgt worden. Dieses Versäumnis offenbart eine Systemschwäche und mangelnden politischen Willen, die zugleich
    Grundsteine der Straflosigkeit für aktuelle Menschenrechtsverletzungen sind.

    Vom Regime zur demokratischen Öffnung                              Übergangsjustiz
    Indonesien unter der Herrschaft von Suharto (1967-1998)            Nach dem Sturz des Regimes fanden Menschenrechte for-
    war ein autoritäres Regime. Der Staat verfügte über weit-          mell Anerkennung. Dies spiegelte sich sowohl in der Ge-
    reichende Befugnisse und setzte grobe Menschenrechts-              setzgebung als auch in der Verfassung wider. Die Annah-
    verletzungen systematisch ein, um die Bevölkerung mit              me des regulatorischen Rahmens einer Übergangsjustiz
    militärischer Gewalt zu kontrollieren und zu disziplinie-          als Konzept erschien dabei zunächst als adäquate Antwort
    ren. Suharto kam an die Macht, nachdem im Zuge der so-             auf die mit System und zunehmender Eskalation began-
    genannten „Bewegung vom 30. September 1965“ Millionen              genen Menschenrechtsverletzungen des Regimes. Das
    von Menschen, die als Anhänger und Sympathisant*innen              Konzept der Übergangsjustiz befasst sich mit den Themen
    der Kommunistischen Partei Indonesiens galten, willkür-            Gerechtigkeit, Wahrheitssuche, Wiedergutmachung und
    lich hingerichtet und ohne jeden Prozess inhaftiert wor-           die Förderung von Maßnahmen, die eine Nicht-Wieder-
    den waren. Mit ähnlichen Mitteln wie einst, später gegen           holung von Menschenrechtsverletzungen garantieren sol-
    mutmaßliche linke Aktivist*innen, muslimische Extre-               len. Dazu gehört das Streben nach staatlicher Rechen-
    mist*innen oder separatistische Gruppen in Aceh, Maluku            schaftspflicht und die Anerkennung der Opfer sowie die
    oder West-Papua gerichtet, hielt er sich im Anschluss 32           Förderung des Friedensprozesses, der Versöhnung und der
    Jahre an der Macht.                                                Demokratie. Diese Anerkennung kann im Einklang mit der
    Nachdem er bei der Bewältigung der regionalen Finanz-              internationalen Konzeption von Menschenrechtsstandards
    krise in Asien, die Indonesien seit 1997 schwer belastete,         gesehen werden, wonach der Staat die Pflicht hat, die Rech-
    versagt hatte, zwangen Massendemonstrationen Suharto               te jede*r Bürger*in zu schützen. Bürgerliche Freiheiten, die
    1998 schließlich zum Rücktritt. Um die Wirtschaft wieder           während des Suharto-Regimes nie respektiert worden wa-
    in Gang zu bringen, beugte sich Indonesien in der Folge            ren, wurden nun zu „verfassungsmäßigen Rechten“.1
    internationalen Finanzagenturen und Gebern und eine                Solche Errungenschaften bieten den Menschen jedoch
    Zeit des Übergangs hin zu einer demokratischeren Ge-               nicht unbedingt Schutz. Sie bestätigen zwar, dass alle Re-
    sellschaft – eine Ära, die als „Reformasi“ bezeichnet wird         pressionen, Verletzungen und Leiden wieder gutgemacht
    – trat ein. Der Reformasi-Prozess begann mit einer Phase           werden müssen und dass jede Verletzung, Schädigung
    beträchtlicher Veränderungen des politischen und recht-            oder jeder Missbrauch der individuellen Rechte und der
    lichen Systems. Mithin wurde eine Reihe von gesetz-
    lichen und institutionellen Reformen durchgeführt, die
    Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Einhaltung von             1   AJAR / KontraS (2018). Aceh Transitional Justice, Indonesia case study.
    Menschenrechtsstandards künftig gewährleisten sollten.                 https://asia-ajar.org/wp-content/uploads/2018/12/English-Indonesia-
                                                                           Case-Study.pdf

8   Bürgerliche & politische Rechte
sozialen Gerechtigkeit nach dem Gesetz bestraft werden                        indem sie eine Reihe von Untersuchungen einleitete, um
sollte. Im ganzen Land leiden heute jedoch noch immer                         den Vorwürfen von Menschenrechtsverletzungen wäh-
viele Opfer unter den Folgen früherer Menschenrechts-                         rend der Unruhen vom Mai 1998, einer Reihe systema-
verletzungen, die sie unmittelbar erlebt haben. Gleichzeitig                  tischer Menschenrechtsverletzungen während der Zeit
kommt es in Teilen Indonesiens, einschließlich Papua, im-                     der Militäroperationen (1989-1999) in Aceh und religiö-
mer noch zu Menschenrechtsverletzungen. Viele Opfer                           ser Gemeinschaftskonflikte in Maluku und Kalimantan
vergangener oder aktueller Menschenrechtsverletzun-                           nachzugehen. Die Regierung bemühte sich um die Ein-
gen haben versucht, menschenrechtsbezogene Gesetze                            richtung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission
und Institutionen zu nutzen. Trotz aller Bemühungen                           und um die Untersuchung der 1999 im Zuge des Referen-
gelang es den Opfern bisher nicht, die Institutionen dazu                     dums in Osttimor begangenen Verbrechen. Darüber hi-
zu bewegen, die vorgesehenen rechtlichen Verfahren ein-                       naus erließ der Staat einige Gesetze und Richtlinien, die
zuleiten.                                                                     die Menschenrechte anerkannten und zu grundlegenden
Nur knapp ein gutes Jahr nach dem Abgang des alten                            Menschenrechtsprinzipien werden ließen.
Regimes setzte Indonesien ein umfassendes Menschen-                           Zweitens die Phase der kompromittierten Mechanismen
rechtsgesetz (Nr. 39/1999) in Kraft und richtete einen Ge-                    (2001-2006), während derer die Regierung die von ihr
richtshof für Menschenrechte ein. Zu diesem Zeitpunkt hat                     selbst etablierten Rechenschaftsmechanismen zutiefst
der UN-Sicherheitsrat bereits die Empfehlung ausgespro-                       kompromittierte: die Menschenrechtsgerichte und das
chen, dass Indonesien die Gelegenheit nutzen sollte, je-                      nationale Gericht für Übergangsjustiz (TRC). Insbeson-
de*n Bürger*in, der*die für Menschenrechtsverletzungen                        dere der Menschenrechtsgerichtshof agierte schwach
verantwortlich ist, vor Gericht zu stellen. Im Oktober 1999                   und wenig eindeutig. Die Prozesse, bei denen letztlich
dann verabschiedete die Regierung eine Verordnung, mit                        alle Täter freigesprochen wurden, wirkten wie eine Hülle
der ein Mechanismus zur Untersuchung und Verfolgung                           strafrechtlicher Rechenschaftspflicht. Nicht zuletzt kipp-
grober Menschenrechtsverletzungen geschaffen wurde,                           te das Verfassungsgericht das Gesetz der Übergangs-
die nun als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und                           gerichtsbarkeit und schaffte damit den Gerichtshof für
Völkermord (mit Ausnahme von Kriegsverbrechen) defi-                          Übergangsjustiz ab.
niert wurden.                                                                 Drittens, der Reformstau (2007-2011): Dieser war faktisch
Ein weiteres, 2014 verabschiedetes Gesetz widmet sich                         insbesondere durch die Rückkehr pensionierter Mili-
dem Schutz von Zeug*innen und Opfern (Gesetz Nr.                              tärkommandeure auf die nationale politische Bühne
13/2014). Darin finden Opferrechte wie das Recht auf                          gekennzeichnet, welche etlicher grober Menschenrechts-
Restitution, Rehabilitation, Entschädigung, Genugtuung                        verletzungen verdächtigt werden. Obwohl Komnas HAM
und Nicht-Wiederholung von Menschenrechtsverletzun-                           weiterhin glaubwürdige Untersuchungen durchführte
gen umfassende Anerkennung. Gemäß dieses Gesetzes                             und weitere offizielle Untersuchungen empfahl, wurde
allerdings werden Wiedergutmachungen nur dann ge-                             bisher keiner von ihnen vor den Sondergerichtshof für
leistet, wenn ein Gericht eine Menschenrechtsverletzung                       Menschenrechte gestellt. Die Staatsanwaltschaft (AGO),
anerkannt hat. Die nationale Zeugen- und Schutzbehörde                        die für die Anklageerhebung zuständig ist, weigerte sich,
(LPSK) kann jedoch in dringenden Fällen auf der Grund-                        die Fälle vor Gericht zu bringen. Genauso wenig gibt es
lage einer Empfehlung der nationalen Menschenrechts-                          Anzeichen dafür, dass ein weiterer Gesetzesentwurf zur
kommission (Komnas HAM) über den «rechtlichen Status                          Etablierung eines neuen Gerichtshofs für Übergangsjustiz
einer Person als Opfer» Überweisungen an gesundheitli-                        dem Parlament vorgelegt werden könnte. Die Bemühun-
che und psychosoziale Dienste vornehmen.                                      gen, einen Wahrheitsfindungsprozesses für vergangene
                                                                              Menschenrechtsverletzungen in Aceh und Papua, den
Enttäuschte Reformen                                                          beiden Regionen, die besonders unter Menschenrechts-
Das Internationale Zentrum für Übergangsjustiz (ICJ)                          verletzungen durch die Sicherheitskräfte gelitten haben,
und die Kommission für Verschwundene und Gewalt-                              einzurichten, stoßen ebenso auf verschlossene Türen.
opfer (KontraS) identifizieren seit Mai 1998 drei Phasen
der Reformasi.2 Innerhalb der drei Phasen – bedeutsamer
Wandel, kompromittierte Mechanismen und Reformstau
– ist ein kontinuierlicher Rückgang im angemessenen
Umgang mit Menschenrechtsverletzungen zu erkennen.
Erstens ging die Reformasi in der Phase des bedeutsamen
Wandels (1998-2000) sowohl mit anhaltenden gewalt-
samen Konflikten in mehreren Bereichen als auch mit
einem klaren politischen Bekenntnis zur Übergangsjus-
tiz (Wahrheitsfindung, Bestrafung der Täter*innen und
Gewährleistung der Nicht-Wiederholung) einher. Es gab
neue und alte gewaltsame Konflikte in Osttimor, Aceh,
Sampit (Kalimantan), Maluku und Poso (Sulawesi). Die
Zentralregierung reagierte jedoch rasch auf das Problem,

                                                                              Studierende demonstrieren gegen Straflosigkeit.
2   Derailed: Transitional Justice in Indonesia since the Fall of Soeharto:   © KontraS
    https://www.ictj.org/sites/default/files/ICTJ-Kontras-Indonesia-
    Derailed-Report-2011-English_0.pdf

                                                                                                                 Bürgerliche & politische Rechte   9
Rechenschaftspflicht verhandeln                                          Personen empfohlen, dringende Reparationen, d.h. eine
     Nach der Reformasi hat Indonesien durch die Arbeit von                   Sofortmaßnahme zur Bereitstellung von Nothilfen, zu
     Komnas HAM, der Kommission gegen Gewalt gegen Frau-                      erhalten.5 Aktuell bereitet sie einen Versöhnungsprozess
     en (Komnas Perempuan) und der Opfer- und Zeugenschutz-                   an der Basis für Zentral-Aceh vor, einem der angespann-
     organisation LPSK einige Fortschritte im Bereich der                     testen Distrikte während des Konflikts. Dieser musste
     Rechenschaftspflicht gemacht. In mehr als zwei Jahrzehn-                 jedoch wegen der COVID-19-Pandemie verschoben wer-
     ten hat die indonesische Regierung jedoch kein starkes                   den. Der für Ende 2021 geplante Abschlussbericht wird
     Engagement gezeigt, die Wahrheit über die weithin von                    Empfehlungen für umfassende Wiedergutmachungs-
     staatlichen Akteur*innen ausgeübte Gewalt anzuerken-                     maßnahmen und institutionelle Reformen beinhalten.
     nen oder die Täter*innen strafrechtlich zu verfolgen, Wie-               Im Einklang mit dem Sonderautonomiegesetz für Papua
     dergutmachung anzubieten und eine Wiederholung von                       von 2001 wurde, zumindest formell, eine weitere Wahr-
     Menschenrechtsverletzungen zu verhindern.                                heits- und Versöhnungskommission geschaffen. Die Be-
                                                                              mühungen um deren tatsächliche Arbeitsaufnahme indes-
     Abwesenheit der offiziellen Wahrheit, inoffizielle                       sen sind aktuell nahezu zum Stillstand gekommen.
     Wahrheitssuche geduldet                                                  Trotz der fehlenden staatlichen Anerkennung setzen zi-
     Im Jahr 2004 wurde ein Gesetz zur Einrichtung einer na-                  vilgesellschaftliche Gruppen ihre Bemühungen fort, die
     tionalen Wahrheits- und Versöhnungskommission ver-                       Wahrheit aufzudecken. Hierfür nutzen sie Prozesse der
     abschiedet. Zivilgesellschaft und Opfergruppen strebten                  Wahrheitsfindung und öffentliche Kampagnen. So führ-
     eine gerichtliche Anfechtung derjenigen Artikel an, die                  te die Coalition of Justice and Truth – ein Bündnis von
     von den Opfern verlangten, den Täter*innen zu vergeben,                  NGOs, Wissenschaftler*innen und einer Opfergruppe
     um Anspruch auf Wiedergutmachung zu erhalten. Ende                       – 2013 eine eigene Wahrheitsuntersuchung durch. Inner-
     2006 folgte das indonesische Verfassungsgericht diesem                   halb eines Jahres, das als „Jahr der Wahrheit“ bezeichnet
     Einwand. Allerdings erklärte es gleich das gesamte Ge-                   wird, brachten in einer Reihe von Anhörungen Opfer,
     setz für verfassungswidrig und kippte es – eine Nieder-                  Überlebende und deren Familienangehörige aus dem
     lage im Kampf gegen die Straflosigkeit.                                  ganzen Land zusammen, damit diese über das erfahrene
     Erfolgreich indessen waren Untersuchungen, die Teil-                     Leid aussagen können.6 Im Ergebnis definierte die Koali-
     wahrheiten offen legten. So führte eine Unterkommission                  tion sechs Säulen, auf denen eine verfassungsrechtliche
     der Frauenmenschenrechtsorganisation Komnas Peremp-                      Zusammenarbeit hinsichtlich der Aufarbeitung vergan-
     uan eine Untersuchungen zu geschlechtsspezifischen                       gener Menschenrechtsverletzungen ruhen sollte. Diese
     Verletzungen durch, die während der Machtergreifung                      sind: Durchsetzung der Integrität Indonesiens als Rechts-
     Suhartos 1965 sowie in den bewaffneten Konfliktzonen                     staat, Offenlegung der Wahrheit und Anerkennung der
     von Aceh und Papua begangen wurden.3                                     Wahrheit, Wiederherstellung der Würde und Existenz-
     In ähnlicher Weise richteten die Regierungen von Ti-                     grundlage der Opfer, Bildung und öffentlicher Dialog zur
     mor-Leste und Indonesien 2008 eine bilaterale Kommis-                    Versöhnung, Verhinderung einer Wiederholung durch
     sion für Wahrheit und Freundschaft ein. Die Kommission                   institutionelle und politische Reformen und aktive Betei-
     stellte fest, dass während des Referendums 1999 Verbre-                  ligung von Opfern und Überlebenden.
     chen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen                       Im Jahr 2015 organisierte ein Zusammenschluss von
     begangen wurden und dass die indonesischen Sicher-                       Menschenrechtsgruppen aus Europa und Indonesien
     heitskräfte und ihre Hilfstruppen systematische Men-                     ein internationales Volkstribunal in Den Haag. Auf der
     schenrechtsverletzungen begangen haben.4                                 Grundlage von Opfer- und Zeug*innenaussagen des
     Einige acehnesische zivilgesellschaftliche Akteur*innen                  Massakers von 1965 kam die beteiligte Gruppe inter-
     drängten jedoch weiterhin auf die Einrichtung einer                      nationaler Jurist*innen zu dem Schluss, dass es sich bei
     Wahrheits- und Versöhnungskommission mit einem auf                       dem Massaker eindeutig um ein Verbrechen gegen die
     der Provinzebene angesiedelten Gesetz (Qanun), wie es                    Menschlichkeit handele und dieses den Tatbestand des
     das Friedensabkommen von 2005 eigentlich verspricht.                     Völkermords erfülle.7
     Bereits 2009 legten sie einen Entwurf für einen Qanun                    Eine Vielzahl weiterer Initiativen widmet sich sowohl mit
     zur Einrichtung einer lokalen Kommission für Aceh vor.                   künstlerischen Mitteln als auch mit der Aufzeichnung
     Das Gesetz zur Einrichtung der Wahrheits- und Versöh-                    und Bewahrung von Zeitzeug*innenberichten der Wahr-
     nungskommission von Aceh wurde schließlich 2013 als                      heitssuche und einer angemessenen Erinnerungskultur.
     Qanun über die Wahrheits- und Versöhnungskommis-
                                                                              Gerechtigkeit verzögert ist Gerechtigkeit verweigert
     sion von Aceh verabschiedet (Quanun Nr. 17/2013). Drei
     Jahre später, im Oktober 2016, nahm die Wahrheits- und                   Bereits 1999 erhielt KomnasHAM die Befugnis, Unter-
     Versöhnungskommission ihre Arbeit auf. Die Kommis-                       suchungen über Verbrechen gegen die Menschlichkeit
     sion hat bis heute Aussagen von mehr als 4.000 Opfern                    und Völkermord durchzuführen. Im Jahr 2000 richtete
     aufgenommen und drei öffentliche Anhörungen durch-                       Indonesien einen Menschenrechtsgerichtshof ein, um
     geführt. Bis dato wurden der Regierung von Aceh 244
                                                                              5   AJAR / Transitional Justice Asia Network, Webinar discussion: Les-
     3   Victims as survivors: a report and documentation on the situation        son from transitional justice efforts in Nepal, Aceh and Asia region,
         of Aceh women refugees Aceh (2006); Listening a voices of women          a presentation of Afridal Darmi, a chair of Aceh TRC (17.06.2020)
         victims of 1965 (2007), Stop! Papuan women victims of violence and   6   Final report of the Year of Truth: Reclaiming Indonesia https://asia-
         human rights violations 1963-2009 (2009)                                 ajar.org/2016/02/menemukan-kembali-indonesia/
     4   http://www.chegareport.org/wp-content/uploads/2014/10/CTF-           7   Das Urteil des internationalen Menschenrechtstribunals: https://
         report-English-Version.pdf                                               www.tribunal1965.org/en/tribunal-1965/tribunal-report/

10   Bürgerliche & politische Rechte
über Fälle von Völkermord und Verbrechen gegen die                        „Wiedergutmachung“ und ausbleibende
Menschlichkeit zu verhandeln. Die nationale Menschen-                     Rehabilitierung der Opfer
rechtskommission ist befugt, selbst Fälle zu untersu-                     Die größte Herausforderung bei der Gewährung von
chen und anschließend an den Generalstaatsanwalt zu                       Wiedergutmachung besteht darin, dass die Wiedergut-
übergeben. Der Menschenrechtsgerichtshof durfte Fälle                     machung nur durch eine Entscheidung eines Gerichts
rückwirkend (d.h. Fälle, die vor der Verabschiedung des                   erfolgen kann. Nach dem Gesetz Nr. 13/2014 über den
Gesetzes von 2000 stattfanden) mit Zustimmung des                         Schutz von Zeug*innen und Opfern von Menschen-
Parlaments verhandeln.8                                                   rechtsverletzungen können Institutionen jedoch auf der
Drei Fälle von Verbrechen gegen die Straflosigkeit wur-                   Grundlage einer Empfehlung von Komnas HAM über
den vor Gericht gebracht und Ad-hoc-Gerichte wurden                       den „rechtlichen Status einer Person als Opfer“ Über-
eingerichtet, um zwei weitere Fälle zu verhandeln: die                    weisungen für dringende gesundheitliche und psychoso-
Gewalt im Zusammenhang mit dem Referendum in Ost-                         ziale Dienste vornehmen. Ohne ihren Rechtsstatus haben
timor (1999) und ein Massaker, das in Tanjung Priok,                      Opfer von Menschenrechtsverletzungen keinen Zugang
Nord-Jakarta, stattfand (1984). Der letzte Fall, der vor dem              zu den Diensten der LPSK.
Menschenrechtsgerichtshof verhandelt wurde, war der                       Tatsächlich ist es für die Opfer im Rahmen der Umset-
Fall Abepura in Papua über Folter und außergerichtliche                   zung nach wie vor schwierig, Schutz zu erhalten. Dies gilt
Tötung von Papuas durch indonesische Sicherheitskräfte                    insbesondere für die Opfer schwerer Menschenrechts-
(2001).                                                                   verletzungen. So ist beispielsweise der Zugang zu me-
Obwohl eine kleine Anzahl niederrangiger Angehöriger                      dizinisch-psycho-sozialen Dienstleistungen, wie sie die
der Sicherheitskräfte zu kurzen Haftstrafen verurteilt                    Opfer- und Zeugenschutzorganisation LPSK empfehlen
wurde, ist kein einziger Fall grober Menschenrechtsver-                   kann, nur für sechs Monate gültig. Die Gewährung von
letzungen der Vergangenheit erfolgreich strafrechtlich                    medizinischen und psychologischen Hilfen ist damit nicht
verfolgt worden. Obwohl der Menschenrechtsgerichtshof                     nachhaltig gesichert. Gleichzeitig führt die mangelnde
auf dem Papier immer noch existiert, haben aufeinander-                   Anerkennung der Opfer dazu, dass die Diskriminierung
folgende Generalstaatsanwälte die Überweisungen der                       der Opfer weitergeht, ohne dass Anstrengungen zu ihrer
Menschenrechtskommission systematisch ignoriert und                       Rehabilitierung unternommen werden.
die mit der Weiterverfolgung dieser Untersuchungen be-
auftragte Einheit aufgelöst.
Bisher hat die Nationale Menschenrechtskommission in
zwölf Fällen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Ad-hoc-Untersuchungen pro justicia durchgeführt.9 Sie
empfahl eine strafrechtliche Untersuchung und strafrecht-
liche Verfolgung, aber die Generalstaatsanwaltschaft lehn-
te weitere Untersuchungen mit der Begründung ab, die
Akten seien unvollständig und nicht ausreichend beweis-
kräftig, was Komnas HAM bestritt.
Seit 2008 weigert sich die Generalstaatsanwaltschaft,
Fälle grober Menschenrechtsverletzungen der Vergan-
genheit aufzugreifen und zu verfolgen. Mehr noch, jeder
Regierungschef seither lässt auf eine Reaktion auf diesen
Zustand warten. Während die nationale Menschenrechts-
kommission Komnas HAM und die Generalstaatsanwalt                         Kamisan-Demonstrantin mit der Forderung, die Semanggi-Tragödie-II
eine Reihe von Gesprächen hierzu geführt haben, blei-                     vom 24.09.1999 aufzuarbeiten. © KontraS
ben konkrete Maßnahmen zur Besserung der Situation
weiterhin aus. Dieses Versäumnis, für Gerechtigkeit zu                    Zivilgesellschaftliche Initiativen
sorgen, offenbart eine systematische Schwäche der Justiz
                                                                          Da es keine offizielle Anerkennung und Unterstützung
und einen Mangel an politischem Willen in der Verwal-
                                                                          seitens der Regierung gibt, setzen Opferverbände und zi-
tung. Zusammen mit der Weigerung der Generalstaats-
                                                                          vilgesellschaftliche Wiedergutmachungsinitiativen ihre
anwaltschaft, die Untersuchungsergebnisse von Komnas
                                                                          Bemühungen fort. Dies ist dringend erforderlich, denn
HAM in anderen Fällen weiterzuverfolgen, zeigte sich
                                                                          die Überlebenden leiden weiterhin unter ihren Traumata
jede Regierung seither wenig interessiert daran, Gerech-
                                                                          und anderen langfristigen Auswirkungen der Vergehen,
tigkeit für frühere schwere Menschenrechtsverletzungen
                                                                          wie gesundheitliche Schäden, gestörte soziale Beziehun-
herzustellen.
                                                                          gen und Armut.
                                                                          In etlichen Regionen setzen sich Initiativen und Überle-
8   Human Rights Law (Law No. 39 of 1999) and a Human Rights Court        bende dafür ein, dass lokale Regierungen den Opfern Hil-
    Law (Law No. 26 of 2000)                                              fe und soziale Dienste zur Verfügung stellen. Dies führte
9   Die 12 Fälle sind: Erschießungen von Studenten in Trisakti und        beispielsweise im Jahr 2002 dazu, dass der Gouverneur
    Semanggi I und II (1998-1999); der Fall Paniai in Papua (2014); die
    Fälle Wasior (2001-2002) und Wamena (2003) in Papua; die Unruhen      von Aceh ein Entschädigungsprogramm für die Familien
    im Mai (1998); das Verschwinden von Aktivisten (1997-1998); der       der getöteten oder verschwundenen Personen initiierte,
    Talangsari-Fall (1989); Massentötungen (1982-1985); die Gräueltaten   das sich auf die islamische Tradition stützt und als Diyat
    von 1965-66; drei Fälle in Aceh namens Jambo Keupok, Aceh (2003),
    Simpang KKA (1999), Rumah Geudong (1989-1998) und Banyuwangi-         bekannt ist. Im Rahmen dieses Programms wurde den
    Morde an Schamanen (1998).                                            Opfern des Konflikts in Aceh ein kleiner Zuschuss ge-

                                                                                                           Bürgerliche & politische Rechte    11
währt. Ein weiterer Durchbruch waren die Initiativen des      pen, die ihre Gemeinden, ihr Land und ihren kulturel-
     Bürgermeisters von Palu in Zentralsulawesi im Jahr 2013.      len Stolz verteidigen, sowie gegen Journalist*innen und
     Er entschuldigte sich in einer beispiellosen Weise bei den    Blogger*innen, die sich für die Menschenrechte einset-
     Opfern der Gräueltaten von 1965-1966, die in seiner Stadt     zen, ist gegenwärtig an der Tagesordnung.
     lebten, und erließ ein spezielles Dekret zur Anerkennung      Viele indonesische Menschenrechtsverteidiger*innen sind
     der Opfer und zur Bereitstellung von medizinischer Ver-       überdies in zunehmendem Maße Drohungen, Schikanen,
     sorgung und grundlegenden Hilfen.                             Einschüchterungen, ungerechtfertigter Strafverfolgung
     Bei den Bemühungen um Wahrheit und Gerechtigkeit              und Verleumdung ausgesetzt.
     spielen die Überlebenden und ihre Unterstützer*innen
     weiterhin eine aktive Rolle, indem sie ihre Forderungen       Schlussfolgerung und Empfehlung
     immer wieder öffentlich zu Gehör bringen. So gibt es          Mehr als zwei Jahrzehnte nach der Reformasi erweisen sich
     jeden Donnerstag eine Mahnwache vor dem Präsiden-             die verschiedenen Gesetze und Verordnungen, in denen
     tenpalast in Jakarta. Diese Initiative mit dem Namen          Menschenrechtsnormen eingeschriebenen sind, als zahn-
     „Kamisan“ existiert seit 2007. Gegenwärtig wird Kami-         lose Tiger, wenn es um deren Umsetzung geht. Dies ist vor
     san aufgrund der Pandemie-Situation auf eine Kampag-          allem deshalb so, weil es der Regierung an politischem
     ne in den sozialen Medien verlagert. Solcherlei Aktionen      Willen im Umgang mit den Menschenrechtsverletzungen
     sind derzeit auch in anderen Regionen Indonesiens weit        der Vergangenheit fehlt. Sie ernennt weiterhin Staatsbe-
     verbreitet und erreichen viele Unterstützer*innen. Eine       amte, die in Verbindung mit Menschenrechtsverletzungen
     weitere bedeutende Initiative stellt die in Ostjava ansäs-    stehen und im Dienst stehende Beamt*innen werden we-
     sige Omah-Munir-Stiftung dar. Sie gründete 2014 das           der überprüft noch offensichtlich belastete Mitarbeiter*in-
     Menschenrechtsmuseum Omah Munir. Munir war ein                nen aus dem Dienst entfernt. Insgesamt erscheint es so,
     prominenter Menschenrechtsverteidiger, der 2004 von           dass die Umsetzung von Menschenrechtsnormen politi-
     einer staatlichen Behörde vorsätzlich ermordet wurde.         schen Interessen zum Opfer fällt und die Wirkkraft ihrer
     Auch wenn die Hintergründe des Falles nicht geklärt           gesetzlichen Verankerungen damit begrenzt bleibt.
     sind, fand die Einrichtung des Menschenrechtsmuseums          Straflosigkeit ist so zu einem Vermächtnis geworden, das
     bei der lokalen Regierung Befürwortung. Anlässlich des        in einer Bandbreite von Bereichen weiter wirkt. Allem
     Jahrestages von Munirs Geburtstag am 8. Dezember 2019         voran in Bezug auf die weiterhin verübten Menschen-
     gab der Gouverneur von Ostjava den Startschuss für den        rechtsverletzungen, einschließlich derer, die sich gegen
     Bau des Munir-Menschenrechtsmuseums in Batu, der              Menschenrechtsverteidiger*innen richten.
     Heimatstadt Munirs. Das Museum wird von einer unab-           Es ist jedoch noch nicht alles verloren. Die Zivilgesell-
     hängigen Gruppe geleitet, die sicherstellen möchte, dass      schaft in Indonesien ist ein Schlüssel in der Durchsetzung
     das Vermächtnis Munirs nachfolgende Generationen              der Rechenschaftspflicht. Die Opfer der massenhaften Ver-
     dazu inspirieren wird, für die Aufklärung, Wiedergut-         stöße gegen die Menschenrechte stehen bei der Durch-
     machung und Verhinderung von Menschenrechtsverlet-            setzung von Gerechtigkeit auch keineswegs alleine da.
     zungen einzutreten.                                           Trotz anhaltender politischer Zwänge und Leugnung der
                                                                   Massenvergehen seitens offizieller Stellen nutzen sie in-
     Keine Reform der Institutionen: anhaltende                    novative Ansätze, um die Rechenschaftspflicht vom Staat
     Verletzungen und Konflikte                                    einzufordern und eine „Narrativ der Wahrheit“ in der
     Indonesiens Polizei wurde von der Armee abgetrennt            Gesellschaft zu verankern.
     und unter zivile Kontrolle gestellt (1999) und dem Militär    Die Realisierung von Menschenrechten gehört zu einem
     wurden seine festen Sitze im Parlament aberkannt (2004)       der wichtigsten Grundsätze demokratischer Staatsfüh-
     – zwei wichtige Meilensteine, die in den ersten Jahren der    rung. Die indonesische Regierung täte gut daran, sich
     Reformasi erreicht wurden. Weiterhin wurde das Militär-       auf die Verfassung zu besinnen und Menschenrechts-
     gesetz dahingehend geändert, dass es dem Militär fortan       normen ernst zu nehmen. Die Förderung und der Schutz
     untersagt war, eigene Unternehmen zu besitzen. Auch ver-      der Menschenrechte, sowohl im Bereich der bürgerlichen
     sucht das Gesetz der gängigen Praxis von Militärangehö-       und politischen Rechte als auch der wirtschaftlichen, so-
     rigen im privaten Sektor tätig zu sein, ein Ende zu setzen.   zialen und kulturellen Rechte, ist ein Muss.
     Die Bemühungen um eine Reform des Sicherheitssektors          Die internationale Gemeinschaft und die Vereinten Natio-
     standen jedoch von Anfang an vor zahlreichen Heraus-          nen äußern immer wieder ihre Sorge, dass das Menschen-
     forderungen. Die Militärgerichte nämlich sind nach wie        rechtsproblem in Indonesien noch nicht gelöst ist. Mit
     vor unabhängig von jeglicher externer Aufsicht, während       anhaltender internationaler Unterstützung, kontinuierli-
     die internen polizeilichen und militärischen Mechanis-        chem Druck und dem Anmahnen der Rechenschaftspflicht
     men zur Untersuchung von Verstößen weiterhin kaum             endlich genüge zu tun, kann es gelingen, die indonesische
     genutzt werden. Personal, das mit schweren Verbrechen         Regierung daran zu erinnern, dass dieses Thema keine
     in Verbindung steht, einschließlich des Personals, das vor    verhandelbarer Tagesordnungspunkt sein darf. Denn die
     Menschenrechts- oder Militärgerichten dem Täterkreis          Opfer und Überlebenden von Menschenrechtsverletzun-
     zugeordnet wird, dient weiterhin, wird befördert und          gen warten noch immer auf Wahrheit und Gerechtigkeit.
     tritt ohne jegliche Überprüfung in Wahlämter ein.
     Gleichzeitig wird vor allem in Papua weiterhin mit Polizei-   Indria Fernida arbeitet als Regionalkoordinatorin für Asia Justice
     brutalität gefoltert und Sicherheitskräfte wenden exzessive   and Rights (AJAR), einer gemeinnützigen Organisation, deren Ziel
                                                                   es ist, zur Stärkung der Menschenrechte und zur Linderung der tief
     Gewalt an. Gewalt gegen Menschen- und Frauenrechts-           verwurzelten Straflosigkeit in der asiatisch-pazifischen Region bei-
     aktivist*innen, Arbeiter- und Bauernvertreter*innen, Kor-     zutragen. Sie ist auch Expertenmitglied des Asiatischen Netzwerks
     ruptionswächter*innen und Führer*innen indigener Grup-        für Übergangsjustiz (TJAN).

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