"Lieber Diktator als schwul". Deutschland im Spiegel der homophoben belarussischen Staatspropaganda der Lukaschenko-Ära

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Revue d’Allemagne et des pays de langue
                         allemande
                         53-2 | 2021
                         Les homosexualités en Allemagne (XIXe-XXIe siècles) :
                         un « Sonderweg » ?

„Lieber Diktator als schwul“. Deutschland im
Spiegel der homophoben belarussischen
Staatspropaganda der Lukaschenko-Ära
Alexander Friedman

Édition électronique
URL : https://journals.openedition.org/allemagne/2888
DOI : 10.4000/allemagne.2888
ISSN : 2605-7913

Éditeur
Société d'études allemandes

Édition imprimée
Date de publication : 31 décembre 2021
Pagination : 503-519
ISSN : 0035-0974

Référence électronique
Alexander Friedman, „„Lieber Diktator als schwul“. Deutschland im Spiegel der homophoben
belarussischen Staatspropaganda der Lukaschenko-Ära“, Revue d’Allemagne et des pays de langue
allemande [Online], 53-2 | 2021, Online erschienen am: 31 Dezember 2022, abgerufen am 04 Januar
2023. URL: http://journals.openedition.org/allemagne/2888 ; DOI: https://doi.org/10.4000/allemagne.
2888

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T. 53, 2-2021

„Lieber Diktator als schwul“. Deutschland im Spiegel
der homophoben belarussischen Staatspropaganda
der Lukaschenko-Ära
     Alexander Friedman *

  Anfang August 2020 blickten europäische Medien gespannt auf Belarus. Am 9. August
fanden in diesem sonst wenig beachteten postsowjetischen Staat die Präsidentschafts-
wahlen statt, wobei aufmerksame Beobachter*innen eine seit Wochen ungewöhnliche
Aufbruchsstimmung registrierten. In dem von der zentralen Wahlkommission ver-
kündeten Ergebnis war davon allerdings nichts zu erkennen: Sie erklärte den seit 1994
amtierenden autoritären Staatschef Alexander Lukaschenko mit 80,1 % der Stimmen
zum Wahlsieger. Aufgrund der offenkundigen und geradezu dreisten Wahlfälschung
gingen Zehntausende Menschen in der Hauptstadt Minsk und in der belarussischen
Provinz auf die Straßen. Von der Russischen Föderation unterstützt lehnte Luka-
schenko jegliche Verhandlungen mit der Opposition ab, ließ die Protestkundgebungen
brutal niederschlagen und Demonstrant*innen grausam misshandeln (1). Gleichzeitig
entfesselten die staatlich kontrollierten Medien eine radikale Propagandakampagne,
die den „kollektiven Westen“ (2) als Drahtzieher der Proteste darstellte.
  Da die deutsche Bundesregierung Lukaschenko verurteilte und die Protestbewegung
unterstützte, setzten die belarussischen Machthaber*innen auf deutschlandfeindliche

 *   Promovierter Historiker und Associate Member im „Centre for Anthropological Research on Museums
     and Heritage“ am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin.
 1 Zur Entwicklung der Protestbewegung in Belarus siehe: Osteuropa, 10/11 (2020): Macht statt Gewalt
   oder: Gewalt statt Macht. Belarus: Schritte zur Freiheit oder: Repression, Schikane, Terror; Melanie
   Arndt, Annette Schuhmann (Hg.), „Jetzt kennen uns alle. Ein Dossier zur gegenwärtigen Situation
   in Belarus“, Zeitgeschichte online, 15.12.2020 (zeitgeschichte-online.de/node/58300). Die in diesem
   Beitrag verwendeten Internetseiten wurden am 15.05.2021 abgerufen.
 2 Auf Russisch: „коллективный Запад“. Dieser Begriff, der die vermeintliche Homogenität der
   westlichen Welt suggerieren sollte, ist in Russland entstanden und wurde von der belarussischen
   Diktatur übernommen. Vgl. Ivan N. Timofeev, Rossija i kollektivnyj Zapad: novaja normal’nost
   (Russland und der kollektive Westen: neue Normalität), Moskau, NP RSMD, 2016.
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Klischees und Vorurteile, wobei die Bundesrepublik Deutschland (BRD) mit dem
„Dritten Reich“ gleichgesetzt und zudem zu einem vermeintlichen Hort perverser
Schwuler und Lesben stilisiert wurde (3). Es ist daher zu untersuchen, wie dieses Feind-
bild Deutschland als Homosexuellenhochburg vom Lukaschenko-Regime aufgebaut
und außen- bzw. innenpolitisch eingesetzt wurde. Um diese Fragen zu beantworten,
werde ich hier diesen noch nicht erforschten antideutschen homophoben Diskurs im
breiten Kontext der belarussischen Innenpolitik und der belarussisch-deutsch-euro-
päischen Beziehungen seit Mitte der 1990er Jahre analysieren. Meine Studie beruht
auf Erinnerungen von Zeitzeugen*innen sowie in erster Linie auf Pressepublikati-
onen belarussischer, russischer, deutscher sowie polnischer Provenienz. Hinsicht-
lich Belarus werden insbesondere die einschlägigen Publikationen bzw. Reportagen
der staatlich kontrollierten Medien, wie der Fernsehsender Belarus 1 und CTV, der
Nachrichtenagentur Belta und der vom Präsidialamt herausgegebenen Zeitung
SB. Belarus segodnja, welche die offiziellen Positionen des belarussischen Regimes
wiedergeben, berücksichtigt. In Betracht werden aber auch die Veröffentlichungen
der regierungskritischen unabhängigen, von der belarussischen Diktatur unterdrück-
ten Online-Medien wie naviny.by, mediaiq.by oder journalby.com gezogen. Relevante
Publikationen und Reportagen der in Belarus verbreiteten kremltreuen russischen
Medien wie der Nachrichtenagentur RIA Novosti oder des TV-Senders RT (vormals
Russia Today) werden ebenso behandelt.
   Zunächst werde ich die Unterdrückung der LGBTQI-Menschen in Belarus unter
Lukaschenkos Herrschaft kurz darstellen. Dann werde ich den Aufbau des homopho-
ben Feindbilds Deutschland im Rahmen der Diplomaten-Affäre (2004), der Wester-
welle-Lukaschenko-Kontroverse (2011-2013) und des Siegs von Conchita Wurst am
Eurovision Song Contest (2014) ausführlich beleuchten. Abschließend werde ich auf
die Diffamierung der Opponentinnen Swetlana Alexijewitsch und Maria Kolesnikowa
in der Propaganda als sogenannte Lesben aus Deutschland eingehen.

Die Unterdrückung der LGBTQI-Menschen in Belarus
  Im Mai 2020 veröffentlichte der europäische Zweig der International Lesbian, Gay,
Bisexual, Trans and Intersex Association (ILGA Europe) seinen neuen Index zur
LGBTQI-Freundlichkeit in verschiedenen Ländern Europas (4). Dem Index lagen die
Gesetzgebung, soziale Akzeptanz und tatsächliche Gleichberechtigung in insgesamt 49
Ländern zugrunde. Während Malta erneut den Index anführte und Luxemburg, Belgien,
Dänemark und Norwegen es in die Top Fünf geschafft haben, rangierten Deutschland
und Österreich auf dem sechzehnten bzw. siebzehnten Platz. Die meisten postsowjeti-
schen Länder nahmen mit der Türkei die letzten Plätze des Index ein. Mit dem 44. Platz
bestätigte die Republik Belarus ihren Ruf einer schwulenfeindlichen Diktatur.

3 Vgl. Christian Ganzer, „Alles ‚Prostituierte‘ und ‚Faschisten‘. Diffamierung der Proteste in Bela-
  rus auf Telegram“, Osteuropa, 10/11 (2020), S. 205-214; Jan Emendörfer, „Belarus: Wie sich die
  Staatspropaganda auf die Bundesregierung einschießt“, rnd.de, 11.03.2021 (www.rnd.de/politik/
  belarus-staatspropaganda-schiesst-sich-auf-bundesregierung-ein-O6QLFXDRMFDXRJPVKUT-
  XUDBMFU.html).
4 Vgl. Rainbow Europe 2020 (www.ilga-europe.org/rainboweurope/2020).
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   Die Geschichte der Gesetzgebung hinsichtlich der Homosexualität in Belarus ist
allerdings nicht linear. Unmittelbar nach der bolschewistischen Revolution 1917
wurden freiwillige homosexuelle Handlungen zwischen Männern – im Russischen
als „muželožstvo“ (Päderastie, Sodomie) pejorativ bezeichnet – in der Sowjetunion
(UdSSR), wozu Belarus als Teilrepublik gehörte, zunächst entkriminalisiert. Unter
Josef Stalin (1878-1953) erfolgte aber in den frühen 1930er Jahren eine erneute Kri-
minalisierung, wobei Haftstrafen von drei bis fünf Jahre Freiheitsentzug vorgesehen
waren. Die erneute Entkriminalisierung kam erst nach dem Zusammenbruch der
UdSSR zustande (5). Nach der Ukraine (1991), Lettland und Estland (1992), Litauen und
Russland (1993), erklärte Belarus die Homosexualität für straffrei im März 1994 (6). Der
an Russland orientierte Sowjetunion-Nostalgiker Alexander Lukaschenko (geb. 1954)
gewann jedoch im Juli 1994 die Präsidentschaftswahlen und etablierte in den nächsten
Jahren ein autoritäres neosowjetisches Regime (7), worauf die Situation von LGBTQI-
Menschen sich wieder verschlechtert hat.
   Belarussische LGBTQI-Aktivist*innen weisen auf die in Belarus fest verankerte
strukturelle Diskriminierung hin und berichten über aus der kommunistischen Zeit
bekannte, weit verbreitete politisch, kulturell, religiös und psychologisch bedingte
schwulenfeindliche Stereotype und Vorurteile (8). Eine wichtige Rolle spielt in diesem
Zusammenhang die einflussreiche orthodoxe Kirche, welche die Unterstützung des
autoritären Regimes genießt und in der homophoben Kampagne als treibende Kraft
fungiert (9). Die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in den frühen 1990er
Jahren entstandene LGBTQI-Infrastruktur wurde in Minsk und vor allem in der Pro-
vinz bereits in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre und in den früheren 2000er Jahren
zerstört: Interessenverbände wurden nicht registriert, LGBTQI-Medien verboten und
offene „Gay-Lokale“ geschlossen. Öffentliche Gay-Pride-Veranstaltungen durften in
der Regel nicht stattfinden (10). Laut belarussischen und internationalen Vereinen für
Menschenrechte wird die Homosexualität in Lukaschenkos Belarus aus der Öffent-
lichkeit verdrängt, wenig akzeptiert, nicht selten als unerwünschte „widernatürliche

5 Vgl. Rustam Alexander, Regulating homosexuality in Soviet Russia, 1956-1991: A different history,
  Manchester, Manchester University Press, 2021; Dan Healy, Russian Homophobia from Stalin to
  Sochi, London, Bloomsbury Publishing, 2017.
6 Vgl. Vladimir Volodin, Kvir-istorija Belarusi vtoroj poloviny XX veka: popytka približenija (Queer-
  Geschichte Belarus’s in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: ein Versuch der Annäherung),
  Minsk, Belarusian Queer History, 2016, S. 57f. Die Entkriminalisierung betrifft dann Moldau (1995),
  Kasachstan und Tadschikistan (1998), Georgien und Aserbaidschan (2000) sowie Armenien (2003).
  In Usbekistan und Turkmenistan bleibt hingegen die Kriminalisierung bestehen.
7 Vgl. Andrew Wilson, Belarus: The Last European Dictatorship, New Haven Conn, Yale University
  Press, 2021.
8 Vgl. Cubidadi, „Aktivisty: Andrej Zavalej“ (Aktivisten: Andrey Zavaley), 34mag.net, 12.09.2018
  (34mag.net/ru/post/andrey-zavaley); Marija Vojtovič, „K meždunarodnomu dnju bor’by s gomo-
  fobiej“ (Zum Internationalen Tag der Bekämpfung der Homophobie), euroradio.fm, 14.05.2019
  (euroradio.fm/ru/k-mezhdunarodnomu-dnyu-borby-s-gomofobiey-efir-v-1205). Zur Situation in der
  UdSSR siehe: V. Volodin, Kvir-istorija Belarusi vtoroj poloviny XX veka (Anm. 6).
9 Vgl. Sergij Lepin, „Byt’ teoretikom opravdanija grecha – ėto nravstvennoe dnišče“ (Es ist ein moralischer
  Tiefpunkt, ein Theoretiker der Rechtfertigung der Sünde zu sein), church.by, 03.07.2019 (church.by/
  news/protoierej-sergij-lepin-byt-teoretikom-opravdanija-greha-eto-nravstvennoe-dnishe).
10 V. Volodin, Kvir-istorija Belarusi vtoroj poloviny XX veka (Anm. 6), S. 58-66.
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Erscheinung“ bzw. Krankheit charakterisiert, (mit)verantwortlich für die akute Krise
der traditionellen Familienstrukturen gemacht und insbesondere zum Grund für die
niedrige Geburtenrate erklärt (11). Die Verfolgung von Homosexuellen im „Dritten
Reich“ und in der Sowjetunion werden nicht aufgearbeitet. Im Schulunterricht kommt
das Thema „Homosexualität“ entweder überhaupt nicht vor oder Homosexuelle wer-
den gezielt diffamiert (12). Keine Antidiskriminierungsgesetze werden verabschiedet
und gleichgeschlechtliche Partnerschaften werden grundsätzlich nicht anerkannt.
   Etliche Belaruss*innen, sei es Lukaschenkos Anhänger*innen, sei es seine
Kritiker*innen, unterstützen die Diskriminierung und sogar die Verfolgung von
LGBTQI-Menschen. Nach Angaben der unabhängigen Menschenrechtsorganisa-
tion Belarussisches Helsinki-Komitee sprachen sich etwa 62 % der Bevölkerung 2010
für eine erneute Kriminalisierung der Homosexualität aus, gegen 47 % in 2002 (13).
Obschon diese bislang nicht zustande kam, hat sich die Situation in den folgenden
Jahren nicht verbessert. Bei einer 2017 durchgeführten Studie des US-amerikanischen
Pew Research Center vertraten 75 % der Befragten im Alter zwischen 18 und 35 Jahren
sowie 87 % der älteren Befragten die Ansicht, dass „die Homosexualität nicht von der
Gesellschaft akzeptiert sein sollte“ (14). Eine weitere Studie des unabhängigen belarus-
sischen Forschungszentrums IPM aus dem Jahr 2018 zeigte, dass fast 74 % der Befrag-
ten Homosexualität als ein Phänomen betrachten, das „gesellschaftlichen Tadel“
verdiene (15). In den frühen 2000er Jahren schlug sich die homophobe Stimmung in
Gewaltaktionen und Angriffen auf Homosexuelle nieder, welche auch Todesopfer
forderten, wie bspw. 2001 den ehemaligen Direktor eines Minsker Schwulenclubs (16).
   Diese erschreckenden Entwicklungen wurden allerdings sowohl in Belarus als auch
im Ausland kaum beachtet. Erst 2004, im Kontext der belarussisch-deutschen Diplo-
maten-Affäre, rückte die Homophobie in Belarus ins Blickfeld der internationalen
Öffentlichkeit.

11 Vgl. Associacija ravnych prav, Belorusskij Chel’sinkskij komitet (Hg.), Za polčasa do vesny.
   Doklad o diskriminacii i neravenstve v Belarusi (Eine halbe Stunde vor dem Frühling. Bericht über
   Diskriminierung und Ungleichheit in Belarus), London, Strom Ltd., 2013, S. 166-176; Amnesty
   International (Hg.), Less Equal. LGBIT Human Rights Defenders in Armenia, Belarus, Kazakhstan,
   and Kyrgyzstan, London, Amnesty International, 2017, S. 23-27.
12 Vgl. Associacija ravnych prav, Belorusskij Chel’sinkij komitet, Za polčasa do vesny (Anm. 11),
   S. 167 und 172; Taras Tarnalickij, „Pod znakom Pi. Možno li vylečit’ naše obščestvo ot gomofobii“
   (Im Zeichen von Pi. Ist es möglich, unsere Gesellschaft von Homophobie zu heilen?), Belarusskij
   žurnal, 14.06.2017 (journalby.com/news/pod-znakom-pi-mozhno-li-vylechit-nashe-obshchestvo-ot-
   gomofobii-965).
13 Vgl. Associacija ravnych prav, Belorusskij Chel’sinkij komitet, Za polčasa do vesny (Anm. 11),
   S. 166.
14 Amnesty International, Less Equal (Anm. 11), S. 26. Originalzitat: „homosexuality should not be
   accepted by society.“
15 Dar’ja Urban, Cennosti naselenija Belarusi. Rezul’taty nacional’nogo oprosa naselenija (Werte der
   Bevölkerung von Belarus. Ergebnisse der nationalen Bevölkerungsbefragung), Minsk, Issledovatel’skij
   centr IPM, 2019, S. 24. Originalzitat: „общественное порицание“.
16 Vgl. V. Volodin, Kvir-istorija Belarusi vtoroj poloviny XX veka (Anm. 6), S. 59. Vgl. „Ot poboev
   skončalsja byvšij direktor minskogo gej-kluba ‚Oskar‘“ (Ehemaliger Direktor des Minsker
   Schwulenclubs „Oscar“ ist niedergeschlagen worden), BDG. Belorusskaja delovaja gazeta, 04.07.2001
   (bdg.by/news/news.htm%3F12510%2C4).
Deutschland im Spiegel der homophoben belarussischen Staatspropaganda                       507

Das homophobe Feindbild Deutschland
Die Diplomaten-Affäre (2004)
  Im Vorfeld der vom Westen kritisierten Volksabstimmung über die Verfassungs-
änderung, die Lukaschenko bei der nächsten Präsidentschaftswahl zu kandidieren
erlauben sollte, schlugen im Oktober 2004 die belarussischen Staatsmedien Alarm.
Das Staatsfernsehen berichtete empört über einen 40-jährigen deutschen Diploma-
ten, der in der bundesrepublikanischen Botschaft in Minsk tätig gewesen war. Er
hätte einen inzwischen wegen Rauschgiftbesitzes festgenommenen ukrainischen
Lebenspartner gehabt und in seiner Dienstwohnung Sex-Orgien veranstaltet (17).
Während das Auswärtige Amt der Bundesrepublik den betroffenen Diplomaten
sofort aus Minsk abzog, führte die deutsche Presse den diplomatischen Eklat zwi-
schen Minsk und Berlin zutreffend auf den eigentümlichen Staatchef Lukaschenko
zurück, der die westliche Kritik seiner autoritären Politik habe kontern wollen.
Er habe den Deutschen durch seinen Geheimdienst KGB bespitzeln lassen und
die antideutsche Medienoffensive persönlich abgesegnet. So spottete zum Beispiel
das Hamburger Wochenmagazin Stern in Anspielung auf Stanley Kubricks (1928-
1999) satirisches Meisterwerk Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben
(1964) über Lukaschenko, der als „der Dr. Seltsam Weißrusslands“ charakterisiert
wurde (18).
  Die Diplomaten-Affäre stellte die Weichen für die Entstehung und Entwicklung
eines homophoben antideutschen Feindbildes. Es war aber die Hetzkampagne gegen
Guido Westerwelle, die es untermauert hat, und dessen Verbreitung wurde durch die
innen- und außenpolitische Konjunktur begünstigt.

Der Fall Guido Westerwelle (2011-2013)
  Vor der Bundestagswahl im September 2009, bei der die Freie Demokratische Partei
(FDP) mit 14,9 % einen großen Erfolg feierte, war der liberale deutsche Politiker Guido
Westerwelle (1961-2016) im postsowjetischen Raum lediglich unter Deutschland-
Expert*innen bekannt (19). Nachdem er in die neue Bundesregierung unter Angela
Merkel (geb. 1954) als Vizekanzler und Außenminister eingetreten war, setzten sich
aber sowohl die belarussische Presse als auch in Belarus verbreitete russische Medien
mit ihm auseinander und hoben dabei insbesondere seine Homosexualität hervor,

17 Das Lukaschenko-kritische belarussische Informationsportal charter97.org hat ausführlich über die
   Diplomaten-Affäre berichtet. Das älteste und größte russischsprachige LGBTQI-Portal gay.ru griff
   den Vorfall auf und berief sich dabei auf den charter97-Bericht. Inzwischen haben jedoch sowohl
   charter97.org als auch gay.ru ihre Berichte aus unbekannten Gründen von ihren Seiten genommen. Die
   gay.ru-Publikation lässt sich jedoch auf der Seite des LGBT-Informationszentrum GENDERDOC-M
   aus Moldau finden. Vgl. „Lukašenko sprovociroval diplomatičeskij gej-skandal“ (Lukaschenko hat
   einen diplomatischen Schwulenskandal provoziert), gdm.md, 12.10.2004 (gdm.md/ru/content/
   lukashenko-sprovociroval-diplomaticheskiy-gey-skandal-0).
18 Deutsche Presse-Agentur, „Der Dr. Seltsam Weißrusslands“, Stern, 10.10.2004 (www.stern.de/
   politik/ausland/skandal-der-dr--seltsam-weissrusslands-3554736.html). Siehe auch: „Lukaschenko
   entsetzt Diplomaten“, queer.de, 11.10.2004 (www.queer.de/detail.php?article_id=1763).
19 Vgl. Aleksandr V. Šarapo, Politečeskaja sistema i vnešnjaja politika Germanii, Avstrii i Švejcarii
   (Politisches System und Außenpolitik von Deutschland, Österreich und der Schweiz), Minsk, BGU,
   2007, S. 47.
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manchmal eher neutral, um eine sog. exotische Eigenschaft zu thematisieren, öfter
jedoch, um den deutschen Staatsmann zu diffamieren. Stellvertretend kann an dieser
Stelle etwa die liberale Moskauer Zeitung Novye izvestija (Neue Nachrichten) erwähnt
werden, die am 29. September 2009 einen Bericht mit dem Titel „Ein Homosexueller
wird zum neuen deutschen Außenminister“ veröffentlichte (20). Trotz der homophoben
Diplomaten-Affäre aus dem Jahr 2004, die noch vor wenigen Jahren einen Tiefpunkt
der belarussisch-deutschen Beziehungen markiert hatte, ging aber die belarussische
Staatspropaganda mit Westerwelle zunächst gelassen um. Die vom Präsidialamt
herausgegebene Zeitung SB. Belarus segodnja (SB. Belarus heute) blendete in ihrem
Bericht über den Ausgang der Bundestagswahl 2009 das Privatleben des FDP-Chefs
gänzlich aus (21). Westerwelles Homosexualität wurde in der Zeitung zum ersten Mal
im März 2010 angedeutet, wobei die SB die Vetternwirtschaftsvorwürfe gegen den
deutschen Außenminister thematisierte und in diesem Kontext auf seinen langjähri-
gen Lebensgefährten, den Sport- und Eventmanager Michael Mronz (geb. 1967), mit
neutralem Ton hinwies (22). Im September 2010 fand die Hochzeit von Mronz und Wes-
terwelle statt, über die sowohl in Belarus als auch in Russland ausführlich berichtet
wurde (23). Bemerkenswert ist, dass die SB die Hochzeit eher sachlich darstellte und auf
homophobe Anspielungen verzichtete.
  Ende Oktober 2010 kam die überraschende Nachricht über einen bevorstehenden
Staatsbesuch des Außenministers Westerwelle und seines polnischen Amtskollegen
Radosław Sikorski (geb. 1963), der im Vorfeld der belarussischen Präsidentschafts-
wahl am 19. Dezember 2010 stattfinden sollte (24). Sikorski und Westerwelle erschie-
nen tatsächlich Anfang November in Minsk, trafen sich mit ihrem belarussischen
Amtskollegen Sergej Martynow (25) (geb. 1953) und führten Verhandlungen mit

20 „Ministrom inostrannych del Germanii stanet gej“, Novye izvestija, 29.09.2009 (newizv.ru/news/
   world/29-09-2009/115128-ministrom-inostrannyh-del-germanii-stanet-gej-foto). Siehe auch: „Gido
   Vestervelle, novaja figura v rukovodstve Germanii“ (Guido Westerwelle, neue Figur in der deutschen
   Führung), ria.ru, 28.09.2009 (ria.ru/20090928/186649628.html).
21 „Novoe pravitel’stvo FRG planirujut sformirovat’ k koncu oktjabrja“ (Die neue Regierung Deutsch-
   lands soll bis Ende Oktober gebildet werden), sb.by, 28.09.2009 (www.sb.by/articles/novoe-
   pravitelstvo-frg-planiruyut-sformirovat-k-kontsu-oktyabrya.html).
22 „Ministra inostrannych del FRG zapodozrili v kumovstve“ (Bundesaußenminister der
   Vetternwirtschaft verdächtigt), sb.by, 11.03.2010 (www.sb.by/articles/ministra-inostrannykh-del-frg-
   zapodozrili-v-kumovstve.html).
23 Vgl. „Glava MID Germanii i ego sputnik žizni poženilis’“ (Der deutsche Außenminister und sein
   Lebensgefährte haben geheiratet), sb.by, 18.09.2010 (www.sb.by/articles/glava-mid-germanii-
   i-ego-sputnik-zhizni-pozhenilis.html); „Glava MID FRG ‚ženilsja‘ na svoem druge“ („Verhei-
   ratet“ mit seinem Freund), rbc.ru, 18.09.2010 (www.rbc.ru/society/18/09/2010/5703de4a9a7947
   0ab5025053); „Ministr inostrannych del Germanii zaključil odnopolyj brak“ (Der deutsche Außen-
   minister hat eine gleichgeschlechtliche Ehe geschlossen), vesti.kz, 18.09.2010 (vesti.kz/accedent/
   ministr-inostrannyih-del-germanii-zaklyuchil-odnopolyiy-brak-64019/).
24 Vgl. „2 nojabrja Minsk posetjat ministry inostrannych del Pol’ši i Germanii“ (Die Außenminister
   Polens und Deutschlands besuchen Minsk am 2. November), sb.by, 29.10.2010 (www.sb.by/articles/2-
   noyabrya-minsk-posetyat-ministry-inostrannykh-del-polshi-i-germanii.html); „Segodnja Belarus’
   posetjat glavy MID FRG i Pol’ši“ (Außenminister Deutschlands und Polens besuchen heute Belarus),
   sb.by, 02.11.2010 (www.sb.by/articles/segodnya-belarus-posetyat-glavy-mid-frg-i-polshi.html).
25 Belarussische Transliteration: Sjarhej Martynaˋ.
Deutschland im Spiegel der homophoben belarussischen Staatspropaganda                             509

Lukaschenko. Westerwelles Homosexualität spielte in der offiziellen belarussischen
Berichterstattung überhaupt keine Rolle (26). Der deutsche Vizekanzler, im belarussi-
schen Außenministerium mit dem Spitznamen „Schwesterwelle“ verspottet (27), wurde
insgesamt wohlwollend als Politiker dargestellt, der zwar einen viel zu großen Wert auf
Rechtsstaat, Demokratie, freie und faire Wahlen sowie Menschenrechte lege, jedoch
grundsätzlich an guten Beziehungen zwischen Belarus und der Europäischen Union
(EU) interessiert sei (28). Bei ihrem Besuch in Minsk stellten Westerwelle und Sikorski
der belarussischen Seite drei Milliarden Euro innerhalb von drei Jahren in Aussicht,
vorausgesetzt die bevorstehende Präsidentschaftswahl würde fair und demokratisch
ablaufen (29). Lukaschenko schlug jedoch das Angebot der EU aus, ließ die Wahlen
erneut fälschen und die anschließenden Proteste brutal niederschlagen. Die Reaktion
aus Berlin und Warschau ließ nicht lange auf sich warten: Westerwelle und Sikor-
ski verurteilten Lukaschenkos Politik scharf (30). Als Antwort griff das belarussische
Regime das Thema des angeblich schwulen Deutschlands wieder auf.
  Rückblickend berichtete Sikorski in der polnischen Presse (2011) und in seinen Erin-
nerungen (2018) über die brisanten Gespräche, die er und Westerwelle mit Lukaschenko
geführt und dabei das heikle Thema „Homosexualität“ behandelt hatten (31). Während

26 Vgl. Tat’jana Poležaj, „Metody sankcij i ograničenij dolžny ujti iz otnošenij Belarusi i ES – Lukašenko“
   (Sanktionen und Beschränkungen sollten aus den Beziehungen zwischen Belarus und der EU gestri-
   chen werden – Lukaschenko), belta.by, 02.11.2010 (www.belta.by/president/view/metody-sanktsij-i-
   ogranichenij-dolzhny-ujti-iz-otnoshenij-belarusi-i-es-lukashenko-137056-2010/); Anželika Mil’to,
   „Vzaimnyj interes i novye impul’sy“ (Gegenseitiges Interesse und neue Impulse), sb.by, 04.11.2010
   (www.sb.by/articles/vzaimnyy-interes-i-novye-impulsy.html); „Glavy MID Germanii i Pol’ši posetili
   Belarus’“ (Deutschlands und Polens Außenminister besuchten Belarus), sb.by, 09.11.2010 (www.sb.by/
   articles/glavy-mid-germanii-i-polshi-posetili-belarus.html).
27 Interview mit dem Diplomaten Pavel Mazukewitsch (geb. 1979) durch Alexander Friedman,
   22.05.2021.
28 Vgl. Vladimir Matveev, „Pol’ša zainteresovana v tom, čtoby Belarus’ byla evropejskoj naciej“ (Polen
   ist daran interessiert, dass Belarus eine europäische Nation wird), belta.by, 02.11.2010 (www.belta.
   by/president/view/polsha-zainteresovana-chtoby-belarus-byla-evropejskoj-natsiej-137057-2010);
   „Evropa želaet dobrososedskich partnerskich otnošenij s Belarus’ju – G. Vestervelle“ (Europa will
   gutnachbarliche Beziehungen mit Belarus – G. Westerwelle), sb.by, 02.11.2010 (www.sb.by/articles/
   evropa-zhelaet-dobrososedskikh-partnerskikh-otnosheniy-s-belarusyu-g-vestervelle.html).
29 Vgl. Aleksandr Klaskovskij, „Evropa oglasila cennik na svobodnye vybory v Belarusi“ (Europa
   verlautbart ihr Preisschild für freie Wahlen in Belarus), naviny.by, 02.11.2010 (naviny.online/rubrics/
   elections/2010/11/02/ic_articles_623_171084).
30 Vgl. Elena Kropatcheva, „Presidential Election in Belarus in 2010: The Winner Takes it All?“, in:
   IFSH (Hg.), OSCE Yearbook 2011, Baden-Baden, Nomos, 2012, S. 87-105, hier S. 101f. Siehe auch:
   Carl Bildt, Karel Schwarzenberg, Radek Sikorski, Guido Westerwelle, „Lukashenko the
   Loser“, nytimes.com, 23.12.2010 (www.nytimes.com/2010/12/24/opinion/24iht-edbildt24.html);
   „EU schockiert über Gewalt nach der Präsidentschaftswahl“, abendblatt.de (www.abendblatt.de/
   politik/article107902804/EU-schockiert-ueber-Gewalt-nach-Praesidentschaftswahl.html);    Marko
   Langer, „Ausschreitungen in Minsk nach Präsidentenwahl“, dw.com, 20.12.2010 (www.dw.com/de/
   ausschreitungen-in-minsk-nach-pr%C3%A4sidentenwahl/a-6358279).
31 Vgl. Michał Krzymowski, „Słowa Węgrzyna kopią wypowiedzi... Łukaszenki“ (Węgrzyns Worte
   kopieren die Aussagen von... Lukaschenko), wprost.pl, 12.02.2011 (www.wprost.pl/tylko-u-
   nas/231260/null); Radosław Sikorski, Polska może być lepsza. Kulisy polskiej dyplomacji (Polen
   kann besser sein. Hinter den Kulissen der polnischen Diplomatie), Krakau, Znak Horyzont, 2018,
   S. 231-237.
510                                        Revue d’Allemagne

Westerwelle die Minsker Gespräche niemals kommentierte, betonte Sikorski, dass er
und Westerwelle Lukaschenko bewusst die Bedeutung der Rechte von Minderheiten
und der Toleranz in Europa hätten erklären wollen und aus diesem Grund gezielt die
Themenkomplexe ethnische Minderheiten sowie Homosexualität aufgegriffen hätten.
Während der Deutsche sich auf ethnische Minderheiten konzentriert habe, habe sich
der Pole mit Homosexuellen beschäftigt (32). Der Belarusse soll dabei behauptet haben,
dass es gar keine Homosexuellen in seinem Land gebe, und wies auf den seiner Mei-
nung nach gravierenden Unterschied zwischen Lesben und Schwulen hin: Während
man beim lesbischen Sex aus Interesse sogar zuschauen könne, sollten Schwule am bes-
ten in speziellen Reservaten auf dem Land eingesperrt und als Landarbeiter eingesetzt
werden. Dieses Gespräch wurde von Lukaschenko bestätigt, der bei seinem Auftritt
vor der belarussischen Staatspresse im Februar 2011 bedauerte, dass es in Belarus doch
Homosexuelle gebe, und hob hervor, dass er „golubye“ (Schwuchteln) nicht möge. Als
ehrlicher Mensch mache er keinen Hehl aus seiner Abneigung und habe diese auch den
„großen Staatsmännern“ mit der „richtigen“ (Sikorski) und „falschen“ sexuellen Ori-
entierung (Westerwelle) mitgeteilt (33). Bei einer Pressekonferenz mit russischen Medien
im Oktober 2011 machte er sich weiter über Guido Westerwelle lustig, den er zu einem
unprofessionellen überempfindlichen schwulen Mann stilisierte, der das Private nicht
vom Beruflichen trennen könne, sich von Lukaschenko persönlich angegriffen fühle
und den belarussischen Staatschef deshalb aus persönlichen Gründen kritisiere (34).
Offensichtlich vom Thema „Homosexualität“ besessen, habe der deutsche Außenmi-
nister auch mit dem belarussischen Gastgeber über Homosexualität reden wollen. Auf
ironische Weise behauptete Lukaschenko, dass er über die sexuelle Orientierung seines
Gesprächspartners nichts gewusst hätte. Er habe lediglich seine Meinung offen kund-
getan und Westerwelle wohl zu seinem eigenen Bedauern ohne Absicht verletzt.
  Nach diesen Hetztiraden im Februar und Oktober 2011 setzte Lukaschenko seinen
verbalen Feldzug gegen Westerwelle im März 2012 fort. Nachdem der deutsche Außen-
minister seine Unterstützung der demokratischen Opposition in Belarus bekräftigt und
den Minsker Machthaber als „Europas letzten Diktator“ charakterisiert hatte, trat Luka-
schenko vor die Presse am Rande einer Ski-Veranstaltung am 4. März 2012 und erklärte,
er halte nichts von diesem entweder „pinken“ (lesbischen) oder „blauen“ (schwulen)
Politiker aus Deutschland und es sei jedenfalls „besser Diktator als schwul“ zu sein (35).

32 Vgl. R. Sikorski, Polska może być lepsza (Anm. 31), S. 235. Im März 2013 bestätigte Lukaschenko diese
   Darstellung in einem Interview mit dem russischen Sender Russia Today: „Interv’ju A. Lukašenko
   telekanalu Russia Today“ (Interview von A. Lukaschenko mit dem Fernsehsender Russia Today),
   tvr.by, 20.03.2013 (https://www.youtube.com/watch?v=bZQYxBp5Jf8).
33 „Lukašenko osudil dejatelej pravil’noj i nepravil’noj orientacii“ (Lukaschenko verurteilte die
   Staatsmänner mit der richtigen und falschen Orientierung), ctv.by, 22.02.2011 (www.youtube.
   com/watch?v=bFq-SlWKuIc). Originalzitat: „великие деятели правильной и неправильной
   ориентации.“
34 Vgl. „Lukašenko sožaleet, čto obidel glavu MID FRG vysskazyvanijami o gejach“ (Lukaschenko
   bedauert, BRD-Außenminister mit seinen Äußerungen über Homosexuelle beleidigt zu haben),
   ria.ru, 07.10.2011 (ria.ru/20111007/451916559.html).
35 Belta, „Belarus’ budet žestko reagirovat’ na sankcionnye mery“ (Belarus wird hart auf Sanktionen
   reagieren), 04.03.2012 (www.youtube.com/watch?v=aPJii-DroGg). Originalzitat: „не то розовый, не
   то голубой“, „лучше быть диктатором, чем голубым“.
Deutschland im Spiegel der homophoben belarussischen Staatspropaganda                         511

Lukaschenkos Ausfälle gegen Westerwelle wurden im belarussischen Staatsfernsehen
übertragen und im Internet weit verbreitet (36).
   In der Folgezeit tauchte Westerwelle in den belarussischen Staatsmedien nur selten
auf. Ende August 2012 warf ihm etwa die SB vor, den in Belarus und Russland inzwi-
schen eher wohlwollend beurteilten Hitler-Stalin-Pakt kritisiert zu haben (37). Nach der
bitteren Wahl-Niederlage der FDP im September 2013 und seinem Rückzug aus der
Politik verschwand Guido Westerwelle aus dem Blickfeld der belarussischen Presse.
Über seine Krebserkrankung wurde nicht berichtet, sein Tod am 18. März 2016 ledig-
lich von der staatlichen Nachrichtenagentur Belta kommentarlos gemeldet (38). Umso
überraschender erscheint die Tatsache, dass die belarussische Staatspropaganda 2017
plötzlich auf Westerwelle einging, ohne jedoch seine Homosexualität zu thematisie-
ren: Am 17. Oktober ließ der Herausgeber der SB Pawel Jakubowitsch (39) (geb. 1946)
Sikorskis und Westerwelles Staatsbesuch aus dem Jahr 2010 Revue passieren und erin-
nerte seine Leser*innen an die europäischen Außenminister, die Lukaschenko damals
erfolglos hätten kaufen wollen (40). Besonders makaber mutet aber der Gastbeitrag des
ehemaligen Parlamentsabgeordneten Roman Ananjew (41) (geb. 1964) in der regime-
treuen Parlamentszeitung Narodnaja hazeta (Volkszeitung) vom 22. Dezember an,
der Lukaschenkos Kritiker wie Guido Westerwelle oder den ehemaligen Präsidenten
der Europäischen Kommission von 2004 bis 2014 José Manuel Barroso (geb. 1956)
angriff und spöttisch fragte, wo sich nun der einstige deutsche Vizekanzler befinde (42).

Der Fall Conchita Wurst (2014)
   Angesichts der rasanten Verschlechterung der Beziehungen zwischen Belarus und
der EU nach der manipulierten Präsidentschaftswahl 2010 ließ Lukaschenko seinen
antiwestlichen Gefühlen freien Lauf und nutzte in der ersten Hälfte der 2010er Jahre
das bislang wenig beachtete Thema „Homosexualität“, um die vermeintliche mora-
lische Verwerflichkeit des Westens und seiner Werte hervorzuheben. Während die

36 Vgl. „Lukaschenko beschimpft Westerwelle“, spiegel.de, 04.03.2021 (www.spiegel.de/politik/
   ausland/besser-diktator-als-schwul-lukaschenko-beschimpft-westerwelle-a-819206.html); „‚Lieber
   Diktator als schwul‘ Präsident Weißrusslands attackiert Westerwelle“, tagesspiegel.de, 05.03.2012
   (www.tagesspiegel.de/politik/lieber-diktator-als-schwul-praesident-weissrusslands-attackiert-
   westerwelle/6285582.html); „Westerwelle reagiert gelassen auf Lukaschenko“, Euronews, 05.03.2012
   (www.youtube.com/watch?v=2NpzmKvVywM).
37 „Počemu v 1939 godu byl zaključen pakt?“ (Warum wurde der Pakt 1939 geschlossen?), sb.by,
   30.08.2012 (www.sb.by/articles/pochemu-v-1939-godu-byl-zaklyuchen-pakt.html).
38 „Umer ėks-glava MID Germanii Gido Vestervelle“ (Bundesaußenminister Guido Westerwelle ist
   tot), belta.by, 18.03.2016 (www.belta.by/world/view/umer-eks-glava-mid-germanii-gido-vestervelle-
   185934-2016/).
39 Belarussische Namensvariante: Pavel Jakubovič.
40 Pavel Jakubovi, „S terminom ‚fašisty‘, dumaju ja, nado segodnja kak nikogda obraščat’sja delikatno“
   (Mit dem Begriff „Faschisten“, denke ich, sollte man heute feinfühlig wie nie zuvor umgehen), sb.by,
   17.10.2017 (www.sb.by/articles/priemnaya-glavnogo-redaktora-chast-4.html).
41 Belarussische Namensvariante: Roman Anan’eˋ.
42 Vgl. Roman Anan’ev, „Neformal’nyj vzgljad na minskie soglašenija iz Minska. My nužny drug
   drugu“ (Informelle Sicht auf die Minsker Vereinbarungen aus Minsk. Wir brauchen uns gegenseitig),
   Narodnaja hazeta, 22.12.2017 (www.sb.by/articles/my-nuzhny-drug-drugu-22122017.html).
512                                         Revue d’Allemagne

Regimegegner*innen ihn als Schande für das Land betrachten, der sich durch Ausfälle
gegen Westerwelle international blamiert habe (43), feierten seine Anhänger*innen den
Staatschef, der sich von den deutschen bzw. westeuropäischen „Schwuchteln“ habe
nicht bevormunden lassen (44). So witzelte Lukaschenko 2013 über eine Gay-Pride-
Veranstaltung, die man am Stadtrand von Minsk für Schaulustige hätte organisieren
können, und bedauerte, wie bereits 2012 (45), verständnisvoll die Frauen, deren Männer
versagt hätten und die sich deshalb auf gleichgeschlechtliche Beziehungen einlassen
würden (46). Eine Einführung der „unchristlichen“ gleichgeschlechtlichen Ehe in der
Republik Belarus nach dem westlichen Vorbild wurde kategorisch ausgeschlossen (47).
   Unter diesen Umständen erschien es naheliegend, dass Minsk die homophobe Politik
des Kremls und etwa das 2013 von der russischen Staatsduma verabschiedete Gesetz
gegen die „Propaganda von nicht-traditionellen sexuellen Beziehungen gegenüber
Minderjährigen“ übernehmen würde (48). Dazwischen kam aber die Ukraine-Krise
von 2013-2014 mit der russischen Krim-Annexion und dem russischen Hybridkrieg
gegen die Ukraine, welche die auf ihren Machterhalt und die territoriale Integrität
des Landes bedachte belarussische Staatsführung erschütterten, zu einer vorsichtigen
Abgrenzung von Russland und gleichzeitig zur langsamen Verbesserung der belarus-
sisch-europäischen Beziehung führten. Um wohl das ohnehin angespannte Verhältnis
zum Westen nicht zusätzlich zu strapazieren, ließ der belarussische Staatschef seinen
drastischen Worten keine praktischen Taten folgen und verzichtete sogar auf offen
homophobe Rhetorik. Obschon Lukaschenko von einer LGBTQI-feindlichen Politik
Moskauer Prägung weitestgehend absah, hat diese auch in Belarus ihre Spuren hin-
terlassen. So fasste die russische rechtsradikale und schwulenfeindliche Bewegung

43 Vgl. „5 cytat Lukašėnki pra hejaˋ / 5 citat Lukašenko o gejach“ (5 Zitate von Lukaschenko über
   Schwule), euroradio.fm, 17.05.2019 (www.youtube.com/watch?v=H7qqKC20Z6g). Siehe auch:
   Interview von P. Mazukewitsch durch A. Friedman (Anm. 27).
44 Vgl. Tat’jana Mel’ničuk, „Žizn’ geev v Belorussii: ili valit’, ili ne vysovyvat’sja“ (Leben von
   Homosexuellen in Belarus: entweder verschwinden oder nicht auffallen), bbc.com/russian, 17.05.2017
   (www.bbc.com/russian/features-39954700). Siehe auch: „Lukašenko osudil dejatelej pravil’noj i
   nepravil’noj orientacii“ (Anm. 33).
45 Vgl. „Lukašenko: ėto mužikov vina, čto ženščina segodnja ženščine zamenila mužčinu“ [Lukaschenko:
   Es ist die Schuld der Männer, dass heute eine Frau einen Mann durch eine Frau ersetzt hat], naviny.by,
   25.10.2012 (naviny.online/rubrics/society/2012/10/25/ic_media_video_116_7275).
46 Vgl. „Interv’ju A. Lukašenko telekanalu Russia Today“ (Anm. 32).
47 Vgl. „Lukašenko: Poka ja prezident, ne budet tut odnopolych brakov! Nu ne sozreli my dlja golubizny“
   (Lukaschenko: Solange ich Präsident bin, wird es keine gleichgeschlechtlichen Ehen geben! Nun, wir
   sind nicht reif für die Schwuchtelei), tut.by, 19.04.2013 (news.tut.by/society/344873.html). Dieses
   Portal ist nicht mehr zugänglich. Es wurde von der belarussischen Regierung im Mai 2021 verboten.
48 Federal’nyj zakon O vnesenii izmenenij v stat’ju 5 Federal’nogo zakona „O zaščite detej ot informcaii,
   pričinjajuščej vred ich zdorov’ju i razvitiju“ i otdel’nye zakonodatel’nye akty Rossijskoj Federacii v
   celjach zaščity detej ot informacii, propagandirujuščie otricanie tradicionnych semejnych cennostej
   (Föderales Gesetz über die Einführung von Änderungen im Artikel 5 des Föderalen Gesetzes
   „Über Kinderschutz vor Information, die ihre Gesundheit und Entwicklung schädigt“ und einzelne
   Gesetzesakte der Russischen Föderation zwecks Kinderschutz vor Informationen, die die Ablehnung
   traditioneller Familienwerte propagieren), 29.06.2013 (pravo.gov.ru/proxy/ips/?docbody=&nd=10216
   6334&rdk=&backlink=1). Originalzitat: „пропаганда нетрадиционных сексуальных отношений
   среди несовершеннолетних“.
Deutschland im Spiegel der homophoben belarussischen Staatspropaganda                           513

Occupy Pedophilia Fuß in Belarus und machte durch Hetzaktionen gegen Homose-
xuelle auf sich aufmerksam (49). Der prorussisch eingestellte ehemalige Innenminis-
ter 2012 bis 2019 Igor Schunewitsch (50) (geb. 1967) sorgte regelmäßig für homophobe
Schlagzeilen und verbreitete gezielt schwulenfeindliche Ressentiments in der belarus-
sischen Polizei (Miliz) (51). Das noch in den 2000er Jahren in Russland entstandene
und im Zuge der Ukraine-Krise von den staatlich-kontrollierten russischen Medien
aufgewertete Feindbild „Gayropa“, bei dem insbesondere eine Vorherrschaft einer sog.
Schwulenlobby in der EU suggeriert wurde, schwappte auf Belarus über (52). Zu einem
der Symbole des „endgültigen moralischen Sittenverfalls in der EU“ wurde von radi-
kalen Lukaschenko-Anhänger*innen die österreichische Gewinnerin des Eurovision
Song Contest 2014 Conchita Wurst (geb. 1988) stilisiert, die als „Dame mit einem Bart“
beschimpft und, zumal Deutschmuttersprachlerin, manchmal irrtümlich als Deut-
sche wahrgenommen und in die Reihe deutscher Schwule mit Guido Westerwelle
gestellt wurde (53). Ähnliche Reaktionen gegen den Künstler, der sich als Vorkämpfer
für die Gleichstellung und Toleranz sah und auch von der EU als politisches Symbol
benutzt wurde (54), waren ebenso in der Türkei und in Russland, aber auch in Deutsch-
land und in Österreich bei erzkonservativen und nationalistischen Organisationen
und Parteien zu hören (55). Bemerkenswert ist, dass sich Lukaschenko hingegen in die
Diskussion über Conchita Wurst, höchstwahrscheinlich aufgrund seines allgemeinen
Desinteresses für den ESC, nicht eingemischt hat.
   Der zwischen dem 6. und 10. Mai 2014 in Kopenhagen stattgefundene 59. Eurovi-
sion Song Contest wurde in Belarus sowie in Russland also propagandistisch ausge-
schlachtet und heizte die ohnehin starke homophobe Stimmung im Lande an. Knapp
zwei Wochen später kam es in Minsk zu einer Tragödie: Am 25. Mai 2014 fand im
Nachtklub Underworld eine geschlossene Schwulenparty statt, an der der Architekt
Michail Pischtschewskij (1981-2015) teilnahm. Nach der Party wurde er von dem aus-
gebildeten Sportlehrer Dmitrij Lukaschewitsch (geb. 1982) brutal zusammengeschla-
gen, der im angetrunkenen Zustand Homosexuellen auflauerte (56). Das homophobe
Tatmotiv wurde vom Gericht außer Acht gelassen und wegen „schweren Rowdytums“

49 Vgl. T. Tarnalickij, „Pod znakom Pi“ (Anm. 12).
50 Belarussische Namensvariante: Ihar Šunevič.
51 Aleksandr Lyčavko, „Spisok izvestnych gomofobov Belarusi. Lukašenko v tom čisle“ (Liste der
   berühmten Schwulenhasser in Belarus. Lukaschenko ist unter ihnen), the-village.me, 07.06.2019
   (www.the-village.me/village/culture/on-duty-today/275475-gomophobs-in-belarus).
52 Saltanat Shoshanova, „Fantasien über Gayropa: Kunst und Politik“, Ost Journal, 09.03.2018 (www.
   ost-journal.de/fantasien-ueber-gayropa-kunst-und-politik/).
53 Artem Šrajbman, „Končita Vurst vskolychnula boloto belorusskoj tolerantnosti“ (Conchita Wurst
   hat den Sumpf der belarussischen Toleranz aufgerichtet), naviny.by, 14.05.2014 (naviny.online/rubrics/
   society/2014/05/14/ic_articles_116_185486). Originalzitate: „окончательное падение моральных
   ценностей в Европейском союзе“, „женщина с бородой“.
54 Vgl. „Für mehr Toleranz: Conchita Wurst singt vor EU-Parlament“, abendblatt.de, 08.10.2014 (www.
   abendblatt.de/vermischtes/article133053179/Fuer-mehr-Toleranz-Conchita-Wurst-singt-vor-EU-
   Parlament.html).
55 Vgl. „Song Contest: Conchita Wurst stürmt Charts, auch in Russland“, diepresse.com, 13.05.2014
   (www.diepresse.com/3804791/song-contest-conchita-wurst-sturmt-charts-auch-in-russland).
56 Belarussische Transkriptionen: Michail Piščėˋski und Dzmitry Lukašėvič.
514                                       Revue d’Allemagne

im Oktober 2014 zu 32 Monaten Haft und einer Geldstrafe von umgerechnet knapp
9.500 Euro verurteilt, kam Lukaschewitsch aufgrund eines Straffreiheitsgesetzes im
August 2015 frei. Da aber Pischtschewskij infolge seiner Verletzungen am 26. Okto-
ber des gleichen Jahres starb, kam es zu einem neuen Prozess gegen Lukaschewitsch,
der nunmehr insgesamt drei Jahre hinter Gittern verbringen sollte. Im Frühjahr 2017
wurde er aus der Haft entlassen (57).

Die Diffamierung von belarussischen Opponentinnen
als Lesben aus Deutschland
  Der Fall Pischtschewskij erklärt, warum zahlreiche belarussische Homosexuelle von
einem Coming-out absehen, das gravierende soziale Nachteile und sogar eine Gefahr
für Leib und Seele bedeuten kann. Eine Ausnahme stellt in dieser Hinsicht Alexander
(Sascha) Warlamow (geb. 1955) dar (58). Der belarussische Modedesigner, der in den frü-
hen 2010er Jahren u.a. wegen vermeintlicher Steuerhinterziehung 26 Monate in Haft
verbrachte und sein Coming-out wagte, berichtete im September 2020 der ukrainischen
Nachrichtenagentur Unian, dass seine Modelagentur in den frühen 2000er Jahren von
Lukaschenkos Vertrauten aufgefordert worden sei, weibliche Models für Sauna-Partys
des Staatschefs zur Verfügung zu stellen (59). Während regierungskritische, im Ausland
angesiedelte belarussische Medien Warlamows brisante Enthüllungen begeistert auf-
griffen (60), blieb die Staatspropaganda dem Grundsatz treu, Lukaschenkos Privatle-
ben sei tabu, und sah von einem Gegenangriff auf den inzwischen in Berlin lebenden
Modedesigner ab, obwohl gerade der Fall Warlamow eine günstige Gelegenheit bot, das
alte homophobe Feindbild der BRD aufzugreifen, wo der Künstler seine neue Heimat
gefunden hat. Im Hinblick auf die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexiewitsch
und die Kulturmanagerin Maria Kolesnikowa ließ die Staatspropaganda die günstige
Gelegenheit hingegen nicht aus (61).
  Die Schriftstellerin Swetlana Alexiewitsch (geb. 1948), die mit ihren Werken über
den Zweiten Weltkrieg, die Tschernobyl-Katastrophe und den sowjetischen Afgha-
nistan-Krieg (1979-1989) weltweit berühmt geworden ist, hat die demokratische

57 Vgl. Amnesty International, Less Equal (Anm. 11), S. 26; T. Tarnalickij, „Pod znakom Pi“
   (Anm. 12); „Peresmotren prigovor po delu ob izbienii Michaila Piščevskogo“ (Urteil im Fall des
   verprügelten Michail Pischtschewskij wurde revidiert), naviny.by, 28.07.2016 (naviny.online/
   article/20160728/1469696940-peresmotren-prigovor-po-delu-ob-izbienii-mihaila-pishchevskogo).
58 Belarussische Namensvariante: Aljaksandr (Saša) Varlamaˋ. Vgl. „Saša Varlamov ob’jasnil, čto takoe
   byt’ geem po ėstetike“ (Sascha Warlamow erklärte, was es bedeutet, ästhetisch ein Homosexueller zu
   sein), tut.by, 14.05.2011 (news.tut.by/tv/226905.html).
59 Vgl. „Pravda pro Lukašenko: interv’ju model’era Saši Varlamova“ (Die Wahrheit über Lukaschenko:
   ein Interview mit dem Modedesigner Sascha Warlamow), unian.ua, 22.09.2020 (www.youtube.com/
   watch?v=j5qFefYJE5U). Den Themenkomplex „Models in Lukaschenkos Sauna“ griff Warlamow
   Ende August 2021 in seinem ausführlichen Interview mit der unabhängigen belarussischen
   Zeitung Nascha Niwa auf. „Varlamov: modeli dlja vlasti, tjur’ma, gei v Belarusi“ (Warlamow:
   Models für Machthaber, Haft, Schwule in Belarus), Nascha Niwa, 25.08.2021 (www.youtube.com/
   watch?v=rWgLntG4Fbo).
60 Vgl. „Saša Varlamov o pristratijach Lukašenko“ (Sascha Warlamow über Lukaschenkos Vorlieben),
   NEXTA, 29.09.2020 (www.facebook.com/watch/?v=332980961120635).
61 Belarussische Namensvariante: Svjatlanaja Aleksievič und Maryja Kalesnikava.
Deutschland im Spiegel der homophoben belarussischen Staatspropaganda                          515

Protestbewegung gegen Lukaschenko entschlossen unterstützt und sich etwa dem
Koordinationsrat der Opposition im August 2020 angeschlossen (62). Im Juli 2019 gab
sie der liberalen polnischen Zeitung Gazeta Wyborcza ein Interview, in dem sie u.a.
über ihre Liebesbeziehungen zu Frauen berichtete (63). Nach diesem Interview wurde
sie in der russischen konservativen und nationalistischen Presse als Anhängerin der
„lesbischen Liebe“ diffamiert (64). Da Alexiewitsch in den 2010er Jahren viel Zeit in
Deutschland verbracht hatte und Ende September 2020 wegen der Bedrängung durch
das Regime nach Berlin ging (65), konstruierte die Moskauer Lukaschenko-freundliche
nationalistische Zeitung Zavtra (Morgen) ein Feindbild der in der vermeintlichen
Schwulenhochburg Deutschland ansässigen Lesbe, das in sozialen Netzwerken in
Belarus verbreitet wurde (66).
   In Deutschland hätte das Lukaschenko-Regime am liebsten auch die Kulturmana-
gerin Maria Kolesnikowa (geb. 1982) belassen. Bereits 2007 war sie als Musikerin nach
Deutschland gekommen, wo sie Querflöte sowie Alte und Zeitgenössische Musik an
der Musikhochschule Stuttgart studierte und anschließend als Hochschuldozentin
und Kulturmanagerin in Deutschland sowie Belarus tätig war. 2019 kehrte sie aber
nach Minsk zurück, schloss sich dem Wahlkampfteam des demokratischen Präsident-
schaftskandidaten Wiktor Babariko (geb. 1963) an und spielte nach dessen Festnahme
im Juni 2020 eine zentrale Rolle in der Wahlkampagne der Oppositionskandidatin
Swetlana Tichanowskaja (geb. 1982) (67). Nicht verheiratet, kinderlos und über ihr
Privatleben schweigend, forderte Kolesnikowa das sexistische Regime heraus (68). Die

62 Vgl. Sonja Zekri, „Swetlana Alexijewitsch. Die Nobelpreisträgerin ist die literarische Stimme
   der Revolte in Belarus“, sueddeutsche.de, 28.08.2020 (www.sueddeutsche.de/politik/profil-
   swetlana-alexijewitsch-1.5013139).
63 Vgl. Ludmiła Anannikova, Swietłana Aleksijewicz, „Plany na przyszłość? Nauczyć się żyć.
   Nadal tego nie umiem“ (Pläne für die Zukunft? Lernen zu leben. Das kann ich nach wie vor nicht),
   wyborcza.pl, 27.07.2019 (wyborcza.pl/7,75517,25029678,swietlana-aleksijewicz-plany-na-przyszlosc-
   nauczyc-sie-zyc.html#S.kultura-K.C-B.1-L.1.duzy).
64 „Pisatel’nica-rusofobka Aleksievič priznajalas’ v lesbijskoj ljubvi“ (Russophobe Schriftstellerin
   Alexiewitsch gestand ihre lesbische Liebe), eadaily.com, 01.08.2019 (eadaily.com/ru/news/2019/08/01/
   pisatelnica-rusofobka-aleksievich-priznalas-v-lesbiyskoy-lyubvi). Originalzitat: „лесбийская любовь“.
65 Vgl. „72-jährige Literaturnobelpreisträgerin Alexijewitsch verlässt Belarus aus Sicherheitsgründen
   in Richtung Berlin“, tagespiegel.de, 28.09.2020 (www.tagesspiegel.de/politik/72-jaehrige-literatur
   nobelpreistraegerin-alexijewitsch-verlaesst-belarus-aus-sicherheitsgruenden-in-richtung-berlin/
   26224940.html).
66 Vgl. Aleksej Ivanov, „Belorusskaja oppozicija prezentovala sostav ‚vremennogo pravitel’stva‘…
   Ėto šikarno“ (Belarussische Opposition stellte Mitglieder ihrer „Übergangsregierung“ vor…Das
   ist herrlich), zavtra.ru, 18.08.2020 (zavtra.ru/events/belorusskaya_oppozitciya_prezentovala_
   sostav_vremennogo_pravitel_stva_eto_shikarno); ders., „Kolesnikova v SIZO, Aleksievič v panike,
   Tichanovskaja v predvkušenii nobelevki“ (Kolesnikowa in Untersuchungshaft, Alexiewitsch in
   Panik, Tichanowskaja in Vorfreude auf den Nobelpreis), zavtra.ru, 09.09.2020 (zavtra.ru/events/
   kolesnikova_v_sizo_aleksievich_v_panike_tihanovskaya_v_predvkushenii_nobelevki).
67 Vgl. Olga Prosvirova, „Ženščina v orkestre. Kak Maria Kolesnikova stala liderom belorusskogo
   protesta“ (Eine Frau in einem Orchester. Wie Maria Kolesnikowa zur Anführerin der belarussischen
   Proteste    wurde),    bbc.com/russian,   17.09.2020   (www.bbc.com/russian/features-54184223).
   Belarussische Namensvariante: Viktar Babaryka und Svjatlana Cichanoˋskaja.
68 Vgl. Olga Shparaga, Die Revolution hat ein weibliches Gesicht, Stuttgart, Suhrkamp, 2021, S. 31-47
   und 71.
516                                       Revue d’Allemagne

Staatspropaganda, etwa in der Zeitung SB, stellte sie gezielt als Fremdkörper bzw. als
Deutsche dar, verpasste ihr den auf einen SS-Rang anspielenden Spitznamen „Stutt-
gartführer“, verunglimpfte sie als Feministin und suggerierte ihre aus Deutschland
mitgebrachte Homosexualität (69).

Fazit
   Am 25. März 2021 erklärte die European Broadcasting Union (EBU), dass Belarus
am Eurovision Song Contest (ESC) im Mai 2021 nicht teilnehmen darf. Der Veran-
stalter schloss die vom Belarussischen Staatsfernsehen BT nominierte regierungs-
treue und offen homophobe Band Galasy ZMesta aus. Während BT und vor allem
ihr wichtigster Sender Belarus 1 pikiert und gereizt reagierten, die EBU sowie den
ESC, an dem die Belarussen noch vor kurzem unbedingt teilnehmen wollten, als
„Tribüne für die Propaganda nichttraditioneller Werte“ charakterisierte und ihre
Zuschauer*innen an Conchita Wurst als Symbol der Veranstaltung erinnerte (70),
schaltete sich der von Lukaschenko geschätzte und als fanatischer Schwulen-
hasser bekannte TV-Moderator Grigorij Asarjonok (geb. 1995) (71) in die Diskussion
ein: Und was wäre, wenn Galasy ZMesta den Wettbewerb in Rotterdam tatsäch-
lich gewinnen würde? Im nächsten Jahr fände dann diese Veranstaltung in Minsk
statt und „eine halbe Million Schwuchteln“ wären als ESC-Gäste zu ertragen (72).
In den nächsten Wochen konzentrierten sich Asarjonok und weitere belarussische
Propagandist*innen auf den deutschen Außenminister Heiko Maas (geb. 1966).
Da Maas den Staatschef Lukaschenko sehr scharf kritisierte und die Verschär-
fung der Belarus-Sanktionen befürwortete (73), wurde er zu einem Naziverbrecher

69 Vgl. Andrej Mukovozčik, „Metka satany“ (Satans Kennzeichen), sb.by, 23.7.2020 (www.sb.by/
   articles/metka-satany.html); Ljudmila Gladkaja, „Protest kak spektakl’. Kak i z belarusov delali
   marionetok dlja uličnoj massovki“ (Protest als Spektakel. Wie man aus Belarussen Marionetten
   für die Massenszenen machte), sb.by, 23.03.2021 (www.sb.by/articles/ves-mir-teatr-teper-zvuchit-
   zloveshche-i-vot-pochemu.html); „Zloj rok belorusskoj oppozicii – lider KS Kolesnikova“ (Böses
   Verhängnis der belarussischen Opposition – Anführerin des Koordinationsrates Kolesnikowa),
   Vashi slivy, 03.09.2020 (t.me/vashi_slivy/889); „Nastalo vremja interesnoj teorii“ (Zeit für
   eine interessante Theorie), Zheltye slivy, 10.09.2020 (t.me/zheltyeslivy/5112). Originalzitat:
   „штутгартфюрер“.
70 „EVS ne daet kommentariev po povodu otstranenija ot učastija Belarusi na ‚Evrovidenii‘“ (Der ESC-
   Ausschluss von Belarus wird von der EBU nicht kommentiert), Belarus 1, 27.03.2021 (www.youtube.
   com/watch?v=XAria0vJcLM); „Skandal v evrovizionnom dome – Belarus’ ne pusti na ‚Evrovidenie‘“
   (Skandal im ESC-Haus – Belarus wird zum ESC nicht zugelassen), Belarus 1, 27.03.2021 (www.tvr.by/
   news/obshchestvo/skandal_v_evrovizionnom_dome_belarus_ne_pustili_na_evrovidenie/). Origi-
   nalzitat: „трибуна для пропаганды нетрадиционных ценностей.“ Zur Darstellung der ESC-Affäre
   siehe: „Kak opravdyvalli otstranenie gruppy ‚Galasy ZMesta‘ ot ‚Evrovidenija‘“ (Wie wurde die Ent-
   fernung der Band „Galasy ZMesta“ aus „Eurovision“ erklärt), mediaiq.by, 08.04.2021 (mediaiq.by/
   article/kak-opravdyvali-otstranenie-gruppy-galasy-zmesta-ot-evrovideniya-video).
71 Belarussische Namensvariante: Ryhor Azaronak.
72 Azarënok.STV, 25.03.2021 (t.me/Azarenok_TV/1185). Originalzitat: „Выиграли бы, и в следующем
   году принимать полмиллиона пидоров в Минске.“
73 Vgl. „Maas beim Außenrat: Neue Sanktionen als starkes Zeichen gegen Belarus“,
   auswaertiges-amt.de, 21.06.2021 (www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/maas-eu-aussenpolitik-
   belaurs-irak/2467174).
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