Massnahmenpraxis bei Sozialhilfeab-hängigkeit - Weisung - Kanton Zürich

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Kanton Zürich
Sicherheitsdirektion
Weisung
Migrationsamt
28. Mai 2021

Massnahmenpraxis
bei Sozialhilfeab-
hängigkeit
Migrationsamt
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Inhaltsverzeichnis
1. Einführung................................................................................................................. 3
   1.1. Allgemeines........................................................................................................ 3
      1.1.1. Grundversorgende Sozialhilfe ..................................................................... 3
      1.1.2. Unterstützende Sozialhilfe .......................................................................... 3
      1.1.3. Keine Sozialhilfe .......................................................................................... 4
   1.2. Meldungen der Sozialhilfebehörden .................................................................. 4
   1.3. Meldungen der Durchführungsorgane der Arbeitslosenversicherung............... 4
   1.4. Meldungen der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden.............................. 5
2. FZA-Bereich .............................................................................................................. 5
   2.1. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (unselbständig Erwerbstätige) ............. 5
      2.1.1. Definition...................................................................................................... 5
      2.1.2. Verlust der Arbeitnehmereigenschaft.......................................................... 5
   2.2. Selbständig Erwerbstätige und Nichterwerbstätige (Stellensuchende,
   Rentner/innen, andere Nichterwerbstätige, Dienstleistungsempfänger/innen) ........ 7
   2.3. Verbleiberecht (Art. 4 Anhang I FZA i.V.m. Art. 22 VFP) .................................. 7
3. AIG-Bereich .............................................................................................................. 8
   3.1. Allgemeines........................................................................................................ 8
   3.2. Personen mit Kurzaufenthaltsbewilligung.......................................................... 8
   3.3. Personen mit Aufenthaltsbewilligung ................................................................. 8
   3.4. Personen mit Niederlassungsbewilligung .......................................................... 9
4. Widerruf .................................................................................................................... 9
   4.1. Erheblichkeit und Dauerhaftigkeit .................................................................... 10
   4.2. Verhältnismässigkeit ........................................................................................ 10
4.2.2. Corona-Pandemie im Besonderen ................................................................... 11
5. Inkrafttreten ............................................................................................................. 11
Migrationsamt
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1. Einführung
1.1. Allgemeines
Gemäss Art. 12 der Bundesverfassung besteht ein Recht auf Hilfe in Notlagen. Wer
in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und
Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind
(Wohnkosten, medizinische Grundversorgung, Grundbedarf für den Lebensunter-
halt). Die Gewährleistung des Rechts auf Existenzsicherung bildet die Grundlage der
Sozialhilfe.

1.1.1. Grundversorgende Sozialhilfe
Ziel der grundversorgenden Sozialhilfe ist die reine Existenzsicherung einer Person
ohne weitergehende fachliche Zielsetzungen wie Integration, Aus- und Weiterbildung
oder Familienförderung etc. Sie wird unabhängig von der Ursache der sozialen Not-
lage ausgerichtet. Gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts sind Leistungen
der Sozialhilfe beitragsunabhängig und bedarfsbemessen (Bundesgerichtsentscheid
2C_13/2019 vom 31.10.2019). Diese Legaldefinition der Sozialhilfe im Bundesgesetz
über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger (vgl. Art. 2 und 3 Zuständig-
keitsgesetz, ZUG) kann auch für das Ausländerrecht übernommen werden.
Für die Höhe der grundversorgenden Sozialhilfe sind in der Praxis die SKOS-Richtli-
nien massgebend. Sie richten sich nach der materiellen Grundsicherung der betroffe-
nen Person (sozialhilferechtliches Existenzminimum).

1.1.2. Unterstützende Sozialhilfe
Der Bereich der unterstützenden Sozialhilfe umfasst Leistungen im Bereich Integra-
tion, Gesundheit und Familienförderung. Darunter fallen diejenigen Unterstützungs-
massnahmen, welche nicht nur den existenziellen Grundbedarf einer Person abde-
cken, sondern zusätzlich namentlich eine integrations-, gesundheits- oder familienpo-
litische Zielsetzung verfolgen und so der Armutsprävention dienen. Mit Bezug auf
ausländische Staatsangehörige geht es dabei insbesondere um Massnahmen, wel-
che dazu führen sollen, Ausländerinnen und Ausländer längerfristig beruflich zu in-
tegrieren, so dass sie sich dauerhaft von der Sozialhilfe lösen können. Die Integrati-
onsförderung ist eine Zielsetzung des Ausländer- und Integrationsrechts. Daneben
soll mit dem Ausländer- und Integrationsgesetz die Eigenverantwortung der Auslän-
derinnen und Ausländer in Bezug auf ihre Integration verbindlicher gestaltet und ein-
gefordert werden (Art. 4 AIG).
Die unterstützende Sozialhilfe ist auch zum Sozialhilfebegriff zu zählen. Deren Leis-
tungen im Bereich der Integration, Gesundheit und Familienpolitik wiegen ausländer-
rechtlich aber weniger schwer als die grundversorgende Sozialhilfe. Denn die unter-
stützende Sozialhilfe dient (im Gegensatz zur grundversorgenden Sozialhilfe) dazu,
die Voraussetzungen zu schaffen, dass sich die Ausländerin / der Ausländer von der
Sozialhilfe ablösen kann.
Migrationsamt
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1.1.3. Keine Sozialhilfe
Leistungen der Sozialversicherungen, Prämienverbilligungen und Prämien der obli-
gatorischen Krankenpflegeversicherung werden nicht zur Sozialhilfe gezählt, da
diese über längere Zeit fliessendes Ergänzungs- oder Mindesteinkommen darstellen,
während die Sozialhilfe ausschliesslich zur Überbrückung von Notlagen dient (vgl.
Urteil des Bundesgerichts 2C.448/2007 vom 20.02.2008, E. 3.4 und 2C_716/2007
vom 12.03.2008, E. 2.1).

Kindesschutzmassnahmen werden im Kanton Zürich nach der Revision des Kinder-
und Jugendheimgesetzes (geplant auf Anfang 2022) kantonsweit nicht mehr über die
Sozialhilfe abgerechnet. Leistungen im Bereich des Kindesschutzes rechnet das Mig-
rationsamt deshalb nicht zur Sozialhilfe hinzu.

Die Inanspruchnahme von Ergänzungsleistungen kann – unabhängig davon, dass
Ergänzungsleistungen nicht zur Sozialhilfe zählen – unter Umständen ausländer-
rechtliche Folgen haben. Bei Personen, die in der Schweiz zur erwerbslosen Wohn-
sitznahme zugelassen sind und Ergänzungsleistungen beanspruchen, besteht das
Aufenthaltsrecht nicht mehr fort und es können aufenthaltsbeendende Massnahmen
eingeleitet werden. Mit diesem Ergebnis steht nicht in Widerspruch, dass nach gefes-
tigter Rechtsprechung Ergänzungsleistungen nicht zur Sozialhilfe gehören (vgl. BGE
135 II 265).

1.2. Meldungen der Sozialhilfebehörden
Damit die Ausländerbehörden über die für die Beurteilung wesentlichen Informatio-
nen verfügen, hat der Bundesgesetzgeber eine Meldepflicht für die Sozialbehörden
festgelegt (Art. 97 Abs. 3 lit. d AIG). Die Sozialbehörden haben dem Migrationsamt
unaufgefordert den Bezug von Sozialhilfe durch Ausländerinnen und Ausländer zu
melden (Art. 82b VZAE). Seit dem 1. Januar 2019 können sie auch Personen mit
Niederlassungsbewilligung melden, die sich seit mehr als 15 Jahren in der Schweiz
aufhalten (Aufhebung von Art. 63 Abs. 2 AuG).

Die Sozialhilfebehörden erstatten bei Aufenthaltern ab einem Bezug von Fr. 25‘000.-
und bei Niedergelassenen ab einem Bezug von Fr. 60‘000.- eine einmalige Meldung
an das Migrationsamt. Bei Kurzaufenthaltern erfolgt mit Bezugsbeginn eine Meldung.

1.3. Meldungen der Durchführungsorgane der
Arbeitslosenversicherung
Die Durchführungsorgane der Arbeitslosenversicherung melden den kantonalen Aus-
länderbehörden zur Prüfung des Anspruchs auf Aufenthalt unaufgefordert den Na-
men, die Vornamen, das Geburtsdatum, die Staatsangehörigkeit und die Adresse der
Staatsangehörigen aus Mitgliedstaaten der EU oder der EFTA (Art. 82c Abs. 1
VZAE):
a.    die sich im ersten Aufenthaltsjahr in der Schweiz bei einem Arbeitsamt zur Ar-
      beitsvermittlung anmelden;
b.    deren Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung verneint wird;
Migrationsamt
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c.    denen die Vermittlungsfähigkeit aberkannt wird;
d.    für welche die Auszahlung der Arbeitslosenentschädigung endet.

Ausgenommen von dieser Regelung sind Ausländer, die über eine Niederlassungs-
bewilligung verfügen (Art. 82c Abs. 2 VZAE).

1.4. Meldungen der Kindes- und Erwachse-
nenschutzbehörden
Nach Art. 97 Abs. 3 AIG i.V.m. Art. 82f Abs. 1 VZAE haben die Kindes- und Erwach-
senenschutzbehörden dem Migrationsamt unaufgefordert Kindesschutzmassnahmen
nach Art. 308 ZGB (Beistandschaft), soweit sie den persönlichen Verkehr betreffen,
Kindesschutzmassnahmen nach den Art. 310-312 (Aufhebung des Aufenthaltsbe-
stimmungsrechts, Entziehung der elterlichen Sorge) und 327a ZGB (Ernennung ei-
nes Vormundes) sowie Erwachsenenschutzmassnahmen nach den Art. 394 Abs. 2
(Vertretungsbeistandschaft) und 398 ZGB (umfassende Beistandschaft) zu melden.
Zudem haben die Gerichtsbehörden unaufgefordert die in einem familienrechtlichen
Verfahren angeordneten oben aufgeführten Kindesschutzmassnahmen zu melden.

2. FZA-Bereich
2.1. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
(unselbständig Erwerbstätige)
2.1.1. Definition
Arbeitnehmer sind unselbständig Erwerbstätige. Das Beschäftigungsverhältnis muss
drei Kriterien gerecht werden. Arbeitnehmer stehen in einem weisungsgebundenen
Abhängigkeitsverhältnis (Kriterium 1), wobei sie eine tatsächliche und echte Tätigkeit
(Kriterium 2) für einen anderen für eine bestimmte Zeit verrichten und dafür ein Ent-
gelt (Kriterium 3) beziehen (Urteil BGer 2C_772/2013 vom 4. September 2014). Tä-
tigkeiten, die einen so geringen Umfang haben, dass sie völlig untergeordnet und un-
wesentlich erscheinen, sind ausgeschlossen. Damit von einer Arbeitnehmereigen-
schaft ausgegangen werden kann, muss in der Regel ein Arbeitsverhältnis mit einer
wöchentlichen Arbeitszeit von mindestens zwölf Arbeitsstunden eingegangen wer-
den, wobei mit dem daraus zu erzielenden Einkommen zumindest ein substantieller
Teil des Lebensunterhaltes gedeckt sein muss. Der Begriff des Arbeitnehmers ist ein
unionsrechtlicher. Für dessen Auslegung ist die einschlägige Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofes (EuGH) zu berücksichtigen.

2.1.2. Verlust der Arbeitnehmereigenschaft
Bei Arbeitnehmern und deren Familienangehörigen, die sich auf das Freizügigkeits-
abkommen (FZA) berufen können, stellt die Abhängigkeit von der Sozialhilfe einen
Grund für die Nichtverlängerung resp. für den Widerruf der Bewilligung dar, sobald
sie ihre Arbeitnehmereigenschaft verloren haben (Art. 23 VFP). Vorbehalten bleibt
Migrationsamt
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das Verbleiberecht i.S.v. Art. 4 Anhang I FZA i.V.m. Art. 22 VFP. In folgenden Fällen
führt der Verlust der Arbeitnehmereigenschaft zum Erlöschen des Aufenthaltsrechts
von EU/EFTA-Staatsangehörigen mit Kurzaufenthalts- und Aufenthaltsbewilligungen
gemäss Art. 61a AIG resp. zum Widerruf bzw. der Nichtverlängerung:

2.1.2.1. Stellenverlust im ersten Jahr der Erwerbstätigkeit
Das Aufenthaltsrecht von EU- und EFTA-Staatsangehörigen mit einer Kurzaufent-
haltsbewilligung erlischt 6 Monate nach der unfreiwilligen Beendigung des Arbeits-
verhältnisses.
Das Aufenthaltsrecht von EU- und EFTA-Staatsangehörigen mit einer Aufenthaltsbe-
willigung erlischt sechs Monate nach unfreiwilliger Beendigung des Arbeitsverhältnis-
ses, wenn dieses vor Ablauf der ersten zwölf Monate des Aufenthalts zur Erwerbstä-
tigkeit endet (Art. 2 Abs. 1 Abschnitt 2 Anhang I FZA, Art. 61a Abs. 1 AIG).
Wird nach Ablauf der sechs Monate weiterhin Arbeitslosenentschädigung bezahlt, so
erlischt das Aufenthaltsrecht mit dem Ende der Entschädigung (Art. 24 Abs. 3 An-
hang I FZA, Art. 61a Abs. 2 AIG). Im Zeitraum von der Beendigung des Arbeitsver-
hältnisses bis zum Erlöschen des Aufenthaltsrechts besteht kein Anspruch auf Sozi-
alhilfe (Art. 61a Abs. 3 AIG). Der Bezug von Sozialhilfe in diesem Zeitraum führt zum
sofortigen Widerruf der Bewilligung, da die Betroffenen als nicht erwerbstätig im
Sinne von Art. 24 Anhang I FZA gelten, wofür ausreichende finanzielle Mittel erfor-
derlich sind.

2.1.2.2. Stellenverlust nach überjähriger Erwerbstätigkeit
Bei unfreiwilliger Beendigung des Arbeitsverhältnisses nach den ersten zwölf Mona-
ten des Aufenthaltes zur Erwerbstätigkeit erlischt das Aufenthaltsrecht sechs Monate
nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Wird nach Ablauf der sechs Monate
weiterhin Arbeitslosenentschädigung ausbezahlt, so erlischt das Aufenthaltsrecht
sechs Monate nach dem Ende der Entschädigung (Art. 61a Abs. 4 AIG). Nach die-
sem Zeitraum kann ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass die Arbeitneh-
mereigenschaft und damit das Aufenthaltsrecht verloren gegangen ist, so dass auch
kein Anspruch auf Gewährung von Sozialhilfe besteht und die Bewilligung widerrufen
werden kann. Diese Rechtsfolge kommt jedoch nicht zum Tragen, wenn das Arbeits-
verhältnis aufgrund vorübergehender Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit, Unfall oder
Invalidität beendet wurde (Art. 61 Abs. 5 AIG).

Wenn der arbeitnehmende EU/EFTA-Staatsangehörige vor Ablauf der Gültigkeit der
Bewilligung «seit mehr als zwölf aufeinanderfolgenden Monaten unfreiwillig arbeitslos
ist» und weiterhin über die Arbeitnehmereigenschaft verfügt, weil er Anspruch auf Ar-
beitslosenentschädigung hat, wird die Bewilligung bei der ersten Verlängerung auf
die Dauer eines Jahres befristet (Art. 6 Abs. 1 Anhang I FZA). Ist die betreffende Per-
son danach immer noch arbeitslos und nicht mehr zur Arbeitslosenentschädigung
berechtigt, so verliert sie ihr Aufenthaltsrecht aufgrund erloschener Arbeitnehmerei-
genschaft (vgl. Benedikt Pirker; Zum Verlust der Arbeitnehmereigenschaft im Freizü-
gigkeitsabkommen; AJP/PJA 9/2014, S. 1221).

2.1.2.3. Freiwillige Arbeitslosigkeit
Gemäss Art. 61a AIG geht die Arbeitnehmereigenschaft in der Regel spätestens mit
dem Ende der Arbeitslosenentschädigung unter. In folgenden Konstellationen kann
Migrationsamt
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die Arbeitnehmereigenschaft bereits früher verloren gehen, da die Arbeitslosigkeit als
freiwillig anzusehen ist:
–       Keine Vermittlungsfähigkeit (vgl. Art. 15 AVIG)
–       Kein Nachweis der Stellensuche (regelmässige ordentliche Bewerbungen)
–       Keine Anmeldung beim zuständigen Arbeitsamt (RAV) als Stellensuchender

2.1.3. Wiedererlangen der Arbeitnehmereigenschaft
Die verlorene Arbeitnehmereigenschaft kann bei einer Wiederaufnahme der Er-
werbstätigkeit (neues Anstellungsverhältnis) erneut aufleben. Es wird im Einzelfall
geprüft, ob der Ausländer oder die Ausländerin gestützt auf eine neue Erwerbstätig-
keit wieder einen freizügigkeitsrechtlichen Bewilligungsanspruch erworben hat. Eine
kurzfristige Anstellung vermag die Arbeitnehmereigenschaft nicht wiederaufleben zu
lassen. Vielmehr ist dazu eine quantitativ wie qualitativ echte und tatsächliche wirt-
schaftliche Tätigkeit erforderlich (BGer 2C_195/2014 vom 12. Januar 2015, E. 2.2.4).

2.2. Selbständig Erwerbstätige und Nichter-
werbstätige (Stellensuchende, Rentner/in-
nen, andere Nichterwerbstätige, Dienstleis-
tungsempfänger/innen)
Bei Personen, die zur selbständigen Erwerbstätigkeit zugelassen wurden und bei
Nichterwerbstätigen, stellen ausreichende eigene finanzielle Mittel während des ge-
samten Aufenthalts eine Bewilligungsvoraussetzung nach den Bestimmungen des
FZA dar. Die Beanspruchung von Sozialhilfeführt aber nicht automatisch zum Verlust
des Anwesenheitsrechts. Das Migrationsamt prüft im Einzelfall, ob der Widerruf bzw.
das Erlöschen des Freizügigkeitsrechts dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit ent-
spricht. Eine Ausnahme bildet die vorübergehende Arbeitsunfähigkeit infolge Krank-
heit oder Unfall von selbständig Erwerbstätigen. Können diese aufgrund von Krank-
heit oder Unfall keine Erwerbstätigkeit mehr ausüben, darf eine gültige Aufenthalts-
bewilligung nicht entzogen werden (Art. 12 Abs. 6 Anhang I FZA).

2.3. Verbleiberecht (Art. 4 Anhang I FZA
i.V.m. Art. 22 VFP)
Das Verbleiberecht dient dazu, den weiteren Aufenthalt im Aufenthaltsstaat nach der
Aufgabe der selbständigen oder unselbständigen Erwerbstätigkeit zu gewährleisten.
Personen, die sich auf das Verbleiberecht berufen können, behalten ihre erworbenen
Rechte als Arbeitnehmer, obwohl sie den Arbeitnehmerstatus nicht mehr für sich in
Anspruch nehmen können. Das Verbleiberecht erlischt, wenn es die oder der
EU/EFTA-Staatsangehörige innerhalb von zwei Jahren nach dem Entstehen nicht
ausübt. Es muss demnach innert dieser Zeitspanne aktiv geltend gemacht werden.
Migrationsamt
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3. AIG-Bereich
3.1. Allgemeines
Ausländerrechtliche Massnahmen werden nur dann ergriffen, wenn die Sozialhilfeab-
hängigkeit (zumindest teilweise) verschuldet ist. Das Migrationsamt wendet bei der
Massnahmenpraxis in der Regel ein dreistufiges Verfahren an. Im Sinne der Verhält-
nismässigkeit kann von der Grundregel im Einzelfall abgewichen werden.

1. Hinweisschreiben
In einem ersten Schritt wird der Ausländer oder die Ausländerin auf die möglichen
weiteren Massnahmen hingewiesen und es werden konkrete Integrationsempfehlun-
gen formuliert (Art. 57 AIG). Es wird den Betroffenen unter Verweis auf die möglichen
ausländerrechtlichen Folgen dargelegt, welches Verhalten in Zukunft von ihnen er-
wartet wird.

2. Verwarnung
Nach Erlass eines Hinweisschreibens wird das Aufenthaltsrecht üblicherweise ein
Jahr später erneut geprüft. Ist der Widerrufsgrund nach Art. 62 Abs. 1 lit. e bzw. Art.
63 Abs. 1 lit. c AIG erfüllt, die Wegweisung aber nicht verhältnismässig, wird eine
Verwarnung erlassen, soweit sich diese als verhältnismässig erweist (Art. 96 Abs. 2
AIG).

3. Widerruf
Ein Jahr nach erfolgter Verwarnung prüft das Migrationsamt das Aufenthaltsrecht er-
neut. Es ordnet den Widerruf resp. die Nichtverlängerung der Bewilligung an, sofern
sich diese Massnahme als verhältnismässig erweist.

3.2. Personen mit Kurzaufenthaltsbewilli-
gung
Eine Kurzaufenthaltsbewilligung kann gestützt auf Art. 62 Abs. 1 lit. e AIG widerrufen
werden, wenn der Ausländer oder eine Person, für die er zu sorgen hat, auf Sozial-
hilfe angewiesen ist und der Widerruf resp. die Nichtverlängerung der Bewilligung
verhältnismässig ist (Art. 96 Abs. 2 AIG).

Bei Kurzaufenthaltern wird vom dreistufigen Verfahren grundsätzlich abgesehen, da
es sich von vornherein um einen Aufenthalt von vorübergehender Natur (kürzer als
ein Jahr) handelt. Es erfolgt daher kein Hinweisschreiben bzw. keine Verwarnung,
sondern es wird unabhängig von der Höhe des Sozialhilfebezugs der Widerruf der
Bewilligung geprüft.

3.3. Personen mit Aufenthaltsbewilligung
Eine Aufenthaltsbewilligung kann gestützt auf Art. 62 Abs. 1 lit. e AIG widerrufen wer-
den, wenn der Ausländer oder eine Person, für die er zu sorgen hat, auf Sozialhilfe
Migrationsamt
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angewiesen ist und der Widerruf resp. die Nichtverlängerung der Bewilligung verhält-
nismässig ist (vgl. Art. 96 Abs. 2 AIG). Anders als im Fall des Widerrufs einer Nieder-
lassungsbewilligung setzt Art. 62 Abs. 1 lit. e AIG nicht voraus, dass die Sozialhilfe-
abhängigkeit dauerhaft und in erheblichem Masse besteht (vgl. Ziffer 4.1.). Diese Dif-
ferenzierung ist vom Gesetzgeber beabsichtigt. Allerdings ist auch im Rahmen von
Art. 62 Abs. 1 lit. e AIG der Grundsatz der Verhältnismässigkeit und damit die Frage
der Erheblichkeit und Dauerhaftigkeit sowie das Verschulden an der Situation und
die bisherige Verweildauer in der Schweiz zu beachten.

Nach Eingang der Meldung über bezogene Sozialhilfeleistungen von Fr. 25'000.-
klärt das Migrationsamt zunächst die Integration sowie die Gründe für die Sozialhilfe-
abhängigkeit (inklusive Verschulden) der betroffenen Person ab. Ist die Sozialhilfe
zumindest teilweise vorwerfbar, erlässt das Migrationsamt ein Hinweisschreiben, in
welchem Integrationsempfehlungen formuliert werden.

Bezieht die betroffene Person ein Jahr nach erfolgtem Hinweisschreiben weiterhin
Sozialhilfe, prüft das Migrationsamt die aktuellen Umstände. Je nach Abklärungsre-
sultat sind verschiedene Massnahmen im Rahmen des dreistufigen Verfahrens mög-
lich.

3.4. Personen mit Niederlassungsbewilligung
Eine Niederlassungsbewilligung kann gestützt auf Art. 63 Abs. 1 lit. c AIG widerrufen
werden, wenn der Ausländer oder eine Person, für die er zu sorgen hat, dauerhaft
und in erheblichem Mass auf Sozialhilfe angewiesen ist und der Widerruf verhältnis-
mässig ist. Erweist sich ein Widerruf hingegen als unverhältnismässig, so kann eine
Rückstufung gemäss Art. 63 Abs. 2 AIG oder die Verwarnung (Art. 96 Abs. 2 AIG)
angezeigt sein. Auch diese Massnahmen müssen der Verhältnismässigkeitsprüfung
nach Art. 96 Abs. 1 AIG standhalten.

Nach Eingang der Meldung über bezogene Sozialhilfeleistungen von Fr. 60'000.-
klärt das Migrationsamt zunächst die Integration sowie die Gründe für die Sozialhilfe-
abhängigkeit (inklusive Verschulden) der betroffenen Person ab. Ist die Sozialhilfe
zumindest teilweise vorwerfbar, erlässt das Migrationsamt ein Hinweisschreiben, in
welchem Integrationsempfehlungen formuliert werden.

Bezieht die betroffene Person ein Jahr nach erfolgtem Hinweisschreiben weiterhin
Sozialhilfe, prüft das Migrationsamt die aktuellen Umstände. Je nach Abklärungsre-
sultat sind verschiedene Massnahmen möglich ([vorläufiger] Verzicht auf Massnah-
men, Rückstufung, Verwarnung, Widerruf der Bewilligung).

4. Widerruf
Die Voraussetzungen für den Widerruf einer Bewilligung bei Sozialhilfeabhängigkeit
sind die Erheblichkeit und die Dauerhaftigkeit (Prognose) der Sozialhilfe sowie die
Verhältnismässigkeit des Widerrufs.
Migrationsamt
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4.1. Erheblichkeit und Dauerhaftigkeit
Auch wenn der Wortlaut von Art. 62 Abs. 1 lit. e AIG im Gegensatz zu Art. 63 Abs. 1
lit. c AIG nicht von einem erheblichen und dauerhaften Sozialhilfebezug spricht, sind
diese beiden Kriterien auch bei Aufenthaltern zu prüfen. In Anlehnung an die bundes-
gerichtliche Rechtsprechung werden bei Personen mit einer Niederlassungsbewilli-
gung als Faustregel Sozialhilfeleistungen von Fr. 80‘000.- während zwei bis drei Jah-
ren vorausgesetzt. Die Anforderungen bei Aufenthaltern liegen entsprechend tiefer.
Bei der Frage der Erheblichkeit ist immer eine auf die ganze Familie bezogene Ge-
samtbeurteilung vorzunehmen und den fraglichen Betrag nicht auf die betroffenen
Einzelpersonen aufzuteilen. Umgekehrt sind dafür die Einkommensmöglichkeiten al-
ler Familienmitglieder mit zu berücksichtigen (BGE 2C_761/2009, E. 7.2).
Ob die Sozialhilfeabhängigkeit als dauerhaft qualifiziert werden kann, ergibt sich
nicht allein daraus, dass sie in der Vergangenheit schon einige Zeit angedauert hat
oder im Zeitpunkt der Wegweisung Unterstützungsleistungen bezogen werden. Es
muss vielmehr auf eine Prognose abgestellt werden, geht es doch beim Widerruf we-
gen Sozialhilfeabhängigkeit vorab darum, einen zusätzlichen und somit künftigen Be-
zug zu vermeiden. Gemäss Bundesgericht ist daher von den aktuellen Verhältnissen
auszugehen und die wahrscheinliche finanzielle Entwicklung auf längere Sicht abzu-
wägen. Bejaht wird die Dauerhaftigkeit dann, wenn im Zeitpunkt des Entscheids nicht
mit einer Verbesserung der Situation gerechnet werden kann und das Sozialhilferi-
siko aller Voraussicht nach - auch unter Berücksichtigung der finanziellen Leistungs-
fähigkeit der Familienmitglieder - bestehen bleibt (vgl. auch Weisung SEM, I. Auslän-
derbereich, Ziffer 8.3.2.4, Stand vom 01.01.2021).

4.2. Verhältnismässigkeit
4.2.1. Allgemeines
Gemäss Art. 96 AIG sind beim Entscheid über den Widerruf die öffentlichen Interes-
sen und die persönlichen Verhältnisse sowie der Grad der Integration des Auslän-
ders zu berücksichtigen (Abs. 1). Ist der Widerruf begründet, aber den Umständen
nicht angemessen, so kann die betroffene Person, die im Besitz einer Aufenthaltsbe-
willigung ist, unter Androhung dieser Massnahme verwarnt und bei der betroffenen
Person, die im Besitz eine Niederlassungsbewilligung ist, auch eine Rückstufung ver-
fügt werden (Art. 96 Abs. 2, Art. 63 Abs. 2 AIG).

Die wesentlichen Kriterien bei der Verhältnismässigkeitsprüfung sind:
–    Verschulden/Gründe für Sozialhilfeabhängigkeit (vgl. auch Urteil BGer
     2C_74/2010, E. 3.2);
     –      Gesundheitszustand der Betroffenen
     –      Steuerungsmöglichkeit, um sich von der Sozialhilfe zu lösen oder zumin-
            dest zu reduzieren (tatsächlich möglich und zumutbar)
     –      Verwertung der Restarbeitsfähigkeit
     –      Sozialtherapeutische Betreuung, stationäre Therapien;
–    Familiäre Verhältnisse (Ehepartner, Anzahl/Alter der unterstützten Kinder) und
     Nachteile für die Familie im Falle einer Wegweisung (Art. 8 EMRK, Kindswohl);
–    Die den Betroffenen drohenden Nachteile im Heimatland (namentlich familiäre,
     wirtschaftliche, medizinische Gesichtspunkte);
Migrationsamt
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–     Beziehung zum Heimatstaat;
–     Verhalten in strafrechtlicher Hinsicht;
–     Betreibungen und Verlustscheine;
–     Gesellschaftliche und berufliche Integration gemäss Art. 58a AIG (Deutsch-
      kenntnisse, persönliches Umfeld, Respektierung der Werte der Bundesverfas-
      sung, Beachtung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung).

4.2.2. Corona-Pandemie im Besonderen
Die Kriterien für die Verhältnismässigkeit einer Massnahme bei Sozialhilfebezug tra-
gen auch der ausserordentlichen Situation während der Corona-Pandemie Rech-
nung. Das Migrationsamt prüft daher eingehend, ob jemand einzig aufgrund der
Corona-Krise Sozialhilfe beziehen musste. Ein solcher Bezug ist im Regelfall nicht
selbstverschuldet und damit nicht vorwerfbar. Bei der Beurteilung ist im Einzelfall re-
levant, ob die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit unter den konkreten Umständen
(Branche, Alter, Ausbildung, etc.) möglich ist und ob die Corona-Pandemie die ein-
zige Ursache der Sozialhilfeabhängigkeit ist.

Erhält das Migrationsamt eine Meldung, wonach eine betroffene Person mit einem
Betrag von Fr. 25'000.- (Aufenthalter) bzw. Fr. 60'000.- (Niedergelassene) durch die
Sozialhilfe unterstützt werden musste und ist der Sozialhilfebezug einzig auf die
Corona-Pandemie zurückzuführen, wird auf ein Hinweisschreiben (vgl. Ziffer 3.1
oben) verzichtet. Die betroffene Person wird unter Berücksichtigung der Corona-Pan-
demie angehalten, sich weiterhin um die Wiedererlangung der wirtschaftlichen Selb-
ständigkeit zu bemühen.

5. Inkrafttreten
Die vorliegende Weisung tritt per 1. Juni 2021 in Kraft.
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