Mehr Männer in die Grundschule: welche Männer? - Hannelore Faulstich-Wieland Faulstich-Wieland, Mehr Männer in die Grundschule?

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Hannelore Faulstich-Wieland

Mehr Männer in die Grundschule: welche Männer?

Summary
Durch mehr männliche Lehrer in der Grundschule sollen Jungen leistungsmäßig besser geför-
dert werden und Vorbilder erhalten. Empirisch zeigt sich, dass Leistung nicht mit dem Ge-
schlecht der Lehrkräfte zusammenhängt und dass eine Dramatisierung des Geschlechts bei
den Rekrutierungsstrategien keineswegs zu Geschlechtergerechtigkeit führt.

Einleitung
             In vielen Ländern gibt es spätestens seit den PISA 2000 Ergebnissen Debatten um
             eine mögliche Benachteiligung von Jungen im Bildungssystem: deren durchschnitt-
             lich schlechteres Abschneiden bezüglich der Lesekompetenz – einer Grundqualifika-
             tion – hat für großes Aufsehen gesorgt. Die Suche nach den Ursachen führt insbe-
             sondere Politiker und Journalisten, aber durchaus auch Wissenschaftler dazu, die
             „Feminisierung“ der Schule dafür verantwortlich zu machen. Entsprechend gibt es
             in einigen Ländern Kampagnen, um Männer als Lehrkräfte speziell für die Grund-
             schule zu gewinnen. In diesem Beitrag soll geprüft werden, ob es tatsächlich einen
             Bedarf an Lehrern gibt und welche Annahmen über das Geschlechterverhältnis den
             Rekrutierungsstrategien zugrunde liegen. Dazu wird zunächst kurz skizziert, mit
             welchen Argumenten für mehr Männer in der Grundschule plädiert wird. Deren
             Stichhaltigkeit soll anschließend geprüft werden.
                In weiteren Abschnitten geht es anhand qualitativer Forschungen darum, wie
             Männer in der Schule agieren und sich selbst und ihre Rolle in der Grundschule se-
             hen. Es zeigt sich, dass keineswegs ein Mehr an Geschlechtergerechtigkeit erreicht
             wird. Abschließend sollen Gründe genannt werden, warum eine Erhöhung des An-
             teils von Männern dennoch sinnvoll ist.

Warum werden Männer als Lehrer gebraucht?
             Es sind hauptsächlich drei Argumentationsfiguren, die immer wieder bemüht wer-
             den, um die Notwendigkeit männlicher Lehrkräfte deutlich zu machen:
                Da die Debatte im Kontext der Leistungsvergleiche geführt wird, bezieht sich ein
             Strang explizit auf die vermeintliche Leistungsverbesserung von Jungen durch
             männliche Lehrkräfte. Hierfür lässt sich exemplarisch der Bericht über eine entspre-
             chende Äußerung der nordrhein-westfälischen Kultusministerin Barbara Sommer
             (CDU) auf einem Fachkongress in Köln am 13.10.07 heranziehen:
                „Ein höherer Anteil männlicher Lehrkräfte sei besonders für die Förderung von
             Jungen wichtig, die im Vergleich zu Mädchen tendenziell schlechtere Noten haben
             und auch seltener das Abitur bestehen. Nach Ansicht der Schulministerin sollten an
             den Grundschulen in Nordrhein-Westfalen mehr Männer unterrichten, um dieses
             geschlechtsspezifische Leistungsgefälle abzufedern.“1

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      Ein zweiter Strang, der am wenigsten klar ist, aber am meisten wiederholt wird, be-
      trifft die Behauptung, vor allem Jungen benötigten männliche Vorbilder. Dramati-
      siert wird dieses Argument durch Verweise auf den (vermeintlich) hohen Anteil al-
      leinerziehender Mütter, der bereits in der Familie die „männliche Seite“ vermissen
      lasse. Dieser Mangel setze sich dann fort in den Kindertageseinrichtungen und in
      der Grundschule, wo nahezu nur weibliches Personal anzutreffen sei. Worin die
      Vorbildwirkung besteht, bleibt weitgehend offen. Ab und zu allerdings findet man
      deutliche Äußerungen wie in einem Artikel der Mitteldeutschen Kirchenzeitung
      vom 18. September 2009, in dem Jürgen Reifarth, Studienleiter der Evangelischen
      Akademie Thüringen und Mitglied der Fachgruppe Jungenarbeit in Thüringen, zu
      Wort kommt:
          „Typisch für Jungen: Aggressivität und Mobilität – Eigenschaften, die auf das
      Hormon Testosteron zurückzuführen seien. ‚Jungen sind wettbewerbsorientiert und
      sie haben ein Faible für Hierarchien.‘ Deshalb bräuchten sie andere Bildungs- und
      Freizeitangebote als Mädchen, betont Reifarth. Mehr Action und Bewegung, erleb-
      nisorientierte Angebote, die dem Selbstbehauptungswillen und der Aggressivität
      entsprächen. Die Reflexionsfähigkeit hingegen sei bei den Jungen geringer als bei
      Mädchen.“2 Bedürfnissen wie nach „Action und Bewegung“ würden Lehrerinnen
      nicht gerecht, dafür seien Lehrer notwendig.
          Ein letzter Argumentationsstrang bemüht die vermeintlichen Schwierigkeiten,
      die Lehrerinnen vor allem gegenüber muslimischen Jungen hätten, die ihre Autori-
      tät nicht akzeptieren würden. „Die Presse“ berichtet dies im folgenden Beispiel aus
      Österreich:
          „Österreichische Lehrerinnen hätten es manchmal mit muslimischen Schülern
      nicht leicht, denn einige männliche Muslime seien es gewohnt, dass die Frau eine
      untergeordnete Rolle spielt, so Florian Meischl und Paul Fally von ‚diepresse.com‘
          Deshalb hätten viele junge Muslime Probleme, eine weibliche Lehrkraft als Auto-
      rität anzusehen. ‚Ich lasse mir von ihnen (sic) nichts sagen‘, so ein muslimischer
      Schüler zu seiner Lehrerin. Die Schulen hätten Verständnis dafür, da die Probleme
      auf einer anderen Kultur und Einstellung zu Frauen basieren.“3

Steigern männliche Lehrkräfte die Leistungen
insbesondere von Jungen?
      Es gibt einige (wenige) Studien zur Leistung von Schülerinnen und Schülern, die
      zugleich Daten über das Geschlecht der Lehrkraft erfasst haben und so versuchen
      können, die These von der Leistungsverbesserung bei Jungen durch männliche Lehr-
      kräfte zu überprüfen.
         Thomas Dee (2007) ist der einzige, der in seiner Studie solche Effekte findet: Er
      wertet die US-Daten der National Education Longitudinal Study von 1988 aus, in der
      Informationen von ca. 25.000 Jugendlichen der 8. Klassen in Mittelschulen enthal-
      ten sind. Auf der Basis von verschiedenen Regressionsanalysen kommt Dee zu dem
      Ergebnis, dass es einen Unterschied mache, ob die Jugendlichen von einer gleich-
      oder gegengeschlechtlichen Lehrkraft unterrichtet werden. Erklärungen, woran dies
      liegen könnte, bietet er nicht an, spricht sich aber explizit gegen segregierende
      Maßnahmen als Konsequenz aus. Vielmehr fordert er, die Zusammenhänge in den
      Interaktionen zwischen Schüler/innen und Lehrer/innen genauer zu erforschen.

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             Bruce Carrington et al. (2008) prüften im PIPS-Projekt (Performance Indicators in
             Primary Schools) bei fast 9000 elfjährigen englischen Schüler/innen, ob Leistungs-
             unterschiede im Lesen, in Mathematik, Naturwissenschaften, Englisch, sowie bei
             nonverbalen Fähigkeiten (räumliches Erkennen) in Abhängigkeit vom Geschlecht
             der Lehrkraft nachweisbar sind. Das Ergebnis zeigt eindeutig, dass es solche Zu-
             sammenhänge nicht gibt. Die Autor/innengruppe resümiert: „the results gave little
             support for those who advocate recruitment drive with role models in mind” (ebd.:
             315).
                Johann Bacher et al. haben Daten der Studie „Soziale Situation beim Bildungszu-
             gang“ des Österreichischen Instituts für Berufsbildungsforschung ausgewertet, in
             der die Übergänge in die Sekundarstufe I, die Sekundarstufe II sowie in den Tertiär-
             bereich untersucht wurden. Jungen erhielten auf allen Schulstufen außer in Ma-
             thematik signifikant schlechtere Noten. Auf der Primarstufe sind die Unterschiede
             noch gering, nehmen im Laufe der Sekundarstufe I zu. Bacher u. a. schließen daraus,
             „dass der Sekundarstufe I und der Jugendphase ein größeres Gewicht zukommt als
             der Primarstufe und damit der Kindheitsphase. Damit einher geht der Befund, dass
             der Anteil weiblicher Lehrkräfte in der Volksschule keinen statistisch nachweisbaren
             Einfluss auf den Bubenanteil in der AHS hat, wie dies die These der Feminisierung
             der Grundschule annimmt.“ (Bacher et al.2008: S. 14).
                Beim Übergang in die Sekundarstufe II allerdings zeigt sich ein Einfluss des Ge-
             schlechts der Klassenlehrkraft: „Buben erzielen schlechtere Noten, wenn sie einen
             männlichen Klassenvorstand haben.“ (ebd.: 152). Die Autoren interpretieren dies als
             Widerlegung der Annahme, „dass Burschen männliche Lehrkräfte als Vorbilder be-
             nötigen, um gute schulische Leistungen erzielen zu können“ (ebd.).
                Wir können damit den ersten Argumentationsstrang der Debatte für mehr Män-
             ner in die Schulen als empirisch nicht haltbar zurückweisen.

Sind Männer als Vorbilder vor allem für Jungen notwendig?
             Fragt man Schülerinnen und Schüler selbst, ob ihnen das Geschlecht der Lehrkraft
             wichtig ist, so finden wir bei der Mehrheit der Kinder und Jugendlichen die Mei-
             nung, dass individuelle Aspekte wesentlich relevanter sind als Genderdifferenzen (z.
             B. Francis et al. 2006; Johannesson 2004; Koch-Priewe et al. 2009; Lahelma 2000,
             Skelton et al. 2009). Entscheidend dafür, von welcher Lehrkraft man gerne unterrich-
             tet werden möchte, ist die pädagogische Qualität. So betonten die Kinder aus 51
             dritten Klassen in London und Nordengland, die Becky Francis u. a. befragten, die
             „Gleichheit“ von Lehrerinnen und Lehrern. Diese sahen sie vor allem im pädagogi-
             schen Auftrag – Bildung zu ermöglichen – sowie in der Tätigkeit – Unterricht zu er-
             teilen. Die Minderheit, für die das Geschlecht wichtig war, beschrieb ihre je konkre-
             ten Lehrkräfte hinsichtlich der Charakteristika, die ihnen gefallen oder missfallen.
             Dadurch ergibt sich so gut wie keine geschlechterdifferenzierende Beschreibung, da
             die gleichen Merkmale sowohl für Frauen wie für Männer genannt wurden.
                Die Projektgruppe hat die 173 Kinder detailliert danach gefragt, welche Merkmale
             ihnen an ihren Lehrkräften gefallen (vgl. Tab. 1).

             Am wichtigsten in der Beschreibung ihrer Lehrkräfte war den Kindern deren Verhal-
             ten gegenüber anderen, gefolgt vom Charakter und der Qualität ihrer Pädagogik.
             Mädchen wertschätzten an ihren Lehrerinnen vor allem deren Umgang mit anderen
             (78% gegenüber 62% bei allen), Jungen mochten deren professionelles Verhalten

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             (43% gegenüber 35% bei allen), während sie ihren Charakter weniger mochten. Die
             Autor/innen differenzierten die einzelnen Aussagen noch genauer. Dabei zeigte sich
             zum einen, dass Lehrer am häufigsten kritisiert wurden für lautes Schimpfen. Zum
             anderen wurden jeweils deutlich mehr Lehrkräfte des eigenen Geschlechts als „nice“
             beschrieben. Es gibt also insofern einen Zusammenhang zum Geschlecht als mehr
             Kinder gute persönliche Beziehungen zu Lehrkräften des eigenen Geschlechts nen-
             nen, gute professionelle Arbeit bei Lehrkräften des anderen Geschlechts wertschät-
             zen (Hutchings et al. 2007: 9).

             Tabelle 1: Percentage of children whose responses to ‘What do you like about your
             teacher?’ fell in each broad category 4, Quelle: Hutchings et al. (2007) S. 8

                                    girls taught % girls taught % boys taught % boys taught
                                                                                                     % all
                                    by women        by men       by women        by men
attributes      physical                      10             4              5            2                   5
                character                   46            45               30                49           43
                mental                       2             0                0                  2             1
behaviour       towards others              78             55              58                 58          62
                occupational role           29            32               43                38           35
                other behaviour              0             4                0                  0             1
how others
                physical                     2             0                0                                1
see them
possessions                                  2             0                0                  0             1
N                                           41            47               40                 45         173

             Eine „Vorbildwirkung“ in dem Sinne, dass die Kinder sich an ihren Lehrkräften orien-
             tieren und in irgendeiner Weise „so sein wollen wie sie“, lässt sich jedoch eher nicht
             bestätigen. Auf die Frage „Are there any ways in which you would like to be like your
             teacher?“ antworteten insgesamt gut die Hälfte (53%) mit ja: 66% der Mädchen, die
             eine Lehrerin hatten und 49%, die einen Lehrer hatten; 43% der Jungen, die eine Leh-
             rerin hatten und 55%, die einen Lehrer hatten. Die Identifikation mit dem eigenen
             Geschlecht ist zwar höher, aber gerade bei Jungen keineswegs so, wie die allgemei-
             ne Debatte Glauben macht.

Verhalten sich männliche Lehrer tatsächlich
unterschiedlich?
             Im Rahmen des gerade präsentierten Projektes wurden auch Unterrichtsbeobach-
             tungen in den 51 Klassen durchgeführt. Barbara Read (2008) identifizierte dabei zwei
             Interaktionsstile im Umgang der Lehrkräfte mit den Kindern: den disciplinarian und
             den liberal discourse. Der disziplinierende Stil lässt sich als ständige Demonstratio-
             nen der Autorität der Lehrkraft in Form von sprachlichen Bewertungen oder rituali-
             sierten pädagogischen Praktiken und wenig Handlungsmöglichkeiten für Schüle-
             rinnen und Schüler beschreiben. Das geht einher mit einer Vielzahl an Ermahnun-
             gen oder Sanktionen gegenüber allen Aktionen von Kindern, welche die Autorität
             der Lehrkraft in Frage stellen. Im liberalen Stil werden die Machtverhältnisse zwi-
             schen Lehrkräften und Schüler/innen weniger deutlich. Die Kinder haben mehr
             Spielraum für Aktivitäten (agency) – pädagogische Konzepte von Kindzentriertheit,

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             antiautoritären und demokratischem Verhalten werden herangezogen. Dennoch
             bleibt die Machtposition der Lehrkraft erhalten, die Konstruktion der Kinder lässt
             sich als „pseudo-adultification“ charakterisieren, wobei ihnen nicht irgendein Ver-
             halten, sondern das eines „good citizen“ zugebilligt wird (ebd.: 613).
                Der erste Stil gilt als „hegemonial männlich“ und wird häufig im Kontext der De-
             batte um mehr männliche Lehrkräfte in der Schule angesprochen: Eine solche Hal-
             tung sei notwendig und würde von Männern praktiziert. Das Anfangs erwähnte Bei-
             spiel der notwendigen Autorität gegenüber muslimischen Jungen verweist auf die-
             se Argumentationsfigur. Der liberale Stil ist nicht ganz so deutlich gegendert, er
             wird sowohl als eher weiblich wie aber auch als „mittelschichtsmännlich“ wahrge-
             nommen. In der Praxis fand sich der „disciplinarian“ Stil wesentlich häufiger als der
             liberale, wobei es eine Minderheit von Lehrkräften gab, die vor allem den liberalen
             Stil praktizierte und eine Mehrheit zumindest zeitweise neben dem mehr autoritä-
             ren Stil auch liberale Elemente nutzte. Entscheidend ist, dass beide Stile von weibli-
             chen wie männlichen Lehrkräften angewendet werden. Read nimmt dies als Hin-
             weis darauf, dass die Argumentationsfigur, nach der ein feminisierter Stil in den
             Grundschulen vorherrsche – der zu Lasten von Jungen ginge – nicht haltbar ist:
             Vielmehr ist nach diesen Daten der den Männern zugeschriebene Stil auch bei den
             Lehrerinnen weit verbreitet.

Wie sehen Grundschullehrer selbst ihre Arbeit?
             Gehen wir im Folgenden noch einmal anders an die Frage des Verhaltes von männli-
             chen Lehrkräften heran und ziehen Studien heran, die Lehrer selbst zu Wort kom-
             men lassen (vgl. dazu auch Francis/Skelton 2001; Lingard et al.2009).
                 Exemplarisch soll an der Analyse von Gruppendiskussionen und Interviews mit
             Australischen Grundschullehrern, die Malcolm Haase (2008) durchgeführt hat, ge-
             zeigt werden, wie durch die Aufnahme genau der Argumente aus der Debatte um
             die Notwendigkeit von männlichen Lehrkräften eine Konstruktion von Männlichkeit
             entsteht, die verhindert, das System von Geschlechterungleichheit zu erkennen –
             womit sie zugleich beiträgt zu einer hegemonialen männlichen Sozialisation.
                 Mit sieben Grundschullehrern wurden über einen Zeitraum von einem halben
             Jahr zwei Interviews und eine abschließende Gruppendiskussion durchgeführt: Ron
             ist im ersten Jahr seiner Lehrertätigkeit, Don hat fünf Jahre Praxis, Peter 15. Alle drei
             unterrichten in den oberen Klassen einer kleinen öffentlichen Innenstadtgrundschu-
             le. Ebenfalls in solchen Schulen unterrichten Ben mit zwei und Andrew mit 15 Jahren
             Erfahrung. Bill unterrichtet als einziger Lehrer im Kollegium im ersten Jahr an einer
             kleinen Vorstadtschule. Schließlich gehörte Jack mit zehn Jahren Lehrtätigkeit dazu,
             der jedoch in einer privaten kirchlichen Jungenschule mit einem deutlichen Über-
             hang männlicher Lehrkräfte (Verhältnis von fünf zu eins) arbeitet.
                 Die Diskussion beginnt mit Dons Beschreibung des Spaßes, den die drei Lehrer im
             spielerischen Schlagabtausch (banter) miteinander hätten. Die Kolleginnen würden
             das zwar nett finden, dennoch vermutet Don, dass sie kein Verständnis für solche
             Schlagabtausche unter Jungen hätten, bei denen die Jungen rangeln würden („a boy
             goes up and pushes another boy“). Das sei ein Ausdruck von Freundschaft und wür-
             de keiner Ermahnung bedürfen. Es sei sehr gut, dass die Jungen nun die männlichen
             Lehrer sehen könnten, „because we lean on each other“ (ebd.: 602). Ron bestätigt
             sofort, dass sie solches ständig täten. Dadurch verdeutlicht er, dass die Lehrer aktiv
             vorlebten, was sie als normales, angemessenes männliches Verhalten ansehen. Jack

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      verstärkt dies noch, indem er betont, wie wichtig es für Jungen sei, dadurch ihre
      Stärken und ihre Grenzen erfahren zu können: „mucking around and roughhousing“
      seien die Mittel, durch die Jungen etwas fürs Leben lernten. Footballspiel zu fördern
      sei dazu ebenfalls sehr geeignet und gerade die Eltern ihrer Schüler würden die Jun-
      genschule wegen solcher Erfahrungen aussuchen. Peter kommentiert dies mit sei-
      ner Sorge, in koedukativen Schulen – und durch deren Feminisierung – wäre es nicht
      erlaubt „to hit and you'are not allowed to headlock and that’s a shame for the boys“
      (ebd.: 603). Don erweitert die Argumentation, in dem er feststellt, Jungen würden in
      den koedukativen Schulen „really soft“ gemacht, während es im Leben nicht ginge,
      dass man um Hilfe nachsuche – dort müsse man seinen Mann stehen. Haase weist
      auf die sozialen Konsequenzen solcher Verhaltensweisen hin:
          “Such discourses of having to fight or ‘stand up’ for one’s position do little to
      support those who may be marginalised in the current gender system, such as girls
      and women and subordinated men. Thus, this is a divisive discourse where power
      differentials are being established.” (ebd.)
          Das Gespräch der Lehrer vertieft diesen Aspekt noch weiter: Peter verallgemei-
      nert die männliche Sozialisationserfahrung, in der von Seiten anderer Männer An-
      sprüche an die Jungen gestellt wurden, denen sie zu entsprechen hatten, während
      die Mütter sie eher trösteten („cuddled you up, if you stuffed up“). Andrew bestätigt
      das für die Rolle, die den Lehrerinnen zukäme. Ergänzend machen sie deutlich, dass
      es Aufgabe der Lehrer sei, den Jungen dabei zu helfen, ihre Rangordnung zu etablie-
      ren, weil Lehrerinnen dies nicht verstehen könnten. Umgekehrt seien diese für die
      „little arguments“ der Mädchen zuständig (ebd.: 604f.).
          Die gesamte Argumentationskette dieser Lehrkräfte widerspiegelt die Akzeptanz
      von Geschlechterhierarchien und essentiellen Geschlechterdifferenzen – zugleich
      stärkt sie damit misogyne Auffassungen ebenso wie mythopoetische Männerbilder.
      Haase will seine Ergebnisse deshalb durchaus als Warnung gegen eine Politik der
      unhinterfragten Rekrutierung von mehr Männern in die Schule verstanden wissen:
      Ihm ist daran gelegen, „(to) send a warning to policymakers that the employment of
      more male teachers may not be in the best interests of gender justice unless such
      strategies designed to attract more male teachers are informed by sophisticated
      understandings of gender and social power.” (ebd.: 597)

Warum es sinnvoll ist, den Männeranteil zu erhöhen:
Plädoyer für mehr Lehrer (und Lehrerinnen) mit
Genderkompetenz
      Obwohl vor allem Fallstudien zeigen, dass die Rekrutierung von männlichen Lehrern
      über die Dramatisierung von Geschlecht – also die Betonung ihrer Männlichkeit als
      Kriterium für ihre Tätigkeit – zu problematischen, den professionellen Ansprüchen
      an Lehrtätigkeit eher widersprechenden Ergebnissen führt, lassen sich Gründe dafür
      benennen, warum es dennoch sinnvoll ist, den Männeranteil in den Schulen zu er-
      höhen. Dafür spricht zunächst einmal die Gleichberechtigungsforderung, nach der
      eine Parität der Geschlechter in allen Bereichen wünschenswert wäre. Aber auch
      unter sozialisationstheoretischen Aspekten sollte der Heterogenität der Kinder eine
      Heterogenität der Lehrkräfte entsprechen (Faulstich-Wieland 2009) – wobei dies
      nicht allein das Geschlecht, sondern (u. a.) auch die soziale und ethnische Herkunft
      beträfe. Eine Vielfalt an Lehrkräften könnte dazu beitragen, dass Kinder eine Ent-

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Faulstich-Wieland, Mehr Männer in die Grundschule?                                                               503

               koppelung von Fähigkeiten und Fertigkeiten an das Geschlecht erleben und dass sie
               viele und unterschiedliche individuelle Ausprägungen männlicher und weiblicher
               Persönlichkeiten erfahren können. Dazu allerdings bedarf es gerade nicht der ge-
               schlechtsbezogenen Arbeitsteilung, wie sie durch die Dramatisierung von Ge-
               schlecht immer wieder beschworen wird. Wenn Lehrer wie Lehrerinnen ebenso zu-
               ständig für Disziplin und Distanz wie für Freiraum und Nähe sind, dann ermöglicht
               das auch den Kindern eine große Bandbreite von Verhaltensweisen. Zu der Fähigkeit
               guten Unterricht zu machen gehört auch Genderkompetenz: Diese beinhaltet Wis-
               sen um Geschlechterzuschreibungen und geschlechtliche Konstruktionsprozesse
               ebenso wie die Bereitschaft, Geschlechterhierarchien abzubauen. Lehrer müssen
               keineswegs „soft“ werden – aber sie dürfen auch so sein; vor allem aber sollten sie
               hegemonialen Konstruktionen von Männlichkeit entgegentreten und sich gerade
               nicht zu deren Repräsentanten machen – ebenso wenig wie Lehrerinnen hegemoni-
               ale Männlichkeit unterstützen sollten. Lingard et al. bringen es folgendermaßen auf
               den Punkt:
                   „ … quality teaching recognizes the importance of caring, alongside challenging
               students intellectually, connecting the classroom to their world and encouraging
               them to value and engage with differences (…). Both men and women are equally
               capable of such teaching. However, particular kinds of male teachers who demon-
               strate such pedagogies and in the process challenge dominant constructions of
               masculinities may be able to make a positive impact upon students – boys and girls
               – in their classes by suggesting alternative constructions of masculinity. This same
               set of observations, of course, applies equally to female teachers as well.” (Lingard et
               al. 2009: 144)

     ANMERKUNGEN

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2
    http://www.mitteldeutsche-kirchenzeitungen.de/2009/09/18/jungen-brauchen-manner/ - 8.4.10
3
    http://www.shortnews.de/id/714281/Oesterreich-Muslimische-Schueler-erkennen-Autoritaet-weiblicher-
    Lehrpersonen-nicht-an - 8.4.10
4
    Zu den physischen Attributen gehörten beispielsweise „sehr hübsch“, „schlank“, „schnell“, „stark“; der Charak-
    ter wurde beschrieben mit „fair“, „lustig“, „ruhig“, „mächtig“, „nett“; unter „mental“ ging es um die Intelligenz.
    Das Verhalten der Lehrkräfte gegenüber anderen bezog sich z. B. auf „großzügig“, „mild“, „höflich“, „gewäh-
    rend“; die professionelle Rolle meinte u. a. Wissen, Fähigkeiten, Autorität; mit dem weiteren Verhalten war
    gemeint, was die Lehrkräfte sonst tun, wie z. B. Klavier spielen, gut kochen o. ä. Lehrkräfte können von anderen
    als berühmt, beliebt, respektiert oder auch negativ gesehen werden. Der Besitz schließlich bezieht sich darauf,
    was Lehrkräfte haben und ob die Kinder dies mit gutem Geschmack verbinden.

     LITERATUR

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  ZUR AUTORIN

 Dipl. Psychin. (1972 TU Berlin), Hannelore FAULSTICH-WIELAND (geb. 1948): Promotion in So-
 zialwissenschaften (1975 Universität Bremen), 1.Staatsexamen als Lehrerin für Arbeitslehre /
 Wirtschaft (1978 PH Berlin), Habilitation in Erziehungswissenschaften (1980 TU Berlin).
 Stellvertretende wissenschaftliche Leiterin des Forschungsinstituts „Frau und Gesellschaft“
 in Hannover (1982-1984); Professorin für Soziale Beratung an der Fachhochschule Frank-
 furt/Main (1984-1992); Universitätsprofessorin für Frauenforschung mit Schwerpunkt aus
 den Kulturwissenschaften am Fachbereich Sozialwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-
 Universität Münster (1992-1996). Seit 1. Jänner 1997 Universitätsprofessorin für Erzie-
 hungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Schulpädagogik, Schwerpunkt
 schulische Sozialisation an der Universität Hamburg.

                                                              Erziehung und Unterricht • Mai/Juni 5-6|2010
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