Mélange aus zynischen Machtkalkülen und internationaler Lösungsunlust
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Fluchtgründe und Rückkehrrisiken Mélange aus zynischen Machtkalkülen und internationaler Lösungsunlust Martin Link Ursachen und Wirkungen im israelisch- palästinensischen Besatzungskonflikt Als wir diese Ausgabe des die Absage der für Mai geplanten Wahlen len Freibriefe des Bundesaußenministers durch den Palästinenserpräsidenten für offenbar jedwede Qualität von Selbst- Magazins „Der Schlepper“ Mahmoud Abbas ebenso wie Erwartungen verteidigung der israelischen Regierung der amtierenden israelischen Regierung auf und die gleichzeitig mit der Weigerung, planten, herrschte bei uns eine bessere Ausgangslage vor den anste- Ursachen und Wirkungen differenziert zu henden Knesset-Wahlen ihren Anteil. Die betrachten, einher gehenden einseitigen mit Blick auf die im Ergeb- hierzulande zu beobachtende politische Schuldzuweisungen der bundesdeutschen nis seit vielen Dekaden und mediale, nicht zuletzt in den sogenann- politischen Klasse. Es ist daraufhin kaum ten Sozialen Netzwerken Raum greifende, verwunderlich, dass Expert*innen allent- auch für allerlei Fluchten Tendenz öffentlicher Diskussionsbeiträge halben feststellen, dass die von der EU, und undifferenzierter Schuldzuweisungen zumal von Deutschland, vorgeschlagenen, verantwortliche Unfähig- motivieren uns indes, eine tiefergehende vermeintlich die Interessen beider Seiten Sicht auf Ursachen und Wirkungen des berücksichtigenden Konfliktlösungsstrate- keit aller Akteure vor Ort Konflikts und daraufhin auch auf die Debat- gien nicht mehr ernst genommen werden. und international eine tenlage hierzulande zu versuchen. Wie sehr ein solches Debattenklima den Allein schon der Situation der gesellschaftlichen Zusammenhalt auch gewisse Desillusionierung. Palästinenser*innen in diesem Konflikt hierzulande gefährden kann, schreckt das Wort zu geben, sei antisemitisch, immerhin die miteinander kooperieren- wird uns mit Blick auf einen Demonstra- den jüdischen und muslimischen Initiati- Das 30-jährige Bestehen des Flüchtlings- tionsaufruf auf unserer Mailingliste vorge- ven auf. In einem offenen Brief wehren sie rats erschien uns aber ein guter Anlass zu worfen. Anderen Demonstrationen, bei sich am 20. Mai dagegen, „dass der Kon- sein, zwei ausgewiesene und mit unse- denen insbesondere von den ihre Flaggen flikt im Nahen Osten unser Zusammen- rer Arbeit seit vielen Jahren verbundene offen schwingenden faschistischen Grauen leben und unsere politische und kultu- Experten ihre jeweils eigene Zwischenbi- Wölfen und politischen Profiteuren aus relle Arbeit in Deutschland zerstört“. Die lanz ziehen zu lassen. anderen rechtsextremistischen Spektren pauschalen, gegen Muslim*innen gerich- – von der Polizei weitgehend unbehel- teten Zuschreibungen seien „Ausdruck Professor Moshe Zuckermann, Historiker ligt – tatsächlich aggressiv antisemitische von Antisemitismus und anti-muslimi- aus Tel Aviv und regelmäßig scharfzüngi- Hetze verbreitet wird, wird von WAZ bis schem Rassismus, die die Gegenwart und ger Kommentator der israelischen Innen- FAZ wider besseren Wissens eine paläs- Zukunft unseres Miteinanders hierzulande politik (S. 148), und Riad Othman, Paläs- tinensisch-muslimische Urheberschaft gefährden.“ tina-Referent bei Medico International unterstellt. Insbesondere zugewander- und profilierter Kenner insbesondere der Weil auch wir glauben, dass Simplifizie- ten Muslim*innen pauschal eine antisemi- Lage und Bedarfe der palästinensischen rung komplexer Problemlagen ins Abseits tische Haltung zu unterstellen, ist dieser Bevölkerung in den von Israel besetzten führt, wollen wir es uns so einfach nicht Tage gern bemühte Position selbsternann- Gebieten (S2 158), machen mit ihren Bei- machen und bleiben lieber nachdenklich. ter Expert*innen. trägen jeweils Perspektiven auf, die in der Erst recht in Zeiten, in denen man mit der bundesdeutschen politischen und media- Relativierung des tausendjährigen Reiches len Israel/Palästina-Debatte in der Regel Ausdruck von als „Vogelschiss der Geschichte“ oder kaum ausgeleuchtet werden. Antisemitismus und anti- Sprüchen von einer „dämlichen Bewälti- gungspolitik“ und der Forderungen einer Zur aktuellen Eskalation trugen offen- muslimischem Rassismus „erinnerungspolitische Wende um 180 sichtlich nicht nur Siedlerprovokationen Allzu wohlfeil geraten auch die sich offen- Grad“ erfolgreich politische Karieren im Ost-Jerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah bar die Außenpolitik der Trump-Adminis- machen kann, gehört dazu die Überzeu- und die Abriegelungen des Tempelber- tration zum Vorbild nehmenden, im euro- gung, dass die Shoa als ultimativer Push- ges just zum islamischen Fest Aid Al-Fitr päischen Konzert abgestimmten, pauscha- Faktor der Gründung Israels mindestens durch israelisches Militär bei. So hatten mitverantwortlich für die nach wie vor 144 · 06/2021 * Der Schlepper Nr. 100 * www.frsh.de
Fluchtgründe und Rückkehrrisiken los enteignet oder von straffrei bleiben- den Siedlern geraubt. Seit der ersten Inti- Man muss Partei ergreifen. fada 1987 wurden jährlich durchschnitt- lich 337 Palästinenser*innen von israeli- Neutralität hilft dem Unterdrücker, schen Militärs oder Zivilisten getötet. Seit der zweiten Intifada wurden gut 100.000 Personen, davon 15.000 Minderjährige, niemals dem Opfer, inhaftiert und etwa 27.000 in Administ- rativ-Haft, also in willkürlicher Haft ohne Stillschweigen bestärkt den Peiniger, Anklage und Verurteilung, gehalten. Nach dem letzten Waffengang kehrt der niemals den Gepeinigten. Elie Wiesel Besatzungsalltag in den palästinensischen Gebieten wieder zurück zur geringe- ren Intensität einer ständig Allgegenwär- tigkeit von Gewalt, die die Menschen auf Dauer zermürbt und ihnen absehbar den nicht gelösten Konflikte im Nahen Osten 2000 das Rückkehrrecht der 1948 vertrie- Glauben an eine von friedlicher Koexis- ist und daher auch wir hierzulande in benen palästinensischen Flüchtlinge, den tenz gekennzeichneten Zukunft austreibt. eine Verantwortung genommen sind, aus Status von Jerusalem als Hauptstadt oder Im Zustand dieses alltäglichen Klimas der es mit vorschnellen Vereinfachungen das Ende der rechtswidrigen israelischen von gewaltbestimmter Perspektivlosig- schon gar keinen Ausweg gibt. Landnahme und Besiedlung in den palästi- keit reanimierte das Patriarchat – schon nensischen Gebieten durchzusetzen. seit der zweiten Intifada – seine destruk- Wollen wir dabei, dass unser klares tivsten Seiten und zwingt wo es kann der Bekenntnis für das Existenzrecht Isra- Die Osloer Verträge und folgende bila- Gesellschaft seine vermeintlich religiö- els nicht als Plädoyer für eine dauerhaft terale „Vereinbarungen“ führten indes zu sen konservativen, antifeministischen, ras- asymmetrische Situation missverstanden einer Aufsplitterung der Westbank in zahl- sistischen und kulturfeindlichen Werte wird, muss dieses Bekenntnis gleicherma- reiche nicht zusammenhängende, wirt- ßen ein zu gewährleistendes Existenzrecht schaftlich nicht autarke Flecken und einer eines souveränen palästinensischen Staates Politik der sukzessiven Zerschlagung auf den vollständigen ab 1967 besetzten von Strukturen, auf denen ein staatliches Gebieten oder der Schaffung eines multi- palästinensisches Gemeinwesen als Teil ethnischen, allen seinen Staatsangehörigen einer Zwei-Staaten-Reglung hätte funktio- gleiche Rechte einräumenden Staatswe- nieren können. Die somit aus palästinen- sens im Gebiet Israels und Palästinas bein- sischer Sicht ultimativ gescheiterten Frie- halten. Weder die eine, noch die andere densverhandlungen führten ab 2000 in die Vision werden sich durchsetzen, wenn zweite Intifada. In 1.558 Tagen wurden sich nicht beide Seiten zu einem robus- von islamistischen Gruppen 160 junge ten Gewaltverzicht und zu Verhandlungen, Attentäter*innen zu Selbstmordanschlä- die die Belange und Interessen des jeweils gen in Israel getrieben. Insgesamt wurden anderen ernst nehmen, entschließen. in der zweiten Intifada 1.036 Israelis und 3.592 Palästinenser*innen getötet. Erst im Februar 2005 konnte die Gewalt durch Besatzungs- und einen Waffenstillstand beendet werden. Siedlungspolitik Seither kontert die israelische Besat- Zur Liste der ungelösten Probleme zwi- zung Widerstände noch restriktiver, als schen Israel und Palästina gehört die seit es ohnehin schon zuvor üblich war. Eine der Besatzung und inzwischen in Teilen acht Meter hohe Mauer wurde zwischen Juliano Mer-Khamis wurde am 5. April 2011 vollzogenen Annektierung der palästinen- israelischem Staatsgebiet und der West- vor dem Freedom Theatre Jenin von wer sischen Gebiete seit 1967– lediglich im bank hochgezogen. Hochgerüstete Über- weiß wem erschossen Gaza-Streifen 2005 durch Abzug been- gänge der israelischen Armee reglemen- dete – fortgesetzte Siedlungspolitik. Seit- tieren Ein- und Ausreisen und auch inner- auf. Dagegen aber halten an vielen Orten her dient die palästinensische Bevölke- halb der besetzten Gebiete behindert ein der besetzten Gebiete Projekte engagier- rung außer als regelmäßiges Objekt der engmaschiges Netz von Checkpoints die ter Jugend- und Kulturarbeit, die jungen Übergriffigkeit und Diskriminierung durch Bewegungsfreiheit von Ort zu Ort. Männern und Frauen vor Ort ihre Träume radikale Siedler v. a. als Arbeitskräftere- zurückgeben und sie gegen die Besat- servoir beim Siedlungsbau sowie in der Allein seit 2009 zerstörte die Armee i.d.R. zung und die Fesseln eines rückwärtsge- israelischen Wirtschaft. als Strafaktionen 7.101 Häuser Verdäch- wandten Wertekanons gleichermaßen zu tiger. Zwischen 2000 und 2018 zerstör- empowern versuchen. Die Osloer Verträge zwischen der Regie- ten israelische Truppen über eine Mil- rung Israels und der PLO vermochten für lion Bäume – meist Oliven – auf palästi- Ein Engagement, das sich Feinde auf allen die palästinensische Seite genauso wenig nensischem Bauernland. Regelmäßig wird Seiten macht. Das erfuhr auch ein lang- wie die opferreichen Intifadas 1987 und palästinensisches Land entschädigungs- jähriger Kooperationspartner des Flücht- www.frsh.de * Der Schlepper Nr. 100 * 06/2021 · 145
Fluchtgründe und Rückkehrrisiken lingsrates Schleswig-Holstein, das mit wirtschafts- und sozialpolitischen Erfolg- Armutsentwicklung abfedernde Sozialpo- seinen Produktionen gegen die brutale losigkeit, der israelischen Repression litik umgesetzt. Willkür der Besatzung und für die Freiheit keinen maßgeblichen Widerstand entge- Die hierzulande in öffentlicher Diskus- und Selbstbestimmung palästinensischer gen zu setzen und stattdessen mit israeli- sion gern ins Feld geführte Behaup- Männer, Frauen und Mädchen landesweit schen Sicherheitsdiensten zu kollaborie- tung, die Hamas habe in der Bevölkerung und international erfolgreiche Theater- ren, konfrontiert. In dem Maße, wie die keinen Zuspruch, muss wohl weitgehend projekt Freedom Theatre in Jenin Camp. machthabende Fetah-Partei an Rückhalt in als Wunschdenken europäischer Interes- 2011 wurde der Initiator und Direktor der Bevölkerung verlor, organisierten sich senpolitik verstanden werden. Der dem dieses ambitionierten kulturellen Befrei- andere politische Kräfte. entgegen inzwischen auch in der West- ungsprojektes, der israelische, jüdisch- Zunächst war im Gaza-Streifen die isla- bank erhebliche Rückhalt der Hamas hat arabisch-stämmige Schauspieler Juliano mistische Hamas-Partei bei den palästi- aber wohl die in Ramallah residierende Mer Khamis, mitten am Tag vor dem The- nensischen Wahlen 2007 erfolgreich – Fetah-Autonomiebehörde und Präsident ater in Jenin erschossen. Bis heute haben was dort zu einem innerpalästinensischen Mahmoud Abbas motiviert, Ende April die weder die israelische Militärstaatsanwalt- opferreichen Kampf um die Macht führte, nach 15 Jahren erstmals für Mai geplan- schaft noch die Justiz der Autonomiebe- aus dem die Hamas als Siegerin hervor- ten Parlaments- und Präsidentschaftswah- hörde irgendwelche Schritte unternom- ging. Inzwischen wird die Partei von der len abzusagen. Der Verweis darauf, dass men, diesen Mord aufzuklären. Europäischen Union, den Vereinigten Israel die Teilnahme der Bevölkerung in Staaten, Israel und anderen – auch ara- Ostjerusalem behindere, muss wohl als Teile und herrsche? bisch-muslimischen – Staaten als terroris- allenfalls zweitrangiger Grund für die Ent- tische Vereinigung eingestuft. Sie hat aller- scheidung gelten. Schon lange sieht sich die palästinensische dings – was hierzulande kaum zur Kennt- Autonomiebehörde, der u. a. die Verwal- Wie aber leben die gut drei Millionen nis genommen wird – trotz weitgehend tung der aus Israel regelmäßig überwie- Palästinenser*innen in der Westbank und lückenloser Abschottung des Gaza-Strei- senen Steuergelder anheimfiel, seitens die gut zwei Millionen im Gaza-Streifen. fens durch Israel und Ägypten eine die der palästinensischen Bevölkerung zuneh- Ein Durchschnittsalter von 21 Jahren bei Bedürfnisse der Menschen im Blick behal- mend mit Vorwürfen der Korruption, der 36 % unter 14-Jährigen in der Westbank tende Versorgungswirtschaft und die 146 · 06/2021 * Der Schlepper Nr. 100 * www.frsh.de
Fluchtgründe und Rückkehrrisiken und von 19 Jahren bei 41 % unter 14-Jäh- erkannte und ergriff, sich mit einer Rake- Bis zum aktuellen Waffenstillstand sind rigen im Gaza-Streifen kennzeichnet die tenoffensive gegen Israel als die eigentli- innerhalb von gerade mal zwei Wochen im aktuelle Bevölkerungsstruktur. In der che „ehrliche und mutige Maklerin“ der Gaza-Streifen 242 Menschen gestorben, Westbank leben 534 Menschen auf einem palästinensischen Demokratie- und der davon 66 Kinder und 38 Frauen. 1.948 Quadratkilometer, im Gaza-Streifen aber Schutzinteressen gegen die fortgesetzte Personen wurden im Gaza-Streifen und drängeln sich 5.533 Menschen/km². Die Eskalation der Besatzungspolitik zu insze- 6.381 in der Westbank verletzt. In Israel Armutsrate beträgt in der Westbank 30 nieren, muss angesichts der diese Strate- wurden zwölf Menschen getötet, davon % und im Gazastreifen hingegen 64 % gie sekundierenden Proteste in der West- fünf Männer, fünf Frauen und zwei Kinder, der Bevölkerung. Im öffentlichen Dienst, bank und diesmal auch vielerorts inner- und 710 wurden verletzt. Doch sind diese d. h. bei der Autonomiebehörde in der halb Israels als offenbar erfolgreich zur Menschen nicht allein der jüngsten israe- Westbank, sind 16 % der Arbeitnehmen- Kenntnis genommen werden. lisch-palästinensischen Gewalteskalation, den, bei der Hamas-Verwaltung im Gaza- sondern zugleich einer Mélange aus zyni- Des einen Erfolg ist der des anderen streifen dagegen 40 % beschäftigt. Die schen Machterhaltungskalkülen auf beiden Hoffnung. Entlang des seit dem 20. Mai Arbeitslosigkeit beträgt in der Westbank Seiten des Zauns zum Opfer gefallen – und mit Waffenstillstand zunächst beende- 15 % und im Gaza Streifen 49 %. nicht zuletzt der mittlerweile jahrzehnte- ten, seit 2008 vierten Hamas/Israelischen langen Unlust der sogenannten Staaten- Kriegs, rechneten sich wohl auch die an gemeinschaft, den Palästina-Konflikt einer Opferreiche palästinensische der aktuellen israelischen Regierung betei- nachhaltigen Lösung zuzuführen. und israelische Machtkalküle ligten Parteien Erfolge bei der ebenfalls anstehenden israelischen Parlamentswahl Dass die Hamas in dieser, von der Aufge- aus. Der Möglichkeit, dass im Zuge eines Martin Link ist Mitarbeitender des Flüchtlingsrats brachtheit der Menschen über Siedlerge- Zusammengehens der ultrarechten bis Schleswig-Holstein in Kiel. www.frsh.de walt, Al Aqsa-Blockade der israelischen In der Printausgabe des Schleppers Nr. 100 wurde „linken“ Parteien (vgl. Zuckermann, Seite eine gekürzte Fassung abgedruckt. Armee, die empfundene Willkürentschei- 148) mit einer arabischen Partei als Züng- Das Freedom Theatre im Lager Jenin dung der Autonomiepräsidentschaft und lein an der Waage den Regierungswech- empowert Jugendliche in den besetzten nicht zuletzt die tägliche Überlebensmüh- sel bringen könnte, scheint Ende Mai den- Gebieten Palästinas sal aufgeladenen Situation die Chance noch denkbar. www.freedomtheatre.org www.frsh.de * Der Schlepper Nr. 100 * 06/2021 · 147
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