Meteorologische Untersuchungen im 19. Jahrhundert- Die Methode der Beobachtung im Gefüge des Erkenntnisprozesses der Physik-PhyDid

 
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Meteorologische Untersuchungen im 19. Jahrhundert- Die Methode der Beobachtung im Gefüge des Erkenntnisprozesses der Physik-PhyDid
Physik und Didaktik in Schule und Hochschule
                                                                               PhyDid 1/18 (2019), S.1 - 10

                  Meteorologische Untersuchungen im 19. Jahrhundert
       – Die Methode der Beobachtung im Gefüge des Erkenntnisprozesses der Physik –

                                                 Simon F. Kraus

                Universität Siegen, Didaktik der Physik, Adolf-Reichwein-Str. 2, 57068 Siegen,
                                         kraus@physik.uni-siegen.de
                             (Eingegangen: 01.10.2018; Angenommen: 12.03.2019)

       Kurzfassung
       Die älteste – weil zunächst von instrumentellen Voraussetzungen unabhängige – Methode der Na-
       turerschließung ist die systematische Beobachtung. Im Zuge der Herausbildung einzelner natur-
       wissenschaftlicher Disziplinen, wie der Physik, wurde sie jedoch nicht verdrängt, sondern findet
       sich nach wie vor, z. B. als Teil des Experiments, wieder. Ebenso ist die Beobachtung auch wei-
       terhin als eigenständige Form der Erkenntnisgewinnung anzutreffen, etwa innerhalb der Astrophy-
       sik oder auch in Teilgebieten, deren Untersuchungsgegenstände zwar prinzipiell zugänglich, je-
       doch nicht auf Labormaßstab skalierbar sind, wie etwa der Atmosphärenphysik. In diesem Beitrag
       soll anhand eines historischen Beispiels aufgezeigt werden, wie der Prozess der Theoriebildung
       seinen Ausgangspunkt in Beobachtungsdaten haben konnte, ohne dass auf das Experiment zurück-
       gegriffen wurde. Hierbei wird als Werkzeug zur Strukturierung und Visualisierung der histori-
       schen Abläufe der EJASE-Prozess Einsteins herangezogen.
       Dabei wird gezeigt, wie sich beobachtungsbasierte Theoriebildung unter äußeren Einflüssen, wie
       der der natürlichen und technischen Umgebung oder persönlicher Voraussetzungen, vollzieht.

       Abstract
       The oldest method for the inquiry of nature is systematic observation – since it initially was inde-
       pendent of instrumental requirements. In the course of the development of individual scientific
       disciplines, such as physics, systematic observation was not discarded, it is still to be found, e.g. as
       part of an experiment. Likewise, observation can still be found as an independent form of
       knowledge acquisition, for example in astrophysics as well as in some of its sub-areas, such as at-
       mospheric physics for example, whose objects of investigation are accessible in principle but can-
       not be scaled down to the scale of a laboratory. In this article, a historical example illustrates how
       the process of theory formation had its starting point in observational data, without recourse to the
       experiment. Einstein's EJASE process serves as a tool for structuring and visualizing historical
       processes.
       The article shows how observation-based theory builds up under external influence, like the natu-
       ral and technical environment or personal prerequisites.

1. Motivation                                                 Forschungsgebieten der Physik Beispiele für Unter-
Auf die Frage nach den wesentlichen Erkenntnisme-             suchungen, die zunächst ausschließlich anhand von
thoden der Physik lautet die Antwort meist, dass sich         Beobachtungen angestellt werden konnten. Genannt
diese Wissenschaft auf Messungen, Experimente                 seien beispielhaft die Untersuchung von leuchtenden
und Beobachtungen stützt (Tipler, 2015, S. 4; Dem-            Nachtwolken und ihrer Entstehungsprozessen
tröder, 2013, S. 4). Ob jedoch die Naturbeobachtung           (Thomas, 1989). Es erscheint daher lohnenswert, die
dabei neben dem Experiment eine gleichrangige                 Methode der Beobachtung aus erkenntnistheoreti-
Methode ist oder hinter diesem zurücksteht, bleibt            scher Sicht zu analysieren und dabei auf historische
unklar. Ebenso ist grundsätzlich fraglich, wie über-          Entwicklungen zurückzugreifen.
haupt ein Erkenntnisfortschritt, d. h. eine Weiter-           Ein solches Beispiel für beobachtungsgestützte For-
entwicklung von Theorien und Modellen zu erzielen             schung stellen die Untersuchungen über die Natur
ist, wenn das Untersuchungsobjekt unzugänglich                der nordatlantischen Stürme dar, die man verstärkt
bleibt. Oft wird an dieser Stelle auf die Erfolge der         ab den 1830er Jahren durchführte. Im Zentrum des
Astrophysik verwiesen, die sich ebenfalls mit dieser          vorliegenden Beitrages steht dabei William Red-
Einschränkung konfrontiert sieht (Anderl, 2017, S.            fields Theorie, die zwar aus der modernen Perspek-
13f.). Es existieren jedoch auch in den aktuellen             tive bei weitem keine vollständige Erklärung bietet,

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jedoch wertvolle Einblicke in das Zustandekommen
einer Theorie auf Basis von Beobachtungsdaten
erlaubt. Von großem Vorteil für eine mögliche
schulpraktische Aufarbeitung ist hier, dass die Quel-
lenlage im Hinblick auf die Verfügbarkeit und Les-
barkeit ausgesprochen gut ist und gleichzeitig der
fachliche Anspruch auf einem Niveau bleibt, der           Abb. 1: Originalskizze Einsteins zum EJASE-Prozess
eine ausführliche Behandlung des Themas im                (Quelle: Einstein, 1960)
Schulunterricht problemlos ermöglicht.
Um den Erkenntnisprozess im Ganzen systematisch           und Axiomensystem an oder ersetzt dieses durch ein
zu beschreiben und dabei die Wirkung von Beobach-         neues Begriffssystem.
tungsdaten einbinden zu können, wird auf den              2.1. Die Ebene der Sinneserlebnisse
EJASE-Prozess Einsteins zurückgegriffen. Dieser           Einstein bemerkt zu den Sinneserlebnissen schlicht,
bietet den Vorteil, dass er zwar übersichtlich und        dass uns diese gegeben seien. Man muss sich (E) als
leicht nachvollziehbar bleibt, jedoch gleichzeitig        unendlich ausgedehnte Linie vorstellen, auf der sich
auch außerwissenschaftliche Einflüsse auf die Theo-       die Gesamtheit aller möglichen Erfahrungstatsachen
riebildung, wie die persönlichen Überzeugungen der        und Beobachtungen befindet. Dabei muss an dieser
beteiligten Wissenschaftlicher, problemlos zu inte-       Stelle angemerkt werden, dass Einstein den Begriff
grieren vermag.                                           der Sinneserfahrungen sehr weit fasst: Für ihn waren
2. Der EJASE-Prozess als ein Modell der Er-               etwa die Unmöglichkeit des Perpetuum mobile, die
   kenntnisgewinnung                                      Konstanz der Lichtgeschwindigkeit oder auch die
Um die Beziehung zwischen Sinneseindrücken und            Äquivalenz von träger und schwerer Masse Sin-
dem System der naturwissenschaftlichen Theorien           neserfahrungen (Holton, 1979, S. 115). Im Rahmen
darstellen zu können, ist ein geeignetes Modell wün-      des vorliegenden Beitrags ist eine derartig umfas-
schenswert, das den Prozess der Erkenntnisgewin-          sende Vorstellung von Erfahrungstatsachen nicht
nung der Physik (oder der Naturwissenschaften im          notwendig. Es bleibt hier bei unmittelbaren Sin-
Allgemeinen) in einer zugänglichen Form darstellt.        neserfahrungen bzw. solchen, die durch einfache
                                                          Messinstrumente zugänglich sind.
Für den vorliegenden Beitrag soll der sogenannte
EJASE-Prozess nach Albert Einstein (1879-1955)            Einstein liefert an anderer Stelle seine Vorstellung
Verwendung finden, den dieser im Jahre 1952 in            von der grundsätzlichen Aufgabe der Wissenschaft:
einem Brief an Maurice Solovine (1875-1958) nie-          „Wissenschaft ist der Versuch, die chaotische Viel-
derschrieb (Einstein, 1960, S. 120). Zentrales Ele-       falt unserer Sinneserfahrungen in ein logisch einheit-
ment des kurzen Briefes ist die in Abbildung 1 wie-       liches Gedankensystem einzubauen“ (Einstein,
dergegebene Skizze, die aus vier Hauptelementen           1956).
besteht:                                                  Der EJASE-Prozess in der Fassung Einsteins ist
a) Die Ebene (E), die die „Mannigfaltigkeit der           jedoch (zumindest explizit) noch nicht fähig zu
     unterschiedlichen (Sinnes-) Erlebnisse“ darstellt,   beschreiben, wie Ordnung in dieses Chaos gebracht
                                                          werden kann.
b) einer geschwungenen Kurve (im Weiteren als
     Jump (J) bezeichnet),                                2.2. Der Gedankensprung
c) dem System der Axiome (A) und                          Ein ganz wesentliches Element des Prozesses bleibt
                                                          bei Einstein selbst ohne eigene Bezeichnung. Es
d) den gefolgerten Sätzen (S, S‘, S‘‘).
                                                          handelt sich um den großen geschwungenen Pfeil,
Auf diese Elemente soll nun im Einzelnen eingegan-        der die Ebene der Sinneserlebnisse mit dem System
gen werden. Die Ausführungen folgen dabei dem             der Axiome verbindet. Holton bezeichnet ihn (aus
Wissenschaftshistoriker Gerald Holton, dem die            dem englischen Original kommend) mit J(ump). Bei
Aufarbeitung und Erweiterung des Modells zuzu-            diesem gedanklichen Sprung, den der Wissenschaft-
schreiben ist (Holton, 1979). Ein erster Versuch, das     ler auf seiner Suche nach neuen Impulsen für die
Modell auch für die Didaktik nutzbar zu machen,           Weiterentwicklung von Theorien machen muss,
geht auf Wilfried Kuhn zurück (Kuhn, 1983).               handelt es sich um teils wilde Spekulationen, Ver-
Es sei vorab angemerkt, dass der gesamte Zyklus           mutungen, plötzliche Inspirationen, leise Ahnungen
i. d. R. nicht von einem Wissenschaftler allein           oder eine Art von Vorgefühl. Sie mögen durchaus
durchlaufen wird. Es handelt sich vielmehr um eine        auch einer verzweifelten Suche entspringen. Es
Reihe von Iterationen, die stückweise zum Aufstel-        handelt sich bei diesen Umschreibungen allesamt
len und zur Weiterentwicklung von Theorien sowie          um Begriffe, die klassischerweise sicherlich nicht
zu deren Prüfung von verschiedenen Personen oder          mit einem naturwissenschaftlichen Vorgehen in
Personengruppen über unterschiedlich lange Zeit-          Verbindung gebracht werden dürften (Holton, 1979,
räume hinweg durchlaufen wird. Dabei knüpft der           S. 116).
Forscher jeweils an das bereits vorhandene Begriffs-      Für Einstein ist es ein zentrales Anliegen, darauf
                                                          hinzuweisen, dass eben kein logischer Weg von den

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Meteorologische Untersuchungen im 19. Jahrhundert

Erfahrungen (E) zu den Axiomen (A) führt. Auch ist
anzumerken, dass Begriffe – die mit den Axiomen
hier auf einer Ebene stehen und die Basis jeder The-
orie bilden – nicht identisch mit den Sinnesempfin-
dungen sind. Es handelt sich vielmehr um eine Art
von Generalisierungen und Abstrahierungen, die
zwar mit den „Observablen verbunden“ (Holton,
1979, S. 120), jedoch nicht direkt aus diesen ableit-
bar sind. Hierzu wiederum Einstein:
„Zu diesen elementaren Gesetzen führt kein logi-
scher Weg, sondern nur die auf Einfühlung sich          Abb. 2: Erweiterung des EJASE-Prozesses durch Holton
stützende Intuition“ (Einstein, 2005, S. 143).
                                                        im Verbund, nicht jedoch in Form von Einzelbe-
2.3. Sätze und Vorhersagen                              obachtungen, als Testfall für Theorien infrage kom-
Aus den (neuen oder modifizierten) Axiomen und          men.
Begriffen werden rein deduktiv Sätze und damit          2.5. Erweiterung des EJASE-Modells
schließlich Vorhersagen abgeleitet. Dabei handelt es
                                                        Um zu einem wirklich praktikablen Modell zu kom-
sich um einen rein logischen Prozess. Hierzu be-
                                                        kommen, das u. a. auch die Besonderheiten von
merkt Einstein:
                                                        Beobachtungen und die Persönlichkeit der beteilig-
„Die Ratio gibt den Aufbau des Systems“ (Einstein,      ten Forscher adäquat abzubilden vermag, ist eine
2005, S. 151). In den theoretischen Bereich des         geringfüge Erweiterung des Modells erforderlich.
EJASE-Prozesses sind die Beobachtungen bereits          Gerald Holton merkt zum EJASE-Prozess kritisch
auf indirektem Wege eingeflossen, weshalb er im         an, dass der Gedankensprung dem Wissenschaftler
Folgenden nicht weiter berücksichtigt und als „The-     einerseits die Freiheit geben muss, einen solchen
orieteil“ bezeichnet wird. Gleichzeitig wird sich die   gedanklichen Sprung überhaupt zu vollführen. An-
Theorie jedoch noch als ein Element von entschei-       dererseits muss jedoch ebenso eine Beschränkung
dender Bedeutung erweisen, sowohl im Hinblick auf       der Freiheit dafür sorgen, dass nicht jeder beliebige
die Prüfung der Vorhersagen an der Natur als auch       gedankliche Sprung vollführt wird (Holton, 1973).
für die Wahrnehmung weiterer Sinneserlebnisse.          Wie sonst sollte schließlich in endlicher Zeit ein
2.4. Prüfung an der Erfahrung                           geeignetes Axiom oder ein neuer Begriff gefunden
Die Theorie liefert Vorhersagen, deren Prüfung an       werden, ohne dass diese im unbeschränkten Gewirr
den Erfahrungstatsachen (Beobachtungen und Expe-        der Gedanken untergingen? Nach Holton sind dafür
rimenten) notwendig ist, um den Prozess vollenden       die von ihm so bezeichneten Filter notwendig (Abb.
zu können. Dabei ist eine Reihe von Unsicherheits-      2), um die aufkeimenden Ideen aussortieren und nur
faktoren zu berücksichtigen (vgl. Holton, 1979, S.      solche passieren zu lassen, die gewissen Kriterien
123f.).                                                 genügen. Bei einem solchen Filter könnte es sich
                                                        etwa um eine bestimmte Grundüberzeugung han-
So ist es durchaus möglich zu richtigen Vorhersagen
                                                        deln, bei der es sich nicht notwendigerweise um eine
zu kommen, die sich aus (aus heutiger Perspektive)
                                                        physikalische handeln muss (Krause, 2017).
falsch gesetzten Axiomen ergeben. Man denke dabei
etwa an die Phlogiston-Theorie, mittels der u. a.       Als Beispiel für solche Überzeugungen, die als Filter
erklärt werden konnte, warum Körper brannten,           wirken, seien hierzu die Überzeugungen von Johan-
warum sich die Eigenschaften von Metallen unterei-      nes Kepler (1571-1630) und Wolfgang Pauli (1900-
nander stärker ähnelten als die der Erze, oder auch     1958) angeführt. Im Falle Johannes Keplers sind die
warum eine Kerze in einem abgeschlossenen Luft-         wesentlichen erkenntnisleitenden Prinzipien für sein
volumen erlischt (Kuhn, 1967, S. 137f.).                frühes Modell des Planetensystems (in seiner Veröf-
                                                        fentlichung „Mysterium cosmographicum“) in sei-
Auch ist die erkenntnistheoretische Einschränkung
                                                        nen religiösen Überzeugungen und Vorstellungen
zu berücksichtigen, nach der Theorien prinzipiell
                                                        zur Zahlenmystik zu finden. Sie zeigen sich in einer
nicht endgültig bewiesen werden können und sich
                                                        gedanklichen Verschachtelung platonischer Körper,
lediglich in der Anwendung als wiederholt nützlich
                                                        aus denen sich die Reihenfolge und die Abstände der
und plausibel zeigen können.
                                                        Planeten ergeben (Simonyi, 2012, S. 190). Für Pauli
Als dritte Einschränkung sei angeführt, dass experi-    war seine Überzeugung für die Gültigkeit der Ener-
mentelle Ergebnisse und ebenso (instrumentenge-         gieerhaltung die Antriebsfeder, die ihn zur Postulie-
stützte) Beobachtungen grundsätzlich einer gewissen     rung des bis dahin unbekannten Neutrinos brachte
Unzuverlässigkeit unterliegen und damit häufig nur      (Simonyi, 2012, S. 506).

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Kraus

Solche Überzeugungen, die eine leitende Funktion
bei der Theoriebildung und -modifikation besitzen,
werden in der Wissenschaftstheorie mit unterschied-
lichen Bezeichnungen versehen. Bei Thomas Kuhn
findet man sie etwa unter dem Begriff des Paradig-
mas (Kuhn, 1967), während Gerald Holton sie als
Themata bezeichnet (Holton, 1984). Für die Didak-
tik wurden sie von Krause aufbereitet und werden
hier unter dem Begriff des Denkprinzips zusammen-
gefasst (Krause, 2013).
Neben der persönlichen Überzeugung der Gültigkeit
bestimmter Prinzipien, kommen auch psychologi-
sche oder physiologische (d. h. sensorische) Filter
als Einflussfaktor in Betracht. Wie ein persönlicher
Filter zustande kommt und wie seine Wirkung zu
verstehen ist, wird im weiteren Verlauf am konkre-
ten Beispiel deutlich.                                    Abb. 3: Satellitenbild des Hurrikans Katrina am
                                                          28. August 2005 (Quelle: NOAA, lizenzfrei, nes-
Einen ausführlichen Überblick über verschiedene
                                                          dis.noaa.gov/content/hurricane-katrina)
(alternative) Modelle zum Zusammenspiel von Ex-
periment, Beobachtung und Theorie bietet die Arbeit       Auch die großräumige Strömung, die entlang der
von Heine (Heine, 2018, S. 41-68).                        Ostküste der USA nach Norden gerichtet ist, war
3. Erkenntnisgewinnung durch Beobachtung am               bereits früh bekannt (Redfield, 1831, S. 29).
   historischen Beispiel                                  Stürme hingegen wurden lange Zeit als ein rein
Bei dem Gedanken an Hurrikans mögen uns heute             lokales Phänomen aufgefasst. Erst Benjamin Fran-
sofort die damit einhergehenden immensen Verwüs-          klin (1706-1790) wird zugeschrieben, erstmals die
tungen, die durch die Verfügbarkeit von entspre-          Zugrichtung eines Sturms nachträglich rekonstruiert
chendem Bildmaterial sehr eindringlich sind, vor          zu haben. So war für ihn in Philadelphia eine Mond-
dem inneren Auge erscheinen. Auch die charakteris-        finsternis aufgrund eines Sturms und der damit ein-
tische Struktur eines solchen Sturms blitzt häufig als    hergehenden geschlossenen Wolkendecke nicht zu
ein vertrautes Bild im Gedächtnis auf (Abb. 3). Das       beobachten, während die Finsternis in Boston noch
Bild eines Hurrikans, als rotierendes und mit einem       zu sehen war, bevor der Sturm auch dort eintraf
markanten Auge versehenes System, ist selbstredend        (Moore, 2016, S. 169).
im Wesentlichen ein Produkt der modernen Raum-            Als eine mögliche Ursache für atmosphärische Er-
fahrt- bzw. Satellitentechnologie. Wie aber war der       scheinungen aller Art, und Stürme im speziellen,
Prozess der Erforschung derartiger Ereignisse, die        wurden auch elektrische, magnetische oder astrono-
aufgrund ihres erheblichen Bedrohungspotentials           mische Einflüsse in Betracht gezogen (Fleming,
schon immer von gesteigertem Interesse waren?             1990, S. 26).
3.1. Kenntnisstand im 18. Jahrhundert                     3.2. Anstoß zur Weiterentwicklung durch
Das Wissen um meteorologische Phänomene und                    William Redfield
Prozesse war bis weit in die Neuzeit sehr dürftig und     Eine deutliche Weiterentwicklung der Meteorologie
stützte sich bis in das 17. Jahrhundert hinein auf        gelang William C. Redfield (1789-1857) mit seiner
griechische Vorbilder (Fleming, 1990, S. 1). Auf-         Publikation von 1831. Redfield war ausgebildeter
grund des resultierenden, leichten Zugangs zu Origi-      Mechaniker und als Ingenieur und Betreiber von
nalquellen, stellt dies aus heutiger Sicht jedoch einen   Dampfschiffen auf dem Hudson-River tätig. Er
willkommenen Vorteil dar.                                 verfügte damit über keinerlei wissenschaftliche
Aus dem Bereich der Stürme und Windsysteme sind           Vorbildung im klassischen Sinn. An dieser Stelle sei
die Passatwinde zwar seit geraumer Zeit bekannt,          auf Thomas Kuhn verwiesen, der die These aufstellt,
jedoch nur aus Sicht der praktischen Anwendung.           dass fundamentale Weiterentwicklungen von Theo-
Reisen über den Atlantik konnten durch geschickte         rien meist solchen Personen gelingen, die entweder
Nutzung der Windsysteme erheblich verkürzt wer-           sehr jung oder auf dem entsprechenden Gebiet der
den. Eine Theorie zu ihrer Erklärung hätte dagegen        Forschung noch nicht lange aktiv sind (Kuhn, 1967,
die globalen Zirkulationsmuster umfassen müssen.          S. 125). Beides trifft (sofern man den Zeitpunkt des
Es existierten jedoch bereits Vermutungen, dass           Beginns seiner Untersuchungen im Jahr 1821 zu-
Temperaturunterschiede eine wesentliche Voraus-           grunde legt) auf Redfield zu.
setzung für diese Systeme darstellten (Redfield,          Redfields Untersuchungen basieren auf dem Hurri-
1831, S. 18).                                             kan von 1821, d. h. zwischen den ursprünglichen
                                                          Beobachtungen und der endgültigen Publikation
                                                          vergingen 10 Jahre.

4
Meteorologische Untersuchungen im 19. Jahrhundert

In der Folge des besagten Hurrikans von 1821 be-        „It is believed that no valid reason can be shown,
merkte Redfield, dass in angrenzenden Bundesstaa-       why much larger masses of the atmosphere may not
ten an der Ostküste der USA die Bäume an ver-           acquire, and develope, rotative movements […].“
schiedenen Orten in unterschiedliche Richtungen         (Redfield, 1831, S.22).
umgestürzt waren. Er nahm diese Beobachtung zum         Für einen Bewohner des nordamerikanischen Konti-
Anlass, sich intensiver mit dem Sturm zu beschäfti-     nents ist ein Tornado ein wohl bekanntes und sehr
gen (Redfield, 1831, S. 28).                            beeindruckendes Beispiel der speziellen meteorolo-
3.3. Axiomentwicklung                                   gischen Bedingungen der Region. Wenn nicht aus
3.3.1. Axiom I: Hurrikans als rotierende Systeme        dem unmittelbaren Erleben – und sei es in Form
                                                        einer Wasserhose – so dürften die Eigenheiten und
„Some account of the phenomena and ascertained
                                                        Auswirkungen eines solchen Ereignisses zumindest
progress of a south-eastern storm, which occured in
                                                        durch die Medien gut bekannt gewesen sein.
September, of the year 1821, may, in its leading
features, apply to many other storms, and will, it is   Das Vorhandensein einer solch geeigneten Analogie
believed, afford sufficient ground for the conclusion   macht gleichzeitig deutlich, warum der europäischen
which we shall attempt to establish.” (Redfield,        Meteorologie die Entwicklung eines vergleichbar
1831, S. 20).                                           weittragenden Ansatzes bis zu jener Zeit nicht ge-
                                                        lungen war: Es fehlte schlicht an der notwendigen
Bei der Darstellung seiner Theorie wählt Redfield
                                                        Inspiration.
seine Beobachtung in Connecticut aus dem Jahre
1821 als Startpunkt. Hierbei beschreibt er, wie die     In dem hier verwendeten Modell der Erkenntnisge-
Windrichtung im Verlauf des Sturms von einer süd-       winnung lässt sich die Wirkung solcher mittelbaren
lichen zu einer südöstlichen Richtung wechselte.        oder unmittelbaren persönlichen Eindrücke leicht in
Nach vier Stunden klang der Sturm plötzlich für         Form eines entsprechenden Filters abbilden, der hier
zwölf Minuten ab, um anschließend aus nordwestli-       als ein psychologischer bezeichnet werden soll. Wer
cher Richtung wieder aufzuleben.                        einmal Zeuge der verheerenden Zerstörungskraft
                                                        solcher schnell rotierenden Luftmassen geworden
Redfield schildert weiterhin, dass ebenjener Sturm
                                                        ist, dem dürfte sich das Ereignis für immer ins Ge-
auch in New York (drei Stunden früher), Massachu-
                                                        dächtnis einbrennen.
setts (einige Stunden später) und Rhode Island (eini-
ge Stunden später) mit jeweils unterschiedlicher        Durch die gefundene Analogie wird – mit Redfields
Stärke wütete.                                          Worten – auf einleuchtende Weise nachgewiesen,
                                                        wie es zu einer Umkehr der Windrichtung im Au-
Es folgt die Darlegung der zentralen Fragen des
                                                        genblick des Vorüberzugs einer solchen rotierenden
Aufsatzes:
                                                        Luftmasse kommt. Ebenso wird klar, dass unmittel-
„In reviewing these facts, we are led to inquire how,   bar im Zentrum kein bzw. kaum Wind zu spüren
or in what manner it could happen, that the mass of     sein wird (Redfield, 1831, S. 23).
atmosphere should be found passing over Mid-
                                                        Redfield sieht diese Eigenschaften von Tornados
dletown for some hours, with such exceeding swift-
                                                        auch für den Sturm von 1821 als erfüllt an. Dabei
ness, towards a point apparently within thirty
                                                        sollen die erheblich größere Luftmasse sowie die mit
minutes distance, and yet never reach it; but a por-
                                                        der größeren Fläche einhergehende vergrößerte
tion of the same or a similar mass of air, be found
                                                        Reibung die Windgeschwindigkeit und damit die
returning from that point with equal velocity? And
                                                        zerstörerischen Effekte verringern.
how were all of the most violent portions of these
atmospheric movements which occurred at the same        3.3.2. Axiom II: Hurrikans als bewegliches
point of time, confined within a circuit whose diame-          System
ter does not appear to have greatly exceeded one        Ein rotierendes System allein konnte die Beobach-
hundred miles?“ (Redfield, 1831, S. 21).                tung jedoch nicht vollständig erklären, da die Bewe-
Diese Frage wird von Redfield unmittelbar beant-        gung des Systems als Ganzes noch unklar blieb. Der
wortet:                                                 zweite Teil der zentralen Frage bestand weiter.
„This storm was exhibited in the form of a great        Redfield griff zur weiteren Erklärung, neben seinen
whirlwind. “                                            persönlich angestellten Beobachtungen, dazu auf
                                                        weiteres Material zurück, das ihm u. a. in öffentli-
Was Redfield hierauf folgen lässt, sind die ausführ-
                                                        chen Quellen, etwa in Form von Zeitungsberichten
lichen Begründungen für seine Schlussfolgerung.
                                                        zur Verfügung stand. Er sammelte insgesamt 40
Hierbei bedient er sich zunächst einer Analogie,
                                                        Datensätze, aus denen jeweils hervorgeht, ob zu
indem er vom Phänomen der Tornados ausgeht, die
                                                        einer bestimmten Zeit im fraglichen Gebiet der
er wohl völlig zurecht als „common to most persons
                                                        Sturm spürbar war, aus welcher Richtung der Wind
who are at all conversant with the subject of meteo-
                                                        wehte und wie stark man ihn jeweils einschätzte.
rology“ bezeichnet (Redfield, 1831, S. 21). Darauf
                                                        Damit sollte einerseits die Route des Sturms nach-
aufbauend wird die Hypothese entwickelt, dass das
                                                        vollzogen und andererseits die Behauptung für die
Phänomen einer rotierenden Luftmasse als skalierbar
angenommen werden darf:

                                                                                                          5
Kraus

Natur des Sturms als ein rotierendes Gebilde unter-
mauert werden.
Anhand der gesammelten Daten war er in der Lage,
die Zugrichtung des Sturms ausgehend von den
Turks- und Caicosinseln, entlang der nördlichen
Ostküste der USA, zu rekonstruieren (Abb. 4). Auf-
grund der Datendichte (nur ein Datenpunkt bei be-
sagter Inselgruppe) war die Rekonstruktion der Zug-
richtung dabei im südlichen Abschnitt mit großen
Unsicherheiten behaftet, erreichte jedoch für den
nördlichen Küstenabschnitt eine beachtliche Genau-
igkeit.
Die Angaben erfolgen dabei in knapper Form, wie
sie nachfolgend beispielhaft für zwei Einträge ange-
geben sind:
„At Ocracock bar, N. C. at day light on the morning
of the 3d, a severe gale from east-south-east.
A ship from Boston, bound to Norfolk, experienced
nothing of the gale. On the 3d, was in Lat. 40° 19’,
weather foggy, and light winds from south-east.”
(Redfield, 1831, S. 24-26).
In seiner Zusammenfassung bemerkt Redfield, dass
sich der Sturm nur mäßig weit ins Inland erstreckte
und sein Einfluss auf der offenen See ebenso räum-
lich beschränkt war. In diesen Grenzen bewegte er
sich mit gleichmäßiger Geschwindigkeit entlang der
Küste, wobei sein Ursprung vermutlich bei den
Westindischen-Inseln gelegen haben dürfte.
Aus den Daten ergibt sich weiterhin eine Zugge-
schwindigkeit von etwa 30 nautischen Meilen
(ca. 55,6 km) pro Stunde.                               Abb. 4: Rekonstruktion der Zugroute des Hurrikans von
Für den mittleren Bereich der Zugroute, d. h. vor der   1821 auf Basis von Redfields Datenmaterial. (Quelle der
mittleren Ostküste der Vereinigten Staaten, ließ sich   Satellitenaufnahme: Google Earth, Landsat / Corpernicus,
                                                        SIO, NOAA, U.S. Navy, NGA, GEBCO, Nutzungsbedin-
noch ein weiteres Detail feststellen: Auf schwere       gungen: google.com/permissions/geoguidelines/)
Sturmböen aus südöstlicher folgten unmittelbar
solche aus der entgegengesetzten Richtung. Anzei-       gabe erfolgt gekürzt, Übersetzung durch den Verfas-
chen für ein direktes Vorüberziehen sah Redfield        ser):
etwa für Cape Henlopen, Delaware:
                                                        a) Das gleichmäßige Voranschreiten des Sturms,
„ […] the gale or hurricane commenced at half past          das unbeeinflusst von der Windrichtung abläuft,
11, A. M. from east-south-east, shifted in twenty           mit der sich der Sturm an bestimmten Orten
minutes to east-north-east, and blew very heavy for         zeigt.
nearly an hour. A calm of half an hour succeeded,
                                                        b) Der beschränkte Durchmesser von Tornados und
and the wind then shifted to the west-north-west, and
                                                            den hier betrachteten Stürmen, im Verhältnis zur
blew, possible, with still greater violence.”
                                                            Länge ihrer jeweiligen Zugbahn, ist ein Hinweis
(Redfield, 1831, S. 25).
                                                            auf die Ähnlichkeit der zugrundeliegenden Wir-
Diese auffälligen Beobachtungen deuten auf ein              kungsweisen.
unmittelbares Vorüberziehen des Zentrums des
                                                        c) Das regelmäßige und offensichtliche Verhältnis,
Sturms hin. Auch Long Island sowie die Staaten
                                                            in dem Durchmesser und Zuggeschwindigkeit
Connecticut und Massachusetts wurden unmittelbar
                                                            zur Dauer an jedem ihres Vorüberzugs stehen.
vom Zentrum des Hurrikans getroffen, bevor sich
dessen weitere Zugroute mangels Berichten nicht         d) Die verschiedene und entgegengesetzte Rich-
weiter rekonstruieren ließ.                                 tung, in die der Wind auf entgegengesetzten Sei-
                                                            ten der Zugbahn weht (Redfield, 1831, S. 27).
3.3.3. Zusammenfassung der wesentlichen Eigen-
        schaften atlantischer Stürme                    Seine Annahme eines gewaltigen, rotierenden und
                                                        sich langsam nach Norden bewegenden Sturmsys-
Redfield fasst in vier Punkten diejenigen Phänomene
                                                        tems schuf erstmals die Möglichkeit, die Beobach-
zusammen, die er für generelle Eigenschaften von
                                                        tungen in ihrer Gesamtheit zwanglos zu erklären.
Stürmen hält. Dies sind im Einzelnen (die Wieder-

6
Meteorologische Untersuchungen im 19. Jahrhundert

Es handelt sich bei Redfields Untersuchung damit        und die Ausdehnung des jeweiligen Sturms zu re-
um eine deutliche Demonstration, wie eine (direkte      konstruieren. Im Einzelnen sind dies die Stürme
und indirekte) systematische Naturbeobachtung die       vom:
Formulierung von neuen Axiomen und damit die            a) 17. August 1830 (New York)
Umformulierung einer Theorie erlaubt.
                                                        b) 26./27. August 1830 (New York)
3.4. Prüfung der Theorie
                                                        c) 20. September 1830 (30° N, 40° W)
Wie eingangs erwähnt (siehe Abschnitt 2), ist es
                                                        d) 24. September 1830 (Neufundland)
eher unüblich, dass ein einzelner Wissenschaftler
den gesamten Prozess der Erkenntnisgewinnung            e) 29. September 1830 (nördlich von Anguilla)
oder auch nur weite Teile davon eigenständig durch-     Für den Sturm vom 26./27. August 1830 verweist
läuft. Redfield stellt hierbei eine Ausnahme dar, da    Redfield gesondert auf dessen besonders niedrige
er in seinem Beitrag bereits weitere Beispiele an-      Zuggeschwindigkeit, die er mit etwa 10 Meilen pro
führt, an denen die Gültigkeit geprüft werden kann.     Stunde angibt.
Innerhalb eines relativ neu erschlossenen Themen-       Die unter c) und d) aufgeführten Stürme werden
gebietes ist eine weitgehende Bearbeitung durch         dabei lediglich genannt, ohne sie mit detaillierten
eine Einzelperson entsprechend einfacher, als dies      Meldungen zu belegen.
bei einem bereits elaborierten Gebiet möglich wäre.
                                                        Redfield ist bemüht, auch länger zurückliegende –
In Redfields Fall sollen einerseits weitere Stürme      und als besonders schwerwiegend in Erinnerung
aus der südöstlichen Richtung auf ihre Überein-         gebliebene – Stürme aufzuführen. Dazu gehören die
stimmung mit den Vorhersagen überprüft werden           Hurrikans von 1804 und 1815. Hierbei ist es sein
und andererseits auch die Möglichkeit der weiteren      zentrales Anliegen zu zeigen, dass für jeden dieser
Verallgemeinerung auf Stürme aus nordöstlicher          Stürme die generelle Zugrichtung identisch ist. Wei-
Richtung untersucht werden.                             terhin existiert nach Redfield in den Aufzeichnungen
Für die Übertragung auf Stürme aus nordöstlicher        kein einziges Gegenbeispiel:
Richtung müssen nach Redfield zunächst Überle-          „[…] it is believed that, of the storms of the last forty
gungen zur Größe angestellt werden. Er stellt fest,     years, the route and corresponding character of all
dass ein Sturm, der mit seinem Zentrum entlang der      those which have been sufficiently violent to receive
Küste zieht, allerlei Einflüssen unterliegt, wie etwa   notice in the marine reports, can be traced in a
den Höhenzügen im Landesinneren. Daraus ergibt          similar manner; while not an instance of a contrary
sich – unter der impliziten Annahme einer runden        kind has come to our knowledge.“ (Redfield, 1831,
Form – eine Limitierung der Ausdehnung einer            S. 43).
solchen Sturms. Einen Beleg findet Redfield wiede-
rum in dem (als bekannt vorausgesetzten) Umstand,       3.5. Erweiterung der Theorie um die Entstehung
dass solche Stürme niemals weit auf die offene See           von Hurrikanen
hinausragen. Aus diesem relativ kleinen Durchmes-       Ausgehend von der gelegentlich auftretenden Mög-
ser ergibt sich, im Zusammenhang mit der vorherr-       lichkeit, die Bahn von Stürmen über weite Entfer-
schenden südlichen Windrichtung, eine entspre-          nungen zu verfolgen, wagt Redfield auch den Ver-
chend kurze Dauer für Stürme aus südöstlicher Rich-     such, deren Herkunft zu ergründen. Ausgangspunkt
tung (jeweils bezogen auf einen bestimmten Ort).        sind hierbei die bekannten Passatwinde, deren Luft-
Für einen Sturm aus nordöstlicher Richtung nimmt        massen sich konstant in Richtung amerikanischer
Redfield an, dass sich die Rotationsachse (und damit    Kontinent und Golf von Mexiko bewegen. Der Kon-
das Zentrum des Sturms) in deutlich größerer Ent-       tinent und insbesondere die Gebirgszüge stellen, wie
fernung von der Küste befinden muss. Sind seine         Redfield bereits an früherer Stelle bemerkte, ein
Auswirkungen ebenfalls im Landesinneren zu spü-         Hindernis für diese Luftmassen dar, die folglich in
ren, so folgt daraus, dass der Sturm einen deutlich     Richtung der gemäßigten Breiten abgelenkt werden.
größeren Durchmesser hat. Ein größerer Durchmes-        Ein Teil der Luftmassen nimmt dabei eine „Abkür-
ser, in Verbindung mit einer geringeren Zugge-          zung“ vom Golf von Mexiko in Richtung Norden,
schwindigkeit entgegen der vorherrschenden Wind-        woraus sich im Herbst und Winter eine Wechselwir-
richtung, vermag wiederum die (als allgemein be-        kung mit den ungestörten Passatwinden im östlichen
kannt vorausgesetzte) längere Dauer eines solchen       Bereich des Golfs ergeben kann. Prallen diese Luft-
Sturms hinreichend zu erklären.                         massen auf die Archipele der nördlichen Karibik, so
Für die Leserschaft seines Beitrages gibt Redfield      sollen sie letztendlich großräumig in Rotation ver-
weiterhin konkrete Vorhersagen an, welche Abfolge       setzt werden. Die Stürme werden nun mit der vor-
von Windrichtungen in Abhängigkeit der Position         herrschenden Windrichtung entlang der Küsten nach
des Beobachters innerhalb eines Sturms zu erwarten      Norden getrieben, bis sie sich schließlich im Nordat-
ist (Redfield, 1831, S. 30).                            lantik auflösen oder – so vermutet bereits Redfield –
                                                        sogar (das nördliche) Europa erreichen (Redfield,
Er führt weiterhin fünf Beispiele für Stürme auf, die   1831, S. 32).
er auszugsweise anhand gesammelter Daten belegt,
um anschließend Zugrichtung, Zuggeschwindigkeit

                                                                                                               7
Kraus

Auch hinsichtlich der möglichen Entstehungsprozes-       Gay-Lussacs zum Wasserdampfgehalt der Luft, über
se ließ sich Redfield von Analogien leiten: Zunächst     die Temperaturabnahme mit zunehmender Höhe, bis
wird ein bestimmtes „Luftpaket“ durch orografische       hin zu Wärmekapazitäten und latenter Wärme.
Reibung an den Inselketten der Karibik in Rotation       Ebenso fließen gewisse Beobachtungen ein (u. a.
versetzt. Es tritt sodann mit dem nachfolgenden          auch solche, die namentlich auf Redfield zurückge-
Luftpaket in Wechselwirkung, ganz so wie es bei          führt werden), die etwa die generelle Zugrichtung
Zahnrädern der Fall ist. Das zweite Paket wird folg-     von atlantischen Stürmen beschreiben. Gleichzeitig
lich den umgekehrten Drehsinn aufweisen. Auch bei        verzichtete Espy auf mechanische Erklärungsansätze
dieser Analogie ist unschwer zu erkennen, woran          im Stile Redfields, so dass ihm die Rotation der
Redfield seine Überlegung anlehnte. Als Entwickler       Sturmsysteme verborgen blieb und er stattdessen
von Dampfschiffen waren komplexe mechanische             von einer stets radial zum Zentrum gerichteten
Apparaturen ein gewohnter Anblick (Redfield, 1831,       Strömung ausging (Espy, 1841).
S. 48f.).                                                Auch die elektrischen Eigenschaften der Luft, deren
3.6. Grenzen der Theorie aus moderner Sicht              Einfluss von etlichen zeitgenössischen Wissen-
In seiner Auflistung der zentralen Eigenschaften         schaftlern als maßgeblich eingeschätzt wurden,
(siehe Abschnitt 3.3.3) eines rotierenden Sturmsys-      ignorierte Redfield. Der sich zwischen Redfield und
tems verzichtet Redfield bewusst darauf, eine verti-     Espy sowie einigen anderen Forschern entwickelnde
kale Rotationsachse festzulegen. Wiederum unter          Disput basierte auf einem Meinungsaustausch, der
Nutzung der Analogiemethode stellt er mit Verweis        von Datensammlungen flankiert wurde. Die zu-
auf Tornados fest, dass die Achse durchaus über eine     nächst auf visuellen Beobachtungen basierenden
beträchtliche Inklination verfügen dürfe, d. h. auch     Sammlungen wurden zunehmend auch um einfache
eine horizontale Lage einnehmen könne. Eine solche       instrumentengestützte Beobachtungen erweitert.
Lage der Achse nimmt er etwa bei der Entstehung          Bedingt durch den frühen Entwicklungsstand von
von Gewittern, Sturmböen und Hagelstürmen an             Thermo- und Elektrodynamik kamen quantitative
(Redfield, 1831, S. 28). Auch sollen Winde, die von      Beiträge allenfalls selten als Argument zum Einsatz.
Bergen oder Hochplateaus herab wehen, auf rotie-         Redfield konnte – ebenso wenig wie seine Zeitge-
rende Windsysteme mit derart gekippten Rotations-        nossen – keine Unterscheidung zwischen verschie-
achsen zurückzuführen sein.                              denen Arten von Stürmen vornehmen. Dies machte
Es handelt sich hierbei um eine Überschätzung des        sich insbesondere auch bei internationalen Verglei-
Potentials seiner neuen Theorie, wie sie häufig nach     chen bemerkbar. Etwa wenn der deutsche Physiker
wesentlichen Schritten der Weiterentwicklung und         und Meteorologe Heinrich Wilhelm Dove (1803-
erst recht im Rahmen von Paradigmenwechseln              1879) großräumige europäische Zyklone mit den
auftreten. In seiner Annahme, die Gravitation sei die    Ergebnissen Redfields verglich und keine klare
einzig relevante Größe für die Entstehung, Aufrecht-     Übereinstimmung mit dessen Vorhersagen finden
erhaltung und Form von Stürmen, zeigt Redfield           konnte (Kutzbach, 1979, S. 16). Die regionalen
eine Form der Übergeneralisierung des gefundenen         Besonderheiten des nordamerikanischen Kontinents
Ansatzes. Das neu gefundene Erklärungsmuster weit        machen sich hier besonders bemerkbar.
über die aus moderner Sicht gültigen Grenzen her-        Aus heutiger Sicht sind für die Entstehung eines
auszuschieben, ist ein Verhalten, das sich im Rah-       tropischen Wirbelsturms aus einer kleinräumigen
men von Paradigmenwechseln (jedoch nicht aus-            Störung die folgenden Bedingungen (nach Klose,
schließlich dort!) durchaus häufiger beobachten          2015, S. 435-438) zu erfüllen:
lässt. Ein Beispiel hierfür findet sich etwa bei Gali-   a) Eine Temperatur des Oberflächenwassers von
lei, der glaubte nachweisen zu können, dass auch für         mindestens 27°C,
große Winkel (bis 90°) die Schwingungsdauer des
                                                         b) eine stabile Schichtung der Atmosphäre, die ein
Pendels unabhängig von der Amplitude ist (Kuhn,
                                                             Aufsteigen warmer Luft ermöglicht,
1967, S.160-168).
                                                         c) ein Abstand von wenigstens 5° vom Äquator,
Die gesamte Thermodynamik, auf die beispielsweise
                                                             damit durch die Corioliskraft eine zyklonale Ro-
sein Konkurrent James P. Espy (1785-1860) seine
                                                             tation hervorgerufen wird,
eigene Theorie der Stürme (wiederum ausschließ-
lich!) stützte, spielte für Redfield keine oder allen-   d) eine geringe Windscherung für eine ungestörte
falls eine so untergeordnete Rolle, dass sie getrost         Konvektion.
vernachlässigt werden konnte.                            Insgesamt weist Redfields Untersuchung den be-
Der Ansatz Espys, der als Erwiderung auf Redfields       trächtlichen Nachteil auf, nur solche Stürme zu be-
Theorie verstanden werden kann, geht von konkre-         schreiben, die durch rotierende Luftmassen verur-
ten Experimenten aus und deduziert aus diesen expe-      sacht werden. Durchaus häufig anzutreffen sind
rimentellen Erkenntnissen zunächst vergleichbare         jedoch auch solche Windsysteme, die ihren Ur-
Vorhersagen über das Verhalten der Luftmassen.           sprung in durchziehenden Kaltfronten finden. Diese
Dabei wird hier eine Fülle von Befunden angeführt,       kann man ohne Einbezug der Thermodynamik nicht
ausgehend von den Untersuchungen Daltons und             erklären. Aus dem relativ stark eingeschränkten und

8
Meteorologische Untersuchungen im 19. Jahrhundert

nicht klar umrissenen (bzw. über Gebühr ausgedehn-      Redfields Umgang mit den mechanischen Analogien
ten) Anwendungsbereich ergaben sich dann auch           und die Nichtbeachtung der thermodynamischen
bedeutende Schwierigkeiten für die beteiligten For-     Eigenschaften der Atmosphäre zeigen deutlich das
scher, eigene Daten in Übereinstimmung mit              Potential und die Grenzen der Analogiemethode.
Redfields Theorie zu bringen.                           Analogiebetrachtungen sind einerseits für den per-
3.7. Qualitätskriterien der Beobachtungen               sönlichen Erkenntnisfortschritt ein äußerst hilfrei-
                                                        ches Mittel, um die Kreativität zu fördern und in
Gegenüber experimentellen Wissenschaften besteht
                                                        gewisse Bahnen zu lenken. Andererseits zeigt sich,
im Rahmen der beobachtenden Meteorologie keine
                                                        dass die bloße Anwesenheit geeigneter äußerer Ein-
Gelegenheit, die dargestellten Daten zu reproduzie-
                                                        flüsse allein noch nicht ausreichend ist, um in den
ren. Dementsprechend muss an die Stelle der Repro-
                                                        Prozess der Axiomentwicklung und Theoriebildung
duzierbarkeit ein alternatives Qualitätskriterium
                                                        einzufließen.
treten (Redfield, 1831, S. 34).
Ein solches Kriterium stellte lange Zeit die Glaub-     5. Literatur
würdigkeit des Beobachters dar, die sich in seiner      Anderl, Sibylle (2017): Das Universum und ich. Carl
beruflichen Stellung oder seinem sozialen Status                Hanser Verlag.
ausdrückte (Shapiro, 2003, S. 126). So galten Be-
                                                        Demtröder, Wolfgang (2013): Experimentalphysik
obachtungen einfacher Seeleute als weniger vertrau-
                                                                1. Mechanik und Wärme. 6., überarb. u. akt.
enswürdig als die eines Kapitäns. Bei Redfield zeigt
                                                                Aufl. 2013. Berlin: Springer (Springer-
sich dieses Argumentationsmuster, wenn er die Be-
                                                                Lehrbuch).
obachtungen von „experienced and intelligent ship-
masters“ besonders hervorhebt (Redfield, 1831, S.       Einstein, Albert (1956): Ideas and opinions. Unter
34).                                                            Mitarbeit von Sonja Bargmann. 3. print. Lon-
                                                                don: Redman.
Als weiteres Kriterium kann die wiederholte Be-
obachtung von Phänomenen der gleichen Art dienen.       Einstein, Albert (2005): Mein Weltbild. Unter Mit-
Redfield bemüht sich daher, Daten in vergleichbarer             arbeit von Carl Seelig. Zürich: Europa-Verl.
Qualität zu weiteren Stürmen aufzuführen (vgl.          Einstein, Albert; Solovine, Maurice (1960): Briefe
Abschnitt 3.4).                                                 an Maurice Solovine. Faksimile-Wiedergabe
Er selbst stellt die mangelnde Verfügbarkeit von                von Briefen aus den Jahren 1906 bis 1955 mit
meteorologischen Daten heraus, wenn er unter Ver-               französischer Übersetzung, einer Einführung
weis auf Benjamin Franklin die Widersprüchlichkeit              und drei Fotos. Berlin: Dt. Verl. der Wissen-
früherer Annahmen zu Stürmen aufzeigt (Redfield,                schaften.
1831, S. 40).                                           Espy, James Pollard (1841): The philosophy of
Redfields Vermutung, es handele sich bei den vor-               storms. Boston: Little and Brown.
herrschenden Westwinden auf dem nordamerikani-          Fleming, James Rodger (1990): Meteorology in
schen Kontinent sowie auf dem Nordatlantik um                   America, 1800-1870. Baltimore, Md.: John
einen Teil eines größeren, zirkulären Systems, stellt           Hopkins Univ. Press.
einen substantiellen Schritt auf dem Weg zum Ver-       Heine, Antje J. (2018): Was ist Theoretische Physik?
ständnis großräumiger planetarer Windsysteme dar.               Eine wissenschaftstheoretische Betrachtung
                                                                und Rekonstruktion von Vorstellungen von
4. Schlussbemerkungen zur historischen Analyse
                                                                Studierenden und Dozenten über das Wesen
Der hier verwendete Ansatz, die historische Theo-               der Theoretischen Physik. Berlin: Logos Ber-
riebildung mit dem EJASE-Prozess Einsteins zu                   lin (Studien zum Physik- und Chemielernen,
beschreiben, lässt sich ebenso auf die weiteren me-             255).
teorologischen Theorien übertragen. Dazu gehört
                                                        Holton, Gerald (1984): Themata zur Ideengeschichte
u. a. die Theorie Espys, die sich ganz wesentlich auf
                                                                der Physik. Vieweg+Teubner Verlag.
thermodynamische Überlegungen stützt, dabei je-
doch die Vorstellung einer Rotation der Luftmassen      Holton, Gerald James (1979): Einsteins Methoden
um eine vertikale Achse ablehnt. Der nicht immer                zur Theoriebildung. In: Peter C. Aichelburg,
rein wissenschaftlich und rational ausgetragene                 Roman Ulrich Sexl und Peter Gabriel Berg-
Disput (Moore, 2016, S. 190-252) zeigt aus heutiger             mann (Hg.): Albert Einstein. Sein Einfluss
Sicht, dass nur aus der Synthese der widerstreiten-             auf Physik, Philosophie und Politik. Braun-
den Positionen eine vollständige Erklärung der Ent-             schweig: Vieweg, S. 111–140.
stehung von Hurrikans bzw. großräumiger meteoro-        Klose, Brigitte; Klose, Heinz (2015): Meteorologie.
logischer Phänomene überhaupt möglich wurde.                    Eine interdisziplinäre Einführung in die Phy-
Diese erweiterte Perspektive erlaubt auch die Be-               sik der Atmosphäre. 2. Aufl. Berlin: Springer
rücksichtigung der Wechselwirkung von Beobach-                  Spektrum (Springer-Lehrbuch).
tung und Experiment, die nur im engen Zusammen-         Krause, Eduard (2013): Das Erhaltungsprinzip in der
wirken einen vollständigen Blick auf die Natur er-              Physik und seine Anwendung im Physikun-
möglichen.                                                      terricht. Dissertation. Online verfügbar unter

                                                                                                            9
Kraus

      http://dokumentix.ub.uni-                               Meteorologie. Unter Mitarbeit von Michael
      siegen.de/opus/volltexte/2013/772.                      Hein. 1. Auflage. Hamburg: mare.
Krause, Eduard (2017): Das EJASE-Modell als            Redfield, William C. (1831): Remarks on the Pre-
      Ausgangspunkt physikdidaktischer For-                   vailing Storms of the Atlantic Coast of the
      schungsfragen. In: PhyDid A – Physik und                North American States. In: American journal
      Didaktik in Schule und Hochschule (16), S.              of science and arts. XX. (1), S. 17-51.
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