Meteorologische Untersuchungen im 19. Jahrhundert- Die Methode der Beobachtung im Gefüge des Erkenntnisprozesses der Physik-PhyDid
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Physik und Didaktik in Schule und Hochschule PhyDid 1/18 (2019), S.1 - 10 Meteorologische Untersuchungen im 19. Jahrhundert – Die Methode der Beobachtung im Gefüge des Erkenntnisprozesses der Physik – Simon F. Kraus Universität Siegen, Didaktik der Physik, Adolf-Reichwein-Str. 2, 57068 Siegen, kraus@physik.uni-siegen.de (Eingegangen: 01.10.2018; Angenommen: 12.03.2019) Kurzfassung Die älteste – weil zunächst von instrumentellen Voraussetzungen unabhängige – Methode der Na- turerschließung ist die systematische Beobachtung. Im Zuge der Herausbildung einzelner natur- wissenschaftlicher Disziplinen, wie der Physik, wurde sie jedoch nicht verdrängt, sondern findet sich nach wie vor, z. B. als Teil des Experiments, wieder. Ebenso ist die Beobachtung auch wei- terhin als eigenständige Form der Erkenntnisgewinnung anzutreffen, etwa innerhalb der Astrophy- sik oder auch in Teilgebieten, deren Untersuchungsgegenstände zwar prinzipiell zugänglich, je- doch nicht auf Labormaßstab skalierbar sind, wie etwa der Atmosphärenphysik. In diesem Beitrag soll anhand eines historischen Beispiels aufgezeigt werden, wie der Prozess der Theoriebildung seinen Ausgangspunkt in Beobachtungsdaten haben konnte, ohne dass auf das Experiment zurück- gegriffen wurde. Hierbei wird als Werkzeug zur Strukturierung und Visualisierung der histori- schen Abläufe der EJASE-Prozess Einsteins herangezogen. Dabei wird gezeigt, wie sich beobachtungsbasierte Theoriebildung unter äußeren Einflüssen, wie der der natürlichen und technischen Umgebung oder persönlicher Voraussetzungen, vollzieht. Abstract The oldest method for the inquiry of nature is systematic observation – since it initially was inde- pendent of instrumental requirements. In the course of the development of individual scientific disciplines, such as physics, systematic observation was not discarded, it is still to be found, e.g. as part of an experiment. Likewise, observation can still be found as an independent form of knowledge acquisition, for example in astrophysics as well as in some of its sub-areas, such as at- mospheric physics for example, whose objects of investigation are accessible in principle but can- not be scaled down to the scale of a laboratory. In this article, a historical example illustrates how the process of theory formation had its starting point in observational data, without recourse to the experiment. Einstein's EJASE process serves as a tool for structuring and visualizing historical processes. The article shows how observation-based theory builds up under external influence, like the natu- ral and technical environment or personal prerequisites. 1. Motivation Forschungsgebieten der Physik Beispiele für Unter- Auf die Frage nach den wesentlichen Erkenntnisme- suchungen, die zunächst ausschließlich anhand von thoden der Physik lautet die Antwort meist, dass sich Beobachtungen angestellt werden konnten. Genannt diese Wissenschaft auf Messungen, Experimente seien beispielhaft die Untersuchung von leuchtenden und Beobachtungen stützt (Tipler, 2015, S. 4; Dem- Nachtwolken und ihrer Entstehungsprozessen tröder, 2013, S. 4). Ob jedoch die Naturbeobachtung (Thomas, 1989). Es erscheint daher lohnenswert, die dabei neben dem Experiment eine gleichrangige Methode der Beobachtung aus erkenntnistheoreti- Methode ist oder hinter diesem zurücksteht, bleibt scher Sicht zu analysieren und dabei auf historische unklar. Ebenso ist grundsätzlich fraglich, wie über- Entwicklungen zurückzugreifen. haupt ein Erkenntnisfortschritt, d. h. eine Weiter- Ein solches Beispiel für beobachtungsgestützte For- entwicklung von Theorien und Modellen zu erzielen schung stellen die Untersuchungen über die Natur ist, wenn das Untersuchungsobjekt unzugänglich der nordatlantischen Stürme dar, die man verstärkt bleibt. Oft wird an dieser Stelle auf die Erfolge der ab den 1830er Jahren durchführte. Im Zentrum des Astrophysik verwiesen, die sich ebenfalls mit dieser vorliegenden Beitrages steht dabei William Red- Einschränkung konfrontiert sieht (Anderl, 2017, S. fields Theorie, die zwar aus der modernen Perspek- 13f.). Es existieren jedoch auch in den aktuellen tive bei weitem keine vollständige Erklärung bietet, 1
Kraus jedoch wertvolle Einblicke in das Zustandekommen einer Theorie auf Basis von Beobachtungsdaten erlaubt. Von großem Vorteil für eine mögliche schulpraktische Aufarbeitung ist hier, dass die Quel- lenlage im Hinblick auf die Verfügbarkeit und Les- barkeit ausgesprochen gut ist und gleichzeitig der fachliche Anspruch auf einem Niveau bleibt, der Abb. 1: Originalskizze Einsteins zum EJASE-Prozess eine ausführliche Behandlung des Themas im (Quelle: Einstein, 1960) Schulunterricht problemlos ermöglicht. Um den Erkenntnisprozess im Ganzen systematisch und Axiomensystem an oder ersetzt dieses durch ein zu beschreiben und dabei die Wirkung von Beobach- neues Begriffssystem. tungsdaten einbinden zu können, wird auf den 2.1. Die Ebene der Sinneserlebnisse EJASE-Prozess Einsteins zurückgegriffen. Dieser Einstein bemerkt zu den Sinneserlebnissen schlicht, bietet den Vorteil, dass er zwar übersichtlich und dass uns diese gegeben seien. Man muss sich (E) als leicht nachvollziehbar bleibt, jedoch gleichzeitig unendlich ausgedehnte Linie vorstellen, auf der sich auch außerwissenschaftliche Einflüsse auf die Theo- die Gesamtheit aller möglichen Erfahrungstatsachen riebildung, wie die persönlichen Überzeugungen der und Beobachtungen befindet. Dabei muss an dieser beteiligten Wissenschaftlicher, problemlos zu inte- Stelle angemerkt werden, dass Einstein den Begriff grieren vermag. der Sinneserfahrungen sehr weit fasst: Für ihn waren 2. Der EJASE-Prozess als ein Modell der Er- etwa die Unmöglichkeit des Perpetuum mobile, die kenntnisgewinnung Konstanz der Lichtgeschwindigkeit oder auch die Um die Beziehung zwischen Sinneseindrücken und Äquivalenz von träger und schwerer Masse Sin- dem System der naturwissenschaftlichen Theorien neserfahrungen (Holton, 1979, S. 115). Im Rahmen darstellen zu können, ist ein geeignetes Modell wün- des vorliegenden Beitrags ist eine derartig umfas- schenswert, das den Prozess der Erkenntnisgewin- sende Vorstellung von Erfahrungstatsachen nicht nung der Physik (oder der Naturwissenschaften im notwendig. Es bleibt hier bei unmittelbaren Sin- Allgemeinen) in einer zugänglichen Form darstellt. neserfahrungen bzw. solchen, die durch einfache Messinstrumente zugänglich sind. Für den vorliegenden Beitrag soll der sogenannte EJASE-Prozess nach Albert Einstein (1879-1955) Einstein liefert an anderer Stelle seine Vorstellung Verwendung finden, den dieser im Jahre 1952 in von der grundsätzlichen Aufgabe der Wissenschaft: einem Brief an Maurice Solovine (1875-1958) nie- „Wissenschaft ist der Versuch, die chaotische Viel- derschrieb (Einstein, 1960, S. 120). Zentrales Ele- falt unserer Sinneserfahrungen in ein logisch einheit- ment des kurzen Briefes ist die in Abbildung 1 wie- liches Gedankensystem einzubauen“ (Einstein, dergegebene Skizze, die aus vier Hauptelementen 1956). besteht: Der EJASE-Prozess in der Fassung Einsteins ist a) Die Ebene (E), die die „Mannigfaltigkeit der jedoch (zumindest explizit) noch nicht fähig zu unterschiedlichen (Sinnes-) Erlebnisse“ darstellt, beschreiben, wie Ordnung in dieses Chaos gebracht werden kann. b) einer geschwungenen Kurve (im Weiteren als Jump (J) bezeichnet), 2.2. Der Gedankensprung c) dem System der Axiome (A) und Ein ganz wesentliches Element des Prozesses bleibt bei Einstein selbst ohne eigene Bezeichnung. Es d) den gefolgerten Sätzen (S, S‘, S‘‘). handelt sich um den großen geschwungenen Pfeil, Auf diese Elemente soll nun im Einzelnen eingegan- der die Ebene der Sinneserlebnisse mit dem System gen werden. Die Ausführungen folgen dabei dem der Axiome verbindet. Holton bezeichnet ihn (aus Wissenschaftshistoriker Gerald Holton, dem die dem englischen Original kommend) mit J(ump). Bei Aufarbeitung und Erweiterung des Modells zuzu- diesem gedanklichen Sprung, den der Wissenschaft- schreiben ist (Holton, 1979). Ein erster Versuch, das ler auf seiner Suche nach neuen Impulsen für die Modell auch für die Didaktik nutzbar zu machen, Weiterentwicklung von Theorien machen muss, geht auf Wilfried Kuhn zurück (Kuhn, 1983). handelt es sich um teils wilde Spekulationen, Ver- Es sei vorab angemerkt, dass der gesamte Zyklus mutungen, plötzliche Inspirationen, leise Ahnungen i. d. R. nicht von einem Wissenschaftler allein oder eine Art von Vorgefühl. Sie mögen durchaus durchlaufen wird. Es handelt sich vielmehr um eine auch einer verzweifelten Suche entspringen. Es Reihe von Iterationen, die stückweise zum Aufstel- handelt sich bei diesen Umschreibungen allesamt len und zur Weiterentwicklung von Theorien sowie um Begriffe, die klassischerweise sicherlich nicht zu deren Prüfung von verschiedenen Personen oder mit einem naturwissenschaftlichen Vorgehen in Personengruppen über unterschiedlich lange Zeit- Verbindung gebracht werden dürften (Holton, 1979, räume hinweg durchlaufen wird. Dabei knüpft der S. 116). Forscher jeweils an das bereits vorhandene Begriffs- Für Einstein ist es ein zentrales Anliegen, darauf hinzuweisen, dass eben kein logischer Weg von den 2
Meteorologische Untersuchungen im 19. Jahrhundert Erfahrungen (E) zu den Axiomen (A) führt. Auch ist anzumerken, dass Begriffe – die mit den Axiomen hier auf einer Ebene stehen und die Basis jeder The- orie bilden – nicht identisch mit den Sinnesempfin- dungen sind. Es handelt sich vielmehr um eine Art von Generalisierungen und Abstrahierungen, die zwar mit den „Observablen verbunden“ (Holton, 1979, S. 120), jedoch nicht direkt aus diesen ableit- bar sind. Hierzu wiederum Einstein: „Zu diesen elementaren Gesetzen führt kein logi- scher Weg, sondern nur die auf Einfühlung sich Abb. 2: Erweiterung des EJASE-Prozesses durch Holton stützende Intuition“ (Einstein, 2005, S. 143). im Verbund, nicht jedoch in Form von Einzelbe- 2.3. Sätze und Vorhersagen obachtungen, als Testfall für Theorien infrage kom- Aus den (neuen oder modifizierten) Axiomen und men. Begriffen werden rein deduktiv Sätze und damit 2.5. Erweiterung des EJASE-Modells schließlich Vorhersagen abgeleitet. Dabei handelt es Um zu einem wirklich praktikablen Modell zu kom- sich um einen rein logischen Prozess. Hierzu be- kommen, das u. a. auch die Besonderheiten von merkt Einstein: Beobachtungen und die Persönlichkeit der beteilig- „Die Ratio gibt den Aufbau des Systems“ (Einstein, ten Forscher adäquat abzubilden vermag, ist eine 2005, S. 151). In den theoretischen Bereich des geringfüge Erweiterung des Modells erforderlich. EJASE-Prozesses sind die Beobachtungen bereits Gerald Holton merkt zum EJASE-Prozess kritisch auf indirektem Wege eingeflossen, weshalb er im an, dass der Gedankensprung dem Wissenschaftler Folgenden nicht weiter berücksichtigt und als „The- einerseits die Freiheit geben muss, einen solchen orieteil“ bezeichnet wird. Gleichzeitig wird sich die gedanklichen Sprung überhaupt zu vollführen. An- Theorie jedoch noch als ein Element von entschei- dererseits muss jedoch ebenso eine Beschränkung dender Bedeutung erweisen, sowohl im Hinblick auf der Freiheit dafür sorgen, dass nicht jeder beliebige die Prüfung der Vorhersagen an der Natur als auch gedankliche Sprung vollführt wird (Holton, 1973). für die Wahrnehmung weiterer Sinneserlebnisse. Wie sonst sollte schließlich in endlicher Zeit ein 2.4. Prüfung an der Erfahrung geeignetes Axiom oder ein neuer Begriff gefunden Die Theorie liefert Vorhersagen, deren Prüfung an werden, ohne dass diese im unbeschränkten Gewirr den Erfahrungstatsachen (Beobachtungen und Expe- der Gedanken untergingen? Nach Holton sind dafür rimenten) notwendig ist, um den Prozess vollenden die von ihm so bezeichneten Filter notwendig (Abb. zu können. Dabei ist eine Reihe von Unsicherheits- 2), um die aufkeimenden Ideen aussortieren und nur faktoren zu berücksichtigen (vgl. Holton, 1979, S. solche passieren zu lassen, die gewissen Kriterien 123f.). genügen. Bei einem solchen Filter könnte es sich etwa um eine bestimmte Grundüberzeugung han- So ist es durchaus möglich zu richtigen Vorhersagen deln, bei der es sich nicht notwendigerweise um eine zu kommen, die sich aus (aus heutiger Perspektive) physikalische handeln muss (Krause, 2017). falsch gesetzten Axiomen ergeben. Man denke dabei etwa an die Phlogiston-Theorie, mittels der u. a. Als Beispiel für solche Überzeugungen, die als Filter erklärt werden konnte, warum Körper brannten, wirken, seien hierzu die Überzeugungen von Johan- warum sich die Eigenschaften von Metallen unterei- nes Kepler (1571-1630) und Wolfgang Pauli (1900- nander stärker ähnelten als die der Erze, oder auch 1958) angeführt. Im Falle Johannes Keplers sind die warum eine Kerze in einem abgeschlossenen Luft- wesentlichen erkenntnisleitenden Prinzipien für sein volumen erlischt (Kuhn, 1967, S. 137f.). frühes Modell des Planetensystems (in seiner Veröf- fentlichung „Mysterium cosmographicum“) in sei- Auch ist die erkenntnistheoretische Einschränkung nen religiösen Überzeugungen und Vorstellungen zu berücksichtigen, nach der Theorien prinzipiell zur Zahlenmystik zu finden. Sie zeigen sich in einer nicht endgültig bewiesen werden können und sich gedanklichen Verschachtelung platonischer Körper, lediglich in der Anwendung als wiederholt nützlich aus denen sich die Reihenfolge und die Abstände der und plausibel zeigen können. Planeten ergeben (Simonyi, 2012, S. 190). Für Pauli Als dritte Einschränkung sei angeführt, dass experi- war seine Überzeugung für die Gültigkeit der Ener- mentelle Ergebnisse und ebenso (instrumentenge- gieerhaltung die Antriebsfeder, die ihn zur Postulie- stützte) Beobachtungen grundsätzlich einer gewissen rung des bis dahin unbekannten Neutrinos brachte Unzuverlässigkeit unterliegen und damit häufig nur (Simonyi, 2012, S. 506). 3
Kraus Solche Überzeugungen, die eine leitende Funktion bei der Theoriebildung und -modifikation besitzen, werden in der Wissenschaftstheorie mit unterschied- lichen Bezeichnungen versehen. Bei Thomas Kuhn findet man sie etwa unter dem Begriff des Paradig- mas (Kuhn, 1967), während Gerald Holton sie als Themata bezeichnet (Holton, 1984). Für die Didak- tik wurden sie von Krause aufbereitet und werden hier unter dem Begriff des Denkprinzips zusammen- gefasst (Krause, 2013). Neben der persönlichen Überzeugung der Gültigkeit bestimmter Prinzipien, kommen auch psychologi- sche oder physiologische (d. h. sensorische) Filter als Einflussfaktor in Betracht. Wie ein persönlicher Filter zustande kommt und wie seine Wirkung zu verstehen ist, wird im weiteren Verlauf am konkre- ten Beispiel deutlich. Abb. 3: Satellitenbild des Hurrikans Katrina am 28. August 2005 (Quelle: NOAA, lizenzfrei, nes- Einen ausführlichen Überblick über verschiedene dis.noaa.gov/content/hurricane-katrina) (alternative) Modelle zum Zusammenspiel von Ex- periment, Beobachtung und Theorie bietet die Arbeit Auch die großräumige Strömung, die entlang der von Heine (Heine, 2018, S. 41-68). Ostküste der USA nach Norden gerichtet ist, war 3. Erkenntnisgewinnung durch Beobachtung am bereits früh bekannt (Redfield, 1831, S. 29). historischen Beispiel Stürme hingegen wurden lange Zeit als ein rein Bei dem Gedanken an Hurrikans mögen uns heute lokales Phänomen aufgefasst. Erst Benjamin Fran- sofort die damit einhergehenden immensen Verwüs- klin (1706-1790) wird zugeschrieben, erstmals die tungen, die durch die Verfügbarkeit von entspre- Zugrichtung eines Sturms nachträglich rekonstruiert chendem Bildmaterial sehr eindringlich sind, vor zu haben. So war für ihn in Philadelphia eine Mond- dem inneren Auge erscheinen. Auch die charakteris- finsternis aufgrund eines Sturms und der damit ein- tische Struktur eines solchen Sturms blitzt häufig als hergehenden geschlossenen Wolkendecke nicht zu ein vertrautes Bild im Gedächtnis auf (Abb. 3). Das beobachten, während die Finsternis in Boston noch Bild eines Hurrikans, als rotierendes und mit einem zu sehen war, bevor der Sturm auch dort eintraf markanten Auge versehenes System, ist selbstredend (Moore, 2016, S. 169). im Wesentlichen ein Produkt der modernen Raum- Als eine mögliche Ursache für atmosphärische Er- fahrt- bzw. Satellitentechnologie. Wie aber war der scheinungen aller Art, und Stürme im speziellen, Prozess der Erforschung derartiger Ereignisse, die wurden auch elektrische, magnetische oder astrono- aufgrund ihres erheblichen Bedrohungspotentials mische Einflüsse in Betracht gezogen (Fleming, schon immer von gesteigertem Interesse waren? 1990, S. 26). 3.1. Kenntnisstand im 18. Jahrhundert 3.2. Anstoß zur Weiterentwicklung durch Das Wissen um meteorologische Phänomene und William Redfield Prozesse war bis weit in die Neuzeit sehr dürftig und Eine deutliche Weiterentwicklung der Meteorologie stützte sich bis in das 17. Jahrhundert hinein auf gelang William C. Redfield (1789-1857) mit seiner griechische Vorbilder (Fleming, 1990, S. 1). Auf- Publikation von 1831. Redfield war ausgebildeter grund des resultierenden, leichten Zugangs zu Origi- Mechaniker und als Ingenieur und Betreiber von nalquellen, stellt dies aus heutiger Sicht jedoch einen Dampfschiffen auf dem Hudson-River tätig. Er willkommenen Vorteil dar. verfügte damit über keinerlei wissenschaftliche Aus dem Bereich der Stürme und Windsysteme sind Vorbildung im klassischen Sinn. An dieser Stelle sei die Passatwinde zwar seit geraumer Zeit bekannt, auf Thomas Kuhn verwiesen, der die These aufstellt, jedoch nur aus Sicht der praktischen Anwendung. dass fundamentale Weiterentwicklungen von Theo- Reisen über den Atlantik konnten durch geschickte rien meist solchen Personen gelingen, die entweder Nutzung der Windsysteme erheblich verkürzt wer- sehr jung oder auf dem entsprechenden Gebiet der den. Eine Theorie zu ihrer Erklärung hätte dagegen Forschung noch nicht lange aktiv sind (Kuhn, 1967, die globalen Zirkulationsmuster umfassen müssen. S. 125). Beides trifft (sofern man den Zeitpunkt des Es existierten jedoch bereits Vermutungen, dass Beginns seiner Untersuchungen im Jahr 1821 zu- Temperaturunterschiede eine wesentliche Voraus- grunde legt) auf Redfield zu. setzung für diese Systeme darstellten (Redfield, Redfields Untersuchungen basieren auf dem Hurri- 1831, S. 18). kan von 1821, d. h. zwischen den ursprünglichen Beobachtungen und der endgültigen Publikation vergingen 10 Jahre. 4
Meteorologische Untersuchungen im 19. Jahrhundert In der Folge des besagten Hurrikans von 1821 be- „It is believed that no valid reason can be shown, merkte Redfield, dass in angrenzenden Bundesstaa- why much larger masses of the atmosphere may not ten an der Ostküste der USA die Bäume an ver- acquire, and develope, rotative movements […].“ schiedenen Orten in unterschiedliche Richtungen (Redfield, 1831, S.22). umgestürzt waren. Er nahm diese Beobachtung zum Für einen Bewohner des nordamerikanischen Konti- Anlass, sich intensiver mit dem Sturm zu beschäfti- nents ist ein Tornado ein wohl bekanntes und sehr gen (Redfield, 1831, S. 28). beeindruckendes Beispiel der speziellen meteorolo- 3.3. Axiomentwicklung gischen Bedingungen der Region. Wenn nicht aus 3.3.1. Axiom I: Hurrikans als rotierende Systeme dem unmittelbaren Erleben – und sei es in Form einer Wasserhose – so dürften die Eigenheiten und „Some account of the phenomena and ascertained Auswirkungen eines solchen Ereignisses zumindest progress of a south-eastern storm, which occured in durch die Medien gut bekannt gewesen sein. September, of the year 1821, may, in its leading features, apply to many other storms, and will, it is Das Vorhandensein einer solch geeigneten Analogie believed, afford sufficient ground for the conclusion macht gleichzeitig deutlich, warum der europäischen which we shall attempt to establish.” (Redfield, Meteorologie die Entwicklung eines vergleichbar 1831, S. 20). weittragenden Ansatzes bis zu jener Zeit nicht ge- lungen war: Es fehlte schlicht an der notwendigen Bei der Darstellung seiner Theorie wählt Redfield Inspiration. seine Beobachtung in Connecticut aus dem Jahre 1821 als Startpunkt. Hierbei beschreibt er, wie die In dem hier verwendeten Modell der Erkenntnisge- Windrichtung im Verlauf des Sturms von einer süd- winnung lässt sich die Wirkung solcher mittelbaren lichen zu einer südöstlichen Richtung wechselte. oder unmittelbaren persönlichen Eindrücke leicht in Nach vier Stunden klang der Sturm plötzlich für Form eines entsprechenden Filters abbilden, der hier zwölf Minuten ab, um anschließend aus nordwestli- als ein psychologischer bezeichnet werden soll. Wer cher Richtung wieder aufzuleben. einmal Zeuge der verheerenden Zerstörungskraft solcher schnell rotierenden Luftmassen geworden Redfield schildert weiterhin, dass ebenjener Sturm ist, dem dürfte sich das Ereignis für immer ins Ge- auch in New York (drei Stunden früher), Massachu- dächtnis einbrennen. setts (einige Stunden später) und Rhode Island (eini- ge Stunden später) mit jeweils unterschiedlicher Durch die gefundene Analogie wird – mit Redfields Stärke wütete. Worten – auf einleuchtende Weise nachgewiesen, wie es zu einer Umkehr der Windrichtung im Au- Es folgt die Darlegung der zentralen Fragen des genblick des Vorüberzugs einer solchen rotierenden Aufsatzes: Luftmasse kommt. Ebenso wird klar, dass unmittel- „In reviewing these facts, we are led to inquire how, bar im Zentrum kein bzw. kaum Wind zu spüren or in what manner it could happen, that the mass of sein wird (Redfield, 1831, S. 23). atmosphere should be found passing over Mid- Redfield sieht diese Eigenschaften von Tornados dletown for some hours, with such exceeding swift- auch für den Sturm von 1821 als erfüllt an. Dabei ness, towards a point apparently within thirty sollen die erheblich größere Luftmasse sowie die mit minutes distance, and yet never reach it; but a por- der größeren Fläche einhergehende vergrößerte tion of the same or a similar mass of air, be found Reibung die Windgeschwindigkeit und damit die returning from that point with equal velocity? And zerstörerischen Effekte verringern. how were all of the most violent portions of these atmospheric movements which occurred at the same 3.3.2. Axiom II: Hurrikans als bewegliches point of time, confined within a circuit whose diame- System ter does not appear to have greatly exceeded one Ein rotierendes System allein konnte die Beobach- hundred miles?“ (Redfield, 1831, S. 21). tung jedoch nicht vollständig erklären, da die Bewe- Diese Frage wird von Redfield unmittelbar beant- gung des Systems als Ganzes noch unklar blieb. Der wortet: zweite Teil der zentralen Frage bestand weiter. „This storm was exhibited in the form of a great Redfield griff zur weiteren Erklärung, neben seinen whirlwind. “ persönlich angestellten Beobachtungen, dazu auf weiteres Material zurück, das ihm u. a. in öffentli- Was Redfield hierauf folgen lässt, sind die ausführ- chen Quellen, etwa in Form von Zeitungsberichten lichen Begründungen für seine Schlussfolgerung. zur Verfügung stand. Er sammelte insgesamt 40 Hierbei bedient er sich zunächst einer Analogie, Datensätze, aus denen jeweils hervorgeht, ob zu indem er vom Phänomen der Tornados ausgeht, die einer bestimmten Zeit im fraglichen Gebiet der er wohl völlig zurecht als „common to most persons Sturm spürbar war, aus welcher Richtung der Wind who are at all conversant with the subject of meteo- wehte und wie stark man ihn jeweils einschätzte. rology“ bezeichnet (Redfield, 1831, S. 21). Darauf Damit sollte einerseits die Route des Sturms nach- aufbauend wird die Hypothese entwickelt, dass das vollzogen und andererseits die Behauptung für die Phänomen einer rotierenden Luftmasse als skalierbar angenommen werden darf: 5
Kraus Natur des Sturms als ein rotierendes Gebilde unter- mauert werden. Anhand der gesammelten Daten war er in der Lage, die Zugrichtung des Sturms ausgehend von den Turks- und Caicosinseln, entlang der nördlichen Ostküste der USA, zu rekonstruieren (Abb. 4). Auf- grund der Datendichte (nur ein Datenpunkt bei be- sagter Inselgruppe) war die Rekonstruktion der Zug- richtung dabei im südlichen Abschnitt mit großen Unsicherheiten behaftet, erreichte jedoch für den nördlichen Küstenabschnitt eine beachtliche Genau- igkeit. Die Angaben erfolgen dabei in knapper Form, wie sie nachfolgend beispielhaft für zwei Einträge ange- geben sind: „At Ocracock bar, N. C. at day light on the morning of the 3d, a severe gale from east-south-east. A ship from Boston, bound to Norfolk, experienced nothing of the gale. On the 3d, was in Lat. 40° 19’, weather foggy, and light winds from south-east.” (Redfield, 1831, S. 24-26). In seiner Zusammenfassung bemerkt Redfield, dass sich der Sturm nur mäßig weit ins Inland erstreckte und sein Einfluss auf der offenen See ebenso räum- lich beschränkt war. In diesen Grenzen bewegte er sich mit gleichmäßiger Geschwindigkeit entlang der Küste, wobei sein Ursprung vermutlich bei den Westindischen-Inseln gelegen haben dürfte. Aus den Daten ergibt sich weiterhin eine Zugge- schwindigkeit von etwa 30 nautischen Meilen (ca. 55,6 km) pro Stunde. Abb. 4: Rekonstruktion der Zugroute des Hurrikans von Für den mittleren Bereich der Zugroute, d. h. vor der 1821 auf Basis von Redfields Datenmaterial. (Quelle der mittleren Ostküste der Vereinigten Staaten, ließ sich Satellitenaufnahme: Google Earth, Landsat / Corpernicus, SIO, NOAA, U.S. Navy, NGA, GEBCO, Nutzungsbedin- noch ein weiteres Detail feststellen: Auf schwere gungen: google.com/permissions/geoguidelines/) Sturmböen aus südöstlicher folgten unmittelbar solche aus der entgegengesetzten Richtung. Anzei- gabe erfolgt gekürzt, Übersetzung durch den Verfas- chen für ein direktes Vorüberziehen sah Redfield ser): etwa für Cape Henlopen, Delaware: a) Das gleichmäßige Voranschreiten des Sturms, „ […] the gale or hurricane commenced at half past das unbeeinflusst von der Windrichtung abläuft, 11, A. M. from east-south-east, shifted in twenty mit der sich der Sturm an bestimmten Orten minutes to east-north-east, and blew very heavy for zeigt. nearly an hour. A calm of half an hour succeeded, b) Der beschränkte Durchmesser von Tornados und and the wind then shifted to the west-north-west, and den hier betrachteten Stürmen, im Verhältnis zur blew, possible, with still greater violence.” Länge ihrer jeweiligen Zugbahn, ist ein Hinweis (Redfield, 1831, S. 25). auf die Ähnlichkeit der zugrundeliegenden Wir- Diese auffälligen Beobachtungen deuten auf ein kungsweisen. unmittelbares Vorüberziehen des Zentrums des c) Das regelmäßige und offensichtliche Verhältnis, Sturms hin. Auch Long Island sowie die Staaten in dem Durchmesser und Zuggeschwindigkeit Connecticut und Massachusetts wurden unmittelbar zur Dauer an jedem ihres Vorüberzugs stehen. vom Zentrum des Hurrikans getroffen, bevor sich dessen weitere Zugroute mangels Berichten nicht d) Die verschiedene und entgegengesetzte Rich- weiter rekonstruieren ließ. tung, in die der Wind auf entgegengesetzten Sei- ten der Zugbahn weht (Redfield, 1831, S. 27). 3.3.3. Zusammenfassung der wesentlichen Eigen- schaften atlantischer Stürme Seine Annahme eines gewaltigen, rotierenden und sich langsam nach Norden bewegenden Sturmsys- Redfield fasst in vier Punkten diejenigen Phänomene tems schuf erstmals die Möglichkeit, die Beobach- zusammen, die er für generelle Eigenschaften von tungen in ihrer Gesamtheit zwanglos zu erklären. Stürmen hält. Dies sind im Einzelnen (die Wieder- 6
Meteorologische Untersuchungen im 19. Jahrhundert Es handelt sich bei Redfields Untersuchung damit und die Ausdehnung des jeweiligen Sturms zu re- um eine deutliche Demonstration, wie eine (direkte konstruieren. Im Einzelnen sind dies die Stürme und indirekte) systematische Naturbeobachtung die vom: Formulierung von neuen Axiomen und damit die a) 17. August 1830 (New York) Umformulierung einer Theorie erlaubt. b) 26./27. August 1830 (New York) 3.4. Prüfung der Theorie c) 20. September 1830 (30° N, 40° W) Wie eingangs erwähnt (siehe Abschnitt 2), ist es d) 24. September 1830 (Neufundland) eher unüblich, dass ein einzelner Wissenschaftler den gesamten Prozess der Erkenntnisgewinnung e) 29. September 1830 (nördlich von Anguilla) oder auch nur weite Teile davon eigenständig durch- Für den Sturm vom 26./27. August 1830 verweist läuft. Redfield stellt hierbei eine Ausnahme dar, da Redfield gesondert auf dessen besonders niedrige er in seinem Beitrag bereits weitere Beispiele an- Zuggeschwindigkeit, die er mit etwa 10 Meilen pro führt, an denen die Gültigkeit geprüft werden kann. Stunde angibt. Innerhalb eines relativ neu erschlossenen Themen- Die unter c) und d) aufgeführten Stürme werden gebietes ist eine weitgehende Bearbeitung durch dabei lediglich genannt, ohne sie mit detaillierten eine Einzelperson entsprechend einfacher, als dies Meldungen zu belegen. bei einem bereits elaborierten Gebiet möglich wäre. Redfield ist bemüht, auch länger zurückliegende – In Redfields Fall sollen einerseits weitere Stürme und als besonders schwerwiegend in Erinnerung aus der südöstlichen Richtung auf ihre Überein- gebliebene – Stürme aufzuführen. Dazu gehören die stimmung mit den Vorhersagen überprüft werden Hurrikans von 1804 und 1815. Hierbei ist es sein und andererseits auch die Möglichkeit der weiteren zentrales Anliegen zu zeigen, dass für jeden dieser Verallgemeinerung auf Stürme aus nordöstlicher Stürme die generelle Zugrichtung identisch ist. Wei- Richtung untersucht werden. terhin existiert nach Redfield in den Aufzeichnungen Für die Übertragung auf Stürme aus nordöstlicher kein einziges Gegenbeispiel: Richtung müssen nach Redfield zunächst Überle- „[…] it is believed that, of the storms of the last forty gungen zur Größe angestellt werden. Er stellt fest, years, the route and corresponding character of all dass ein Sturm, der mit seinem Zentrum entlang der those which have been sufficiently violent to receive Küste zieht, allerlei Einflüssen unterliegt, wie etwa notice in the marine reports, can be traced in a den Höhenzügen im Landesinneren. Daraus ergibt similar manner; while not an instance of a contrary sich – unter der impliziten Annahme einer runden kind has come to our knowledge.“ (Redfield, 1831, Form – eine Limitierung der Ausdehnung einer S. 43). solchen Sturms. Einen Beleg findet Redfield wiede- rum in dem (als bekannt vorausgesetzten) Umstand, 3.5. Erweiterung der Theorie um die Entstehung dass solche Stürme niemals weit auf die offene See von Hurrikanen hinausragen. Aus diesem relativ kleinen Durchmes- Ausgehend von der gelegentlich auftretenden Mög- ser ergibt sich, im Zusammenhang mit der vorherr- lichkeit, die Bahn von Stürmen über weite Entfer- schenden südlichen Windrichtung, eine entspre- nungen zu verfolgen, wagt Redfield auch den Ver- chend kurze Dauer für Stürme aus südöstlicher Rich- such, deren Herkunft zu ergründen. Ausgangspunkt tung (jeweils bezogen auf einen bestimmten Ort). sind hierbei die bekannten Passatwinde, deren Luft- Für einen Sturm aus nordöstlicher Richtung nimmt massen sich konstant in Richtung amerikanischer Redfield an, dass sich die Rotationsachse (und damit Kontinent und Golf von Mexiko bewegen. Der Kon- das Zentrum des Sturms) in deutlich größerer Ent- tinent und insbesondere die Gebirgszüge stellen, wie fernung von der Küste befinden muss. Sind seine Redfield bereits an früherer Stelle bemerkte, ein Auswirkungen ebenfalls im Landesinneren zu spü- Hindernis für diese Luftmassen dar, die folglich in ren, so folgt daraus, dass der Sturm einen deutlich Richtung der gemäßigten Breiten abgelenkt werden. größeren Durchmesser hat. Ein größerer Durchmes- Ein Teil der Luftmassen nimmt dabei eine „Abkür- ser, in Verbindung mit einer geringeren Zugge- zung“ vom Golf von Mexiko in Richtung Norden, schwindigkeit entgegen der vorherrschenden Wind- woraus sich im Herbst und Winter eine Wechselwir- richtung, vermag wiederum die (als allgemein be- kung mit den ungestörten Passatwinden im östlichen kannt vorausgesetzte) längere Dauer eines solchen Bereich des Golfs ergeben kann. Prallen diese Luft- Sturms hinreichend zu erklären. massen auf die Archipele der nördlichen Karibik, so Für die Leserschaft seines Beitrages gibt Redfield sollen sie letztendlich großräumig in Rotation ver- weiterhin konkrete Vorhersagen an, welche Abfolge setzt werden. Die Stürme werden nun mit der vor- von Windrichtungen in Abhängigkeit der Position herrschenden Windrichtung entlang der Küsten nach des Beobachters innerhalb eines Sturms zu erwarten Norden getrieben, bis sie sich schließlich im Nordat- ist (Redfield, 1831, S. 30). lantik auflösen oder – so vermutet bereits Redfield – sogar (das nördliche) Europa erreichen (Redfield, Er führt weiterhin fünf Beispiele für Stürme auf, die 1831, S. 32). er auszugsweise anhand gesammelter Daten belegt, um anschließend Zugrichtung, Zuggeschwindigkeit 7
Kraus Auch hinsichtlich der möglichen Entstehungsprozes- Gay-Lussacs zum Wasserdampfgehalt der Luft, über se ließ sich Redfield von Analogien leiten: Zunächst die Temperaturabnahme mit zunehmender Höhe, bis wird ein bestimmtes „Luftpaket“ durch orografische hin zu Wärmekapazitäten und latenter Wärme. Reibung an den Inselketten der Karibik in Rotation Ebenso fließen gewisse Beobachtungen ein (u. a. versetzt. Es tritt sodann mit dem nachfolgenden auch solche, die namentlich auf Redfield zurückge- Luftpaket in Wechselwirkung, ganz so wie es bei führt werden), die etwa die generelle Zugrichtung Zahnrädern der Fall ist. Das zweite Paket wird folg- von atlantischen Stürmen beschreiben. Gleichzeitig lich den umgekehrten Drehsinn aufweisen. Auch bei verzichtete Espy auf mechanische Erklärungsansätze dieser Analogie ist unschwer zu erkennen, woran im Stile Redfields, so dass ihm die Rotation der Redfield seine Überlegung anlehnte. Als Entwickler Sturmsysteme verborgen blieb und er stattdessen von Dampfschiffen waren komplexe mechanische von einer stets radial zum Zentrum gerichteten Apparaturen ein gewohnter Anblick (Redfield, 1831, Strömung ausging (Espy, 1841). S. 48f.). Auch die elektrischen Eigenschaften der Luft, deren 3.6. Grenzen der Theorie aus moderner Sicht Einfluss von etlichen zeitgenössischen Wissen- In seiner Auflistung der zentralen Eigenschaften schaftlern als maßgeblich eingeschätzt wurden, (siehe Abschnitt 3.3.3) eines rotierenden Sturmsys- ignorierte Redfield. Der sich zwischen Redfield und tems verzichtet Redfield bewusst darauf, eine verti- Espy sowie einigen anderen Forschern entwickelnde kale Rotationsachse festzulegen. Wiederum unter Disput basierte auf einem Meinungsaustausch, der Nutzung der Analogiemethode stellt er mit Verweis von Datensammlungen flankiert wurde. Die zu- auf Tornados fest, dass die Achse durchaus über eine nächst auf visuellen Beobachtungen basierenden beträchtliche Inklination verfügen dürfe, d. h. auch Sammlungen wurden zunehmend auch um einfache eine horizontale Lage einnehmen könne. Eine solche instrumentengestützte Beobachtungen erweitert. Lage der Achse nimmt er etwa bei der Entstehung Bedingt durch den frühen Entwicklungsstand von von Gewittern, Sturmböen und Hagelstürmen an Thermo- und Elektrodynamik kamen quantitative (Redfield, 1831, S. 28). Auch sollen Winde, die von Beiträge allenfalls selten als Argument zum Einsatz. Bergen oder Hochplateaus herab wehen, auf rotie- Redfield konnte – ebenso wenig wie seine Zeitge- rende Windsysteme mit derart gekippten Rotations- nossen – keine Unterscheidung zwischen verschie- achsen zurückzuführen sein. denen Arten von Stürmen vornehmen. Dies machte Es handelt sich hierbei um eine Überschätzung des sich insbesondere auch bei internationalen Verglei- Potentials seiner neuen Theorie, wie sie häufig nach chen bemerkbar. Etwa wenn der deutsche Physiker wesentlichen Schritten der Weiterentwicklung und und Meteorologe Heinrich Wilhelm Dove (1803- erst recht im Rahmen von Paradigmenwechseln 1879) großräumige europäische Zyklone mit den auftreten. In seiner Annahme, die Gravitation sei die Ergebnissen Redfields verglich und keine klare einzig relevante Größe für die Entstehung, Aufrecht- Übereinstimmung mit dessen Vorhersagen finden erhaltung und Form von Stürmen, zeigt Redfield konnte (Kutzbach, 1979, S. 16). Die regionalen eine Form der Übergeneralisierung des gefundenen Besonderheiten des nordamerikanischen Kontinents Ansatzes. Das neu gefundene Erklärungsmuster weit machen sich hier besonders bemerkbar. über die aus moderner Sicht gültigen Grenzen her- Aus heutiger Sicht sind für die Entstehung eines auszuschieben, ist ein Verhalten, das sich im Rah- tropischen Wirbelsturms aus einer kleinräumigen men von Paradigmenwechseln (jedoch nicht aus- Störung die folgenden Bedingungen (nach Klose, schließlich dort!) durchaus häufiger beobachten 2015, S. 435-438) zu erfüllen: lässt. Ein Beispiel hierfür findet sich etwa bei Gali- a) Eine Temperatur des Oberflächenwassers von lei, der glaubte nachweisen zu können, dass auch für mindestens 27°C, große Winkel (bis 90°) die Schwingungsdauer des b) eine stabile Schichtung der Atmosphäre, die ein Pendels unabhängig von der Amplitude ist (Kuhn, Aufsteigen warmer Luft ermöglicht, 1967, S.160-168). c) ein Abstand von wenigstens 5° vom Äquator, Die gesamte Thermodynamik, auf die beispielsweise damit durch die Corioliskraft eine zyklonale Ro- sein Konkurrent James P. Espy (1785-1860) seine tation hervorgerufen wird, eigene Theorie der Stürme (wiederum ausschließ- lich!) stützte, spielte für Redfield keine oder allen- d) eine geringe Windscherung für eine ungestörte falls eine so untergeordnete Rolle, dass sie getrost Konvektion. vernachlässigt werden konnte. Insgesamt weist Redfields Untersuchung den be- Der Ansatz Espys, der als Erwiderung auf Redfields trächtlichen Nachteil auf, nur solche Stürme zu be- Theorie verstanden werden kann, geht von konkre- schreiben, die durch rotierende Luftmassen verur- ten Experimenten aus und deduziert aus diesen expe- sacht werden. Durchaus häufig anzutreffen sind rimentellen Erkenntnissen zunächst vergleichbare jedoch auch solche Windsysteme, die ihren Ur- Vorhersagen über das Verhalten der Luftmassen. sprung in durchziehenden Kaltfronten finden. Diese Dabei wird hier eine Fülle von Befunden angeführt, kann man ohne Einbezug der Thermodynamik nicht ausgehend von den Untersuchungen Daltons und erklären. Aus dem relativ stark eingeschränkten und 8
Meteorologische Untersuchungen im 19. Jahrhundert nicht klar umrissenen (bzw. über Gebühr ausgedehn- Redfields Umgang mit den mechanischen Analogien ten) Anwendungsbereich ergaben sich dann auch und die Nichtbeachtung der thermodynamischen bedeutende Schwierigkeiten für die beteiligten For- Eigenschaften der Atmosphäre zeigen deutlich das scher, eigene Daten in Übereinstimmung mit Potential und die Grenzen der Analogiemethode. Redfields Theorie zu bringen. Analogiebetrachtungen sind einerseits für den per- 3.7. Qualitätskriterien der Beobachtungen sönlichen Erkenntnisfortschritt ein äußerst hilfrei- ches Mittel, um die Kreativität zu fördern und in Gegenüber experimentellen Wissenschaften besteht gewisse Bahnen zu lenken. Andererseits zeigt sich, im Rahmen der beobachtenden Meteorologie keine dass die bloße Anwesenheit geeigneter äußerer Ein- Gelegenheit, die dargestellten Daten zu reproduzie- flüsse allein noch nicht ausreichend ist, um in den ren. Dementsprechend muss an die Stelle der Repro- Prozess der Axiomentwicklung und Theoriebildung duzierbarkeit ein alternatives Qualitätskriterium einzufließen. treten (Redfield, 1831, S. 34). Ein solches Kriterium stellte lange Zeit die Glaub- 5. Literatur würdigkeit des Beobachters dar, die sich in seiner Anderl, Sibylle (2017): Das Universum und ich. Carl beruflichen Stellung oder seinem sozialen Status Hanser Verlag. ausdrückte (Shapiro, 2003, S. 126). So galten Be- Demtröder, Wolfgang (2013): Experimentalphysik obachtungen einfacher Seeleute als weniger vertrau- 1. Mechanik und Wärme. 6., überarb. u. akt. enswürdig als die eines Kapitäns. Bei Redfield zeigt Aufl. 2013. Berlin: Springer (Springer- sich dieses Argumentationsmuster, wenn er die Be- Lehrbuch). obachtungen von „experienced and intelligent ship- masters“ besonders hervorhebt (Redfield, 1831, S. Einstein, Albert (1956): Ideas and opinions. Unter 34). Mitarbeit von Sonja Bargmann. 3. print. Lon- don: Redman. Als weiteres Kriterium kann die wiederholte Be- obachtung von Phänomenen der gleichen Art dienen. Einstein, Albert (2005): Mein Weltbild. Unter Mit- Redfield bemüht sich daher, Daten in vergleichbarer arbeit von Carl Seelig. Zürich: Europa-Verl. Qualität zu weiteren Stürmen aufzuführen (vgl. Einstein, Albert; Solovine, Maurice (1960): Briefe Abschnitt 3.4). an Maurice Solovine. Faksimile-Wiedergabe Er selbst stellt die mangelnde Verfügbarkeit von von Briefen aus den Jahren 1906 bis 1955 mit meteorologischen Daten heraus, wenn er unter Ver- französischer Übersetzung, einer Einführung weis auf Benjamin Franklin die Widersprüchlichkeit und drei Fotos. Berlin: Dt. Verl. der Wissen- früherer Annahmen zu Stürmen aufzeigt (Redfield, schaften. 1831, S. 40). Espy, James Pollard (1841): The philosophy of Redfields Vermutung, es handele sich bei den vor- storms. Boston: Little and Brown. herrschenden Westwinden auf dem nordamerikani- Fleming, James Rodger (1990): Meteorology in schen Kontinent sowie auf dem Nordatlantik um America, 1800-1870. Baltimore, Md.: John einen Teil eines größeren, zirkulären Systems, stellt Hopkins Univ. Press. einen substantiellen Schritt auf dem Weg zum Ver- Heine, Antje J. (2018): Was ist Theoretische Physik? ständnis großräumiger planetarer Windsysteme dar. Eine wissenschaftstheoretische Betrachtung und Rekonstruktion von Vorstellungen von 4. Schlussbemerkungen zur historischen Analyse Studierenden und Dozenten über das Wesen Der hier verwendete Ansatz, die historische Theo- der Theoretischen Physik. Berlin: Logos Ber- riebildung mit dem EJASE-Prozess Einsteins zu lin (Studien zum Physik- und Chemielernen, beschreiben, lässt sich ebenso auf die weiteren me- 255). teorologischen Theorien übertragen. Dazu gehört Holton, Gerald (1984): Themata zur Ideengeschichte u. a. die Theorie Espys, die sich ganz wesentlich auf der Physik. Vieweg+Teubner Verlag. thermodynamische Überlegungen stützt, dabei je- doch die Vorstellung einer Rotation der Luftmassen Holton, Gerald James (1979): Einsteins Methoden um eine vertikale Achse ablehnt. Der nicht immer zur Theoriebildung. In: Peter C. Aichelburg, rein wissenschaftlich und rational ausgetragene Roman Ulrich Sexl und Peter Gabriel Berg- Disput (Moore, 2016, S. 190-252) zeigt aus heutiger mann (Hg.): Albert Einstein. Sein Einfluss Sicht, dass nur aus der Synthese der widerstreiten- auf Physik, Philosophie und Politik. Braun- den Positionen eine vollständige Erklärung der Ent- schweig: Vieweg, S. 111–140. stehung von Hurrikans bzw. großräumiger meteoro- Klose, Brigitte; Klose, Heinz (2015): Meteorologie. logischer Phänomene überhaupt möglich wurde. Eine interdisziplinäre Einführung in die Phy- Diese erweiterte Perspektive erlaubt auch die Be- sik der Atmosphäre. 2. Aufl. Berlin: Springer rücksichtigung der Wechselwirkung von Beobach- Spektrum (Springer-Lehrbuch). tung und Experiment, die nur im engen Zusammen- Krause, Eduard (2013): Das Erhaltungsprinzip in der wirken einen vollständigen Blick auf die Natur er- Physik und seine Anwendung im Physikun- möglichen. terricht. Dissertation. Online verfügbar unter 9
Kraus http://dokumentix.ub.uni- Meteorologie. Unter Mitarbeit von Michael siegen.de/opus/volltexte/2013/772. Hein. 1. Auflage. Hamburg: mare. Krause, Eduard (2017): Das EJASE-Modell als Redfield, William C. (1831): Remarks on the Pre- Ausgangspunkt physikdidaktischer For- vailing Storms of the Atlantic Coast of the schungsfragen. In: PhyDid A – Physik und North American States. In: American journal Didaktik in Schule und Hochschule (16), S. of science and arts. XX. (1), S. 17-51. 57-66. Shapiro, Barbara J. (2003): A culture of fact. Eng- Kuhn, Thomas S. (1967): Die Struktur wissenschaft- land, 1550-1720. 1. paperback printing. licher Revolutionen. 1.-4. Tsd. Frankfurt Ithaca, NY: Cornell Univ. Press. a. M.: Suhrkamp (Theorie, 2). Simonyi, Károly (2012): Kulturgeschichte der Phy- Kuhn, Wilfried (1983): Das Wechselspiel von Theo- sik. Von den Anfängen bis heute. 3. überarb. rie und Experiment im physikalischen Er- und erw. Aufl., [Nachdr.]. Frankfurt am kenntnisprozeß. In: Praxis der Naturwissen- Main: Deutsch. schaften – Physik (12), 355-362. Thomas, Gary E.; Olivero, John J.; Jensen, Eric J.; Kutzbach, Gisela (1979): The thermal theory of Schroeder, Wilfred; Toon, Owen B. (1989): cyclones. Boston, Mass.: American Meteoro- Relation between increasing methane and the logical Society (Historical monograph series). presence of ice clouds at the mesopause. In: Kutzbach, Gisela (1979): The thermal theory of Nature 338 (6215), S. 490-492. DOI: cyclones. Boston, Mass.: American Meteoro- 10.1038/338490a0. logical Society (Historical monograph series). Tipler, Paul Allen; Mosca, Gene; Wagner, Jenny Moore, Peter (2016): Das Wetter-Experiment. Von (2015): Physik. Für Wissenschaftler und In- Himmelsbeobachtern und den Pionieren der genieure. 7. Aufl. 2015. Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg. 10
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