Mexikos "War on Drugs" und die Mérida Initiative - Karl-Dieter Hoffmann
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Nummer 4 2008 4,- Euro ISSN 1862-3573 Mexikos „War on Drugs“ und die Mérida Initiative Karl-Dieter Hoffmann Für Mexiko hat die Metapher vom „War on Drugs“ ihre martialische Symbolik längst zugunsten höchst realer Gewaltszenarien eingebüßt. In den Jahren 2006 und 2007 sind dort mehr als 5.000 Menschen im Zusammenhang mit dem illegalen Drogengeschäft und den staatlichen Maßnahmen zu dessen Bekämpfung getötet bzw. ermordet wor- den. US-Präsident Bush will die drogenpolitische Offensive im Nachbarland mit einem US$ 1,4 Mrd. teuren Hilfspaket unterstützen, das derzeit im Kongress beraten wird. Analyse Begünstigt durch die geographische Nähe fungiert Mexiko seit nahezu zwei Jahrzehnten als wichtigster Versorger des US-amerikanischen Drogenmarkts. Über die Nordgrenze werden nicht nur die in Mexiko selbst erzeugten Rauschmittel Marihuana, Heroin und Methamphetamin geschmuggelt, das Land dient auch dem Transit von rund 90% des in den USA konsumierten Kokain. Die durch die Position an der strategischen Schnittstelle des Kokainhandels bedingten riesigen Einnahmen haben zur Entstehung mächtiger kri- mineller Organisationen – sogenannter Kartelle – geführt, die ihre Geschäftsinteressen mit einer Rücksichtslosigkeit verfolgen, die kolumbianische Vorbilder in den Schatten stellt. Wichtigster interner Erklärungsfaktor der sinistren „Erfolgsstory“ der Drogenkartelle ist die endemische Korruption. Ohne Kollaborateure und Protektoren in Politik, Jus tiz und Polizei hätten die Drogensyndikate ihre heutige Bedeutung und Schlagkraft nicht erreichen können. Korruption hat die Kartelle stark gemacht, und diese Stärke erschwert jetzt wiederum eine wirkungsvolle Bekämpfung der Korruption. Präsident Calderón setzt beim Vorgehen gegen die Drogenkartelle primär auf das Militär. Das mag zur Deeskalation der Gewalt in zahlreichen Brennpunkten des Dro- genhandels führen, ist jedoch im Hinblick auf die wesentlichen Triebkräfte des Dro- gengeschäfts nicht zielführend. Langfristige Erfolge gegen das organisierte Verbrechen können nur über den Weg der institutionellen Stärkung von Justiz und Polizei erreicht werden. Entsprechende Ankündigungen Calderóns werden bislang nicht durch konkrete innovative Schritte gestützt. Das Hilfspaket der USA (Mérida Initiative) entspricht der Logik der Calderón’schen Antidrogenstrategie und ist von daher kaum geeignet, mehr als kurzfristige und oberflächliche Effekte zu erzielen. Schlagwörter: Mexiko, Drogenhandel, Drogenbekämpfung www.giga-hamburg.de/giga-focus
Mexikos Drogenkarriere Drogenbehörde DEA erhöhte sich der Anteil des via Mexiko in die USA gelangenden Kokains zwi- Mexiko blickte bereits auf eine lange Tradition als schen 1988 und 1995 von 20% auf 70%. Drogenproduzent zurück, ehe es zu Beginn der Die konsolidierte Schlüsselfunktion bei der 1990er Jahre die führende Position bei der Ver- Belieferung des US-Markts und die hohen Ein- sorgung des US-Markts für verbotene Suchtmittel nahmen erlaubten es den mexikanischen Dro- übernahm. Während mexikanisches Marihuana gensyndikaten, die Machtbalance gegenüber den seit den 1960er Jahren den Großteil der Nachfrage kolumbianischen Zulieferern sukzessive zu ihren jenseits der Nordgrenze deckte, spielten Heroin- Gunsten zu verändern. Als zwischen 1993 und lieferungen (nicht zuletzt wegen der minderwer- 1995 infolge der Zerschlagung bzw. erheblichen tigen Qualität) bis auf wenige Jahre unmittelbar Schwächung der Kartelle von Medellín und Cali nach der Zerschlagung der french connection (1972) eine Neustrukturierung der kolumbianischen Dro- dort nur eine untergeordnete Rolle. Seinen Auf- genökonomie eintrat, rückten die mexikanischen stieg zum bedeutendsten Versorger des US-Dro- Händlerorganisationen in die Führungsposition genmarkts verdankt Mexiko einer Substanz, die des intraregionalen Kokainhandels vor. Die in eine innerhalb seiner Grenzen gar nicht gedeiht, gleich- Vielzahl kleinerer Organisationen zerfallenen ko- zeitig aber in den USA seit Beginn der 1980er Jah- lumbianischen Drogenbanden agieren seither qua- re als umsatzstärkster Suchtstoff gilt: dem haupt- si als Juniorpartner der mexikanischen Zwischen- sächlich in Kolumbien auf der Basis der andinen händler, die mittlerweile ca. 90% des in den USA Kokapflanze hergestellten Kokain. konsumierten Kokains liefern. Dieser nochmalige Die bevorzugten Lieferrouten der Drogenkar- Anstieg des Lieferanteils wirft ein bezeichnendes telle von Medellín und Cali verliefen durch die Ka- Licht auf die Effizienz der in den letzten Jahren ribik, bis die USA dort ihre Überwachungsaktivi- vor allem auf US-Seite ergriffenen Maßnahmen täten stark ausweiteten. Bei der Suche nach neuen zur verbesserten Kontrolle und Abschottung der Transportmöglichkeiten in die USA drängte sich Südgrenze. den kolumbianischen Drogenhändlern der Weg Der florierende Drogenschmuggel führte zur über die Nordgrenze Mexikos als Alternative ge- Entstehung von vier großen kriminellen Organi- radezu auf. Nicht nur, dass die rund 2.000 Meilen sationen, die jeweils bestimmte Gebiete entlang lange Grenze damals über weite Abschnitte nicht der Grenze zu den USA kontrollieren. Es sind dies (bzw. allein durch natürliche Barrieren wie Flüsse die Kartelle von Tijuana und Ciudad Juárez, das oder Wüstengebiete) oder nur unzureichend ge- im gleichnamigen Bundesstaat formierte Sinaloa- sichert war, es existierte dort aufgrund der jahr- Kartell sowie das im nordöstlichen Gliedstaat Ta- zehntelangen Schmuggelpraxis zudem eine gut maulipas beheimatete cártel del golfo. Diese Grup- funktionierende kriminelle Infrastruktur. Durch pierungen vermochten ihre Position im intraregio- die Nutzung des Know-how und die Erfahrungen nalen Suchtstoffhandel und mithin ihre monetäre der ortskundigen Drogenschmuggler konnten die Ressourcenbasis in dem Maße weiter zu stärken, kolumbianischen Kartelle ihr Geschäftsrisiko be- wie es ihnen gelang, in die Großhandelsebene des trächtlich mindern, während die Einkünfte der Drogengeschäfts in den USA vorzudringen. Hat- mexikanischen Banden durch den Kokaintrans- ten in den ersten Jahren der Kooperation kolum- port in eine neue Dimension vorstießen. bianische Händler das von Mexikanern auf US- In der gesamten Handelskette von der Roh- Territorium geschmuggelte Kokain zur weiteren stofferzeugung über die Herstellung des Endpro- Distribution übernommen, ermöglichte der Zer- dukts bis zum Verkauf der Einzelrationen an die fall der einst so mächtigen Kartelle von Medellín Endverbraucher stellt der Transfer über die US- und Cali die zunehmende Verdrängung kolum- Grenze den relativ gefährlichsten Abschnitt dar, bianischer Großhändler in den Großstädten der was sich als Risikoprämie in der hier erfolgenden USA durch Mexikaner. enormen Wertsteigerung der illegalen Substanz Diese nutzten bei diesem Schritt die enormen niederschlägt. Beim Grenzübertritt erhöht sich Tarnmöglichkeiten, die sich ihnen durch die Exis der Wert jedes Kilogramms Kokain um mehrere tenz großer mexikanischer Kolonien in den USA Tausend US-Dollar, wobei die Differenz grob den boten. Heute wird der Großhandel in den wich- (Brutto-)Gewinn der mexikanischen Händlerringe tigsten Absatzregionen für illegale Suchtstoffe angibt. Laut Schätzungen der US-amerikanischen von Mexikanern dominiert, die mehrheitlich im GIGA Focus Lateinamerika 4/2008 --
strengen Sinne keine Mitglieder eines der heimat- oder weniger fixen Verkaufsstellen (inklusive Pri- lichen Kartelle sind, mit diesen aber in der Regel vathäuser) von Suchtstoffen verwendet. Eine Par- sehr eng kooperieren. In den letzten Jahren haben lamentskommission schätzte 2005 die landesweite die mexikanischen Dealer auch ihre Präsenz in Zahl solcher Establishments auf 30.000. Allein im den Ländern Zentralamerikas, durch die auch ko- Hauptstadtbezirk Distrito Federal soll es mehr als lumbianischen Kokains transportiert wird, deut- 5.000 Verkaufsstellen geben, die im Monat u.a. lich erhöht. Mehrere Indizien weisen schließlich insgesamt zwei Tonnen Kokain absetzen. Üblicher darauf hin, dass mexikanische Kartelle auch in Preis für ein Gramm Kokain sind Pesos 150 (we- Peru aktiv sind. niger als € 10), während das Gramm Marihuana Neben Kokain liefert Mexiko heute einen gro nur wenige Pesos kostet. Die Betätigung als Klein- ßen Teil des in den USA konsumierten Heroins, dealer und das Betreiben einer narcotiendita stellen dessen Qualität mittlerweile internationalen Stan- für viele arme Personen oder Familien eine Mög- dards entspricht. Seit es den USA vor einigen Jah- lichkeit zur Realisierung eines ausreichenden Ein- ren gelang, binnen kurzer Zeit zahlreiche Produk- kommens dar; in vielen Fällen ist daher nicht eine tionsstätten für synthetische Drogen ausfindig kriminelle Absicht, sondern die prekäre Lebenssi- zu machen und zu zerstören, vermochten Meth tuation Auslöser des gesetzwidrigen Verhaltens. amphetamine aus mexikanischen Labors ihren Bedenklich ist der häufig beobachtete Einsatz Marktanteil rasch zu erhöhen. Viele der US-Mari- von Halbwüchsigen aus Armenvierteln als Ku- huanakonsumenten bevorzugen das mexikanische riere zur Versorgung der narcotienditas sowie als Erzeugnis, dessen Schmuggelwert denn auch auf Kleindealer. Dadurch werden nicht nur zukünftige mehrere Milliarden US-Dollar veranschlagt wird, kriminelle Karrieren begünstigt, sondern vielfach obwohl seit geraumer Zeit hochpotente Varianten auch neue Konsumenten von illegalen Substanzen aus eigener und kanadischer Produktion angeboten „erzeugt“. werden. Korruption als wichtigste Bedingung des Deutliche Zunahme des Drogenkonsums in Geschäftserfolgs der Drogenkartelle Mexiko Weitverbreitete Korruption staatlicher Behörden Es beschreibt den Regelfall, wenn in Ländern, de- und Funktionsträger gilt als endemisches Problem ren Drogenökonomie primär durch externe Im- in Mexiko, dessen Charakteristika zu einem guten pulse bestimmt wird, mit einer gewissen Zeitver- Teil auf die korporatistische Herrschaftspraxis der zögerung auch der Binnenkonsum illegaler Sub- das politische Leben sieben Jahrzehnte dominie- stanzen ansteigt. Dieser Prozess verlief in Mexiko renden Regierungspartei PRI zurückgehen. Durch lange Zeit schleichend, hat sich jedoch seit einigen die reichlich fließenden Drogeneinkünfte der Kar- Jahren markant beschleunigt. Verlässliche Daten telle hat die Korruption eine neue Qualitätsstufe dazu sind nicht vorhanden, die vorliegenden In- erreicht. Die These, dass die Kartelle ihre heutige dizien verweisen aber allesamt auf einen stabilen Machtfülle und Schlagkraft ohne die Protektion Aufwärtstrend. Es sind nahezu ausschließlich Ju- durch Politiker, Justizbeamte und Mitglieder der gendliche und junge Erwachsene, die den Binnen- Sicherheitskräfte nie hätten erreichen können, dürf- markt für Kokain, Crack, Marihuana und synthe- te kaum Widerspruch provozieren. Vor allem das tische Drogen konstituieren, wobei eine Tendenz Ausmaß der Kollaboration der Drogenkartelle mit zu immer jüngeren Erstkonsumenten und einem Polizeikräften lässt sich kaum überschätzen. Be- steigenden Frauenanteil erkennbar ist. sonders ausgeprägt sind Protektion und Koope- Auffälligstes Kennzeichen des wachsenden Dro- ration in den Bundesstaaten, wo Drogenpflanzen genabsatzes ist die rasche Zunahme der sogenann- angebaut werden sowie in jenen Städten im me- ten narcotienditas, kleinen Läden, in denen neben xikanischen Norden, die eine strategische Rolle Artikeln des täglichen Bedarfs auch Drogen in beim Schmuggel über die US-Grenze spielen. Lan- Einzelrationen verkauft werden. Viele dieser Lä- ge Zeit war es übliche Praxis, dass Polizeioffiziere den sind Neugründungen, die einzig der Tarnung ihren Vorgesetzten Geld dafür zahlten, um an be- des Detailhandels mit Drogen dienen. Der Begriff stimmte Dienstorte versetzt zu werden, wo ange- narcotiendita wird aber mittlerweile für alle mehr sichts eines florierenden Drogenschmuggels hohe GIGA Focus Lateinamerika 4/2008 --
Schmiergelder lockten. Es lassen sich Tausende Charakteristika und Hintergründe der von Fällen ausmachen, in denen Munizipalpoli- Gewalteskalation zisten außerhalb ihrer Dienstzeit Bewachungs- und andere Funktionen für Drogenbosse über- Gewaltdelikte sind eine übliche Begleiterscheinung nahmen, und nicht selten wurden Polizisten als des Handels mit illegalen Drogen. Seit 2005 erlebt Auftragsmörder identifiziert. Die schnelle Vergrö- Mexiko eine dramatische Eskalation der Bluttaten ßerung des Binnenmarkts für Drogen verschafft in diesem Milieu. Mit über 2.700 unnatürlichen korrupten Polizisten eine neue Einnahmequelle, Todesfällen verzeichnete der „War on Drugs“ im hängt doch die Existenz der meisten narcotienditas Jahr 2007 einen vorläufigen Höhepunkt. Nur ein von der regelmäßigen Zahlung von Schutzgeldern Bruchteil dieser Taten wird juristisch aufgeklärt, ab. Polizisten wiederum, die sich einer Kollabora- die Täter werden selten gefasst. Die Zunahme der tion verweigern, werden häufig durch Einschüch- Gewalt im Umfeld des Drogenhandels geht auf terung gefügig gemacht. ein Bündel von Faktoren zurück: Auch wenn die Bestechlichkeit auf der zweiten Im Verhältnis zwischen Repräsentanten der (Gliedstaat-) und dritten Ebene der Polizeihierar- Staatsmacht und dem organisierten Verbrechen chie tendenziell geringer ist, wurde auch die Bun- scheint sich nach dem Ende der politischen Hege- despolizei immer wieder von Korruptionsskanda- monie des PRI ein Wandel vollzogen zu haben. Frü- len heimgesucht. Davon blieb auch die nach dem her waren es korrupte Politiker und Polizeichefs, Vorbild des FBI in der Amtszeit von Präsident Fox welche die sinistren Kooperationen und Netzwerke (2000-2006) geschaffene Agencia Federal de Investi dominierten und damit auch den Wirkungsradius gación (AFI) nicht verschont. Die Serie von Säu- der kriminellen Banden kontrollierten. Die Öff- berungen in den diversen Polizeieinheiten reißt nung des politischen Systems hat diese Schranken nicht ab, und die schon unter Präsident Salinas partiell beseitigt und damit den Konkurrenzkampf (1988-1994) angekündigte Professionalisierung der innerhalb des Verbrechermilieus angeregt. Polizei kam über (re)organisatorische oder symbo- Im Bereich des Drogenhandels erhielten die lische Maßnahmen kaum hinaus. Rivalitäten durch die Verhaftung bzw. Tötung der Der korrumpierende Einfluss der Kartelle reicht Anführer des Golf- und Tijuana-Kartells in den bis in die Gefängnisse hinein. So ist die spektaku- Jahren 2002 und 2003 enormen Auftrieb. Insbe- läre Flucht des Chefs des Sinaloa-Kartells El Chapo sondere das Sinaloa-Kartell reagierte auf diese Guzmán aus dem Hochsicherheitsgefängnis Puen Ereignisse mit dem Versuch, seinen territorialen te Grande im Januar 2001 ohne tatkräftige Unter- Wirkungsbereich zulasten der Konkurrenten aus- stützung durch Wärter und höherrangige Bedien- zuweiten. Dies setzte eine Gewaltorgie in Gang, stete nicht erklärbar. Osiel Cárdenas, der Anführer deren Opfer vor allem Mitglieder der verfeindeten des Golf-Kartells konnte nach seiner Inhaftierung Banden wurden. Ins Visier der Killer gerieten aber (2003) vermittels Mobiltelefon und Kassibern sei- auch wirkliche oder vermeintliche Protektoren des ne illegalen Geschäfte fortführen und schmiedete gegnerischen Kartells. Mehrere Polizeichefs, die zudem mit seinem Zellennachbarn (!), dem 2002 sich den Banden mutig entgegenstellten, bezahlten verhafteten Chef des Tijuana-Kartells, Benjamín dafür mit ihrem Leben. In Monterrey, das lange als Arellano Félix, eine Allianz gegen die Rivalen aus eine der sichersten Städte des Landes galt, wur- Sinaloa. Beide Männer gelten als Auftraggeber der den 2006 binnen weniger Monate 100 drogenhan- Ermordung des Bruders von El Chapo Guzmán, delsbedingte Mordfälle gezählt. Die Stadt Nuevo der in derselben Haftanstalt einsaß. Laredo, die aufgrund ihrer günstigen verkehrsgeo Das Argument, der Korruptionsanfälligkeit von graphischen Lage und der damit verbundenen Polizisten und anderen öffentlichen Bediensteten Bedeutung für den legalen Handelsaustausch könne durch eine bessere Besoldung entgegenge- mit den USA auch als idealer Ausgangspunkte wirkt werden, verliert angesichts der ungeheuren für den grenzüberschreitenden Drogenschmuggel Finanzkraft der Drogenkartelle an Plausibilität. gilt, verzeichnete 2005 und nach einer vorüberge- henden Beruhigung erneut 2007 den landesweit relativ höchsten Blutzoll. In den ersten Monaten des Jahres 2008 intensivierte das Kartell von Si- naloa seine Anstrengungen zur Schwächung der Konkurrenzorganisation in Ciudad Juárez; binnen GIGA Focus Lateinamerika 4/2008 --
dreier Monate wurden dort 200 narcoejecuciones Die Kampfkraft der Schutztruppen der Kar- registriert. Es häufen sich die Fälle, in denen blu- telle hängt in starkem Maße von der Qualität der tige Anschläge und Feuergefechte am helllichten verfügbaren Waffen ab. In den letzten Jahren ist Tage und in belebten Innenstadtbezirken stattfin- eine massive Aufrüstung der Drogenbanden zu be den. Die Vergeltungsakte der Kartelle enthalten obachten. Halbautomatische Sturmgewehre vom eine wachsende terroristische Komponente, weil Typ AK-47 und AR-15 gehören heute zur Standard Fahndungserfolge der Sicherheitskräfte immer ausstattung der Kartelle, und mehrfach kamen häufiger mit ungezielten Mordtaten beantwortet auch schon Granatwerfer zum Einsatz. Rund 90% werden. dieses Kriegsmaterials stammt aus den USA, wo Der mit Waffengewalt ausgetragene Konflikt aufgrund der laschen Kontrollgesetze großkali um die Beherrschung bestimmter Territorien und brige Schusswaffen und Munition unschwer zu Städte ist zumindest partiell Ausdruck der ver- erwerben sind. Die Mehrzahl der nach Mexiko ge- stärkten Absicherung der US-Grenze: Zwar haben schmuggelten Waffen wird nicht bei lizenzierten die Kartelle derzeit noch wenig Mühe und ersin- Waffenhändlern, sondern – zumeist von Stroh- nen immer neue Methoden, um die illegale Ware männern – auf sogenannten gun shows gekauft, ei- ins Zielgebiet zu bringen; da aber in Zukunft mit ner Art privater Waffenbörsen, bei denen keinerlei einer stetigen Verbesserung der Kontrollen (durch Überprüfung der Käufer erfolgt. Gerade in den an Einsatz neuer Technologien) und mehr (physischer) Mexiko angrenzenden US-Bundesstaaten New Abschottung zu rechnen ist, garantiert nur ein Mexico, Arizona und Texas gelten besonders libe- möglichst großes Einflussgebiet eine Vielzahl von rale Waffengesetze. Auf Forderungen der mexika- Schmuggeloptionen. nischen Regierung, effektive Maßnahmen gegen Schließlich hat auch der wachsende interne den Waffenschmuggel zu ergreifen, reagierte die Drogenmarkt zu einer Zunahme der Bluttaten bei- US-Regierung mit der Entsendung zusätzlicher getragen, weil die konkurrierenden Anbieter ihre Kontrollbeamter des Bureau of Alcohol, Tobacco Konflikte – bedingt durch die allgemein gesun- and Firearms (ATF) an die Grenzübergänge sowie kene Hemmschwelle für Morde und das relativ der Ankündigung, Mexiko technisches Gerät zur geringe Risiko einer Bestrafung – selten ohne Waf- besseren Aufspürung von versteckten Waffensen- feneinsatz austragen. dungen zur Verfügung zu stellen. An eine nen- Verstörender noch als die schiere Zahl der Tö- nenswerte Verschärfung der US-Waffengesetze ist tungsdelikte ist die schrankenlose Brutalität, mit angesichts der einflussreichen National Rifle As der die Killerbanden der Kartelle häufig ihr Werk sociation (NRA) nicht zu denken, zumal nicht in verrichten. Für die Verrohung ist in erster Linie einem Wahljahr! eine vom Boss des Golf-Kartells gegründete para- Die Gewalteskalation hat in den am stärksten militärische Kampfgruppe verantwortlich, deren betroffenen Gebieten und Städten ein Klima der Kern aus desertierten Elitesoldaten der mexika- Angst und Verunsicherung ausgelöst, das sich nischen Armee besteht und die unter der Bezeich- auf das Alltagsverhalten der Menschen auswirkt. nung Zetas zweifelhafte Berühmtheit erlangte. Tijuana, Ciudad Juárez und andere Grenzstädte Das rücksichtslose Vorgehen und die kriminelle verbuchen einen drastischen Schwund an Tages Effektivität der aus mehreren Hundert Söldnern touristen aus den USA mit entsprechend gravie- bestehenden Zetas hat das Sinaloa-Kartell zur For- renden Umsatzeinbußen für Restaurants und viele mierung ähnlicher Kampfeinheiten veranlasst, Ladenbesitzer. Die US-Regierung erließ offizielle um die Gräueltaten der Gegenseite mit gleicher Reisewarnungen für diverse Orte im Nachbar- Münze heimzahlen zu können. An Schaurigkeit land. Bei einer im Januar 2008 durchgeführten re- kaum zu überbieten sind Videoaufzeichnungen, präsentativen Umfrage nannten in den nördlichen die eine Art Verhör sowie die Folterung und Er- Bundesstaaten Mexikos mit knapp 50% doppelt mordung von Mitgliedern der Schutztruppe des so viele Bürger wie in den restlichen Landesteilen gegnerischen Kartells dokumentieren und bald narcotráfico und inseguridad als die drängendsten darauf im Internetportal YouTube auftauchen oder Probleme. Nach der Ermordung mehrerer Jour- TV-Stationen übergeben werden. Die Imitation nalisten, die über die Taten der Kartelle berichtet von Al Qaida-Praktiken gipfelt in (z.T. ebenfalls hatten, verzichten mittlerweile viele Zeitungen auf gefilmten) Enthauptungen gefangener Mitglieder eine investigative Berichterstattung über dieses der verfeindeten Organisation. Thema. Die Sicherung der Kollaboration von Po- GIGA Focus Lateinamerika 4/2008 --
lizeikräften ist für die Kartelle in dieser Situati- organisierten Verbrechens sieht Maßnahmen zur on noch leichter und kostengünstiger geworden, Säuberung und Professionalisierung der Polizei- weil Einschüchterung und (Todes-)Drohungen einheiten vor, zudem werden Initiativen und Pro- mittlerweile effektiver sind als das Offerieren von gramme zur besseren technischen Ausstattung Schmier- und Schweigegeldern. In vielen Brenn- der Sicherheitskräfte, Reduktion des heimischen punkten der Drogengewalt quittieren zahlreiche Drogenkonsums, Reform des Gefängniswesens, Polizisten den Dienst, das Missverhältnis zwi- Bekämpfung der Korruption sowie zur stärkeren schen unbesetzten Stellen und neuen Bewerbern Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Verbre- ist im Steigen begriffen. chensprävention angekündigt. Ein Großteil dieser Programmpunkte ähnelt den bereits von Präsi- dent Fox anvisierten Veränderungen, und bisher Calderóns „Krieg“ gegen die Kartelle und die Mérida sind keinerlei Anzeichen für eine substanzielle Initiative: Neues Paradigma oder „more of the same“? Reform von Justiz und Polizei erkennbar. Die ver- meintliche – da mit fragwürdigen Leistungsindi- Wenige Tage nach Übernahme der Regierung katoren gemessene – Effektivität des Militärein (1.12.2006) entsandte Präsident Calderón Militär- satzes untergräbt den Elan für eine Stärkung verbände sowie Abordnungen der Bundespolizei dieser Institutionen. nach Michoacán, einen der von der Drogengewalt Es bedeutete eine Abkehr von mexikanischen am stärksten betroffenen Gliedstaaten. In den fol- Gepflogenheiten, als Calderón seinen US-Amts- genden Monaten wurden weitere Kontingente kollegen anlässlich des Treffens in Mérida im von Soldaten und Bundespolizisten in neun ande- März 2007 um Unterstützung beim Kampf gegen re Bundesstaaten verlegt. Ziel ist es, die von den die Drogenkriminalität bat. Bis dahin war eine en- Kartellen ausgelöste Gewaltwelle einzudämmen gere drogenpolitische Zusammenarbeit an Beden- und die Autorität des Staates in den Zentren der ken Mexikos bezüglich möglicher Souveränitäts- Drogenhandelsaktivitäten wiederherzustellen. Im einbußen, aber auch an partiell divergierenden Verlauf des Jahres 2007 waren insgesamt über Ursachendiagnosen der Problematik gescheitert. 45.000 Soldaten in Antidrogenaktivitäten einge- Die Auslandshilfe der USA für Mexiko belief sich bunden. In den städtischen Einsatzorten patrouil- im Jahre 2007 auf magere US$ 50 Mio., wovon ein lieren gepanzerte Fahrzeuge mit schwer bewaff- großer Teil auf die Ausbildung von Polizisten u.a. neten Soldaten, an Zufahrtstraßen werden Kon- durch das FBI entfiel. Nach mehrmonatigen Bera- trollpunkte errichtet; Bundespolizisten überprü- tungen wurde das ausgehandelte Unterstützungs- fen die Zuverlässigkeit der örtlichen Polizeikräfte. paket Ende Oktober der Öffentlichkeit präsentiert Die umfangreiche Militärpräsenz hat in Nuevo und anschließend dem Kongress zur Ratifizierung Laredo zu einem deutlichen Abflauen der Gewalt- vorgelegt, die bis heute nicht erfolgt ist. Offiziell taten geführt, Ähnliches soll jetzt in Ciudad Juárez als „Mérida Initiative“ (MI) tituliert, sprachen Kri- erreicht werden, wo seit Ende März 2008 1.500 Sol- tiker des Hilfspakets in Anspielung auf den glück- daten und 400 Bundespolizisten im Einsatz sind. losen Plan Colombia alsbald vom Plan México. Die Der Staatschef hat dem Verteidigungsministeri- Vorbehalte sind keineswegs unberechtigt, weil um die Verantwortung für die Entwurzelung und auch bei der MI die militärische Komponente ein- Besprühung von Drogenpflanzungen übertragen: deutig überwiegt. Das „neue Paradigma“, als das seit Beginn des sexenio (bis Mitte April 2008) wur- Vertreter der Administration die Initiative anprei- den 18.000 Hektar Schlafmohn und 30.000 Hek- sen, betrifft alleine die finanzielle Größenordnung, tar Marihuanafelder vernichtet. Überdies wurden nicht aber deren Inhalt, der fatal an andere primär mehrere Tausend Personen wegen Drogendelikten angebotsorientierte drogenpolitische Programme verhaftet und mehrere Dutzend Kartellmitglieder erinnert. Die MI umfasst bei einer dreijährigen – darunter der frühere Chef des cártel del golfo – an Laufzeit ein Finanzvolumen von US$ 1,55 Mrd., die US-Justiz überstellt. von denen 1,4 Mrd. für Mexiko eingeplant sind, Präsident Calderón begründet den massiven der Rest für Zentralamerika. Nur für die ersten Einsatz des Militärs primär mit dem hocheffizi- beiden Haushaltsjahre liegen bislang differen- enten Waffenarsenal der Kartelle, gegen das die zierte Aufstellungen zur Verteilung der Ausgaben Polizeiverbände machtlos seien. Die im März vor. Nahezu die Hälfte der US$ 950 Mio. sind für 2007 präsentierte Strategie zur Bekämpfung des die Anschaffung von Aufklärungsflugzeugen und GIGA Focus Lateinamerika 4/2008 --
Helikoptern vorgesehen. So sollen acht Bell-Trans- Literatur: porthubschrauber die Mobilität von Spezialein- heiten erhöhen. Große Ausgabenposten entfallen Astorga, Luis (2007): Seguridad, traficantes y auf eine Vielzahl von Anschaffungen (u.a. Ionen- militares. El poder y la sombra. México D.F.: scanner, Röntgendetektoren, Nachtsichtgeräte) und Tusquets. Maßnahmen (Ausbildungskurse zur Verbesserung Benítez Manaut, Raúl (2007): La Iniciativa Mé- des Datenaustauschs diverser Regierungsbehör- rida: Desafíos del combate al crimen y el nar- den u.a.), welche die Effizienz der Sicherheits- cotráfico en México (ARI Nr. 130). Madrid: kräfte erhöhen sollen. Von den in 2008 und 2009 Real Instituto Elcano. vorgesehenen US$ 131 Mio. für Institution Building Cook, Colleen et al. (2008): Merida Initiative: Pro- and Rule of Law entfällt ebenfalls ein Teil auf tech- posed U.S. Anticrime and Counterdrug Assist- nische Ausrüstung. Die für die Reform von Polizei ance for Mexico and Central America. Washington: und Justiz budgetierten Beträge sind zu gering, Congressional Research Service. um grundlegende Veränderungen bewirken zu Cook, Colleen W. (2007): Mexico’s Drug Cartels. können. Die geplante Mittelverwendung macht Washington: Congressional Research Service. deutlich, dass die Administration Bush mit der Freeman, Laurie (2006): State of Siege: Drug- MI den ausgetretenen Pfaden einer primär an law Related Violence and Corruption in Mexico. enforcement und sicherheitspolitischen Kriterien Unintended Consequences of the War on orientierten Antidrogenstrategie folgt. Drugs. Washington: Washington Office on Der von Washington unterstützten drogen- Latin America Special Report. politischen Linie Calderóns können lediglich Hoffmann, Karl-Dieter (2000): „Drogengeld unter- kurzfristige und oberflächliche Erfolge zuge- wandert den Staat. Mexiko ist zum wichtigsten traut werden. Durchgreifende Verbesserungen Transitland für den illegalen Drogenhandel in lassen sich nur realisieren, wenn den zentralen die USA geworden“, in: Der Überblick, Nr. 1, Ursachen und strukturellen Bedingungsfaktoren S. 39-43. des Geschäfts mit illegalen Drogen wirksam ent- Meyer, Maureen (2007): At a Crossroads: Drug gegen gesteuert wird. Auch wenn eine spürbare Trafficking, Violence and the Mexican State. Reduktion des Gewaltpegels erreicht werden Washington: Washington Office on Latin kann, impliziert dies nicht zwangsläufig eine Ab- America. schwächung des Drogenhandels. Sogar eine Zer- National Drug Intelligence Center (2007): National schlagung der Kartelle würde nicht ein Ende des Drug Threat Assessment 2008. Washington: U.S. mexikanischen Drogengeschäfts bedeuten, wie Department of Justice der Fall Kolumbien lehrt. Solange die Nachfrage Noriega, Roger F. (2007): Helping Win the War in den USA nicht deutlich zurückgeht, werden on Our Doorstep. Washington: American Enter- Tausende von Kleinbauern für Marihuana und prise Institute for Public Research Schlafmohn höhere Preise erzielen als für ande- Ravelo, Ricardo (2007): Herencia maldita. El reto re Anbauprodukte und mexikanischen Drogen- de Calderón y el nuevo mapa del narcotráfico. exporteuren große Gewinne sicher sein. Ohne México D.F.: Grijalbo�. eine Professionalisierung von Polizei und Justiz Weinberg, Bill (2008): „Guns: The U.S. Threat wird das Drogengeschäft weiter ideale Rahmen- to Mexican National Security“, in: NACLA bedingungen finden. Realistisch betrachtet ist Report on the Americas, Nr. 2, 41. Jg., März/ eine substanzielle Reform der mexikanischen April, S. 21-26. Strafverfolgungsbehörden auf absehbare Zeit ebenso unwahrscheinlich wie eine starke Dämp- fung des Hungers vieler US-Bürger auf illegale Suchtstoffe. GIGA Focus Lateinamerika 4/2008 --
Der Autor: Dr. sc.pol. Karl-Dieter Hoffmann ist Politikwissenschaftler an der Katholischen Universität Eichstätt- Ingolstadt und Geschäftsführer des dort angesiedelten Zentralinstituts für Lateinamerika-Studien. Forschungsschwerpunkte: Drogenproblematik; aktuelle politische und wirtschaftliche Entwicklung; Länderschwerpunkte: Ecuador, Panama. E-mail: karl.hoffmann@ku-eichstaett.de GIGA Publikationen zum Thema Heigl, Miriam (2007): „Facetten des mexikanischen Privatisierungsprozesses“, in: Lateinamerika Analysen 16, S. 69-92. Maihold, Günther (2006): „Elitenwandel und technokratische Politik in Lateinamerika: Das Beispiel Mexiko“, in: Lateinamerika Analysen 13, S. 7-34. Maihold, Günther (2006): Regieren nach dem Foto-Finish: Mexiko und die Wahlen vom 2. Juli 2006, GIGA Focus Lateinamerika, Nr. 7. Peetz, Peter (2007): Innere Sicherheit in Lateinamerika – Probleme und Perspektiven, ����� GIGA Focus Lateinamerika, Nr. 7. Schulz, Christiane (2007): Oaxaca – hat Mexikos Rechtsstaat eine Zukunft?, GIGA Focus Lateinamerika, Nr. 2. Schütze, Stephanie (Hrsg.) (2007): „Dossier: En(tre) dos naciones: articulación política y cultural de los mexicanos en Estados Unidos“, in: Iberiamericana, Nr. 25, März, S. 89-174. Das GIGA German Institute of Global and Area Studies – Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien in Hamburg gibt Focus-Reihen zu Afrika, Asien, Lateinamerika, Nahost sowie zu Globalen Fragen heraus, die jeweils monatlich erscheinen. Der GIGA Focus Lateinamerika wird vom Institut für Lateinamerika- Studien redaktionell gestaltet. Die vertretene Auffassung stellt die des/der jeweiligen Autors/Autorin und nicht unbedingt die des Instituts dar. Download unter www.giga-hamburg.de/giga-focus. Redaktion: Sebastian Huhn; Gesamtverantwortlicher der Reihe: Andreas Mehler Lektorat: Julia Kramer; Kontakt: giga-focus@giga-hamburg.de; GIGA, Neuer Jungfernstieg 21, 20354 Hamburg www.giga-hamburg.de/giga-focus
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