"Music is my life!" Musik in der Lebenswelt Jugendlicher
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Newsletter der Initiative für werteorientierte Jugendforschung, Nr. 27 April 2015 „Music is my life!“ Musik in der Lebenswelt Jugendlicher von Markus Karstädter Worum geht es? — Die kleine Stadt Boom im belgischen Flandern kommt relativ unscheinbar daher. Doch die 17.000- Einwohner-Stadt ist in der ganzen Welt bekannt. Für Millionen Jugendliche ist sie das Synonym für Party, Frei- heit, Liebe und eine weltumspannende Gemeinschaft. Denn seit 2005 findet hier das alljährliche Tomorrowland-Festival statt. Die 360.000 Karten für das Großereignis der Elektromusik waren 2014 innerhalb einer Stunde ausverkauft. Etwa zwei Millionen Ticketanfragen aus praktisch allen Ländern der Welt vermelde- ten die Veranstalter. Das Event ist bunt und interkulturell. Viele Teilnehmer haben die Flaggen ihrer Heimat- länder mitgebracht und halten sie während der Konzerte in die Höhe. Die jungen Menschen sind sommerlich und bunt gekleidet. Die Jungs tragen Muskelshirts und Snapbacks, die Mädchen Hotpants und Bikini. Viele tragen Blumen im Haar und haben sich farbenfroh geschminkt. Immer wieder sieht man kreative Kostümie- rungen. Das Bühnenbild hat etwas Märchenhaftes und will die Besucher in eine andere Welt entführen. Eine Welt, in der sich alle lieb haben und gemeinsam feiern. Musik erschafft Welten, in denen sich junge Menschen zu Hause fühlen. Konzerte und Festivals lassen den anstrengenden, durchgetakteten Alltag für eine kurze Zeit vergessen. Doch Musik ist nicht nur für außerge- wöhnliche, außeralltägliche Erlebnisse zuständig, sondern umgibt uns heute überall. Beim Joggen, Kochen, Lernen, Fernsehen, Feiern, Arbeiten, Einkaufen, Internetsurfen ist die Musik allgegenwärtig. Sie erschallt aus Radios, kleinen und großen Kopfhörern, der heimatlichen Musikanlage, dem Laptop, in jeder Ecke eines jeden Kaufhauses, kleinen und großen Subwoofern auf WG-Partys und in Clubs. Musik erschöpft sich nicht in Klang und Rhythmus. Sie umschließt das Leben, prägt es, formt es. Musik transportiert Gefühle, Stile, Einstellungen, Atmosphären, Stimmungen, Moden, Kulturen, Lebensentwürfe. Soll die Lebenswelt junger Menschen verstanden werden, müssen wir uns daher unbedingt ihrer Musik widmen.
Orten, etwa der städtischen Oper oder einem Kir- 2 chengebäude, präsentiert und rezipiert. Daneben I. Wie Musik die Welt eroberte gab es selbstverständlich bereits seit Jahrhunder- ten Tanz- und Trinklieder, die vom einfachen Volk Elektro, Hip-Hop, Metal, aber auch Punk, RnB gesungen und an die nächste Generation weiterge- oder sogar Schlager – viele junge Menschen finden geben wurden. Im 19. Jahrhundert kam es zu ei- sich in diesen Musikstilen wieder. Laut der jüngs- nem Boom und einer Professionalisierung der Mu- ten Shell-Jugendstudie ist „Musik hören“ nach „im sik. In diesem Zusammenhang ganz wichtig waren Internet surfen“ und „sich mit Leuten treffen“ die die überall entstehenden Gesangsvereine, in denen dritthäufigste Freizeitbeschäftigung Jugendlicher.1 besonders Volkslieder gesungen wurden.5 Schließ- Knapp 80% der jungen Menschen hört täglich oder lich traf man auf Kirchenmusik im Rahmen des mehrmals wöchentlich Musik über das Smartpho- Gottesdienstes. ne.2 Im Rahmen der 2012 erschienenen Sinus- Trotz dieses Aufschwungs war bis weit ins 19. Jugendstudie gaben 95% der befragten 14-17 jähri- Jahrhundert hinein Musik und musikalisches Erle- gen Jugendlichen an „gerne“ oder „besonders ger- ben auf bestimmte Orte und bestimmte Anlässe ne“ Musik in ihrer Freizeit zu hören.3 Musik beglei- beschränkt. tet den jugendlichen Alltag und gibt dem Leben die Dies änderte sich aufgrund zweier bedeutsamer gewünschte Atmosphäre. Oder wie es die Jugend- Entwicklungen. Erstens entstand aus den Volkslie- forscherin Beate Großegger formuliert: dern die sogenannte Unterhaltungsmusik, auch „Popularmusik ist Angelpunkt jugendlicher Freizeit- „populäre Musik“ genannt: In Form von Operetten, und Konsumkultur.“4 Tanzmusik und insbesondere der Jazzmusik. Der Die Verbindung zwischen Jugendlichen und Mu- Prozess der Urbanisierung im 19. Jahrhundert half sik existierte nicht schon immer auf diese intensive dabei, dass sich insbesondere in den Städten neue Weise. Sie ist vielmehr das Ergebnis einer langen, Formen der Musik entwickeln konnten, welche bis in die Gegenwart hinein reichende kulturellen nicht mehr nur in Opernhäusern oder Kirchen, Entwicklung. Diese Entwicklung mündet heutzuta- sondern auch in Clubs, Bars und (Arbeiter-)Kneipen ge in drei Phänomene, die für die Lebenswelt Ju- der Städte zu hören waren. Die Musik brach damit gendlicher bezeichnend sind: (1) Musik ist allge- aus dem festen Rahmen der Oper oder des Kon- genwärtig. (2) Es existieren musikalische Jugend- zertsaals und wurde für die Massen der Arbeiter- kulturen, die Lebensstil und Lebensgefühl ganzer schicht verfügbar. Musik wurde popularisiert und Generationen prägten und zum Teil noch prägen. ihrer Form nach „massentauglich“. (3) Musiknutzung hat sich subjektiviert und ist indi- Die zweite Entwicklung war technischer Natur. viduell. In den 1880er Jahren wurden die ersten Schallplat- Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde ten und Grammophone entwickelt. Diese ermög- Musik als eine Kunstgattung verstanden, der man lichten es zum ersten Mal überhaupt, musikalische sich beizeiten zuwandte, um ein schönes, ästheti- Inhalte zu konservieren. Das Ergebnis war sches Erlebnis zu genießen. Musik, etwa eine Sym- schlichtweg revolutionär: Produktion und Rezepti- phonie Ludwig von Beethovens oder eine Kantate on von Musik konnte plötzlich getrennt voneinan- Johann Sebastian Bachs, wurde an bestimmten der stattfinden.6 Menschen konnten Musik in ih- ren eigenen vier Wänden hören und mussten dafür 1 Shell Deutschland Holding 2010, S. 96. 2 JIM 2014, S. 48. 5 Vgl. Wicke 2003, S. 323. 3 Calmbach 2012, S. 51. 6 Eulenbach 2013, S. 258. Vgl. auch Wicke 2003, 4 Großegger 2006, S. 29. S. 323.
nicht mehr an bestimmte Orte gehen. Die Rezepti- Marlon Brando den Anführer einer rebellischen 3 on von Musik privatisierte und individualisierte Rockerbande spielt und damit zur Verkörperung sich. einer aufbegehrenden, sich abgrenzenden Jugend Die Musik hatte sich also mit einem Medium wurde.8 (der Schallplatte, später der CD, etc.) verbunden. Junge Menschen hörten seit Mitte der 50er Jah- Die mediale Vermittlung von Musik prägt seitdem, re nicht einfach nur andere Musik; mit der musika- wie wir Musik wahrnehmen und mit ihr umgehen. lischen Abgrenzung kam es auch erstmals zu einer Musik gelangt mit Hilfe von Radio, Fernsehen, In- deutlichen Abgrenzung des jugendlichen Lebensge- ternet, Handy, Stereoanlage oder Mp3-Player in fühls von dem der Elterngeneration. Die Identifika- das Ohr des Musikhörers. Nur in vergleichsweise tion mit dem Rock'n'Roll oder später dem Beat seltenen Fällen wohnen wir der Musikproduktion wurde dazu verwendet, Anderssein auszudrücken, selbst noch tatsächlich bei, etwa wenn wir ein Kon- sich von der „Normalkultur“ abzusetzen, abzugren- zert oder ein Musikfestival besuchen. zen und gegen sie zu protestieren.9 Jugendliche Die Popularisierung der Musik einerseits sowie wurden infolge dessen immer mehr als eigene ge- die technisch-mediale Vermittlung von Musik an- sellschaftliche Gruppe wahrgenommen, die mit dererseits führen letztlich zur heutigen Allgegen- Hilfe der Musik eigene Lebensstile und Werte ver- wart von Musik. Doch alleine die Möglichkeit der folgte. Damit wurde der Musik eine bis dato unbe- universellen Verbreitung ist noch keine genügende kannte Rolle zugemessen: Sie wurde zum State- Erklärung dafür, dass Musik tatsächlich auch immer ment eines Lebensentwurfs. Der Unterschied zu und überall gehört wird. Es liegt an der „inneren“ ihrer bisherigen Funktion war gravierend. Musik Attraktivität der Musik, dass sie im Leben des wurde nicht nur mehr gehört und genossen, son- spätmodernen Menschen eine solch große Bedeu- dern drückte sich vielfältig und auf allen Ebenen tung gewonnen hat. Das hängt mit dem kulturell des Lebens aus: Mode, Stil, Wohnung, Gefühl, enorm einflussreichen Phänomen globaler Jugend- Rhythmus, Werte – alles verband sich miteinander. kulturen zusammen, die seit den 1950er Jahren das Musik wurde zur Kultur, der Alltag zum Ausdruck Licht der Welt erblickten. eines musikalischen und damit ästhetischen Le- Bis in die 1950er Jahre hinein besuchten Ju- bensentwurfs.10 gendliche und ihre Eltern meist ähnliche Musikver- Besonders war an diesem Phänomen der musi- anstaltungen bzw. hörten dieselbe Musik im Radio. kalischen Jugendkulturen, dass sie weltumfassend Welche Musik gehört wurde – also eher Konzerte waren. Der Soziologe Wilfried Ferchhoff konsta- mit klassischem Repertoire, geistliche und weltli- tiert, dass die Jugendkulturen und -szenen „seit che Chormusik oder eher Operetten und volkstüm- liche Unterhaltungsmusik – lag in erster Linie an 8 Vgl. Ferchhoff 2013, S. 28. der sozialen Schicht, der man angehörte und wurde 9 Vgl. Maase 2003, S. 40. nicht über das Alter bestimmt.7 10 In diesem Sinne ist die Musik musikalischer Ju- Eine Trennung zwischen Jung und Alt wurde gendkulturen, im Folgenden als Popmusik oder populäre erstmals Mitte der 1950er Jahre sichtbar, als Ju- Musik bezeichnet, mehr als einfach nur der musikalische gendliche zuerst den Rock'n'Roll und später den Klang: „Pop-Musik ist der Zusammenhang aus Bildern, Beat musikalisch für sich entdeckten. Im Jahr 1953 Performances, (meist populärer) Musik, Texten und an drehte der ungarisch-amerikanische Regisseur reale Personen geknüpfte Erzählungen“, so beschreibt László Benedek den Film The Wild One, in dem es Poptheoretiker Diedrich Diederichsen (Diederichsen 2014, S. xi). Populäre Musik kreiert eine Kultur, in der sich Menschen bewegen und mit der sie leben, in der sie 7 Ferchhoff 2013, S. 23. Orientierung und Identität suchen und finden.
den späten 60er Jahren eine milieu- und geschlech- Popkultur-Gütern zu bedienen. Musikalische Sub- 4 tertranszendierende globale Avantgarderolle über- kulturen wurden und werden vom Markt verein- nommen“ hätten.11 Die globale, weil technisch nahmt: „Subkulturen [werden] zur Grundlage der mögliche Zugänglichkeit der Musik führte zu einer Absatzstrategie der Großkonzerne, denen es gera- Umwälzung jugendlichen Lebens und stellte tradi- de darum geht, künstliche Verfestigungen und tionelle Milieus und Schichten in Frage. Musikali- Differenzierungen an den Gebrauch von Markenar- sche Jugendkulturen führen so seit den 1950er tikeln zu binden.“14 Konzerne nutzen alle Kanäle, Jahren zu gesellschaftlichen um ihre Produkte unter das Volk zu bringen. Mu- Enthierarchisierungsprozessen: Junge Menschen sikvideos werden zu Werbeclips, Madonna zur der gebildeten Oberschicht ebenso wie Arbeiter- Werbeikone, Christina Aguilera verkauft ihr eigenes kinder trugen dieselbe Mode, hörten dieselbe Mu- Parfüm. Musiker werden zu medialen „Stars“, de- sik und vertraten ähnliche Werte. ren Privatleben Stoff unzähliger medialer Diskurse So sind seit der Entstehung musikalischer Ju- ist und deren Style umfassend vermarktet und gendkulturen jugendliche Lebenswelten ohne Mu- kommerzialisiert wird. sik kaum noch denkbar und de facto nicht exis- Doch deshalb mit dem Journalisten Oliver Jeges tent.12 Nichtsdestotrotz ist die Hochphase und das „Ende der Popkultur“15 auszurufen, ist ver- revolutionäre Kraft der musikalischen Jugendkultu- früht. Denn die Popkultur und ihre Musik in ihren ren heute Geschichte. Denn das Verhältnis zur unzähligen Ausprägungen und Konsumangeboten Musik stellt sich heute im Vergleich zu den 60er passen ideal zu den Bedürfnissen einer heutigen und 70er Jahren noch einmal anders dar. Zwei Jugendgeneration, die mit Revolutionen und Rebel- Entwicklungen stehen hier im Vordergrund: Einer- lion wenig am Hut hat.16 Die meisten jungen Men- seits die konsequente Kommerzialisierung populä- schen suchen, im Gegensatz zu ihren in den 60er rer Musik und andererseits eine Subjektivierung oder 70er Jahren groß gewordenen Eltern oder des Musikverhaltens. Großeltern, keine Alternativkultur mehr, mit der Bereits 1965 erklärte die Zeitschrift Life ihren sie sich von der Elterngeneration abgrenzen wollen Lesern aus der zumeist biederen Mittelschicht un- und die Protest gegen die bestehenden gesell- ter dem Titel The Ins and Outs of Pop Culture, wel- schaftlichen Verhältnisse ausdrückt. Vielmehr ak- che Dinge man besitzen und welche Kenntnisse zeptieren sie den gesellschaftlichen Status quo und man haben muss, um auf der Höhe der Zeit zu sein. suchen nach ihrem ganz eigenen, individuellen Als Trendsetter wurde hier insbesondere die ju- Mix, der ihnen hilft, innerhalb der eigenen Genera- gendlichen Subkulturen genannt, sowie Pop-Art tion eine soziale und kulturelle Heimat zu finden.17 Künstler wie Andy Warhol. Der Life-Artikel erwies Heutige musikalische Jugendkulturen sind also sich als ein erster Vorbote der Tatsache, dass die weniger mit Adjektiven wie „unangepasst“ oder musikalischen Jugendkulturen auf dem besten Weg „rebellisch“ zu charakterisieren, sondern als kultu- waren, fester Bestandteil der Mittelschicht und relle und soziale Räume, in denen junge Menschen damit des Mainstreams zu werden.13 Und in der einerseits ihrem hedonistischen Vergnügen nach- Tat: In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehen können und andererseits frei die Möglich- verloren musikalische Jugendkulturen ihre poli- keit haben, sich selbst in Szene zu setzen, Identitä- tisch-subversive Kraft. Musik wurde zum Konsum- ten und Lebensstile austesten und so zu lernen, gut, ganze Branchen entstanden, um den Bedarf an 14 Prokop 1974, S. 122. 11 Ferchhoff 2013, S. 30. 15 Jeges 2014, S. 111. 12 Großegger 2006, S. 32. 16 Vgl. Eulenbach 2013, S. 258f. 13 Hecken 2009, S. 273. 17 Großegger 2006, S. 30.
sich in einer unübersichtlichen Welt zurechtzufin- Wacken und Filmmusikkomponist Hans Zimmer 5 den. Dies tun sie auf eine äußerst subjektive und komponiert eine Hymne für das Elektrofestival gleichzeitig selbstbewusste Art und Weise. Neue Tomorrowland. technische Möglichkeiten erlauben diese Subjekti- vierung des Musikverhaltens, etwa die Streaming- Apps Spotify oder Simfy, die jedem Jugendlichen den „kompletten Musikkatalog der Menschheits- II. Gefühlsregulation und geschichte in Sekundenschnelle zur Verfügung“18 Selbstsozialisation: Musik als stellen. Vehikel zur Bewältigung des Lebens Kommerzialisierung der Musik sowie Subjekti- vierung des Musikverhaltens führt dazu, dass die Es wurde deutlich, dass das Verhältnis junger meisten Jugendlichen sich nicht mehr wie einst Menschen zur Musik kein statisches, sondern viel- großen musikalischen Jugendkulturen zugehörig mehr ein höchst lebendiges und doch stets inniges fühlen, sondern „jeder alles zur gleichen Zeit gut ist. Im Folgenden soll sich genauer zeigen, welche finden“ kann.19 Nur noch etwa 20 Prozent der Ju- Funktionen Musik heutzutage für Jugendliche hat. gendlichen sind „echte Insider“ einer musikalischen Es ist zu beobachten, dass junge Menschen Mu- Jugendkultur. Diese 20 Prozent orientieren sind sik ganz verschiedentlich nutzen: Sie setzen sich noch umfassend an einem musikalischen Stil und mit Liedtexten auseinander, erarbeiten sich Exper- seiner Kultur und sind Trendsetter: „Sie sind dieje- tenwissen über favorisierte Musikgenres oder nigen, die neue Entwicklungen vorantreiben, in- Künstler, leben und erleben sich in Musikszenen, dem sie sich nicht nur früher, sondern gemeinhin musizieren in einer Band, tanzen im Club oder der auch stärker als die breite Mehrheit für sie begeis- Tanzschule, covern Lieder und posten ihre indivi- tern.“20 duelle Version als Video auf YouTube, hören Musik Die breite Masse tickt anders. Sie identifiziert während sie lernen oder erlernen ein Musikin- sich nur noch punktuell mit dem einen oder ande- strument.21 ren Musikstil und ihren Interpreten, Texten und In der Forschung werden insbesondere zwei Moden. Junge Menschen halten sich immer weni- Gründe genannt, warum sich Jugendliche so vielfäl- ger an Grenzen musikalischer Stile und Jugendkul- tig und intensiv auf Musik einlassen. turen, sondern mixen sich genreübergreifend im- mer wieder neu ihre eigene, individuelle Playlist zusammen. Dieses jugendliche Musikverhalten A. Musik als Gefühlsregulation findet seine Parallele in der Vermischung der Mu- Es wurde bereits angedeutet, dass populäre sikstile selbst. Interpreten, die sich nur ihrem Mu- Musik nicht einfach nur des Klanges wegen geliebt sikstil verpflichtet sehen, haben ausgedient. Statt- und gehört wird, sondern dass sie eine Kultur dessen werden Musikstile immer wilder und krea- schafft, in der Menschen leben und sich orientie- tiver miteinander kombiniert: Hip-Hop trifft Rock, ren. In der Forschung wird diese Entwicklung auch Elektro trifft Pop-Ballade, Rock trifft Jazz, usw. Bei- als die Ästhetisierung des Alltags bezeichnet. Die spiele hierfür gibt es wie Sand am Meer: Der DJ Popmusik produziert eine Welt, in der Menschen David Guetta tritt mit RnB-Ikone Rihanna auf, sich dem ästhetisch schönen Erleben widmen kön- Schlagerbarde Heino besucht das Metal-Festival nen. Die Voraussetzung für diese Entwicklung liegt 18 Jeges 2014, S. 113. in einer beispiellosen Zunahme von materiellem 19 Jeges 2014, S. 119. 20 Großegger 2006, S. 33. 21 Harring 2013, S. 303.
Wohlstand und technischem Fortschritt seit dem Ekstasen in Live-Konzerten) oder, eingelassen in 6 Ende des 2. Weltkriegs.22 Seither treten existentiel- die Alltäglichkeit, deren Farben verändert.“25 le Überlebensfragen in den Hintergrund und ein Jugendliche gestalten ihr musikalisches Umfeld jeder steht tagtäglich vor der Aufgabe, angesichts konsequent so, dass es ihre aktuelle Stimmung unzähliger Angebote und Optionen sein Leben zu unterstützt, kompensiert oder verändert. Das gestalten. Um in dieser Flut der Angebote nicht Schlüsselwort lautet: Situationsbewältigung.26 Ju- hilflos unterzugehen, hat der moderne Mensch gendliche stimulieren in jeder emotionalen Situati- einen Maßstab entwickelt, nach dem er aus all den on ihre Gefühle mit Hilfe von Musik: „in positiven Optionen auswählt und sein Leben gestaltet. Die- Stimmungskontexten der Romantik, der Freude sen Maßstab nennt der Soziologe Gerhard Schulze und der Ruhe wird stimmungskongruente Musik Erlebnisrationalität. Erlebnisrational ist eine Ent- ausgewählt, um die jeweiligen Zustände zu unter- scheidung dann, wenn sie ein schönes Erlebnis stützen. Bei Wut und Ärger reagieren sich die Ju- produziert. Der moderne Mensch sucht, so Schul- gendlichen mit aggressiver Musik ab. Bei Trauer zes These, im Dickicht unzähliger Optionen nach und Melancholie wählen Jugendliche mehr traurige solchen Handlungen, die das eigene Innenleben so als freudige Musik aus.“27 Dieses Verhaltensmuster beeinflussen, dass man etwas als „schön“ erlebt. lässt darauf schließen, dass Musik meist intuitiv Dinge, die langweilig oder monoton sind, haben benutzt wird, um Stimmungen zu verstärken oder somit keine Chance. Stattdessen werden alle Dinge zu unterstützen. Im Gegensatz dazu hören ältere und Situationen des Alltags stets auf ihr ästheti- Menschen Musik häufiger, um Stimmungen entge- sches Potential hin befragt. Beim Autokauf geht es genzuwirken: Man lässt sich von fröhlicher Musik nicht nur um die Fähigkeit des Autos, den Fahrer aus einer pessimistischen Stimmung reißen.28 sicher und preisgünstig von A nach B zu bringen. Entscheidend ist auch, ob das Fahrgefühl ange- nehm ist, ob das Auto fasziniert, ob es sich gut B. Testen und ausprobieren: Musik als anfühlt, das Auto zu besitzen. Beinahe alle Dinge Sozialisationsinstanz des Lebens werden so auf ihr „Erlebnispotential“ hin bewertet. Neben der Gefühlsregulierung ist Musik für Ju- Was hat diese Erlebnisrationalisierung nun mit gendliche noch auf eine weitere Weise wichtig. der Musik zu tun? Populäre Musik ist so erfolgreich Musik hilft Jugendlichen, sich sozial und kulturell zu und überaus beliebt, weil sie sich als geradezu ideal positionieren.29 dafür erweist, schöne Erlebnisse zu produzieren.23 Die Jugendphase ist in besonderer Weise eine Denn Jugendliche nutzen Musik ganz zielgerichtet, Lebenszeit der Orientierung und der Selbstfindung. um ihren Gefühlshaushalt zu stimulieren. Als Ju- Diese Selbstfindung erfolgt in unserer heutigen gendliche befragt wurden, aus welchen Gründen Gesellschaft vor allem darüber, sich in privaten und sie Musik hören, rangierte die Beeinflussung der öffentlichen Kontexten auszuprobieren.30 Junge eigenen Stimmung ganz oben.24 Musik wird für Menschen testen aus, welche Milieus und Lebens- junge Menschen „zum bestimmenden Element eines umgreifenden Lebensgefühls […], das sich 25 Baacke 1998, S. 37. Vgl. auch Schramm 2008, S. aus dem Alltäglichen ausgliedert (so etwa bei den 137. 26 Reinhardt/Rötter 2013, S. 144. 27 Schramm/Vorderer 2002, S. 119. 22 Schulze 2005, S. 33. 28 Schramm/Vorderer 2002, S. 124. 23 Vgl. Müller 1999, S. 115. 29 Hoffmann 2008, S. 155. 24 Vgl. Münch 2002, S. 74. 30 Hoffmann 2008, S. 158.
stile zu ihnen passen, sie schließen Freundschaften, geht dies häufig einher mit der Orientierung an 7 entdecken ihren Körper, spielen mit gesellschaftli- einer Band oder Interpreten. Die Medien bieten chen oder familiären Tabus, formulieren Werte nun unzählige Erzählungen und Bilder über den und Lebensziele.31 Interpreten an. Diese Erzählungen verweisen auf Dieser Prozess wird mit dem Begriff der Selbst- Lebensstile, Identitätskonzepte und Werte, die sozialisation bezeichnet. Die Tatsache, dass junge man für sich übernehmen kann.35 Musik und die Menschen sich in der heutigen Gesellschaft selbst massenmedial vermittelten Bilder, Texte und Er- sozialisieren müssen, ist ein unabdingbares Erfor- zählungen bilden Collagen, in denen sich junge dernis und wird von der freiheitlich- Menschen mit ihren Erfahrungen und Sehnsüchten demokratischen Gesellschaft nicht nur ermöglicht, wiederfinden. Sie lassen sich (zeitweise) auf jene sondern geradezu erwartet.32 Die Zeiten, in denen Lebensentwürfe ein, eifern jenen Stars nach, tra- der Lebensweg des Einzelnen durch die Hierarchien gen jene subkulturell spezifische Mode und hören und Erwartungen der Gesellschaft, der Religion jenen Musikstil, der ihrem momentanen Selbstbild und der Familie vorgegeben wurden, gehören in entspricht und mit dessen Hilfe sie ein (vorüberge- den meisten Fällen der Vergangenheit an. In der hendes) soziales und kulturelles Zuhause finden. heutigen Gesellschaft sind junge Menschen unab- Durch diesen Prozess der Selbstsozialisation ge- dingbar vor die Aufgabe gestellt, ihren eigenen hen Jugendliche nicht alleine. Die Peer-Group ist Weg zu finden: „[Das] Leben wird zur selbst zu die Keimzelle vieler Identifikationsprozesse. Medi- gestaltenden Aufgabe, zum individuellen Pro- en, die Peer-Group und die Persönlichkeit des Ein- jekt.“33 zelnen beeinflussen wechselseitig, welchem musi- Junge Menschen stehen damit vor einer gewal- kalischen Stil man sich zuordnet und für welche tigen Aufgabe. Um diese Herausforderung erfolg- Künstler man schwärmt.36 Anerkennung und Bestä- reich zu bewältigen, nutzen Jugendliche alle ihnen tigung oder eben Zurückweisung innerhalb der zur Verfügung stehenden Ressourcen: Die Familie, Peer-Group entscheiden häufig darüber, welcher Freunde, Schule und die Massenmedien. Musik, Mode oder Werten man weiterhin Auf- Den Massenmedien als Sozialisationsinstanz merksamkeit schenkt. Diese sozialen Prozesse in- kommt dabei eine besondere Rolle zu. Sie sind das nerhalb der Peer-Group helfen Jugendlichen, Si- Fenster in die „große weite Welt“ und bieten die cherheit und Klarheit über die eigene Identität zu Möglichkeit, sich mit Hilfe der dort vermittelten gewinnen und spielen im Prozess des Erwachsen- Werte und Lebensentwürfe etwa von familiären werdens eine große Rolle. Rollen und Mustern abzugrenzen. Die Massenme- dien vermitteln durch Musik, Bilder, Texte und Erzählungen Kultur und kulturelle Praxen.34 Sie bietet jungen Menschen somit genau das, wonach sie suchen: Lebensstile und -ziele, Körper- konzepte, Moden, Werte und soziale Einstellungen. 35 Vgl. Hoffmann 2008, S. 168: „Man hat ein Bild Sie laden ein, sich der einen oder anderen Subkul- von jemandem, der angibt, Bushido oder Sido zu favori- tur anzuschließen und auszuprobieren, ob sie zu sieren, oder von jemandem, der eingesteht, Die Ärzte einem passt. Identifiziert man sich mit einem Lied, oder Xavier Naidoo zu präferieren. Bestimmte Musik- genres verweisen auf kulturelle Stile und Moden, sie 31 Müller 2002, S. 14. stehen teilweise aber auch für bestimmte Werte und 32 Müller 1999, S. 116. soziale Einstellungen.“ 33 Kohli 1991, S. 312. 36 Vgl. Reinhardt/Rötter 2013, S. 147, auch Groß- 34 Vgl. Diederichsen 2014, S. xi. egger 2006, S. 34.
III. Musik und christliche prägt von der Sprache, den Formen und den Bil- 8 dern der sie umgebenden Kultur, der Popkultur. Jugendarbeit Statt sich abzuschotten oder diese Realität einfach zu ignorieren, gilt es, sich aktiv mit dieser Kultur Jugendliche in der christlichen Jugendarbeit auseinanderzusetzen. Die Aufforderung von Jesus sind gleich wie ihre Altersgenossen popkulturell an seine Jünger, in die Welt zu gehen (vgl. Mt geprägt. Christliche Jugendarbeit steht vor der 28,18) gilt auch für christliche Jugendarbeit. Sie Herausforderung, diese jungen Menschen in ihrem steht vor der Aufgabe, den Hoffnungen, Wünschen Sozialisationsprozess zu begleiten und ihnen in und Bedürfnissen junger Menschen, die sich im diesem Prozess mit der Liebe Gottes zu begegnen. herausfordernden Prozess der Selbstsozialisation Dabei geschieht christliche Jugendarbeit nicht au- befinden, so zu begegnen, dass sie im Rahmen ßerhalb der popmusikalisch geformten Kultur, son- christlicher Jugendarbeit eine Heimat finden. Dafür dern ereignet sich mittendrin. Sie ist ein Raum ist Expertenwissen nötig. Ein Wissen um die Le- innerhalb der Kultur, der sich bestenfalls auszeich- benswirklichkeiten Jugendlicher, die fundamental net durch die in Jesus Christus verkörperte Hoff- von der Musik, den Bildern, Texten und Erzählun- nung, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in gen der Popkultur geprägt sind. Es geht um einen Wort und Tat vermitteln. Diese Vermittlung gelingt respektvollen Umgang mit der Welt, die so existen- nur, wenn sie die Bedürfnisse und Lebenswelten tiell wichtig für junge Menschen und ihre Suche junger Menschen beachtet und Formen zulässt, die nach Identität ist. Vorschnelle Urteile über Einstel- popkulturell geprägte junge Menschen verstehen lungen, Mode oder eben Musik sind fehl am Platz. und mit denen sie sich identifizieren können. Denn Es gilt, Popkultur und ihre Musik vor allem als In- für Jugendliche in der christlichen Jugendarbeit gilt strument zu schätzen, dessen sich junge Menschen dasselbe wie für alle anderen auch: Sie nutzen bedienen, um mit ihrem Leben zurecht zu kom- medial vermittelte Musik, Bilder, Texte und Erzäh- men. lungen, um sich in dieser Welt zu orientieren und Schon der Reformator Martin Luther hatte beim Identitäten zu entwickeln. Dichten neuer Lieder auf Melodien von Volkslie- Dieser Herausforderung kann sich christliche dern und damit auf die ihn umgebene Kultur zu- Jugendarbeit von zwei Seiten her nähern. Zum rückgegriffen. Diese Praxis war Ausdruck der Über- einen können es sich Jugendmitarbeiterinnen und zeugung, dass Kultur und ihre Praktiken nicht per Jugendmitarbeiter zur Aufgabe machen, Experten se schlecht und verwerflich sind. Letztlich können jener Popkultur zu werden, die sie und ihre Jugend- „alle Bereiche der Kultur ... als Begegnungs- und lichen tagtäglich umgibt. Zum anderen kann christ- Gestaltungsraum des Evangeliums“ begriffen wer- liche Jugendarbeit einen Beitrag dazu leisten, rele- den.“37 In diesem Sinne verwendeten auch die vante christliche Musik als Ergänzung zur säkularen Evangelisten der Erweckungs- und Heiligungsbe- Musik zu etablieren. wegung säkulare Melodien. So schrieb William Booth, Gründer der Heilsarmee, 1880 ganz im Geis- te Luthers: „Du sagst, säkulare Musik gehört dem A. Christliche Jugendarbeit braucht Teufel? Tut sie das? Nun, wenn sie das täte, würde Kulturexperten ich sie ihm stehlen. Denn er hat kein Anrecht auf Christliche Jugendarbeit geschieht nie im kultu- rell luftleeren Raum. Alles, was im Rahmen christli- cher Jugendarbeit geschieht, ist immer auch ge- 37 Walldorf 2010, S. 178.
eine einzige der sieben Noten … Jede Note … und vor der Herausforderung, gemeinsam mit den Ju- 9 jede Harmonie ist göttlich und gehört uns.“38 gendlichen destruktive und zerstörerische Inhalte Im Rahmen christlicher Jugendarbeit ist es wich- in Liedtexten, Bildern oder vermittelten Lebenssti- tig, junge Menschen anzuleiten, die sie umgebene len auszumachen und als solche anzusprechen. Kultur mündig zu reflektieren. Praktisch kann dies Dies ist sicherlich nicht immer einfach. Neue, prob- geschehen, in dem man sich mit den Jugendlichen lematische Phänomene der Popkultur müssen ge- gemeinsam Musik, Texte, Bilder oder Filme anhört meinsam mit den Jugendlichen immer wieder neu oder ansieht und gemeinsam über vermittelte diskutiert und bewertet werden. Kinder und Ju- Werte und Einstellungen spricht. Welche Sehn- gendliche eignen sich manchmal Lieder, Bilder oder süchte, welche Überzeugungen werden vermittelt? Texte an, ohne wirklich zu verstehen, mit was sie Wo kommt Schönes und Wahres zum Ausdruck? da gerade zu tun haben. Hier hat christliche Ju- Und wo finden sich problematische Überzeugun- gendarbeit die wichtige Aufgabe, aufzuklären und gen? Was kann gefährlich werden? Im konkreten entgegenzuwirken. Christliche Jugendarbeit kann Fall könnte man die Jugendlichen einige ihrer aktu- hier auf Grundlage des Evangeliums Orientierung ellen Lieblingslieder auswählen lassen und diese geben, insbesondere wenn es sich um menschen- zum Thema machen. In der Analyse der Lieder geht verachtendes, sexistisches, gewaltverherrlichendes es dann nicht nur um die Liedtexte, obwohl diese oder okkultes Material handelt. Zentrale Motive natürlich eine wichtige Rolle spielen. Es sollte auch des christlichen Glaubens wie Nächstenliebe oder darum gehen, die Emotionen und Assoziationen, der Gleichheit aller Menschen vor Gott stehen die die Jugendlichen mit einem Lied verbinden, zur Sexismus, Rechtsradikalismus oder Gewalt funda- Sprache zu bringen und zu würdigen. Zudem kann mental entgegen. Christliche Jugendarbeit wird das Verhältnis der Jugendlichen zu dem oder den erst dann ein geschätzter und geschützter Raum Interpreten zum Thema werden. Was verbinden für Jugendliche, wenn diese Dinge offen angespro- die Jugendlichen für Träume und Gefühle mit die- chen, diskutiert und bewertet werden. So lernen ser Person? Wo dient sie als Vorbild? Wo nicht? Jugendliche, mündig mit den unzähligen Einflüssen Merken Jugendliche, dass „ihre“ Musik, Bilder der sie umgebenden Kultur umzugehen und Gutes oder Texte auch in der Jugendarbeit geschätzt von Destruktivem zu unterscheiden. werden, kann dies dazu führen, dass sie im Rah- men der christlichen Jugendarbeit wirklich eine Heimat finden. Zudem lernen sie, dass christliches B. Christliche Musik als Ergänzung zur Leben nicht in einer Anti-Kultur stattfinden muss, säkularen Musik etablieren sondern dass es in der sie umgebenden Kultur zu Hause ist und auch von „außerhalb“ Inspiration Säkulare Musik umgibt junge Menschen immer erfahren darf. Zugleich werden sie ermutigt, reflek- und überall. Christliche Jugendarbeit kann es sich tierend in dieser Kultur zu leben und christliche zur lohnenden Aufgabe machen, dezidiert christli- Werte und Überzeugungen in den Reflexionspro- che Musik ergänzend zur säkularen Musik zu etab- zess ganz selbstverständlich miteinzubeziehen. lieren. Trotz dieser grundsätzlichen Wertschätzung der Bereits zu Zeiten des Alten Testaments war der Popkultur und ihrer Musik stehen Mitarbeiter und jüdische Tempel Ort einer lebendigen Musizierpra- Mitarbeiterinnen der Jugendarbeit gleichermaßen xis.39 Die ersten Christen orientierten sich in der musikalischen Gestaltung ihrer Gottesdienste an 38 Zitiert in Walldorf 2010, S. 179f. (Eigene Übersetzung) 39 Bubmann 2009, S. 28.
eben jener musikalischen Tradition des Tempels tionale Gotteserfahrungen wurden zum Thema 10 und insbesondere der Synagoge. Paulus forderte in kirchlicher Musik.42 seinen Briefen mehrfach dazu auf, zu musizieren Seit den 1960er und 1970er Jahren hat in vielen und zu singen (1. Kor 14,36; Kol 3,16; Eph 5,19).40 Freikirchen und vermehrt auch in Landeskirchen In der Alten Kirche und im Mittelalter wurden häu- ein Liedgut Einzug gehalten, dass unter dem Label fig Psalmen gesungen. „Praise & Worship“ bekannt geworden ist. Dieser Auch im Rahmen der deutschen Reformation Einzug barg und birgt noch heute teilweise ein ho- spielte die Musik eine wichtige Rolle. Martin Luther hes Konfliktpotential. Manche Gemeinden kritisier- selbst dichtete deutsche Liedtexte, um auch den ten eine zu große Einseitigkeit der Liedtexte, ande- vielen Menschen, die nicht lesen konnten, ein Ver- re wandten sich prinzipiell gegen popmusikalische stehen des Evangeliums in ihrer Sprache zu ermög- Klänge im Gottesdienst. Gerade in vielen evangeli- lichen. Doch Musik war für ihn mehr als nur ein schen Freikirchen hat sich aber die „Praise & Vehikel für das Evangelium. Er schreibt: „Ich liebe Worship“-Musik in den letzten Jahren im Gottes- die Musik … weil sie (1) ein Geschenk Gottes und dienst praktisch durchgesetzt, in vielen landes- nicht der Menschen ist, (2) weil sie die Seelen fröh- kirchlichen Gemeinden gibt es spezielle Veranstal- lich macht, (3) weil sie den Teufel verjagt, (4) weil tungen wie Jugendgottesdienste, in denen „Praise sie unschuldige Freude weckt. Darüber vergehen & Worship“-Musik gespielt wird. Aus historischer die Zornanwandlungen, die Begierden, der Hoch- Perspektive ist die „Praise & Worship“-Musik eine mut … Ich gebe der Musik den ersten Platz nach Synthese aus drei Entwicklungen. der Theologie.“41 Musik war für Luther also mehr Zum einen lieferte die amerikanische Gospel- als nur ein Hilfsmittel zur Verkündigung des Evan- musik liturgische Impulse. Denn charakteristisch geliums. Musikalische Klänge hatten für den Re- für heutige „Praise & Worship“-Musik sind längere, formator Bedeutung für die Lebensführung und die zusammenhängende „Worship-Zeiten“, in denen Gefühle. Sie taten gut und sollten deshalb einen Lieder mit einfachen, mitsingbaren Chorussen ge- Platz im Leben des Menschen haben. sungen werden, die häufig mehrmals wiederholt Im 18. und 19. Jahrhundert prägten insbesonde- werden. Ebenfalls ein Erbe der amerikanischen re zwei Entwicklungen die Musik: Zum einen löste Gospelmusik ist das Phänomen, dass eine oder sich die Musik, wie viele andere Kulturpraktiken mehrere Personen den Gesang anleiten.43 auch, aus dem Schoß der Kirche. Musik wurde un- Zweitens wurde die gottesdienstliche „Praise & abhängig von inhaltlichen und formellen Vorgaben Worship“-Musik theologisch von der charismati- der Kirche und fand neue Heimat etwa in der Oper schen Erneuerungsbewegung geprägt, die seit den oder später im Gesangsverein. Zum anderen wurde 1960er Jahren in deutschen Kirchen und Freikir- Musik subjektiver. Das heißt, Musik wurde stärker chen Fuß fasste. In den Liedern kam dieser Einfluss zum Ausdruck menschlicher Gefühle und Erfahrun- insbesondere durch zwei Merkmale zum Tragen. gen. Dies schlug sich im Rahmen der Kirchenmusik Zum einen wurde eine besondere Betonung auf insbesondere in den „geistlichen Liedern“ der pie- den doxologischen Charakter der Texte gelegt: Das tistischen und erwecklichen Bewegungen nieder. Lob und die Anbetung Gottes stehen in „Praise & Besonders religiöse Gefühle und persönliche emo- Worship“-Liedern im Mittelpunkt. Zum anderen wurden Lieder als persönliche Gebete verstanden, in denen eine persönliche, emotionale Gottesbe- 40 Ob Hymnen, die etwa in Kol 1,15-20 und Phil 2,6-11 festgehalten wurden, im heutigen Sinne gesungen wurden, ist unklar. Vgl. Seidel 1994, S. 444. 42 Walldorf 2010, S. 177. 41 Zitiert in Bubmann 2012, S. 175. 43 Baltes 2006, S. 104.
ziehung zum Ausdruck kommen sollte. So bestim- so zu Hause wie im Netz und bedienen sich aller 11 men Themen wie Hingabe oder Liebe zu Gott die Kanäle, derer sich säkulare Musik auch bedient. Texte.44 Angesichts dessen könnte christliche Jugendar- Drittens war entscheidend die Jesus-People- beit zu einer Art Vermittler werden, der relevante Bewegung dafür verantwortlich, dass die Musik der Informationen über christliche Bands und Interpre- 50er und 60er Jahre (Rock’n’Roll und Beat) unter ten an Jugendliche weitergibt. Zugleich könnten jungen Christen Verbreitung erfuhr. Der sogenann- christliche Jugendgruppen auf Konzerte und Festi- te Jesus Rock wurde von Größen wie Larry Norman vals christlicher Bands fahren und so den Jugendli- oder ab 1969 auch Jonny Cash erfolgreich in christ- chen musikalische Erlebnisse ermöglichen. liche Kreise getragen und populär gemacht.45 Unter Gleichzeitig können Mitarbeiterinnen und Mit- anderem durch die Großevangelisationen von Billy arbeiter christlicher Jugendarbeit Musik, Texte und Graham und durch das Engagement der charisma- Erzählungen christlicher Bands und Interpreten tischen Organisation Jugend mit einer Mission kam zum Thema machen. Häufig geben diese einen christliche Popmusik Anfang der 1970er Jahre auch authentischen Blick auf existentielle Themen des in Deutschland an und wurde mit der Zeit Teil der Lebens und bieten Möglichkeiten an, diese aus der Musik im Gottesdienst. Spätestens seit den 1980er Perspektive des christlichen Glaubens zu interpre- Jahren kommen christliche „Praise & Worship“- tieren. Dabei sind diese Musik, Texte und Erzäh- Lieder und Texte auch aus deutscher Feder. Lie- lungen in einer Form verfasst, die junge Menschen derbücher wie die Feiert Jesus Serie zeugen davon, als ihre eigene identifizieren. So können sich Ju- dass im heutigen gottesdienstlichen Gebrauch ein gendliche in ihrer eigenen Lebenswelt und mit Mix englischer und deutscher Titel Verwendung ihren eigenen sprachlichen Codes mit dem christli- findet. chen Glauben auseinandersetzen. Sie lernen, selb- Neben der für das gemeinsame gottesdienstli- ständig in eigenen Worten ihre Sehnsüchte, ihre che Singen geschriebenen „Praise & Worship“- Probleme und ihren Glauben zu artikulieren und zu Musik mit ihren häufig simplen Melodieführungen, reflektieren. Damit kann christliche Jugendarbeit gleichmäßigen Grooves und wenigen Disharmo- einen wesentlichen Beitrag zur religiösen Entwick- nien46 gibt es allerdings auch ein respektables An- lung und Selbstbestimmung Jugendlicher leisten. gebot an christlicher Musik, welches jedes Genre bedienen kann. Viele Jugendliche in der christli- chen Jugendarbeit wissen überhaupt nicht, dass durchaus hochwertige christliche Musik für jeden Geschmack existiert: von Schlager bis Heavy Metal, von Gothic bis Rock oder Elektro. In Deutschland gibt es eine Reihe von Bands, die teilweise aus Jugendgottesdienstbands entstanden sind und sich professionalisiert haben.47 Auf Konzerten und Fes- tivals sind christliche Bands und Interpreten eben- 44 Vgl. Baltes 2006, S. 113. 45 Walldorf 2010, S. 187f. 46 Baltes 2006, S. 107. 47 Derzeit bekannte deutsche christliche Bands und Interpreten sind etwa GoodWeatherForcast, Sacrety, warumLila oder auch Samuel Harfst.
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